Philosophie ohne Fortschritt_Druckdatei_final

Werbung
Philosophie ohne Fortschritt?
Zur kritischen Erneuerung eines problematischen Begriffes
DISSERTATION
der Universität St. Gallen,
Hochschule für Wirtschafts-,
Rechts- und Sozialwissenschaften
sowie Internationale Beziehungen (HSG)
zur Erlangung der Würde eines
Doktors der Sozialwissenschaften
vorgelegt von
Till Wagner
aus
Deutschland
Genehmigt auf Antrag der Herren
Prof. Dr. Dieter Thomä
und
Prof. Dr. Michael Hampe
Dissertation Nr. 4316
(Difo-Druck GmbH, Bamberg 2015)
Die Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften
sowie Internationale Beziehungen (HSG), gestattet hiermit die Drucklegung der
vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin ausgesprochenen Anschauungen
Stellung zu nehmen.
St. Gallen, den 21. Mai 2014
Der Rektor:
Prof. Dr. Thomas Bieger
Gewidmet
Josef Maria Häußling!
Inhalt
Vorwort................................................................................................................................. 7
Zusammenfassung ............................................................................................................. 11
Summary ............................................................................................................................ 12
1 Einleitung ........................................................................................................................ 13
Fortschritt und Kritik ........................................................................................................ 16
Begriffsgeschichtliche Deckungnahme ............................................................................ 23
Zum Weg dieser Untersuchung ........................................................................................ 28
Vor und nach 1660 ........................................................................................................... 33
2 Zwei begriffslogische Modifizierungen ......................................................................... 46
Entambiguisierung des Fortschrittsbegriffes .................................................................... 47
Die zwei Modi des Fortschrittsbegriffes .......................................................................... 51
3 Vollkommenheit als Ziel des Fortschritts? – zu Aristoteles ....................................... 55
4 „Befriedigung“ als Ziel des Fortschritts ....................................................................... 60
Von Aristoteles zu Hegel, ... ............................................................................................. 60
... von Hegel zurück zu Aristoteles ... ............................................................................... 72
... und über Kant ... ........................................................................................................... 83
... zurück zu Hegel .......................................................................................................... 102
5 Subjektiver Fortschritt................................................................................................. 108
6 Objektiver Fortschritt .................................................................................................. 120
Befriedigung und Relativismus ...................................................................................... 120
Befriedigung und politisches Interesse? ......................................................................... 123
Befriedigung und Wahrheit? .......................................................................................... 125
Befriedigung und natürliche Vernunft ............................................................................ 133
Befriedigung und moralische Norm ............................................................................... 159
Befriedigung und die Bedingungen moralischen Verhaltens ......................................... 196
Philosophie ohne Fortschritt?......................................................................................... 232
Literatur ........................................................................................................................... 235
Vorwort
Hätte ich im Vorhinein absehen können, wohin mich die Auseinandersetzung mit dem
Fortschrittsbegriff führen wird, nämlich zu der Einsicht in die „Notwendigkeit“ einer
Überführung der Fortschrittsdiskussion von der Geschichtsphilosophie in die praktische
Philosophie, ich hätte wahrscheinlich noch einmal so viel Zeit für die Arbeit anberaumen
müssen, wie für das auf diesen Seiten vorliegende Ergebnis nötig war. Aus fünf Jahren
wären zehn geworden. Dies hätte natürlich den Rahmen einer Promotion, in die meine
Auseinandersetzung fließen sollte, gesprengt. Aus diesem Grund habe ich mich
entschlossen, mit dieser Veröffentlichung zunächst nur die halbe Wegstrecke zu gehen.
Anders als man zunächst meinen könnte, hieß das für mich jedoch nicht, als diese erste
Wegstrecke die historische Begriffs- und Diskussionsentwicklung anhand einschlägiger
und weniger einschlägiger Autoren darzustellen, woraufhin als zweite Halbstrecke die
Überführung vorzunehmen gewesen wäre. Denn zur Begriffsgeschichte gibt es bekannter
Weise bereits eine ganze Reihe recht ergiebiger Arbeiten, auf die ich neben Primärtexten
gerne zurückgegriffen habe und die mich in die Situation versetzt haben, diesen Schritt
nicht mehr als eigenständigen Teil meiner Arbeit völlig neu und explizit gehen zu müssen.
Anders sieht es mit der Überführung der Fortschrittsdiskussion von der
Geschichtsphilosophie in die praktische Philosophie aus. Hier gibt es – wenn überhaupt –
nur sehr wenig Material, das diesen Übergang thematisiert.
Dieser Sachverhalt entspricht schlichtweg der Tatsache, dass dieser Übergang, diese
Überführung noch nicht vollzogen ist, sondern überhaupt erst einmal vollzogen werden
muss. „Muss“ meines Erachtens zumindest dann, wenn überhaupt die Chance bestehen
soll, einen Begriff von Fortschritt zu entwickeln, der eine über begriffsgeschichtliche und
ideologiekritische Relevanz hinausgehende Bedeutung für unser heutiges
Selbstverständnis und unsere heutige Lebenspraxis aufzuweisen in der Lage ist. Dass dies
eine philosophische und über philosophische Relevanz hinausgehende Aufgabe ist, davon
gehe ich aus.
Was die erste halbe Wegstrecke betrifft, so bestand die langsam immer deutlicher
werdende Aufgabe darin, um in einem Bild zu sprechen, das Ufer der überkommenen
geschichtsphilosophischen Fortschrittsbegriffe hinter mir zu lassen und mich mit so wenig
Gepäck als möglich in den offenen und aus unterschiedlichsten Quellen sich speisenden,
teils ruhigeren, teils wilderen Strom der Gedanken zu begeben, mit dem Ziel, schließlich
das andere, das praktische Ufer zu erreichen, dieses erkunden zu können und ein
Fundament zu legen für einen Brückenbau zum geschichtsphilosophischen Ufer zurück.
Letzteren verstehe ich als die von mir in dieser Arbeit nicht mehr vollzogene zweite
Wegstrecke.
7
Denn eine Brücke würde der gesuchten Überführung schließlich umfassender genüge tun
als die expeditionshafte Überfahrt, die, sich auf das Notwendigste beschränkend, das „alte“
Ufer, ohne es zu vergessen, erst einmal hinter sich lässt. Eine solche Brücke würde über
die Thematisierung der für die Fortschrittsdiskussion meines Erachtens allgemein
vorauszusetzenden und in diesem Sinne notwendigen Bedeutung von Fortschritt als einer
„objektiv guten Entwicklung“ hinausgehen und somit in einer umfassenderen
Wiederaufnahme und Diskussion spezifischerer Thematiken der tradierten
Fortschrittsbegriffe bestehen. Diese wären kritisch daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie
auf dem bereiteten praktischen Fundament bestehen können. Zu denken wäre hier etwa an
Thematiken wie die Entwicklung der Rechts- bzw. Verfassungswirklichkeit, die zum
Beispiel in Kants Geschichtsphilosophie eine herausragende Rolle spielt; oder an die
Betrachtung der Technik- und Wissenschaftsentwicklung sowie an kultur- bzw.
sozialtheoretische Systematisierungen der Geschichte, darin Politik und Ökonomie
mitbegriffen, die allesamt immer wieder im Zentrum der tradierten
Fortschrittsdiskussionen und der Aufmerksamkeit ihrer Protagonisten standen; aber auch
an naturgeschichtlich akzentuierte Evolutionsvorstellungen wie sie in unterschiedlicher
Ausformung etwa bei Haeckel, später Teilhard de Chardin oder Delgaauw zu finden sind;
oder an den Bildungsbegriff wie er von Herder und in Anschluss an diesen von Hegel in
seinem umfassenden, die gesamte Geschichte einbeziehenden Sinne entwickelt wurde;
sowie schließlich an den Begriff der Geschichtsphilosophie selbst.
Und dennoch, bevor man eine solche Brücke baut, eine solche Überführung leistet, sollte
zunächst das „neue“ Ufer, der andere Boden, auf dem einer der zwei notwendigen
Brückenköpfe stehen soll, genauer auf die zu bauende Brücke hin untersucht und das
Fundament auf diesem entsprechend gelegt werden, um diesbezüglich möglichen
Fehlkonstruktionen der Überführung weitestgehend vorzubeugen. Die vorliegende
Untersuchung ist ein kritikwürdiger und im positiven Falle sich bewährender Beitrag dazu.
Lässt man sich einmal auf die praktische Wendung des Fortschrittsbegriffes ein, gewinnt
man eine neue Perspektive, ein neues Blickfeld, in dem bereits vorhandenes Material
plötzlich eine Relevanz für die Fortschrittsdiskussion erhält, die es vorher nicht zu haben
schien und sodann für die umfassendere Überführung zur Verfügung steht. Klar sollte aber
auch sein, dass selbst nach einer solchen Überführung der Fortschrittsdiskussion in die
praktische Philosophie tradierte Thematiken zwar soweit als möglich aufgehoben sind,
nicht aber mehr das Zentrum des Fortschrittsbegriffes ausmachen. Dieses wird stattdessen
in praktischen Fragen liegen und alle Diskussionsfelder mit einbeziehen, die für diese
Fragen von Bedeutung sind. Dazu gibt diese Arbeit einige Hinweise.
Die Konzentration auf die praktische Wendung hat zur Folge, dass bestimmte Erwartungen
hinsichtlich eines mit der Fortschrittsdiskussion in Verbindung zu bringenden Kanons von
8
Protagonisten sowie hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte, in Bezug auf welche
auch zu diesem Kanon gehörende Autoren behandelt werden, enttäuscht werden. Dies ist
nicht zu verhindern. Sowohl die Auswahl der Autoren als auch der thematischen
Schwerpunkte orientiert sich allein an der Frage, ob und wie „Fortschritt“, verstanden als
eine „objektiv gute Entwicklung“, praktisch-philosophisch gegriffen werden kann.
Ich habe mich in der Beantwortung dieser Frage bemüht, soweit es geht in die Tiefe, nicht
in die Breite zu gehen. Dieses Bemühen spiegelt sich sowohl in der Anzahl der
ausführlicher diskutierten Autoren als auch in der zurückhaltenden Berücksichtigung von
Sekundärliteratur in der Diskussion einiger Primärtexte wider, letzteres insbesondere in
den ausführlicheren Kapiteln zu Aristoteles und Kant. Ich bitte dies Seitens der
„übergangenen“ Forscher zu entschuldigen. Der Sache nach hat dieses Vorgehen ganz
einfach einen großen Vorteil gehabt. Die Zeit, die zu einer umfänglicheren Aufarbeitung
und textlichen Integration der für die anvisierte Fortschrittsdiskussion nicht unbedingt
prädestinierten Sekundärliteratur nötig gewesen wäre, konnte so in die Entwicklung der
primären Argumente und Argumentationsfolgen für eben diese Diskussion investiert
werden. Auch blieb so genügend Raum, um für diese Untersuchung notwendige, wenn
auch nicht selbst ausführlich explizierte, sondern textlich „nur“ durchscheinende Themen
im Abgleich mit dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion gründlich zu
erarbeiten, etwa hinsichtlich erkenntnistheoretischer Problematiken, Fragen zur
Willensfreiheit im Besonderen wie zur Philosophie des Geistes im Allgemeinen oder
hinsichtlich naturwissenschaftlicher Aspekte.
Vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit zu bewältigenden Aufgabe als auch des
beschriebenen Umganges mit Autoren und Literatur könnte insgesamt der Eindruck eines
etwas „abgekapselten“ Ergebnisses hervorgerufen werden. Dies wäre meines Erachtens
nur folgerichtig. Denn von den einschlägigen Autoren und tradierten Fortschrittsbegriffen
musste ich mich insofern „abkapseln“, als dass sie Fortschritt eben nicht primär praktisch
thematisieren. In der praktischen Philosophie ist der Fortschrittsbegriff bisher nicht
beheimatet. Wie soll es also anders sein, als dass insgesamt der Eindruck einer gewissen
Abkapselung entsteht? Wenn von innen her in dieser so verstandenen und plausibilisierten
Abkapselung ein fruchtbarer Samen liegt, der zu einer erneuerten Entfaltung der
Fortschrittsdiskussion in einer tragfähigen und zeitgemäßen Weise beizutragen in der Lage
ist, dann ist diese Abkapselung in Hinblick auf die Erfüllung der Aufgabe, der ich mich in
dieser Arbeit gestellt habe, die Beschreibung eines optimalen Ergebnisses.
Nun bleibt mir, Dank auszusprechen. Zunächst will ich Prof. Dieter Thomä für die
Annahme dieses Promotionsprojektes und den philosophischen Freiraum, den er mir zu
dessen Bearbeitung gegeben hat, danken. Der Stiftung der Deutschen Wirtschaft danke ich
für die Gewährung eines Promotionsstipendiums. Bei meiner Familie bedanke ich mich für
9
die vielseitige und vielfältige Unterstützung, die ich während der gesamten Zeit der
Promotion durch sie erfahren habe. Besonderer Dank gilt dabei meiner Freundin und
unseren zwei Kindern, die mir vor allem in den letzten fünf Monaten der Fertigstellung des
vorliegenden Textes aus- und durchhaltend für die Arbeit zuhause den Rücken freigehalten
haben. Dies war wahrlich keine familienfreundliche Zeit. Der Weg bis zur Fertigstellung
des Textes war weit. Und was wäre er gewesen ohne die vielen Gespräche und
Anregungen, die ich mit anderen geführt bzw. von diesen erhalten habe. Ich danke den,
wenn auch nicht namentlich genannten, unzähligen fachlichen und nicht-fachlichen
Gesprächspartnern am Lehrstuhl, in Seminaren, Workshops, auf Konferenzen oder im
privaten Umfeld, die mich auf meinem Weg auf verschiedenste Weise weiter gebracht
haben. Bei Juliane Slotta bedanke ich mich für das sehr zuverlässige und zeitlich äußerst
flexible Korrekturlesen des Textes. Schließlich danke ich Prof. Dieter Thomä und Prof.
Michael Hampe für die Begutachtung der Arbeit und Abnahme der Disputation.
Nicht mehr danken kann ich Prof. Josef Maria Häußling, den ich als meinen
philosophischen Mentor an der Universität Witten/Herdecke und späteren Freund
bezeichnen kann, für die Jahre seiner Begleitung, in denen ich mich, wenn man so will, auf
die Promotion vorbereitet habe. Josef Maria Häußling verstarb 2012. Ihm widme ich diese
Arbeit.
Witten, den 15. Dezember 2014
10
Zusammenfassung
Die vorliegende Untersuchung findet ihren Ausgangspunkt zunächst in einer
begriffslogischen Erörterung von Fortschritt als einer „objektiv guten Entwicklung“. Diese
führt zu einem modifizierten Verständnis von Fortschritt, in dem begriffliche Strukturen
zum Vorschein kommen, die den Fortschrittsbegriff in Bezug zur antiken, vor allem der
aristotelischen Philosophie und in dieser zu den Begriffen der eudaimonia und der
entelechie setzen und damit zu einem Denken, das in der Fortschrittsdiskussion bisher
keine Rolle gespielt hat. Von da aus gelangen wir zu Terry Pinkards zeitgenössischer
Interpretation der Philosophie Hegels, die Pinkard als einen „entzauberten Aristotelismus“
versteht, in dem die eudaimonia in den Begriff der Befriedigung übergeht. Der in Pinkards
Hegel-Interpretation entwickelte Begriff der Befriedigung dient sodann als eine erste
Annäherung an ein Verständnis von Fortschritt im praktischen Sinne. Um deutlicher zu
machen, was dieser Begriff gegenüber dem der Glückseligkeit zu leisten vermag, wendet
sich die Untersuchung in einer kritischen Haltung erneut Aristoteles, dann aber auch Kant
zu, in dessen praktischer Philosophie die Glückseligkeit ebenfalls eine entscheidende
Stellung einnimmt. Die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit Aristoteles und Kant
dienen einer genaueren Qualifizierung des Begriffes der Befriedigung. Diese geht über in
die
Formulierung
eines
subjektiven
Fortschrittes.
Ein
subjektivistisches
Fortschrittsverständnis reicht offensichtlich nicht dazu hin, die Möglichkeit einer objektiv
guten Entwicklung, eines objektiven Fortschrittes zu plausibilisieren. Der Gedanke, den
subjektiven Relativismus durch einen politischen Zusammenhang als einem solchen
theoretisch in den Griff zu bekommen, scheitert. Pinkards Versuch, das Problem des
Relativismus durch den Wahrheitsbegriff zu lösen, wird kritisiert. In seiner Argumentation
bleibt der Relativismus weiter bestehen. Der Wahrheitsbegriff kann nur die Aussicht auf
eine Lösung bieten, wenn es möglich ist, ein normatives Faktum in der Natur der
Fortschrittssubjekte aufzuweisen, an dem sich möglicher subjektiver Fortschritt praktisch
orientieren kann. Für einen solchen Aufweis muss zunächst deutlich gemacht werden, was
unter der Natur der Fortschrittssubjekte näher zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang
wird der Begriff einer natürlichen Vernunft entwickelt und ins Verhältnis zur
Grundstruktur der Rationalitätstheorie von Jürgen Habermas gesetzt und vertieft. Im
Anschluss daran wird der Versuch unternommen, in Auseinandersetzung mit Friedrich
Nietzsche eine moralische Norm als ein in der Natur der Subjekte gründendes normatives
Faktum zu plausibilisieren, auf das hin sich ein objektiver Fortschritt als ein befriedigendes
Leben in Frieden denken lässt. Schließlich stellt sich die Frage nach den Bedingungen der
Möglichkeit der Erfüllung der moralischen Norm und danach, inwiefern davon
ausgegangen werden kann, dass diese Bedingungen wirklich gegeben sind. Diese Fragen
werden in einer kritischen Diskussion der religionsphilosophischen Überlegungen von
Mark Johnston und der für diesen als Quelle dienenden Prozessontologie Alfred North
Whiteheads sowie von Gunnar Hindrichs Begriff des Absoluten einer möglichen Antwort
näher gebracht.
11
Summary
This thesis begins with the conceptual analysis of progress as an „objectively good
development”. This leads to a modified understanding of progress exhibiting conceptual
structures which relate the concept of progress to antique philosophy, in particular
Aristotelian philosophy and its concepts of eudaimonia and entelechie, i.e. to a thinking
that so far has not played a role in the discussion on progress. From there, we will continue
to Terry Pinkard’s contemporary interpretation of Hegel’s philosophy, which Pinkard
understands as a ‘disenchanted Aristotelism’ in which the eudaimonia turns into the
concept of satisfaction (Befriedigung). The concept of satisfaction developed in Pinkard’s
interpretation of Hegel will serve as a first approach to an understanding of progress in the
practical sense. In order to contrast this concept with the concept of beatitude
(Glückseligkeit), this thesis will first return to Aristotle and then turn towards Kant, in
whose practical philosophy the concept of beatitude also takes a prominent position. The
results of this examination of Aristotle and Kant will serve a more precise qualification of
the concept of satisfaction. Following this, a subjective progress will be formulated. A
subjectivist understanding of progress is obviously not suitable to underpin the possibility
of an objectively good development, an objective progress. The attempt fails to
theoretically come to grips with subjective relativism by a political context as such.
Pinkard’s attempt to solve the problem of relativism by the concept of truth is criticized. In
his argumentation, relativism continues to exist. The concept of truth can only then provide
a possibility for a solution if it is possible to establish a normative factum in the nature of
the subjects of progress, which provides practical orientation to a possible subjective
progress. For this, it will need to be clarified, what is to be understood by the nature of the
subjects of progress. In this context, the concept of natural reason (natürliche Vernunft) is
developed and set into context with the basic structure of Jürgen Hambermas rationality
theory. In the following, Friedrich Nietzsche is discussed and an attempt is made to
establish a moral norm as a normative factum rooted in the subjects’ rational nature that
would allow for an objective progress as a satisfactory life in peace (befriedigendes Leben
in Frieden). Finally, the prerequisites of the possibility of the moral norm’s fulfillment are
discussed and it is examined whether these prerequisites are indeed given. This will
include a critical discussion of the Mark Johnston’s deliberations concerning the
philosophy of religion, Alfred North Whitehead’s process ontology, as well as Gunnar
Hindrich’s concept of the absolute.
12
1 Einleitung
Ohne viele Worte aufzuwenden, möchte ich direkt in das Thema dieser Arbeit einführen,
welches sich, wie der Untertitel deutlich macht, in der Entwicklung eines
Fortschrittsbegriffes findet. In einer sehr allgemeinen Formulierung geht es dabei um die
Frage nach einer objektiv guten Entwicklung. Und es wird diskutiert werden, wie das
Verhältnis zwischen einer solchen Entwicklung und unserem subjektiven Leben verstanden
werden kann. Schließlich wird danach gefragt werden, inwiefern wir es als unsere Aufgabe
begreifen können, einen Beitrag zu einem wie auch immer gearteten Fortschritt zu leisten.
In der Philosophie ist es leise geworden um diese Fragen. Zu groß, ja uneinlösbar scheint
der Anspruch des Fortschrittsbegriffes in seinen weit, manchmal sogar unendlich weit über
das individuelle Subjekt hinausgreifenden Formulierungen zu sein. Mit dem Fortschritt ist
die Frage nach seiner Universalität unweigerlich verbunden. Es ist nicht zuletzt diese
„Maßlosigkeit“ des Fortschrittsbegriffes, die nicht nur jeden Versuch seiner Bestimmung
an die Grenzen des begrifflich Leistbaren bringt, sondern ihn auch höchst verdächtig und
anrüchig hat werden lassen. Historisch in das semantische Vakuum gezogen, das durch die
im Laufe der Neuzeit immer breitenwirksamer werdende Abwendung von
heilsgeschichtlich verklausulierten religiösen und weltlichen Machtambitionen entstand,
erbte er ehemals in diesen Klauseln gebundene und nun ungebundene Sehnsüchte und
Energien. Diese schlugen sich unter anderem in geschichtsphilosophischen Weltbildern
nieder und in mit diesen verbundenen, teilweise verheerenden politischen Ideologien. Hier
ist alle Kritik berechtigt und gefordert. Dies gilt insbesondere für Vorstellungen, in denen
die universale Offenheit des Fortschrittsbegriffes blindlings in die geschlossene
Universalität einer fixen Idee überführt und diese in den Lauf der Geschichte, der Welt
oder sogar des Kosmos gelegt wird. Und genau von solchen Vorstellungen, von solchen
Hypostasierungen gilt es den Fortschrittsbegriff zu befreien, wenn er dem, was er bedeutet,
nicht selbst im Wege stehen soll: einer objektiv guten Entwicklung.
Dies bedeutet, Fortschritt nicht mehr primär als einen geschichtsphilosophischen, sondern
als einen praktischen Begriff zu verstehen. Es ist danach zu fragen, inwiefern Fortschritt
als eine Möglichkeit unseres subjektiven Verhaltens begriffen werden kann. In diesem
Verständnis folgt die Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsbegriff einem praktischen
Interesse. Mit diesem ist aber auch unweigerlich ein theoretisches Interesse verbunden.
Denn zur Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit von Fortschritt ist es notwendig,
genauer zu erfassen, was unter dem Begriff des Fortschritts, unter einer objektiv guten
Entwicklung, in praktischer Hinsicht sinnvoll verstanden werden kann. Somit ist dieses
theoretische Interesse eines, das sich nicht aus einer Praxis heraushebt, sondern untrennbar
mit dieser verbunden und also selbst praktisch ist. Als Frage nach einer objektiv guten
Entwicklung ist mit der Frage nach einem Fortschritt immer schon ein über das fragende
Subjekt hinausgehender Zusammenhang angesprochen, in dem es sich und sein Leben
13
auch in ein Verhältnis zu anderen Subjekten setzt. Die Frage nach dem Fortschritt geht so
einher mit einem sozialen und politischen Interesse. Man kann schließlich das praktische
Interesse, das theoretische Interesse und das soziale bzw. politische Interesse am
Fortschrittsbegriff derart auffassen, dass sie jeweils verschiedene Aspekte ein und
desselben immer wieder aktuellen Grundproblems betonen: Kann ein gutes Leben des
Einzelnen mit dem der anderen in Einklang gebracht werden? Wenn wir Fortschritt nicht
für möglich halten und nicht als eine konkrete Option unserer subjektiven Handlungen
verstehen können, werden wir uns auch nicht um einen solchen bemühen, sondern ihn, so
wir nicht ganz von diesem gedanklich ablassen wollen, in die Hoffnung auf eine
Vorsehung, eine unsichtbare Hand, eine List der Vernunft, eine List der Geschichte, eine
List der Natur oder ähnliches legen.
Das ist, so denke ich, zu wenig. Um einem Missverständnis vorzubeugen, sei sogleich
deutlich gemacht, dass es in dieser Arbeit nicht um die konkrete Ausmalung eines
möglichen Fortschritts geht, mit Adorno könnte man sagen, um eine „ausgepinselte
Utopie“.1 Denn Fortschritt ist, das ist ein Ergebnis dieser Untersuchung, kein Bild, dem
wir zu entsprechen hätten, sondern vielmehr eine beständige Aufgabe, der wir uns stellen
können. Aber es scheint mir doch unbefriedigend, was Adorno nach bezüglich des
Fortschrittes theoretisch zu leisten sei: „Theoretische Rechenschaft über die Kategorie des
Fortschritts verlangt, diese so nahe zu betrachten, daß sie den Schein des
Selbstverständlichen ihres positiven wie negativen Gebrauchs verliert. Aber solche Nähe
erschwert zugleich die Rechenschaft. Mehr noch als andere zergeht der Begriff Fortschritt
mit der Spezifikation dessen, was nun eigentlich damit gemeint sei, etwa was fortschreitet
und was nicht. Wer den Begriff präzisieren will, zerstört leicht, worauf er zielt. Die
subalterne Klugheit, die sich weigert, von Fortschritt zu reden, ehe sie unterscheiden kann:
Fortschritt worin, woran, in bezug worauf, verschiebt die Einheit der Momente, die im
Begriff einander sich abarbeiten, in bloßes Nebeneinander. Rechthaberische
Erkenntnistheorie, die dort auf Exaktheit dringt, wo die Unmöglichkeit des Eindeutigen
zur Sache selbst gehört, verfehlt diese, sabotiert die Einsicht und dient der Erhaltung des
Schlechten durchs beflissene Verbot, über das nachzudenken, was im Zeitalter utopischer
wie absolut zerstörender Möglichkeiten das Bewußtsein der Verstrickten erfahren möchte:
ob Fortschritt sei. Wie jeder philosophische hat der Terminus Fortschritt seine
Äquivokationen; wie in jeglichem melden diese auch ein Gemeinsames an. Was man zu
dieser Stunde unter Fortschritt sich zu denken hat, weiß man vag, aber genau: deshalb
kann man den Begriff gar nicht grob genug verwenden.“2
1
Adorno, Theodor W.: „Fortschritt“, in: Helmut Kuhn/Franz Wiedmann: Die Philosophie und die Frage
nach dem Fortschritt, München: Verlag Anton Pustet, 1964, Seite 38.
2
Ebd., Seite 30.
14
Zwar stimme ich mit Adorno überein, dass es keinen Sinn macht, den Fortschrittsbegriff in
eine Vielzahl von Spezialbedeutungen zu zerlegen, die demselben, so der Wunsch, eine
instrumentelle Operabilität in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens verleihen. Der
Fortschrittsbegriff beschreibt, wie er hier verstanden wird, zunächst eine Suchbewegung,
nicht spezifisch-technisches Expertenwissen. Die mit dem Universalitätsgedanken
verbundene Relevanz der Frage nach dem Fortschritt in allen denkbaren Lebensbereichen
legitimiert sich nicht über ein jeweilig spezifisches Umsetzungswissen, sondern über die
Tatsache, dass die Problematik einer objektiv guten Entwicklung das Leben des Einzelnen
und die Gesellschaft als Ganzes betrifft. Und doch kann meiner Ansicht nach mehr
geleistet werden, als die paradoxe Formulierung eines Fortschrittverständnisses, das „vag,
aber genau“ sei, und man deshalb – in etwa der Logik folgend: je vager, desto genauer –
„den Begriff gar nicht grob genug verwenden“ könne. Hier kann, so denke ich, mehr
geleistet werden.
Im Zentrum dieser Untersuchung steht die Frage nach der Möglichkeit von Fortschritt. Es
wird also nicht primär danach gefragt, wie genau sich Fortschritt umsetzen ließe, als
vielmehr danach, ob Fortschritt überhaupt möglich ist, ob und inwiefern es Sinn macht,
nach einem genauen „Wie“ zu suchen. Ist er nicht möglich, dann erübrigt sich die Frage
nach dem „Wie“: Entweder weil wir davon ausgehen, dass Fortschritt so oder so
stattfindet, oder, dass es ihn so oder so nicht geben kann. In beiden Fällen ist die Wirklichbzw. Unwirklichkeit des Fortschrittes völlig unabhängig davon, was wir erleben, und
unabhängig davon, was wir denken und wie wir handeln, und jede weitere
Auseinandersetzung um ein „Wie“ vergeudete Energie. Es erscheint also nicht nur aus
Gründen wissenschaftlicher Redlichkeit angebracht, darauf zu verzichten, der Geschichte
im Vorhinein einen Fortschritt zu unterlegen oder abzusprechen – in beiden Fällen ginge
es ja dann nur darum, Argumente zur Bestätigung der einmal gesetzten Vorurteile zu
finden, was mit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht viel zu tun hat. Es wäre
auch aus pragmatischer Hinsicht ein sinnloses Unterfangen, Zeit und Kraft für eine
Verständigung über etwas aufzubringen, dessen Wirklich- oder Unwirklichkeit völlig
unberührt von eben dieser Verständigung bleibt. Wir könnten behaupten, dass es
notwendigerweise einen Fortschritt in der Geschichte gibt, oder aber, dass es ihn nicht
geben kann, wir würden nichts dadurch gewinnen. Auch keinen Einblick in die
Wirklichkeit, denn diese könnte sich im positiven wie im negativen Votum genau
gegensätzlich zu unseren Überzeugungen verhalten. So gewendet kann man nicht nur mein
Interesse an dieser Untersuchung, sondern gerade auch die Entscheidung, den Fokus dieser
Arbeit auf die Frage nach der Möglichkeit von Fortschritt als einer objektiv guten
Entwicklung zu legen, pragmatisch nennen.
Nach der Möglichkeit von Fortschritt zu fragen heißt, nach den Bedingungen der
Möglichkeit einer objektiv guten Entwicklung zu fragen. Aber es heißt zum anderen auch,
15
der Frage nachzugehen, ob diesen Bedingungen und damit der Möglichkeit von Fortschritt
selbst Wirklichkeit zugesprochen werden kann. Denn ohne die Wirklichkeit der
Bedingungen der Möglichkeit hätte sich die Möglichkeit von Fortschritt erübrigt. Es bliebe
bei einem von der Wirklichkeit losgekoppelten Gedankenspiel. Diese beiden Ebenen gilt
es also im Kopf zu behalten, wenn in dieser Arbeit den Bedingungen der Möglichkeit von
Fortschritt nachgegangen wird. Damit ist an die vorliegende Untersuchung der Anspruch
einer begrifflichen Grundlagenarbeit gestellt, die im positiven Falle Anknüpfungspunkte
auch für Auseinandersetzungen über ein konkreteres „Wie“ möglichen Fortschritts bieten
wird.
Fortschritt und Kritik
Dass die erneuerte Diskussion des Fortschrittbegriffes laut Untertitel auf kritische Weise
erfolgen soll, kann zum einen auf den vorausgesetzten Anspruch einer mit theoretischer
Unvoreingenommenheit verbundenen kritisch-prüfenden Auseinandersetzung bezogen
werden. Zum anderen klingt in dem Wort „kritisch“ aber auch der bereits angedeutete
Sachverhalt an, dass die Auseinandersetzung mit dem Fortschrittsbegriff selbst, soweit
dieser nicht bloß kritisiert, sondern positiv zu begreifen versucht wird, tendenziell als ein
heikles Unterfangen gesehen wird. Die Diskussion des Fortschrittsbegriffes ist auch in
diesem Sinne eine kritische Angelegenheit. Man bewegt sich mindestens am Rande
dessen, was in der Philosophie als Philosophie vertretbar ist. Wer sich mit dem
Fortschrittsbegriff zu beschäftigen beginnt, wird in der philosophischen Diskussion
unumgänglich auf einen Widerstand treffen, der sich beispielsweise in folgenden Sätzen
wiederspiegelt: „Die Idee des Fortschritts ist in den letzten Jahren von einflußreichen
Philosophen heftig attackiert worden“;3 „On se mobilise désormais contre le progrès;4
„Und schließlich verkümmerte sie [die Idee des Fortschritts; T. W.] zu einem
diskreditierten, gescheiterten Mythos“;5 „Die Auseinandersetzung mit dem Fortschritt ist
bekanntlich seit geraumer Zeit mehrheitlich eine kritische.“ 6 „Der moderne
Fortschrittsbegriff ist [...] mittlerweile dermaßen in Ungnade gefallen, dass man sich nur
noch unter großen Schwierigkeiten zu ihm bekennen kann.“7
Der in diesen Zitaten reflektierte Widerstand ist Ausdruck einer Entwicklung des geistigen
Klimas, dessen Beschaffenheit für die Fortschrittsdiskussion alles andere als günstig
3
Zachriat, Wolf Gorch: Die Ambivalenz des Fortschritts – Friedrich Nietzsches Kulturkritik, Berlin:
Akademie Verlag, 2001, Seite 11.
4
Taguieff, Pierre-André: Le Sens du Progrès – Une approche historique et philosophique, Paris: Éditions
Flammarion, 2004, Seite 11.
5
Salvadori, Massimo L.: Fortschritt – die Zukunft einer Idee, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2008, Seite
12.
6
Mäder, Denis: Fortschritt bei Marx, Berlin: Akademie Verlag, 2010, Seite 9.
7
Ebd., Seite 22.
16
gewesen ist. Die schon in der Zeit der Aufklärung, wie etwa bei Jean-Jacques Rousseau,
und sich auch später bei Friedrich Nietzsche und Jacob Burckhardt äußernden kritischen
Stimmen drängten sich spätestens in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts im Zuge der
Erfahrung der zwei Weltkriege und der Monstrosität des deutschen Nationalsozialismus
nun vollends in den Vordergrund. Dazu Hannah Arendt: „In weniger als sechs Jahren
zerstörte Deutschland das moralische Gefüge der westlichen Welt, und zwar durch
Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte [...].“8 Ernst Cassirer beschreibt die
Situation nach den beiden Weltkriegen wie folgt: „In den letzten dreißig Jahren, in der
Periode zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg, sind wir nicht nur durch eine
ernstzunehmende Krise unseres politischen und sozialen Lebens gegangen, sondern wir
wurden auch vor neue theoretische Probleme gestellt. Wir erlebten einen radikalen
Wechsel in den Formen politischen Denkens. Neue Fragen wurden aufgeworfen und neue
Antworten wurden gegeben. Probleme, die den politischen Denkern des achtzehnten und
neunzehnten Jahrhunderts unbekannt gewesen waren, traten plötzlich hervor. Vielleicht
der wichtigste und beunruhigendste Zug in dieser Entwicklung des modernen politischen
Denkens ist das Zutagetreten einer neuen Macht: der Macht des mythischen Denkens. Das
Übergewicht mythischen Denkens über rationales Denken in einigen unserer modernen
politischen Systeme ist augenfällig. Nach einem kurzen und heftigen Kampf schien das
mythische Denken einen klaren und endgültigen Sieg zu gewinnen. Wie war dieser Sieg
möglich? [...]. Wenn wir den gegenwärtigen Stand unseres kulturellen Lebens betrachten,
bemerken wir sofort, dass ein tiefer Abgrund zwischen zwei verschiedenen Gebieten
klafft. Kommt es zur politischen Handlung, dann scheint der Mensch Regeln zu befolgen,
die ganz verschieden sind von denen, die er in allen seinen theoretischen Betätigungen
anerkennt. Niemand würde daran denken, ein Problem der Naturwissenschaft oder ein
technisches Problem durch die Methoden zu lösen, die zur Lösung politischer Fragen
empfohlen und angewandt werden. Im ersten Fall streben wir, niemals andere als rationale
Methoden zu gebrauchen. Rationales Denken behauptet hier seinen Boden und scheint sein
Wirkungsfeld beständig zu erweitern. Wissenschaftliche Erkenntnis und technische
Beherrschung der Natur gewinnen täglich neue und beispiellose Siege. Im praktischen und
sozialen Leben des Menschen hingegen scheint die Niederlage des rationalen Denkens
vollständig und unwiderruflich zu sein. Man glaubt, dass der moderne Mensch auf diesem
Gebiet alles im Laufe seiner intellektuellen Entwicklung Gelernte vergisst. Man ermahnt
ihn, auf die ersten und primitivsten Stufen menschlicher Kultur zurückzugehen. Hier
bekennen rationales und wissenschaftliches Denken offen ihren Zusammenbruch; sie
kapitulieren vor ihrem gefährlichsten Feind.“9
8
9
Arendt, Hannah: Besuch in Deutschland, Berlin: Rotbuch Verlag, 1993, Seite 23.
Cassirer, Ernst: Vom Mythus des Staates, Zürich: Artemis, 1949, Seite 7f.
17
Der Fortschrittsbegriff, ehemals der Ausdruck rationaler Emphase, wurde in dieser
Kapitulation nun selbst zu einem Mythos erklärt und aus der philosophischen Diskussion
tendenziell ausgeschlossen. Im Folgenden werden acht Beispiele gegeben, die diese
Situation verdeutlichen und noch einmal vor Augen führen, aus welch unterschiedlichen
Richtungen der Widerstand gegen die Fortschrittsdiskussion erwuchs. Dabei wird weder
der Anspruch erhoben, dass die genannten Beispiele auch nur annähernd erschöpfend
wären, noch werden unterschiedliche Begründungen der Fortschrittskritik und etwaig
sichtbar werdende generellere Divergenzen der einzelnen Positionen im Verhältnis
untereinander genauer diskutiert. Man kann die folgenden Kurzdarstellungen als eine
„makroskopische“ Wetterkarte verstehen, auf der einige der besonders großen und weithin
sichtbaren Quellwolken verzeichnet sind, in denen sich jeweils Energien des geistigen
Klimas zusammenzogen und in Gewittern gegen den Fortschrittsbegriff entluden.
Claude Lévi-Strauss berichtet in seinen 1955 erschienenen Werk Traurige Tropen wie ihm
auf seinen Forschungsreisen um die Weilt die dunkle Seite der eigenen Kultur bewusst
wurde: „Denn der westlichen Kultur, der großen Schöpferin all der Wunder, an denen wir
uns erfreuen, ist es nicht gelungen, diese Wunder ohne ihre Kehrseite hervorzubringen.
[...] Was uns die Reisen in erster Linie zeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der
Menschheit besudelt haben.“10
1962 sprach Karl Löwith auf dem Siebten Deutschen Kongress für Philosophie zum
Thema „Philosophie und Fortschritt“ vom „Verhängnis des Fortschritts“, das gerade in
dem liege, was ihn scheinbar rechtfertige, seinem „ungeheuren Erfolg“.11 Selbst da also,
wo man sein Gelingen vermuten könnte, versteckt sich seine Negation. Die vor allem
technischen Errungenschaften der Menschheit haben die Grundübel des Lebens nicht
beseitigen können, das Ausmaß potentiellen Leidens hingegen ins „Ungeheuerliche“
gesteigert.
Vier Jahre später veröffentlichte Hans Blumenberg Die Legitimität der Neuzeit. Darin
argumentiert er, dass die Fortschrittsidee „zu einer Generalisierung gedrängt“ wurde, „die
ihren ursprünglich regional begrenzten und gegenständlich gebundenen Aussageumfang
überbeansprucht.“ Sie versuche damit Antwort zu geben auf die „großen und allzu großen
Fragen“ „nach dem Ganzen der Geschichte“, deren befriedigende Beantwortung schon das
christliche Denken nicht habe leisten können. Anstatt aus dieser unbefriedigenden Antwort
den Schluss der „reell nicht mehr einlösbaren Verbindlichkeit gegenüber dem Fortbestand
der großen Fragen“ zu ziehen, fühle man sich dazu gedrängt, auf diese eine neue Antwort
zu geben und habe die Fortschrittsidee und „ihre authentische Rationalität dabei
10
Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978, Seite 31.
Löwith, Karl: „Das Verhängnis des Fortschritts“, in: Helmut Kuhn/Franz Wiedmann: Die Philosophie
und die Frage nach dem Fortschritt, München: Verlag Anton Pustet, 1964, Seite 15ff.
11
18
überzogen“. 12 Das Grundproblem sei die Überforderung des menschlichen Denkens
hinsichtlich der unlösbaren Frage nach einer Totalstruktur der Geschichte, die ihren
Ursprung letztlich in einer verwirrten Wissbegier des Menschen habe.13
Ebenfalls 1966 wendet sich Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge gegen jede
begriffliche Fixierung des Menschen, ja gegen den Begriff des Menschen überhaupt: „In
unserer heutigen Zeit kann man nur noch die Leere des verschwundenen Menschen
denken. Die Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie
ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raumes, in dem es möglich ist,
zu denken. [...] Allen, die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner
Befreiung reden wollen [...] kann man nur ein philosophisches Lachen entgegensetzen –
das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen.“14 Kants Idee der Aufklärung als einer
Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit mit Hilfe des selbstständigen
Verstandesgebrauches im Hinblick auf die Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich
tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? wird bei Foucault geradezu
umgekrempelt.15 Selbständig zu denken bedeutet für Foucault „in der Kontingenz, die uns
zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit auffinden, nicht länger das zu sein, zu
tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.“16 Die kantischen Fragen werden
archäologisch-genealogisch gewendet und nach vorne heraus indefinit. Der zu verfolgende
philosophische Ethos sei das Bemühen, „so weit und so umfassend wie möglich, der
unbestimmten Arbeit der Freiheit einen neuen Impuls zu geben.“17 Dies hieße aber auch,
dass man „von allen Projekten Abstand nehmen muß, die beanspruchen global oder radikal
zu sein.“18 Denn diese würden ja wiederum umfassende Bestimmungen voraussetzen, die
es in der Geschichte zu verfolgen gäbe. Dass gerade die Idee eines universellen
Fortschrittes diesem Verdacht ausgesetzt ist, liegt auf der Hand.
Auch Jean-François Lyotard will sich von „der großen Erzählung“ der Menschheit
trennen. In seinem 1979 veröffentlichten Bericht über Das Postmoderne Wissen attestiert
er, dass die großen Emanzipations- und Spekulationserzählungen ihre Glaubwürdigkeit
verloren haben.19 Einst dienten sie zur Legitimation epistemischer Praxis, doch sei in der
inneren Struktur jener Erzählungen selbst bereits die Voraussetzung angelegt, dass sie
diese Funktion heute nicht mehr erfüllen können. In der Unterscheidung zwischen
präskriptiven und denotativen Äußerungen habe sich die heutige Wissenschaft auf letztere
12
Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996, Seite 59ff.
Vgl. ebd., Seite 263ff.
14
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974, Seite 412.
15
Ebd., Seite 410ff.
16
Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung?“, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hrsg.): Ethos
der Moderne Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag, 1990, Seite 49.
17
Ebd.
18
Ebd.
19
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen, Wien: Passagen Verlag, 2009, Seite 99ff.
13
19
beschränkt. Dieses wissenschaftliche Wissen könne weder durch die Aussicht auf die
Emanzipation autonomer Subjekte noch durch seinen Beitrag zu einem Prozess legitimiert
werden, an dessen Ende auf eine absolute Erkenntnis spekuliert wird. Im ersten Fall hieße
dies, denotative Aussagen durch präskriptive Aussagen begründen zu wollen. Dies sei
unmöglich, wie auch der gegenteilige Versuch, präskriptive Aussagen aus denotativen
Aussagen herzuleiten. Im zweiten Fall delegitimiere einerseits der Anspruch absoluter
Erkenntnis denotative Aussagen in ihrem Status als „wirkliches“ Wissen. Andererseits
delegitimiere eine als Zusammenhang denotativer Aussagen verstandene Wissenschaft den
Wissensstatus der Spekulation. Weder vermögen die großen Erzählungen heutige
Wissenschaft zu legitimieren, noch diese die großen Erzählungen. Deren Glaubwürdigkeit
ist aufgebraucht. Da aber auch die heutige Wissenschaft ihr denotatives Apriori nicht
denotativ begründen kann, sondern an dieser Stelle selbst präskriptiv verfährt, bleibt auch
sie einer allgemeinen Legitimation verlustig. „Dessémination“ nennt Lyotard die Situation
des heutigen Wissens. 20 Vor diesem Hintergrund plädiert er unter dem Titel der
„Paralogie“ für die Anerkennung der Verschiedenheit der menschlichen Sprachspiele, von
denen keines übergeordnete Geltung beanspruchen kann. Es ist eine pragmatische
Sichtweise des menschlichen Wissens als Praxis sich einer universellen Legitimation
entziehender maximal lokal-konsensueller Präskriptionen.21 Jegliche Aussagen, die den
Anspruch erheben, metadiskursiv über die richtige Richtung dieses heteromorphen
Sprachgeschehens aufklären zu können, sich also selbst aus der Reihe zeitlich und
räumlich kontingenter Sprachspiele herausheben, verlieren gerade in diesem universalen
Anspruch, durch den sie sich rechtfertigen wollen, ihre Glaubwürdigkeit. Dies trifft in
besonderer Weise auch auf die verschiedenen Fortschrittsbegriffe zu.
1980 antwortet Robert Spaemann in einem Vortrag auf die Frage „Unter welchen
Umständen kann man noch von Fortschritt sprechen?“ mit dem Vorschlag, auf den
Fortschrittsbegriff, zumindest im Singular, ganz zu verzichten, weil dieser „längst zu
einem Instrument der Selbstentfremdung des Menschen geworden“ sei.22
Oder man denke an Odo Marquard, der auszog, um „die Geschichtsphilosophie zu
vertreten“, „diejenige die Fortschritt sieht und will [...]“, und heimkommt mit der
Überzeugung, dass die Welt von solcher Philosophie zu verschonen sei.23
1989 macht Richard Rorty folgenden Vorschlag: „For we would no longer imagine a great
big Incarnate Logos called ,Humanity‘ whose career is to be interpreted either as heroic
20
Ebd., Seite 104.
Ebd., Seite 145ff.
22
Spaemann, Robert: „Unter welchen Umständen kann man noch von Fortschritt sprechen?“, in: ders.:
Philosophische Essays, Stuttgart: Reclam, 1994, Seite 149f.
23
Marquard, Odo: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, Seite
13f.
21
20
struggle or as tragic decline. Instead, we should think of many different past human
communities, each of which has willed us one or more cautionary anecdotes. Some of
these anecdotes may serve the turn of one or more of the different human communities of
the present day, depending upon their different needs and options. To think of history in
this way would be to stop trying to pick out world-historical turning points or figures, stop
trying to find historical events that somehow encapsulate and reveal the whole sweep of
History by laying out the whole range of possibilities open to Humanity.“24
In Anbetracht dieser „Gegengewitter“ stieg das Ausmaß der zu leistenden Begründung für
eine positive Aufnahme des Themas, zumindest innerphilosophisch, so immens an, dass
eine direkte Aktualisierung des Fortschrittsbegriffes kaum noch ratsam erschien und bis
heute offenbar erscheint. Begleitet und wahrscheinlich auch verstärkt wurde diese Kritik
durch die sich immer weiter durchsetzende evolutionstheoretische Einsicht, dass die
gesamte Wirklichkeit ein Prozess sei, der ziemlich langsam nirgendwohin gehe und
Fortschritt allein noch als eine funktionale Illusion im „Höher, Weiter, Schneller” des
soziobiologischen „struggle for life” verstanden werden könne.25 Aber trotz allem, klingt
nicht in den angeführten Kritiken ein unausgesprochener semantischer Rest mit, dass es
irgendwie und allgemein besser sei, vom Fortschrittsbegriff Abstand zu nehmen? Sind die
Kritiken nicht also Ausdruck einer impliziten Denkbewegung, die genau dem entspricht,
was explizit negiert wird?26
Es soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass das geschichtsphilosophische
Fortschrittsdenken in seinen historischen Formen tatsächlich von unhaltbaren
Vorstellungen geprägt war. Hier wäre vor allem die zum großen Teil mit diesen
verbundene Hypostasierung des Fortschrittes, der daraus erwachsende Optimismus und die
damit einhergehende Antizipation einer zukünftigen Perfektionierung zu nennen. Und es
waren ja genau diese Vorstellungen, die angesichts der geschichtlichen Entwicklung im
zwanzigsten Jahrhundert endgültig ihrer Illusionshaftigkeit überführt wurden; und auch
ihrer Gefährlichkeit, weil ein solches Denken den Sinn und damit die Sorgfalt für die
Realität verliert. Genau deshalb schlägt Spaemann vor, auf den Fortschritt im Singular zu
verzichten, um die kleinen Einheiten wieder ins Licht zu rücken, um den „Mythos des
24
Rorty, Richard: „The End of Leninism, Havel and Social Hope“, in: ders.: Truth and Progress,
Cambridge: Cambridge University Press, 1998, 242f.
25
Vgl. Ruse, Michael: „Evolution and Progress“, in: Trends in Ecology and Evolution, 8 (2), 1993, Seite
55-59; sowie Voland, Eckart: „Die Fortschrittsillusion“, in: Spektrum der Wissenschaft, 04/07, 2007, Seite
108-113. Es sei hier jedoch erwähnt, das Michael Ruse in Monad to Man herausgearbeitet hat, dass auch in
der evolutionstheoretischen Betrachtung, sobald sie die Ebene der „micro-problems“ verlässt und in
größere Zusammenhänge ausgreift, immer wieder auch der Fortschrittbegriff thematisch wird. Und es sei
nicht zu erwarten, dass sich dieses ändern werde. Vgl. Ruse, Michael: Monad to Man – the concept of
progress in evolutionary biology, Cambridge, MA/London, England: Harvard University Press, 2009, Seite
484, Seite 525, Seite 539.
26
Vgl. Taguieff (2004), Seite 21ff.
21
Fortschritts im Singular [...] durch den einzig vernünftigen Begriff von akzidentellen
Fortschritten und Rückschritten, von Verbesserungen und Verschlechterungen“
abzulösen.27 Anstatt darüber zu diskutieren, ob es einen globalen Fortschritt gibt, soll die
Aufmerksamkeit auf die Entwicklungen in einzelnen Bereichen gerichtet werden, aus
deren Zusammenspiel überhaupt so etwas wie ein Gesamtfortschritt erwachsen kann.
Spaemanns Vorschlag, den Fortschritt als Singular preiszugeben, speist sich also aus dem
Anliegen, auf die Gefahr hinzuweisen, die in der Hypostasierung des Fortschritts im
Singular zu einer eigenen Wirklichkeit liegt.28
Diese von Spaemann und vielen anderen zu Recht kritisierte Problematik ist meines
Erachtens aber nicht dadurch sinnvoll gelöst, dass man den Singular meidet und die Frage
nach dem Fortschritt an diesem Punkt in gewisser Weise überhaupt abbricht. Denn mit der
Fokussierung auf den situativen Plural gerät die für den Fortschrittsbegriff ganz
entscheidende, universelle Offenheit der Fortschrittsdiskussion in den Hintergrund.
Fortschritt im Singular muss ja gar nicht als hypostasierte Gesamtheit aller vergangenen
und zukünftigen Veränderungen gedacht werden, als der eine Schritt der gesamten
Menschheitsgeschichte, der entweder in Anbetracht negativer Entwicklungen sich in seiner
Inkonsistenz selbst in Frage stellt oder den Blick für die konkreten Entwicklungen
überhaupt verliert. Sondern er kann auch, und das vielleicht in einer stringenteren Weise,
als die Frage nach den notwendigen Grundbedingungen begriffen werden, unter denen
überhaupt Fortschritte im Plural möglich sind. Deren gedanklich projizierte Realisationen
in ihrer Gesamtheit will sich der Gattungsgedanke dann in seinen emphatischen Singular
als Singular einverleiben – als gäbe es nicht nur den einen Gattungsbegriff „Mensch“,
sondern als gäbe es die eine Menschheit, für die Eins ist, was für die einzelnen Menschen
Vieles ist, viele Schritte ein Schritt.
Die Feststellung, dass sich die Frage nach dem Fortschritt sämtlichen Bereichen und
Situationen des Lebens nach immer feiner aufgliedern lässt, ist kein Argument gegen den
Singular, sondern das konkretisierte Bild seiner universalen Offenheit. Nicht der Singular
selbst wäre demnach das Problem, sondern allein seine Hypostasierung, also die
Behauptung, dass Fortschritt als Gesamtheit des historischen Geschehens Statt hat; als
wäre – schwierig genug, das festzustellen – nicht nur die bisherige Geschichte bereits eine
so geartete Realisierung, sondern auch die Zukunft, unabhängig von unseren tagtäglichen,
immer erst noch zu zeitigenden Handlungen oder als würden diese gar nichts anderes als
eine solche Entwicklung hervorbringen können. Anders verhält es sich aber, um mit Kant
zu sprechen, wenn nach den Bedingungen der Möglichkeit von Fortschritten gefragt wird,
als den Bedingungen, die sämtlichen Fortschritten ihrer Möglichkeit nach vorausgesetzt
werden müssen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Formulierung eines Singulars nicht
27
28
Spaemann (1994), Seite 149.
Vgl. ebd., 135ff.
22
nur möglich, sondern sinnvoll, ohne dabei die Mannigfaltigkeit der Bereiche und
Situationen, in denen sich die Frage nach Fortschritt im Lebensvollzug jeweils
wiederfindet, in Abrede zu stellen. Vielmehr als danach zu fragen, ob die Geschichte
einem Fortschritt entspricht, soll in dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, ob ein
Fortschritt und damit auch mehrere Fortschritte überhaupt möglich sind.
Begriffsgeschichtliche Deckungnahme
Will man sich trotz der „Ungnade“, in die der Fortschrittsbegriff gefallen ist, und trotz der
„großen Schwierigkeiten“, die sich diesbezüglich vor einem auftun, dennoch mit diesem
„gescheiterten Mythos“ auseinandersetzen, gegen den „mobilisiert“ und der von
einflussreicher Seite „attackiert“ wird, so scheinen sich, schaut man sich die Literatur der
letzten ungefähr sechzig Jahre an, vor allem drei Varianten einer Strategie anzubieten, die
man als „begriffsgeschichtliche Deckungnahme“ bezeichnen könnte. Die erste Variante ist
die kommentierte Herausgabe historischer Originaltexte (beispielsweise Fetscher (1956)
zu Auguste Comte, Alff (1976) zu Condorcet oder Rohbeck (1990) zu Turgot). Die zweite
Variante dieser Strategie ist die mehr oder weniger umfassende Darstellung der
historischen Entwicklung der Fortschrittsdiskussion mit ihren unterschiedlichen
systematischen Gehalten (Nisbet 1980, Rapp 1992, Taguieff 2004). Die dritte Variante
liegt in der fokussierten Herausarbeitung überkommener Fortschrittsbegriffe mit
Konzentration auf einzelne, möglichst namhafte Protagonisten der Diskussion (Kleingeld
(1995) zu Kant, Zachriat (2001) zu Nietzsche, Owen (2002) zu Habermas, Iser (2008) zu
Habermas sowie Honneth und Mäder (2010) zu Marx). Solange man historisch vorgeht,
können die systematisch dargestellten oder kommentierten Begriffe zumindest in
begriffsgeschichtlicher Hinsicht gerechtfertigt werden.
Diese Strategie verfolgte auch bereits John B. Bury in seiner 1920 veröffentlichten Studie
The Idea of Progress – An Inquiery into its Origin and Growth, der ersten großen
ideengeschichtlichen Abhandlung zum Fortschrittsbegriff: „To examine or even glance at
this literature, or to speculate how theories of Progress may be modified by recent
philosophical speculation, lies beyond the scope of this volume, which is only concerned
with tracing the origin of the idea and its growth up to the time when it became a current
creed.“ 29 Allerdings sah er sich im Vergleich zur heutigen Diskussion wohl aus
umgekehrten Vorzeichen zu dieser begriffsgeschichtlichen Deckungnahme veranlasst,
wenn er weiter schreibt: “But there is another order of ideas that play a great part in
determining and directing the course of man’s conduct but do not depend on his will –
ideas which bear upon the mystery of life, such as Fate, Providence, or personal
29
Bury, John B.: The Idea of Progress - An inquiry into its origin and growth (1960), Toronto: General
Publishing Company, 1987, Seite 348.
23
immortality. Such ideas may operate in important ways on the forms of social action, but
they involve a question of fact and they are accepted or rejected not because they are
believed to be useful or injurious, but because they are believed to be true or false. The
idea of progress of humanity is an idea of this kind, and it is important to be quiet clear on
the point. We now take it so much for granted, we are so conscious of constantly
progressing in knowledge, arts, organizing capacity, utilities of all sorts, that it is easy to
look upon Progress as an aim, like liberty or world-federation, which it only depends on
our own efforts and good-will to achieve. […] Enough has been said to show that the
Progress of humanity belongs to the same order of ideas as Providence or personal
immortality. It is true or it is false, and like them it cannot be proved either true or false.
Belief in it is an act of faith.“30 Der „Glaube an den Fortschritt“ war damals wohl noch zu
stark, als dass Bury ihn in der Öffentlichkeit generell in Abrede hätte stellen wollen.
Dennoch scheint sein Zweifel an dieser Idee deutlich durch, wenn er danach fragt, ob es
nicht gerechtfertigt sei, dieses Dogma gewissermaßen von sich selbst zu befreien („In
escaping from the illusion of finality, is it legitimate to exempt that dogma itself?“); oder
wenn er von einer Doktrin mit einem nur relativem Wert spricht, den diese allein für eine
bestimmte nicht sehr weit fortgeschrittene Zivilisation habe („Progress itself suggests that
its value as a doctrine is only relative, corresponding to a certain not very advanced stage
of civilisation.“).31
Heute verhält es sich anders herum. Wer sich philosophisch zum Fortschrittsbegriff äußern
möchte, der kann zwar durchaus auf einige positive Aspekte innerhalb der historischen
Fortschrittsdiskussion hinweisen. Diese bleiben aber immer mit dem expliziten oder
impliziten Zugeständnis verbunden, dass von einer generellen Rehabilitierung „des
Fortschritts“ abgesehen wird und die Auseinandersetzung einer heilsamen Aufklärung
dieses modernen Mythos diene, indem man auf die Grenzen des Fortschrittsbegriffes
aufmerksam mache. Als rechtfertigendes Ziel einer solchen Auseinandersetzung wird nicht
zuletzt auch die Aussicht auf ein besseres Verständnis unserer Zeit angeführt.
Zu Variante 1: Iring Fetscher schreibt in seiner Einleitung zu Auguste Comtes Rede über
den Geist des Positivismus: „Vielleicht ist aber heute die Zeit gekommen, da wir
unbefangen und über polemische Abwehr erhaben, die großen Konstruktionen dieses
Denkers würdigen können. Es wird sich zeigen, dass eine Reihe von voreiligen Urteilen
[...] der Korrektur bedürfen [...]. [...] Heute ist uns die positivistische
Geschichtsphilosophie und die ‚Pedantokratie‘ nur noch ein Gegenstand historischen
30
Ebd., Seite 1ff.
Ebd., Seite 352. Robert Nisbet ist hier anderer Meinung und denkt, dass Bury die Idee des Fortschritts
feiere. Er spricht in diesem Zuge von Burys „historiographic celebration of the idea of progress“, Nisbet,
Robert: History of the Idea of Progress, New York: Basic Books, 1980, Seite 321.
31
24
Interesses, damit aber zugleich ein Mittel zum besseren Verständnis unserer Zeit.“ 32
Nostalgischer äußert sich Wilhelm Alff angesichts des in Condorcets Gedanken deutlich
werdenden Menschheitsbewusstseins: „Angesichts dessen, was einmal bewußt war, will
uns Trauer ergreifen über die kollektive Vergeßlichkeit, zu der die Nachwelt sich bereit
gefunden hat.“ 33 Johannes Rohbeck gibt in der Einleitung der von ihm
mitherausgegebenen geschichtsphilosophischen Texte Turgots, die zentral die „Fortschritte
des menschlichen Geistes“ thematisieren, zu bedenken, dass in diesen eine Kritik an der
Vorstellung einer „uneingeschränkten Machbarkeit der Geschichte“ deutlich werde,
diesem „Mythos von Vernunft, der alles Denkbare auch für herstellbar hält.“ 34 Eine
Beschäftigung mit Turgot „kann dadurch auch zur Selbstkorrektur des Prinzips Aufklärung
beitragen.“35
Zu Variante 2: In ähnlichem Sinne schreibt Friedrich Rapp in Fortschritt – Entwicklung
und Sinngehalt einer philosophischen Idee: „Das Wissen um Ursprung, Wandel und
systematischen Gehalt der Fortschrittsidee ist geeignet, hier differenzierende und auf
heilsame Weise relativierende Einsichten zu vermitteln.“36 Und Pierre-André Taguieff, der
in seinem Le Sens du Progrès – une approche historique et philosophique die Wiederkehr
der Fortschrittsidee im öffentlichen Diskurs diagnostiziert, ist der Meinung, dass man diese
„säkulare Proto-Religion der Moderne“ („proto-religion séculière de la modernité“)
dringend wieder in die philosophisch-klärende Diskussion aufnehmen und die Möglichkeit
und Wünschbarkeit einer Rückkehr zur Idee des Fortschritts überdenken sollte, indem man
ihre Ursprünge und Anfänge, ihre Funktionen und Wirkungen, ihre Abenteuer und
Wandlungen thematisiert. 37 Die Wiederkehr der Fortschrittsidee in die Öffentlichkeit
bringt für Taguieff die Notwendigkeit einer philosophischen Wiederaufnahme der
Thematik mit sich, damit aus dieser Kreisbewegung kein Teufelskreis werde: „Il y a là un
cercle théorique qui, pour ne pas devenir ‚cercle vicieux‘ doit faire l’objet d’une
clarification.“38 In dieser Wiederkehr der Fortschrittsthematik und ihrer philosophischkritischen Durchdringung, der von Taguieff geforderten „clarification“, wird nun eine
theoretische Bewegung deutlich, welche man in Anschluss an Habermas als „Aufklärung
über die Aufklärung“ bezeichnen kann oder wie im obigen Zitat von Rohbeck als
32
Fetscher, Iring (Hrsg.): August Comte – Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg: Felix Meiner,
1956, Einleitung, Seite XVf., Seite XLIV.
33
Alff, Wilhelm: „Condorcet und die bewußt gewordene Geschichte“, in: ders. (Hrsg.): Condorcet –
Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, 1976, Einleitung, Seite 26.
34
Rohbeck, Johannes: „Turgot als Geschichtsphilosoph“, in: ders. (Hrsg.): Turgot – Über die Fortschritte
des menschlichen Geistes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990, Seite 87.
35
Ebd.
36
Rapp, Friedrich: Fortschritt – Entwicklung und Sinn einer Philosophischen Idee, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, Seite 6.
37
Taguieff (2004), Seite 18f.
38
Ebd.
25
„Selbstkorrektur des Prinzips Aufklärung“.39 Es geht um die Kraft kritischen Denkens, das
sich kritisch auch mit dem auseinandersetzt, was in seinem Namen an „Unheil“ angerichtet
wurde, und so zu einer Läuterung des Aufklärungsbegriffes beiträgt.40 Zu dieser Läuterung
gehöre es aber auch, von pauschalen Urteilen über „die Aufklärung“ abzusehen und das
kritische Potential zu bergen, das in der vielstimmigen „Aufklärungskultur“ des
achtzehnten Jahrhunderts selbst liegt, von vorurteilsbeladenen Generalisierungen jedoch
verschüttet wird.41 Dass darin auch die Thematisierung des Fortschrittsbegriffes beinhaltet
ist, sollte insofern auf der Hand liegen, als die in ihrem Beginn mit der
Fortschrittsthematik in eins fallende Geschichtsphilosophie eines der zentralen Momente
der philosophischen Diskussion der Aufklärungsepoche war.42
Zu Variante 3: Genau in einem solchen Sinne kann Pauline Kleingelds Untersuchung
Fortschritt und Vernunft: Zur Geschichtsphilosophie Kants verstanden werden. Kleingeld
fragt unter anderem nach der aktuellen Möglichkeit von Geschichtsphilosophie, die
„heutzutage vielfach als ein im schlechten Sinne ‚spekulatives‘ Unternehmen aufgefaßt“
werde.43 Auch Kants Theorie des Fortschrittes gelte gemeinhin als überzogen.44 Kleingeld
setzt sich in ihrer Untersuchung das Ziel, „diese Darstellung [...] zu korrigieren.“45 Auch
wenn das natürlich nicht bedeute, dass sich Kants Geschichtsphilosophie „in unveränderter
Form heute noch verteidigen ließe“, so kommt Kleingeld im Ergebnis zu einer „Behebung
oder Nuancierung einiger oft gemachter Vorwürfe.“ 46 „Wenn Geschichtsphilosophie
überhaupt noch möglich sein soll, so bilden Kants Gedanken [...] wohl einen Ansatz zu
ihrer heutigen, nicht-dogmatischen Form.“ 47 Zwar nicht um eine Aufklärung „der
Aufklärung“, doch aber um eine Aufklärung über die sich an diese anschließende
Fortschrittsdiskussion im 19. Jahrhundert geht es auch in Denis Mäders Fortschritt bei
Marx. Mäder will Marx vor der Ansicht schützen, sein Denken gehe von „einer dem
Prinzip des Fortschritts untergeordneten Universalgeschichte“ aus, ein Bild, das immer
noch die Marxrezeption präge.48 Die als Heilslehrenvorwurf und ambivalenztheoretische
Kritik gegen das marxsche Denken gerichteten Anfechtungen seien insofern
39
Habermas, Jürgen: „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“, in: ders.: Kleine politische Schriften,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981, Seite 444-464.
40
Vgl. Rohbeck, Johannes: Aufklärung und Geschichte – Über eine praktische Geschichtsphilosophie der
Zukunft, Berlin: Akademie Verlag, 2010, 32ff.
41
Vgl. ebd., Seite 39ff.
42
Vgl. Nagl-Docekal, Herta: „Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich?“, in: dies. (Hrsg.): Der Sinn
des Historischen, Frankfurt a.M.: Fischer, 1996, Seite 7ff.
43
Kleingeld, Pauline: Fortschritt und Vernunft: Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg:
Königshausen & Neumann, 1995, Seite 1ff.
44
Vgl. ebd.
45
Ebd.
46
Ebd.
47
Ebd.; vgl. Kleingeld, Pauline: „Zwischen kopernikanischer Wende und großer Erzählung. Die Relevanz
von Kants Geschichtsphilosophie“, in: Herta Nagl-Docekal (Hrsg.): Der Sinn des Historischen, Frankfurt
a.M.: Fischer, 1996, Seite 173ff.
48
Mäder (2010), Seite 9ff.
26
ungerechtfertigt, als dass Marx einen Fortschrittsbegriff entwickelt habe, der sich diesen
gerade entziehe. „Fortschritt bildet für ihn die Möglichkeit positiver Entwicklung, ohne
andersartige oder gegenläufige Entwicklungsformen (namentlich Regression und
Stillstand) darin aufzuheben.“49 Marx gehe also gerade nicht von einer Identifizierung von
Fortschritt und Geschichte aus, in der sich die Geschichte stetig einem „Heil“ nähert oder
in ihrer konfliktartigen Natur den Fortschrittsbegriff letztlich zur Bedeutung eines
ambivalenten Geschehens neutralisiert. Ebenfalls um den Abbau von interpretativen
Vorurteilen geht es Wolf Gorch Zachriat in Ambivalenz des Fortschritts – Friedrich
Nietzsches Kulturkritik. Zachriat kommt zu dem Schluss, dass, anders als gemeinhin
angenommen, Nietzsches Philosophie nicht nur eine negative Positionierung zum
Fortschrittsbegriff beinhalte, sondern auch eine „positive Fortschrittsvorstellung“ zur
Verfügung stelle. 50 „In der Vereinbarkeit seiner antiprogressiven und progressiven
Vorstellungen spiegelt sich letztlich die Ambivalenz eines Fortschrittsdenkens wieder, das
sowohl die Verherrlichung als auch die Verdammung des Fortschritts als einseitig
demaskiert.“51 Etwas anders als in den bisher genannten Beispielen verhält es sich bei den
Arbeiten, deren Anliegen es ist, den Fortschrittsbegriff in ein Verhältnis zu
zeitgenössischen Philosophien zu setzen, deren Ausbildung von Anfang an in eben jenem
zur „begriffsgeschichtlichen Deckungnahme“ hindrängenden geistigen Klima stattfand.
Die grundsätzliche Fragwürdigkeit des Fortschrittsbegriffes wurde nicht mehr vollzogen,
bloß noch konstatiert. Damit war die Fraglichkeit bestimmter Fortschrittsvorstellungen in
die Kritik der Fortschrittsdiskussion überhaupt übergegangen, der Begriff verlor seine
diskursive Relevanz, zumindest in der Philosophie. Darin mag ein gewichtiger Grund
dafür liegen, dass selbst diejenigen Philosophen, die wie Habermas an die Aufklärung
anschließen wollen, es offensichtlich bewusst oder unbewusst vermieden haben, den
Fortschrittsbegriff explizit zu erneuern. Dass eine solche Erneuerung zumindest bei Jürgen
Habermas und Axel Honneth auf implizite Weise dennoch geschehen ist, versuchen David
S. Owen in Between Reason and History – Habermas and the idea of Progress und
Mattias Iser in Empörung und Fortschritt – Grundlagen einer kritischen Theorie der
Gesellschaft deutlich zu machen.52
49
Ebd., Seite 10.
Zachriat (2001), Seite 70ff.
51
Ebd., Seite 216.
52
Owen, David S.: Between Reason and History – Habermas and the idea of Progress, New York: State
University of New York Press, 2002; Iser, Mattias: Empörung und Fortschritt – Grundlagen einer
kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag, 2008.
50
27
Zum Weg dieser Untersuchung
Wenn man von der Hypostasierung eines Fortschrittes in der Geschichte Abstand nimmt,
bleibt alleine, den Fortschrittsbegriff ins Praktische zu wenden. Dieser Einsicht folgt auch
Rohbeck in Aufklärung und Geschichte – Über eine praktische Geschichtsphilosophie der
Zukunft. 53 Allerdings konzentriert sich dieser nicht direkt auf den Fortschrittsbegriff,
sondern auf eine Erneuerung der Geschichtsphilosophie. „Wie im Titel ‚praktische
Geschichtsphilosophie der Zukunft‘ zum Ausdruck kommt, lege ich Wert auf die Nähe zur
praktischen
Philosophie.
[...]
Die
Aufgabe
besteht
darin,
alternative
Handlungsmöglichkeiten in der Geschichte freizulegen, um die gegenwärtigen
Lebensbedingungen nach ethischen Maßstäben verändern zu können. Dieses Programm,
das an Rousseau, Nietzsche und Benjamin anschließt, lässt sich mit gegenwärtigen
Theorien der Kontingenz so operationalisieren, dass neue Chancen für praktische Freiheit
und verändernden Eingriff sichtbar werden. So verstärkt sich in der
Geschichtswissenschaft das Interesse für ungenutzte Optionen, wie in methodologischen
Reflexionen über kontrafaktische Erklärungen zum Ausdruck kommt. In den
Sozialwissenschaften bis hin zur evolutionären Ökonomik richtet sich die Aufmerksamkeit
zunehmend auf Kontingenzen, um dem Mythos einer linearen Optimierung
entgegenzutreten. Der Grundtenor besteht darin, trotz erdrückender Systemzwänge mit
Kontingenzen vernünftig und verantwortungsvoll umzugehen. In diesen Tendenzen
erkenne ich ein Zeichen dafür, dass die Rolle der handelnden Subjekte wiederentdeckt und
aufgewertet wird. Selbstverständlich sind damit nicht nur Individuen gemeint, sondern vor
allem auch kollektive Subjekte und Institutionen. In der Auflösung derartiger
Knotenpunkte in sozialen Prozessen sehe ich die Funktion einer praktischen
Geschichtsphilosophie der Zukunft.“54
Zunächst scheint der Fortschrittsbegriff bei Rohbeck kein zentraler Aspekt der
Geschichtsphilosophie mehr zu sein, sondern wird als eine von drei möglichen
Verlaufsformen geschichtlicher Prozesse thematisiert, „Fortschritt, Stagnation und Verfall.
Die Fortschrittsidee schwingt im Utilitarismus mit, wenn eine Steigerung der Zivilisation
angenommen und dann auch noch zugunsten zukünftiger Generationen zur Pflicht
gemacht wird. Das Denkmuster der Stagnation schleicht sich ein, wenn etwa Jonas den
Utopismus verurteilt und dazu aufruft, die gegenwärtige Natur und Kultur zumindest zu
bewahren. Das Verfallsszenario kommt in aktuellen Zukunftsethiken ins Spiel, wenn offen
darüber debattiert wird, ob eine Verschlechterung der Lebensbedingungen moralisch
gerechtfertigt werden kann, wenn die natürlichen, technischen und organisatorischen
Mittel erhalten bleiben, die es einer zukünftigen Generation ermöglichen, ihr kulturelles
53
54
Rohbeck (2010).
Ebd., Seite 22f.
28
Niveau aus eigener Anstrengung wieder zu verbessern.“ 55 Diese Befreiung der
Geschichtsphilosophie von der Dominanz des Fortschrittsbegriffes ist insofern
verständlich, als dies ja gerade die Konsequenz der Absage an jegliche hypostasierte
Festlegung der geschichtlichen Prozesse auf eine bestimmte Verlaufsform bedeutet. Doch
führt man sich diese drei genannten Verlaufsformen genauer vor Augen, so muten diese in
der für Rohbeck so entscheidenden praktischen Orientierung seiner Geschichtsphilosophie
nicht sehr vielversprechend an. Die handelnden Subjekte können sich in diesem Bild
gewissermaßen entscheiden zwischen einem Fortschritt, demzugute sie allein zugunsten
anderer Verzicht leisten; einer Stagnation, die auf das in geschichtlicher Hinsicht wenig
realistisch erscheinende Festhalten am Status quo zielt; sowie drittens einem Verfall, bei
dem zwar nicht Verzicht geleistet werden muss, der aber auf Kosten zukünftiger
Generationen geschieht, was wiederum mit dem von Rohbeck richtigerweise betonten
verantwortungsvollen Umgang mit den uns gegebenen Handlungsmöglichkeiten nicht
ganz zusammenstimmen will.
Und Rohbeck selbst geht deshalb weiter. „Doch ist in diesen Debatten ein gemeinsamer
Grundsatz erkennbar, der sich dem geschärften Geschichtsbewusstsein verdankt. Wenn
von der prinzipiellen Offenheit des Geschichtsverlaufs auszugehen ist, folgt daraus für die
Zukunftsethik, dass nicht primär für bestimmte Güter vorgesorgt wird, weil man ja nicht
wissen kann, ob diese von den zukünftigen Generationen geschätzt werden. Vielmehr ist
es geboten, die Bedingungen der Möglichkeit zu schaffen, dass verschiedenartige Güter
zur Verfügung stehen. Ebenso wenig geht es um die Sorge für festgelegte Interessen später
lebender Personen, sondern um die Entwicklung und Erhaltung von zumutbaren
ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben.
Ziel ist es, den Möglichkeitshorizont offen zu halten, indem Handlungsspielräume zur
Verwirklichung je eigener Lebensentwürfe erhalten oder geschaffen werden. In diesem
Kontext mutiert die ‚Offenheit der Geschichte‘ zu einer ethischen Kategorie.“56 In dieser
Hervorhebung des gemeinsamen Grundsatzes der drei sich um Fortschritt, Stagnation und
Verfall drehenden Debatten hält Rohbeck aber schließlich allein noch am Begriff des
Fortschrittes fest. „Geschichtsphilosophisch formuliert, besteht die so ermöglichte Freiheit
darin, generell den zivilisatorischen ‚Fortschritt‘ selbst zu bestimmen, indem auch zur
Disposition steht, ob sich eine Generation auf einem bescheideneren Niveau andere
Vorteile der Umwelt und sozialen Gerechtigkeit verschaffen kann.“57 Von Stagnation und
Verfall ist nicht mehr die Rede. Verständlicherweise, denn diese sind keine vernünftig
vermittelbaren Optionen praktischen Strebens.
55
Ebd., Seite 231.
Ebd., Seite 232.
57
Ebd., Seite 233.
56
29
Allerdings, auch das wird bei Rohbeck deutlich, muss der Fortschrittsbegriff dafür neu
gegriffen werden. Er kann nicht mehr allein als ein an einem allgemeinen oder universalen
Maßstab gemessenes Steigerungsgeschehen bzw. Verbesserungsgeschehen verstanden
werden. Es verbiete sich, „die aufeinanderfolgenden Epochen nach einem einheitlichen
Maßstab zu beurteilen.“58 Was aber bedeutet Fortschritt dann? Dass Rohbeck dabei nicht
zu einer völlig relativistischen oder subjektivistischen Vorstellung von Fortschritt
übergehen will, wird in seinem Festhalten an der Entwicklung und Erhaltung von
menschenwürdigen Lebensbedingungen deutlich. Aber ein genaueres Verständnis dieses
neuen Fortschrittsbegriffes entwickelt er nicht. Die von Rohbeck mitgedachte Erneuerung
des Fortschrittsbegriffes kann aber auch gar nicht Teil seiner anvisierten praktischen
Geschichtsphilosophie sein. Vielmehr wird Fortschritt als das, was durch die
geschichtsphilosophische Freilegung von Handlungsalternativen als „Chancen für
praktische Freiheit und verändernden Eingriff“ befördert werden soll, begrifflich
vorausgesetzt und kann nicht selbst aus der geschichtsphilosophischen Betrachtung heraus
entwickelt werden. Jedoch nennt er im obigen Zitat selbst den Ansatzpunkt, an dem eine
mögliche Erneuerung des Fortschrittsbegriffes ansetzen kann: die „handelnden
Subjekte“. 59 Der in Frage stehende Fortschrittsbegriff kann nun nicht mehr als einer
gedacht werden, der über die Köpfe der Subjekte einfach hinweggeht. Die Subjekte
müssen es als eine wirkliche Option ihres Verhaltens verstehen können, etwa auch in Form
der von Rohbeck vorgeschlagenen geschichtsphilosophischen Auseinandersetzung, zu
einem solchen Fortschritt beizutragen.
Rohbeck unterscheidet dabei zwischen zwei Arten von Subjekten: individuelle Subjekte
und kollektive Subjekte. Demnach gäbe es zwei Möglichkeiten, zu einer Erneuerung des
Fortschrittsbegriffes anzusetzen. Der zweiten Möglichkeit scheinen mir, wenn auch eher
implizit, Habermas und Honneth in ihrer Betonung der Interaktion und des Sozialen und
mit ihnen Owen und Iser nachgegangen zu sein, zuletzt aber auch Philip Kitcher in The
Ethical Project, wenn er den Fortschrittsbegriff im Hinblick auf die kollektive
Hervorbringung und Weiterentwicklung sozialer Normen thematisiert. 60 Allerdings
scheint mir dieser Ansatz bei den kollektiven Subjekten insofern nicht hinreichend zu sein,
als dass die soziale Interaktion und die Normsetzungspraxis ja selbst wiederum Bereiche
sind, die ihrerseits im Hinblick auf „Chancen für praktische Freiheit und verändernden
Eingriff“ im Sinne des in Frage stehenden Fortschrittsverständnisses thematisiert
werden können. So bleiben am Ende allein die individuellen Subjekte, von denen aus
meines Erachtens eine grundlegende Erneuerung des Fortschrittsbegriffes zu beginnen
hätte, auch wenn damit die unter anderem von der Frankfurter Schule betonte,
58
Ebd., Seite 230.
Ebd., Seite 22f.
60
Kitcher, Philip: The Ethical Project, Cambridge, MA/London, England: Harvard University Press, 2011.
59
30
mitunter sehr starke soziale Prägung und Abhängigkeit der Individualität in
intersubjektiver Interaktion nicht geleugnet werden soll.
Im Hinblick auf einen bei den individuellen Subjekten ansetzenden Fortschrittsbegriff
kommt Kant als Wegbereiter meiner Ansicht nach deswegen nicht in Frage, weil er in
seiner Vorstellung des individuellen moralischen Fortschrittes diesen allein als am
allgemeinen
Maßstab
des
moralischen
Gesetzes
orientiertes
beständiges
Verbesserungsgeschehen konzipiert. Über eine solche Vorstellung gilt es jedoch gerade
hinauszukommen. Nietzsche, auf den sich wie im Zitat deutlich geworden auch Rohbeck
beruft, scheint in seiner Hervorhebung der Individualität schon näher an dem gesuchten
Fortschrittsverständnis zu liegen, jedoch bleibt er am Ende an einem entscheidenden Punkt
zu sehr individualistisch. Den Weg über das Individuum sucht auch Hans Michael
Baumgartner in seinem Aufsatz Die Idee des Fortschritts – Versuch einer Grundlegung.61
In diesem schlägt er ein Verständnis von Fortschritt als „Schritt auf dem Weg zur
vollendeten Transparenz des absolut Vollkommenen in der endlichen Freiheit“ 62 vor.
Dieses Transparent-Werden des absolut Vollkommenen in der endlichen, d.h.
individuellen Freiheit versteht Baumgartner als einen Verwandlungsprozess individueller
Freiheit, die sich im Anspruch eines absoluten Wert-Seins erfährt, auf welches hin sie sich
öffnen und ihr Streben eine Richtung bekommen kann. Das absolute Wert-Sein ermögliche
die objektive Bewertung von Veränderung hin zu einem Höhersein und damit eine
wirkliche Orientierung und Fortschritt.63 Ich kann hier nicht in eine tiefere Diskussion von
Baumgartners Argumentation einsteigen, aber soviel sei gesagt; Dieser Aufsatz stellt nur
eine grundlegende Skizze eines Fortschrittsbegriffes dar, bei dem zentrale Aspekte nicht
genauer argumentativ entwickelt werden, was eine ergiebige Kritik von vorn herein
erschwert, wenn nicht verhindert. 64 Außerdem erscheint mir seine Konzeption des
Verhältnisses zwischen absolutem Wert-Sein und endlicher Freiheit nicht plausibel. Und
schließlich wird in dieser Konzeption wiederum an einem Verständnis von Fortschritt als
ein an einem allgemeinen Maßstab orientiertes Steigerungsgeschehen festgehalten. „Die
Freiheit schreitet fort, indem sie sich in ihrem Sichverstehen als Freiheit ermöglicht und im
Selbstvollzug die gesamte Interpersonalität mit einbezieht, um im Medium einer
anfänglich immer schon sichtbaren Bildlichkeit das absolute Bild der Vollkommenheit als
die in der Sittlichkeit aller verwandelte Wirklichkeit ihrer selbst hervorzubringen.“65
61
Baumgartner, Hans Michael: „Die Idee des Fortschritts – Versuch einer Grundlegung“, in: Max
Müller/Michael Schmaus (Hrsg.): Philosophisches Jahrbuch, 70. Jahrgang, 1. Halbband, München: Verlag
Karl Alber, 1962, Seite 157-168.
62
Ebd., Seite 165.
63
Vgl., ebd., Seite 161ff.
64
Vgl., ebd., Seite 163, Seite 167.
65
Vgl. ebd., Seite 164.
31
Vor diesem Hintergrund blieb als Ausgangspunkt für diese Untersuchung nichts anderes
übrig, als sich die Frage nach der Bedeutung von Fortschritt als einer objektiv guten
Entwicklung und ihrem praktischen Verhältnis zum individuellen Subjekt von Grund auf
neu zu stellen. Was sich im Folgenden als eine sich stringent aufbauende Gliederung
darstellt, ist das Ergebnis einer intensiven Beschäftigung, die in vielerlei Hinsicht für mich
selbst völlig unerwartete Wendungen genommen hat. Bei der Suche nach einem
praktischen Verständnis des Fortschrittsbegriffes kamen Aspekte zum Vorschein und
wurden begrifflich entscheidend, die an einigen Stellen nach einer weiteren Diskussion
und Vertiefung geradezu rufen, die ich jedoch in dieser Arbeit auszuführen unterlassen
habe, um nicht zu weit von dem Ziel abzukommen, ein grundlegendes Verständnis eines
praktischen Fortschrittsbegriffes zu entwickeln. Der entwickelte Begriff ist zu verstehen
als ein erster Entwurf, eine erste Wieder-Eröffnung der Diskussion auf der Suche nach
einem positiven Verständnis von Fortschritt, das expliziert, was bei seinen Kritikern nur
als impliziter semantischer Rest erscheint.
Die vorliegende Untersuchung findet ihren Ausgangspunkt zunächst in einer
begriffslogischen Erörterung von Fortschritt als einer objektiv guten Entwicklung. Diese
führt zu einem modifizierten Verständnis von Fortschritt, in dem begriffliche Strukturen
zum Vorschein kommen, die den Fortschrittsbegriff in Bezug zur antiken, vor allem der
aristotelischen Philosophie und in dieser zu den Begriffen der eudaimonia und der
entelechie setzen und damit zu einem Denken, das in der Fortschrittsdiskussion bisher
keine Rolle gespielt hat. Von da aus gelangen wir zu Terry Pinkards zeitgenössischer
Interpretation der Philosophie Hegels, die Pinkard als einen „entzauberten Aristotelismus“
versteht, in dem die eudaimonia in den Begriff der Befriedigung übergeht. 66 Der in
Pinkards Hegel-Interpretation entwickelte Begriff der Befriedigung dient sodann als eine
erste Annäherung an ein Verständnis von Fortschritt im praktischen Sinne. Um deutlicher
zu machen, was dieser Begriff gegenüber dem der Glückseligkeit zu leisten vermag,
wendet sich die Untersuchung in einer kritischen Haltung erneut Aristoteles, dann aber
auch Kant zu, in dessen praktischer Philosophie die Glückseligkeit ebenfalls eine
entscheidende Stellung einnimmt. Die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit Aristoteles
und Kant dienen einer genaueren Qualifizierung des Begriffes der Befriedigung. Diese
geht über in die Formulierung eines subjektiven Fortschrittes. Ein subjektivistisches
Fortschrittsverständnis reicht offensichtlich nicht dazu hin, die Möglichkeit einer objektiv
guten Entwicklung, eines objektiven Fortschrittes zu plausibilisieren. Der Gedanke, den
subjektiven Relativismus durch einen politischen Zusammenhang als einem solchen
theoretisch in den Griff zu bekommen, scheitert. Pinkards Versuch, das Problem des
Relativismus durch den Wahrheitsbegriff zu lösen, wird kritisiert. In seiner Argumentation
bleibt der Relativismus weiter bestehen. Der Wahrheitsbegriff kann nur die Aussicht auf
66
Pinkard, Terry: Hegel´s Naturalism – Mind, Nature, and the Final Ends of Life, New York: Oxford
University Press, 2012, Seite 17.
32
eine Lösung bieten, wenn es möglich ist, ein normatives Faktum in der Natur der
Fortschrittssubjekte aufzuweisen, an dem sich möglicher subjektiver Fortschritt praktisch
orientieren kann. Für einen solchen Aufweis muss zunächst deutlich gemacht werden, was
unter der Natur der Fortschrittssubjekte näher zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang
wird der Begriff einer natürlichen Vernunft entwickelt und ins Verhältnis zur
Grundstruktur der Rationalitätstheorie von Jürgen Habermas gesetzt und vertieft. Im
Anschluss daran wird der Versuch unternommen, in Auseinandersetzung mit Friedrich
Nietzsche eine moralische Norm als ein in der Natur der Subjekte gründendes normatives
Faktum zu plausibilisieren, auf das hin sich ein objektiver Fortschritt als ein befriedigendes
Leben in Frieden denken lässt. Schließlich stellt sich die Frage nach den Bedingungen der
Möglichkeit der Erfüllung der moralischen Norm und danach, inwiefern davon
ausgegangen werden kann, dass diese Bedingungen wirklich gegeben sind. Diese Fragen
werden in einer kritischen Diskussion der religionsphilosophischen Überlegungen von
Mark Johnston und der für diesen als Quelle dienenden Prozessontologie Alfred North
Whiteheads sowie von Gunnar Hindrichs Begriff des Absoluten einer möglichen Antwort
näher gebracht.
Vor und nach 1660
Bevor wir in die Entwicklung des in dieser Arbeit anvisierten Fortschrittsverständnisses
einsteigen, lohnt es, sich noch einmal, wenn auch sehr selektiv, vor Augen zu führen,
worin die zu Beginn angesprochene Ausfüllung des semantischen Vakuums, der
semantischen Leerstelle für unser zeitgenössisches gesellschaftliches Selbstverständnis
genauer besteht, welches mit dem neuzeitlichen Aufbegehren gegen die überkommenen
Machtstrukturen des christlichen Europas entstand. Zwar werden wir am Ende dieses
kurzen Nachvollzuges nur bis Adam Smiths An Inquiry Into the Nature and Causes of the
Wealth of Nations von 1776 gelangen, jedoch, so jedenfalls erscheint es mir, erreichen wir
mit diesem dasjenige Selbstverständnis der modernen „westlichen Gesellschaft“, in dem
wir heute der Tendenz nach leben und mit dem wir ringen, kommt es doch nun, nach über
zweihundert Jahren, an eine Grenze, die Smith selbst, wenn auch nicht zeitlich datiert, so
doch aber konzeptuell vorweg genommen hat. Beginnen möchte ich diesen Nachvollzug
aber nicht mit Smith, sondern einem ihm selbst bekannten Zeitgenossen.
„Les Anglais ont plus avancé vers la perfection, presque en tous les genres, depuis 1660
jusqu’à nos jours, que dans tous les siècles précédents.“67 Dieser Satz stammt aus dem im
Jahre 1751 veröffentlichten Le siècle de Louis XIV. von Voltaire und führt uns in seinem
67
Voltaire, François Marie Arouet: Le sièle de Louis XIV. et de Louis XV., in: ders.: Œuvres Complètes, 14,
Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint Limited, 1967, Chapitre XXXIV, Seite 559 ; vgl. im Folgenden
Seele, Peter/Wagner, Till: „Eine kleine Geschichte des Neuen“, in: Peter Seele (Hrsg.): Philosophie des
Neuen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschft, 2008, Seite 38-63, Seite 54ff.
33
Assoziationsraum zu zentralen Momenten der modernen Fortschrittsdiskussion. Voltaire
huldigt den Engländern als der seit 1660 am weitesten zur Vervollkommnung
fortgeschrittenen Nation des Menschengeschlechts. Vor und nach 1660 – das klingt wie
die Einführung einer neuen Zeitrechnung. Nicht 1751 nach Christus, sondern im Jahr 91
nach 1660 hätte Voltaire diesen Satz dann veröffentlicht. Und tatsächlich ist diese
kalendarische Gegenüberstellung, ja Provokation genau im Sinne ihres Erfinders. Doch
warum 1660? Die Zahl bezeichnet das Gründungsjahr der Wissenschaftlichen Gesellschaft,
dann Royal Society of London. 1663 wird in ihrer zweiten vom englischen König Karl II.
unterzeichneten Charta der Name ergänzt zu: Regalis Societatis Londini pro Scientia
naturali promovenda – The Royal Society of London for improving Natural Knowledge –
Königliche Gesellschaft von London zur Förderung der Naturwissenschaft. Dort heißt es:
„We have long and fully resolved with Ourself to extend not only the boundaries of the
Empire, but also the very arts and sciences. Therefore we look with favour upon all forms
of learning, but with particular grace we encourage philosophical studies, especially those
which by actual experiments attempt either to shape out a new philosophy or to perfect the
old. In order, therefore, that such studies, which have not hitherto been sufficiently brilliant
in any part of the world, may shine conspicuously amongst our people, and that at length
the whole world of letters may always recognize us not only as the Defender of the faith,
but also as the universal lover and patron of every kind of truth: Know ye that we, of our
special grace and of our certain knowledge and mere motion, have ordained, established,
and granted, and by the presents for us, our heirs, and successors do ordain, establish, and
grant, that henceforth for ever there shall be a Society consisting of a President, Council,
and Fellows, who shall be called and named The President, Council, and Fellows of the
Royal Society of London for improving Natural Knowledge (of which same Society we by
these presents declare Ourself Founder and Patron); [...].“68
Der König Englands und des britischen Empires als Patron naturwissenschaftlicher
Forschung. Als Gründer einer Institution, welche „von nun an bis in Ewigkeit“ die
Grenzen der technischen Künste und Wissenschaften, dem Beispiel des Empires folgend,
beständig erweitern und verbessern sollte. Als Fürsprecher einer Forschung, welche das
Ziel verfolgte, auf experimenteller Basis eine neue Philosophie, ein neues Denken zu
formen oder zumindest das alte zu perfektionieren. Diese Verbindung von weltlicher
Macht und experimenteller Wissenschaft ist in der Tat Ausdruck einer einschneidenden
Veränderung. Es ist nicht völlig abwegig, hierin das geschichtliche Gegenstück zum
Dreikaiseredikt von 380 n. Chr. zu sehen, in dem das Christentum zur Staatsreligion
erhoben wurde. Alle Bürger des römischen Reiches hatten sich verbindlich zur christlichen
Lehre zu bekennen, ansonsten würde sie, des Wahnsinns und der Häresie angeklagt, das
Urteil
der
Strafgerichte
ereilen.
Als
sich
die
Royal
Society
eintausendzweihundertdreiundachtzig Jahre nach dem Edikt das Leitmotto „nullius in
68
The Second Charter (1663), royalsociety.org/about-us/history/royal-charters/.
34
verba“ auf die Fahnen schrieb und sich damit also – dem etwas schwierigen Wortlaut des
Mottos folgend – in den Namen „keines auf Worten beruhenden (Wissens)“ stellte, dann
lag darin nicht nur ein kleiner Seitenhieb gegen das Christentum verborgen. Aus dem auf
die ersten Sätze der Genesis verweisenden en arche en ho logos, am Anfang war das Wort
bzw. die sinnvolle Rede, zu Beginn des Johannes-Evangeliums wurde en arche en he
empeiria, am Anfang war die Empirie, die empirisch-experimentelle Wissenschaft. Die
Wörter sollten Sinn und Bedeutung nicht mehr aus der Annahme übernatürlicher, wie auch
immer sich geoffenbarter Wahrheiten gewinnen, sondern durch empirisch-experimentelle
Beobachtung eine „natürliche Bedeutung“ und einen „natürlichen Sinn“ erhalten.69 Der
alt- und neutestamentarischen Tradition wurde mit den drei Worten „nullius in verba“ ihre
Verbindlichkeit und Autorität abgesprochen. Aus dem Verteidiger des Glaubens an die
universelle und wahre Liebe Gottes, wie sie zum Beispiel in Joh 3,16 zum Ausdruck
kommt, wurde der „universal lover and patron of every kind of truth“. Aus dem Mysterium
Crucis der christlichen Theologie wurde das Experimentum Crucis naturwissenschaftlicher
Forschung. Den Ausdruck „Experimentum Crucis“ gebrauchte Newton, zwölfter Präsident
der Royal Society, im Kontext seiner optischen Versuche und bezog sich dabei auf Francis
Bacon, der im zweiten Buch seines 1620, also 40 Jahre vor Gründung der Royal Society
erschienenen Novum Organum von den instantiae crucis, den Fällen des Kreuzes schrieb.
Der Begriff klärt sich durch die Metapher eines Scheideweges, an dem ein Kreuz
aufgestellt ist, das die unterschiedlichen Möglichkeiten anzeigt, den Weg fortzusetzen. In
der naturwissenschaftlichen Forschung treten immer wieder Situationen auf, in denen im
Rahmen der Interpretation eines beobachteten Phänomens unterschiedliche Möglichkeiten
für dessen Erklärung denkbar sind. Über die richtige Erklärung in einem solchen Fall sollte
nach Bacon nicht die vernünftige Abwägung von Möglichkeiten entscheiden, sondern
allein die Beweiskraft eines speziell auf die jeweilige Frage zugeschnittenen
Experimentes.70
Die Fälle des Kreuzes können hier aber nicht nur im Sinne einer Wegscheide innerhalb des
naturwissenschaftlichen Forschungsprogramms verstanden werden, sondern darüber
hinaus auch als eine Wegscheide in der Frage nach den Grundlagen der menschlichen
Erkenntnis überhaupt. Es bleibt die Frage, ob es jemals gelingen wird, hier über eine
eindeutige Richtung beweiskräftig zu entscheiden, ja ob eine solche Entscheidung
überhaupt erstrebenswert ist. Auch wenn Bacon selbst nicht völlig ohne Zweifel war, so
scheint er doch wenigstens entschieden gewesen zu sein. „I may hand over to men their
fortunes, now their understanding is emancipated and come as it were of age; whence there
cannot but follow an improvement in man's estate and an enlargement of his power over
69
Die Begriffe „natürliche Bedeutung“ und „natürlicher Sinn“ übernehme ich hier aus Wittgensteins
Vortrag über Ethik; vgl Wittgenstein, Ludwig: „Vortrag über Ethik“, in: ders.: Vortrag über Ethik und
andere kleine Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, Seite 13.
70
Vgl. Bacon, Francis: Novum Organum, Book II, Art. XXXVI., Cambridge: Cambridge University Press,
2000.
35
nature. For man by the fall fell at the same time from his state of innocency and from his
dominion over creation. Both of these losses however can even in this life be in some part
repaired; the former by religion and faith, the latter by arts and sciences. For creation was
not by the curse made altogether and forever a rebel, but in virtue of that charter ,In the
sweat of thy face shall thou eat bread‘, it is now by various labors (not certainly by
disputations or idle magical ceremonies, but by various labors) at length and in some
measure subdued to the supplying of man with bread, that is, to the uses of human life.“71
Nicht sophistische Dispute oder nutzlose magische Zeremonien würden der Menschheit
auf dem Wege der Wiedergutmachung des Sündenfalls und der Wiederherstellung der
Vollkommenheit nutzen. Sondern Technik und Wissenschaft würden es ermöglichen,
Gottes Fluch zu überkommen, der Mensch solle im Schweiße seines Angesichts sein Brot
essen. Die schweißtreibende Arbeit wird durch Erfindungen erleichtert, der Abgrund der
Sünde wird technisch-wissenschaftlich überbrückt. Die Erfahrungen der Jahrhunderte
hatten immer wieder gezeigt, zu welchen Irrtümern, Verwerfungen und Grausamkeiten
Wahrheitsbehauptungen geführt hatten, die sich einem empirisch-experimentellen oder
logisch-argumentativen Nachvollzug entzogen und als Dogmen im Zweifel nur mit Macht
und Gewalt durchgesetzt und erhalten werden konnten. Ob es tatsächlich stets die
Durchsetzung von Wahrheitsbehauptungen war, die zur Ausübung von Macht und Gewalt
führte, oder ob es nicht auch anders herum gewesen ist, dass bestimmte, unhaltbare
Behauptungen, gerade auch religiösen Anstrichs, für das Ziel, Herrschaft auszuüben oder
auszubauen, opportun erschienen, mag hier dahingestellt sein. Jedenfalls stellte Bacon
resümierend fest, dass die technischen Entdeckungen die Wohlfahrt der gesamten
Menschheit zu allen Zeiten ohne Grausamkeit befördern würden, während die politischen
Fortschritte nur geographisch und zeitlich begrenzt sowie selten ohne Gewalt und Wirren
durchgesetzt werden könnten.72
Gute 100 Jahre später sprach Voltaire 1734 von Gott als dem „éternel machiniste“, dem
ewigen Maschinisten.73 Sein Blick in die Geschichte führte ihn zu der Überzeugung, dass
alle Geschichte von Fabeln entstellt sei, die sich allzu leicht der Gutgläubigkeit
(„crédulité“) der Menschen bemächtigen, und zu Fanatismus führen würden. Bis
schließlich die Philosophie in das Geschehen eingreife, um die Menschen aufzuklären
(„enfin la philosophie vienne éclairer les hommes“), den Geist von den Irrtümern der
Jahrhunderte, den Zeremonien, Ereignissen und Denkmälern zu befreien, die allesamt zu
nichts anderem als zur Lüge in die Welt gesetzt worden seien („des cérémonies, des faits,
des monuments, établis pour constater des mensonges“).74 Man könne die Geschichte der
71
Ebd., Book II, Art. LII.
Vgl. ebd., Book I, Art. CXXIX.
73
Voltaire, François Marie Arouet: Traité de Métaphysique, in: ders.: Œuvres Complètes, 22,
Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint Limited, 1967, Chapitre VIII., Seite 223.
74
Vgl. Voltaire, François Marie Arouet: Essai sur le Mœurs et l’Esprit des Nations, in: ders.: Œuvres
Complètes, 11-13, Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint Limited, 1967,13, Chapitre CXCVII., Seite 174f.
72
36
Religionen in unzähligen Bänden zusammenfassen oder aber in zweit Sätzen: „C’est que le
gros du genre humain a été et sera très longtemps insensé et imbécile; et que peut-être les
plus insensés de tous ont été ceux qui ont voulu trouver un sens à ces fables absurdes, et
mettre de la raison dans la folie.“ 75 Die größte Sinnlosigkeit und Finsternis des
menschlichen Geistes verortete Voltaire also dort, wo wie in der Scholastik versucht
wurde, Glaubenssätze mit Vernunft zu begründen und damit seiner Meinung nach
Vernunft in den Wahnsinn zu legen. Das Dunkel der Vergangenheit, insbesondere das
dunkelste allen Dunkels, das Mittelalter, sollte nun durch die Aufklärung, dem
platonischen Motiv folgend, ins Lichte geführt werden: das Siècle des Lumières, das Age
of Enlightenment hatte begonnen.
Aber was wäre denn dann die eigentliche, durch die Irrtümer der Menschen entstellte
Geschichte gewesen? Die richtige Geschichte wäre jene gewesen, die vor dem Hintergrund
des Wohls der Gesellschaft als einzigem Maßstab des moralisch Guten und Schlechten („le
bien de la société est la seule mesure du bien et du mal moral“) verlaufen wäre. Nach dem
gesellschaftlichen Wohl hätten sich alle Vorstellungen davon, was gerecht und ungerecht
sei, zu richten und, wenn erforderlich, zu verändern. 76 Von Natur aus seien wir zur
Gesellschaftsbildung veranlagt. „L’homme [...]; non seulement il a cet amour-propre
nécessaire pour sa conservation, mais il a aussi, pour son espèce, une bienveillance
naturelle.“77 Die Eigenliebe und das Wohlwollen anderen gegenüber seien die bewegenden
Kräfte in der Geschichte. An anderer Stelle beschreibt Voltaire das Fundament der
Gesellschaft als zwei Gefühle („sentiments“), die alle Menschen besitzen würden: Mitleid
(„commisération“) und Gerechtigkeit („justice“). 78 Ob nun „Eigenliebe“ und
„Wohlwollen“ bzw. „Mitleid und Gerechtigkeit“, es seien diese natürlichen,
unvergänglichen Anlagen im Menschen, die schon beim Kind und auch beim Wilden
Urteile und Verhalten beeinflussen und ihm die richtige Richtung weisen, in Richtung
einer Perfektionierung.79 „Il est perfectible; et de là on a conclu qu’il est perverti. Mais
pourquoi n’en pas conclure qu’il s’est perfectionné jusqu’au point où la nature a marqué
les limites de sa perfection?80
Anders als Bacon lässt Voltaire nun also auch die Bezugnahme auf den Sündenfall fallen.
Zu jener natürlich begrenzten und auf das Wohl der Gesellschaft gerichteten Perfektion
seien aber nicht nur das Mitleid und das Wohlwollen von entscheidender Bedeutung. Denn
diese hätten bei weitem nicht dafür hingereicht, jene großen Reiche und blühenden Städte
zu gründen; jene zivilisatorischen von Wohlstand und Aufgeklärtheit geprägten Leistungen
75
Voltaire Essai (1967), 11, Introduction V., Seite 15.
Vgl. Voltaire Traité (1967), Chapitre IX., Seite 226.
77
Ebd., Chapitre VIII., Seite 222.
78
Vgl. Voltaire Essai (1967), 11, Introduction VII., Seite 22.
79
Vgl. ebd. sowie Voltaire Traité (1967), Chapitre VIII.
80
Voltaire Essai (1967), 11, Introduction VII., Seite 20.
76
37
einer neuen Humanität („humanité nouvelle“) hervorzubringen, die immer wieder von
nichtigen Interessen („très légers intérêts“) und Launen („petits caprices“) bedroht
würde.81 Vielmehr seien in Wahrheit die großen Leidenschaften („grandes passions“) des
Menschen die Hauptursache für die allmähliche Vervollkommnung der Kulturen gewesen:
Hochmut bzw. Stolz („orgueil“), Neid („envie“), Geiz („avarice“) und Eigenliebe („amourpropre“).82 „Ainsi, de proche en proche, les passions seules réunirent les hommes, et
tirèrent du sein de la terre tous les arts et tous les plaisirs. C’est avec ce ressort que Dieu,
appelé par Platon l’étérnel géomètre, et que j’appelle ici l’étérnel machiniste, a animé et
embelli la nature: les passions sont les roues qui font aller toutes ces machines.“83 Gott als
ewiger Maschinist? Einstmalige Todsünden als göttliches Pneuma, oder etwas
„maschineller“, als die Pneumatik aufgeklärter Orgelmusik? Diese Töne klingen nach
einer ganz anderen Fabel, als all jene, gegen die Voltaire sich so wortgewandt gewendet
hatte. Die seit 1705 zunächst unter dem Titel The Grumbling Hive, ab 1714 dann als The
Fable oft the Bees anonym in Umlauf gebrachten Gedanken Bernard Mandevilles hatte
Voltaire spätestens in seinem englischen Exil von 1726 bis 1728 kennengelernt. Kern
dieses Traktats mit dem Untertitel „Private Vices, Publick Benefit“ war die provozierende
These, dass alle menschlichen Handlungen allein der Eitelkeit entspringen.
Die Bienenfabel hatte zu großen Kontroversen geführt. Auch Adam Smith sah sich etwa
dreißig Jahre nach der letzten Auflage der Bienenfabel dazu veranlasst, in einem Kapitel
seiner 1759 erschienenen The Theory of Moral Sentiments Stellung zu beziehen.84 Er
kritisierte Mandeville für dessen Einebnung des Unterschiedes zwischen wirklicher
Tugend und egoistischer Eitelkeit („vanity“) und hielt entschieden an der Unterscheidung
fest. Dennoch räumte Smith ein, dass der Erfolg Mandevilles selbst bei unüberlegten
(„injudicous“) und unerfahrenen („unexperienced“) Lesern nicht zu erklären wäre, wenn in
dieser Fabel nicht doch zumindest eine Nähe zur Wahrheit gegeben sei. 85 Dieses
Quäntchen an Wahrheit, das er Mandeville zugestand, brachte Smith an anderer Stelle
seiner Theory vielleicht zu jener metaphorischen Formulierung, die nach ihrer
Wiederaufnahme in An Inquiry Into the Nature and Causes of the Wealth of Nations ab
1776 auch über den wirtschaftswissenschaftlichen Fachkontext hinaus wohl wie nur
wenige Metaphern zu – wenn auch meines Erachtens ambivalenten – Ruhm gelangte: „the
invisible hand“. Man sollte die Metapher der „invisible hand“ aber nicht überstrapazieren,
wie dies oftmals zur Untermauerung von Forderungen nach einer weitgehenden
Beschneidung politisch-moralischer Diskurse geschieht.
81
Vgl. ebd., Chapitre CXCVII, Seite 183; sowie Voltaire Traité (1967), Chapitre VIII., Seite 222ff.
Vgl. ebd.
83
Ebd., Seite 223.
84
Vgl. Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments, in: ders.: The Works of Adam Smith, Vol. I., Aalen:
Otto Zeller, 1963, Part VII., Sect. II, Chap. IV., Seite 545ff.
85
Vgl. ebd., Seite 545, Seite 557.
82
38
Zwar hat Smith in seiner Theory noch viel eher als in der Inquiry an der einschlägigen
Textstelle ein Bild gezeichnet, das zu einer solchen Interpretation einladen mag. Dort
schreibt er, dass die Vorsehung, wenn sie auch die Erde an nur wenige Machthaber verteilt
habe, alle anderen, die scheinbar leer ausgegangen seien, weder vergessen noch im Stich
gelassen habe.86 Denn selbst die rücksichtslosesten Machthaber würden nur in ihrer eitlen
Vorstellung die Früchte ihrer Besitzungen alleine ernten und konsumieren. In Wahrheit
aber, entsprechend der Redewendung, dass die Augen größer sind als der Magen, seien sie
dazu gezwungen, die immensen Überschüsse der ökonomischen Produktion mit denen, die
sie tatsächlich erarbeiten, den Arbeitern, zu teilen. Die Reichen würden nur geringfügig
mehr konsumieren als die Armen. Und obwohl sie nur ihrem eigenen Egoismus und
Nutzen nachstreben würden, wäre auf diese Weise gesichert, dass aller ökonomischer
Aufschwung allen zum Vorteil gereiche. Ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen,
würden Grundbesitzer so, wie von einer „invisible hand“ geführt, eine Verteilung der zum
Leben notwendigen Güter vorantreiben, welche an diejenige heranreiche, die sich
einstellen würde, wäre die Erde allen Menschen zu gleichen Teilen zugeteilt. Alle würden
ihren Anteil bekommen und im Bezug auf das, was das wirkliche Glück im Leben
ausmacht, seien alle Schichten der Gesellschaft gleich auf. Der Bettler, der sich am Rande
des „highway“ sonne, genieße die Sicherheit, für welche die Könige kämpften. Zugegeben,
das sind starke Worte.
Doch sollte der „überlegte“ und „erfahrene“ Leser hier nicht kritiklos vorübergehen oder
gar einwilligen. Und Smith selber kritisiert in seiner Inquiry Adel und Klerus, als die
großen Grundbesitzer vergangener Zeiten, welche die Abhängigkeit der Untergebenen
ihrem Belieben nach ausgenutzt hätten. Er sieht in ihnen und insbesondere in der
katholischen Kirche machtvolle, durch private Interessen zusammengehaltene Gefüge
(„ties of private interests“), die sich in der Geschichte in einem Zustand größter
abergläubischer Wahnvorstellungen („grossest delusions of superstition“) gegen eine zivile
Regierung des Lebens formiert hätten. Nur durch letztere würde aber gesichert werden,
dass Freiheit, Vernunft und das Glück der Menschheit („liberty, reason, and the happiness
of mankind“) erblühen können.87 Private Interessen und Eigennutz gereichen also auch bei
Smith nicht automatisch zur „happiness of mankind“. Zwar führt er weiter aus, dass es
eben dieser Eigennutzen war, der im Zuge der Geschichte zur Zersetzung jener
Machtformationen führte. Aber damit ist nicht im Geringsten gesagt, dass nicht wiederum
aus eigennützigen Motiven heraus neue, ebenso machtvolle Strukturen entstehen können,
welche erneut Freiheit, Vernunft und Glück entgegenstehen.
86
Vgl. hier und im Folgenden ebd., Part IV., Chap. I., Seite 316ff.
Vgl. Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, in: ders.: The Works
of Adam Smith, Vol. II.-IV., Aalen: Otto Zeller, 1963, Book V., Chap. I., Part III., Article 3d., Seite 217f.
87
39
Aus Smiths Ausführungen, auf die ich noch einmal genauer zu sprechen kommen werde,
geht darüber hinaus hervor, dass er das Problem weniger in den religiösen Dogmen der
Kirche sah, sondern, wie auch beim weltlichen Adel, in deren umfänglicher Verfügung
über die gesellschaftlich entscheidenden Ressourcen der ökonomischen Produktion,
Legislatur und Jurisdiktion.88 Nicht religiöse Bezüge, die ja durchaus auch gegen das
Verhalten der Kirche und ihre Dogmen vorgebracht werden konnten und wurden, waren
der schneidende Punkt, sondern ihre Fülle an weltlicher Macht, welche konzentriert in den
Händen weniger, wenn überhaupt, wohl nur äußerst selten zum Wohle aller gedeiht. Und
die Gefahr neuer Machtstrukturen sah Smith genau.89 Es ist die Monopolisierung von
Verfügungsrechten über sozial relevante Ressourcen in den Händen einzelner oder auch
kleinerer Gruppen, die hier als der eigentliche Feind von Freiheit, Vernunft und dem Glück
der Menschheit benannt wird.
Diese Monopolisierung, d.h. Machtkonzentration, zu verhindern, wurde, zumindest in der
theoretischen Diskussion, zur originären Aufgabe des modernen Staates, oder, in Smiths
Worten, des „civil government“. Mit derselben Einsicht wollte gute 160 Jahre nach dem
Erscheinen von Smiths Inquiry Walter Eucken, wie wohl kaum einer vor und nach ihm,
das Problem der Macht ins Zentrum der ökonomischen Wissenschaft stellen: „Verstehen
wirtschaftlicher Wirklichkeit in aller Vergangenheit und in der Gegenwart und
wahrscheinlich in aller Zukunft erfordert daher Verstehen wirtschaftlicher Macht und
zugleich Durchschauen der auffallend gleichförmigen Kampfmethoden wirtschaftlicher
Machtgruppen. [...] Macht ist nur ein Wort –. Es genügt nicht, hie und da dieses Wort zu
gebrauchen, auch nicht, zu erklären, Macht bedeute in der Wirtschaft, ebenso wie in der
Politik, viel. Es besagt auch wenig, in etwas mystischer Weise von den ‚Mächten‘ des
Kapitalismus und ihrem geheimnisvollen Wirken zu sprechen. Die Hauptsache ist
vielmehr, den Kern des Phänomens wirtschaftlicher Macht sichtbar zu machen. Nicht
anders aber lässt sich wirtschaftliche Wirklichkeit begreifen.“90
Smith beschrieb die Geschichte als eine Entwicklung, die sich in Folge verschiedener
Machtasymmetrien von einem natürlichen Fortschritt des Wohlstands („natural progress of
opulence“) immer wieder entfernt hatte, ja sich in vielerlei Hinsicht als in sein Gegenteil
verdreht zeigte („it has, in all the modern states of Europe, been, in many respects, entirely
inverted“). Diese Machtasymmetrien fänden ihren Ausdruck in den politischen Sitten
(„manners“) und Gewohnheiten („customs“) der Staaten, welche die von diesen
Verhältnissen Begünstigten im Streben nach Machterhalt zu konservieren suchten und
damit den natürlichen Fortschritt zum größtmöglichen Wohlstand aller hemmten, wenn
nicht gar verhinderten. Darin liege der Grund, dass sich die geschichtlichen Verhältnisse
88
Vgl ebd., Seite 219.
Ebd., Book I., Chap. XI., Part I., Seite 227ff., sowie „Conclusion of the Chapter“, Seite 392ff.
90
Eucken, Walter: Die Grundlagen der Nationalökonomie, Jena: Gustav Fischer, 1944, Seite 236ff.
89
40
auf so unnatürliche („unnatural“) und rückschrittliche („retrograde“) Weise entwickelt
hätten. 91 Die entstellte Geschichte, all die Irrtümer, die sich in den Sitten und
Gewohnheiten der Völker niederschlugen, das waren genau Voltaires Themen, denen er
sich explizit in seinem Essay sur les mœurs et l’esprit des nations widmete. Es galt, all
diese Märchen und Unwahrheiten zu erkennen und zu studieren, um sich aus deren
Gefangenschaft zu befreien. Eben das sollte das philosophische Studium der Geschichte
sein, die Philosophie der Geschichte. „Chez toutes les nations l’histoire est défigurée par la
fable, jusqu’à ce qu’enfin la philosophie vienne éclairer les hommes; et lorsque enfin la
philosophie arrive au milieu de ces ténèbres, elle trouve les esprits si aveuglés par des
siècles d’erreurs, qu’elle peut à peine les détromper; elle trouve des cérémonies, des faits,
des monuments, établis pour constater des mensonges.“92
Dass sich die Geschichte für Bacon, Voltaire und Smith, wie für viele andere auch, als eine
Ansammlung von Irrtümern zeigte, die sich in den Sitten und Gebräuchen der Menschen
niederschlugen; dass man diese studieren müsse, um aus ihnen zu lernen; und die damit
verbundene Hoffnung, dass es besser werde; all dies heißt aber eben im Umkehrschluss
nicht, dass, selbst wenn Sitten und Gewohnheiten sich ändern sollten, nicht neue
Machtasymmetrien mit ähnlichen Problemen entstehen könnten. Smith machte
dementsprechend sehr deutlich, dass gerade im Rahmen der ökonomischen Regulierung
neue Gesetzesvorschläge mit großer Vorsicht („great precaution“) anzuhören seien und
niemals umgesetzt werden sollten, ohne mit höchst gewissenhafter („most scrupulous“)
und höchst argwöhnischer („most suspicious“) Aufmerksamkeit geprüft worden zu sein.93
Denn Entscheidungen, die in einer Interessenshinsicht als positiv erscheinen, könnten in
anderer Hinsicht das genaue Gegenteil bedeuten. Der Staat muss sich demzufolge also
peinlichst genau, wenn auch nicht planwirtschaftlich bestimmend, so doch das
Zusammenspiel der Kräfte regulierend und austarierend, in die ökonomischen
Zusammenhänge einmischen. Alles andere wäre eine Ideologisierung der „invisible hand“,
eine weitere Fabel in der Geschichte, in welcher das Privatinteresse als neues Gottesgebot,
als neuer Leitstern am Firmament eines providenziellen „Highways zum Heil“ erstrahlt,
bei dem kein Bettler vergessen werden würde, der am Rande in dieser Sonne faulenzend
sich labt, an dem, was von vorüberfahrenden, überladenen Wagen für ihn abfällt.
Zu Recht gebrauchte Smith in der Inquiry die Metapher der „invisible hand“ viel
zurückhaltender, als er dies noch in der Theory getan hatte. Sie diente ihm nun zur
rhetorischen Pointierung der plausiblen Einsicht, dass Eigeninteresse und Fremdinteressen
sich nicht grundsätzlich widersprechen müssen, sondern sich im Alltag auf vielfältige
Weise verbinden können – nicht mehr und nicht weniger; das Quäntchen Wahrheit eben,
91
Vgl. Smith Inquiry (1963), Book III., Chap. I., Seite 73ff.
Voltaire Essai (1967), Chapitre CXCVII., Seite 174.
93
Vgl. Smith Inquiry (1963), Book I., Chap. XI., „Conclusion of the Chapter“, Seite 397f.
92
41
das Smith Mandeville zugestanden hatte. 94 Weil sich aber dieses Zusammenspiel der
Interessen in vielen Fällen nicht wie von selbst ergibt, wandte Smith sich an den Staat und
konzipierte die „Political Œconomy“ als einen Zweig der Staatswissenschaften („Political
œconomy considered as a branch of the science of a Statesman or Legislator“).95
Viel entscheidender und aufschlussreicher für die Fortschrittsdiskussion als das
vermeintliche Paradigma der „invisible hand“ ist in Smiths ökonomischer Theorie in
diesem Zusammenhang ein ganz anderer Punkt, der jedoch zumeist unter der
Eingängigkeit jener Metapher verschüttet wird. Man bekommt ihn in den Blick, wenn man
nach dem Grund fragt, warum Smith die Vermehrung des Wohlstandes, erstens des Volkes
und zweitens der Regierung, als die zwei Ziele der Politischen Ökonomie vorschlägt („It
proposes to enrich both the people and the sovereign“) und damit nichts anderes als das
Wirtschaftswachstum ins Zentrum der ökonomischen Wissenschaft stellt.96 Die Antwort
auf diese Frage erhält man wiederum an jenen Stellen im letzten Buch seiner Inquiry, an
denen Smith recht versteckt unter den Überschriften „Of the Expence of the Institutions
For the Education of a Youth“ und „Of the Expence of the Instituions For the Instruction
of People of All Ages“ seine geschichtsphilosophischen Überlegungen ausführt. Smith war
der Meinung, dass Vernunft allein nichts gegen die jeweiligen Machtstrukturen
auszurichten vermochte, die sich gegen die Vernunft selbst sowie gegen Freiheit und
Glück der Menschheit stellten. Wiederum unter besonderer Bezugnahme auf die
katholische Kirche schrieb er: „[...] human reason might perhaps have been able to unveil,
even to the eyes of the common people, some of the delusions of superstition; it could
never have dissolved the ties of private interest. Had this constitution been attacked by no
other enemies but the feeble efforts of human reason, it must have endured forever.“97
Die Lösung sah Smith viel eher in der durch neue technisch-naturwissenschaftliche
Errungenschaften immer weiter ausgedehnten und auszudehnenden Vielfalt von Produkten
und Erwerbsmöglichkeiten. In früheren Zeiten, in denen die ökonomische Produktion
hauptsächlich aus schnell verrottenden Naturalien bestand, konnten die Grundeigentümer
die Überschüsse weder selbst konsumieren noch über längere Dauer hin aufbewahren und
waren so gezwungen, sie mit allen anderen Menschen zu teilen. Oft hätten sie dies unter
der Maske von Wohltätigkeit und Nächstenliebe getan, um in dieser angeblichen
Großzügigkeit sich der Dankbarkeit und Loyalität ihrer Untergebenen zu versichern. Dann
aber seien durch die Entwicklungen in Handwerk und Technik Möglichkeiten entstanden,
einen Großteil der Überschüsse für neuartige Produkte auszugeben, welche die
Grundeigentümer ganz alleine für sich genießen konnten. Der Anteil, den sie als Lohn und
94
Vgl. ebd., Book IV., Chap. II., Seite 176ff.
Vgl. ebd., Book IV., Introduction, Seite 138.
96
Ebd.
97
Ebd., Book V., Chap. I., Part III., Article 3d., Seite 218.
95
42
Wohltaten an andere Menschen verteilten, sei immer geringer geworden. Damit habe sich
aber auch die Loyalität der anderen verringert. Diejenigen, die in ihrem
„Anstellungsverhältnis“ blieben, hätten immer mehr arbeiten müssen, um nach wie vor die
Überschüsse zu erwirtschaften, welche die Grundbesitzer nun in allerhand Luxus und
dessen Erhalt investierten. Dazu hätten sie ihren Arbeitern aber auf längere Sicht
finanzielle und rechtliche Zugeständnisse machen müssen, wodurch diese immer
unabhängiger geworden wären. Darüber hinaus seien in Handwerk („arts“) 98 ,
Manufakturen („manufactures“) und im Handel („commerce“) mit deren Produkten immer
mehr reale Alternativen entstanden, einen Lebensunterhalt unabhängig von Adel und
Klerus zu sichern, was die Entwicklung seinerseits beschleunigte. Die Macht der alten
Herren brach mehr und mehr zusammen.
So erscheint diese Entwicklung, Ausweitung und Differenzierung der ökonomischen
Produktion als eine Bedingung der Befreiung aus überkommenen Machtstrukturen, welche
die Vernunft und das Glück der Menschen solange unterdrückt hatten. Das war Smiths
Hauptargument hinter seiner Forderung nach Wirtschaftswachstum: Steigerung der
Produktion und Produktvielfalt reduziert einseitige Abhängigkeitsverhältnisse, verringert
also Machtasymmetrien. Dies setzt Vernunft frei für weitere Forschungen und
Erfindungen, schafft weitere Produkte und Produktion, reduziert weitere Abhängigkeit. So
werden Vernunft, Freiheit und Glück der Menschen Schritt für Schritt befördert, aber nicht
durch die Macht einer unsichtbaren Hand, sondern durch die Steigerung der Produktion in
sämtlichen Bereichen und ein hochsensibles Staatswesen, welches vermag, die
Handlungen der Menschen in diesem Sinne zu regulieren, alte Vermachtungen abzubauen
und neue zu vereiteln.
Was Smith hier als historische Studie ausgewiesen im letzten Buch seiner Inquiery
versteckt, ist die Aussicht auf einen Prozess, der auch in die Zukunft weist. Es ist ein
„trojanisches Pferd“ an die Staatsmänner seiner Zeit, wenn er diesen empfiehlt: „enrich
both the people and the sovereign“. Denn eine solche Wohlstandssteigerung wird auch die
Macht der damals regierenden Souveräne nicht unberührt gelassen haben. Der Nutzen
98
Vgl. ebd.; Wurden bisher die sieben freien Künste, die artes liberales, die Voraussetzung für das
Studium der höheren Fächer Theologie, Jurisprudenz und Medizin waren, in ihrem Ansehen über die
praktischen Künste, die artes mechanicae, gestellt, werden nun von Smith, wie auch von Voltaire und
vielen anderen „Aufklärern“ auch, letztere in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung gestellt.
Die Theologie, die als das wichtigste Fach angesehen wurde, erscheint nur noch als großer Irrweg, der
unter anderem dafür Verantwortung trägt, dass das Licht der Vernunft und damit die Möglichkeit der
Einsicht in die Prinzipien des Lebens und deren Umsetzung immer wieder gelöscht wurde. Zu den sieben
freien Künsten (lat. septem artes liberales), gehören der Teil des Trivium mit den Fächern Grammatik,
Rethoreik, Dialektik (Logik) und der Teil des Quadrivium mit den Fächern Arithmetik, Geometrie, Musik,
Astronomie. Das erste Mal wurden die sieben freien Künste im 1. Jahrhundert v. Chr. ausführlich von dem
römischen Gelehrten Varro in seinen Disciplinae behandelt. Zu den artes mechanicae zählen als armatura
Berufe des Handwerks und die der Bildenden Künste und der Baukunst, die agricultura, also die
Landwirtschaft und das lanificium, das Bekleidunghandwerk.
43
dieser Strategie lag vor allem darin, dass sie sich politisch – die für Smith entscheidenden
Konsequenzen in historischer Betrachtung chiffriert – selbst denen verkaufen ließ, die,
allein auf ihren Vorteil bedacht, sich tatsächlich nicht um das Gemeinwohl kümmerten.
Aber diesem Pluspunkt stehen in der langfristigen Bilanz zwei Hypotheken gegenüber, die
es erst noch abzulösen gilt. Zum einen ist es nach wie vor erforderlich, dass sich im Zuge
der Wohlstandssteigerungen auch tatsächlich jene sensiblen Staatswesen herausbilden, die
zu einer Regulierung der ökomischen Prozesse zum Wohle aller fähig sind. Das ist, wie
die Geschichte leidvoll und zu genüge gezeigt hat und noch zeigt, kein Prozess der sich
wie von selbst erfüllt. Zum anderen stellt sich die Frage, was passiert, wenn die
Begrenzung der ökonomischen Ressourcen, wenn auch nicht ihre Endlichkeit, so doch die
begrenzte Geschwindigkeit ihrer Regeneration, ein weiteres Ansteigen der Produktion an
ein Ende kommen lässt, und damit das Wirtschaftswachstum als politisches Ziel entweder
unglaubwürdig oder aber, da nur noch auf Kosten anderer gewachsen werden kann, in
Aggression verkehrt wird? Zu „liberty, reason, and the happiness of mankind“ wird es
dann nicht mehr dienen können. Auch wenn dieses Problem zu Smiths Zeiten noch nicht
akut war, wie dies im Gegensatz dazu heute der Fall ist, war ihm klar, dass bei
anhaltendem Wirtschaftswachstum irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, an dem sich
dieses stellen wird.99
Und dort stehen wir heute. Und wie hilflos scheinen wir zu sein, wenn die Europäische
Union in ihrer grundsätzlichen Strategie bis zum Jahre 2020 diesem Problem Rechnung zu
tragen meint, wenn sie als oberstes Ziel das Wirtschaftswachstum in die Dreifaltigkeit von
intelligentem Wachstum, nachhaltigem Wachstum und integrativem Wachstum
auffächert. 100 Dabei wird im globalen Zusammenhang immer deutlicher, dass die
Ressourcenknappheit ein weiteres Wirtschaftswachstum nur noch kurzfristig zulassen
wird. Es ist kein Zufall, dass in der Anerkennung der Grenzen des Wirtschaftswachstums
und den mit dieser einhergehenden Diskussionen und Auseinandersetzungen in der
Öffentlichkeit der Fortschrittsbegriff als das, was es zu suchen gilt, wieder in deren
Zentrum rückt.101 Denn es war das politische Ziel des Wirtschaftswachstums, durch das
99
Vgl. ebd., Book I., Chap. IX., Seite 144.
Vgl. Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum,
esf.de/portal/generator/15418/prooerty=data/2011_01_04_europa_2020-strategie.pdf.
101
Anfang 2008 wurde unter Präsident Nicolas Sarkozy in Frankreich die „Commission sur la Mesure de la
Performance Économique et du Progrès Social“ unter der Beteiligung von namenhaften Wissenschaftlern
wie Joseph E. Stiglitz, Amartya Sen, Jean-Paul Fitoussi, Kenneth Arrow, Daniel Kahnemann, Nicholas
Stern und anderen ins Leben gerufen. Aufgabe der Kommission ist es, die zentrale Rolle des
Bruttoinlandproduktes als Indikator für „sozialen Fortschritt“ zu hinterfragen und Alternativen zu
entwickeln. Vgl. Vgl. die Ausführungen zur Aufgabe der Kommission auf deren Internetseite,
http://www.stiglitz-sen-fitoussi.fr/fr/index.htm. In Deutschland berief der Deutsche Bundestag 2010 eine
Enquete-Kommission mit dem Titel „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem
100
44
wir in den letzten zweihundert Jahren der Suche nach einer objektiv guten Entwicklung
eine konkrete Form gegeben und sie politisch operabel gemacht haben. In dem Moment, in
dem diese Konkretisierung an die Grenzen ihrer Realisierbarkeit stößt, muss der Diskurs
wieder auf die dahinterliegende Ebene der Fortschrittsfrage zurückgehen und eine Öffnung
erfahren, damit wir unser gesellschaftliches Selbstverständnis entsprechend den
Anforderungen der Zeit verändern können. Dies ist ein äußerst schwieriger Prozess, der
geprägt sein wird durch Unsicherheit und Kämpfe um die Verteilung von Macht. Umso
wichtiger ist es, diese notwendige Öffnung nicht in eine Beliebigkeit laufen zu lassen,
sondern eine allgemeine Vorstellung von Fortschritt zu entwickeln, die dieser Suche eine
Orientierung bietet, in der um ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis und neue
Konkretisierungen gerungen werden kann; und alte Fehler im Denken des
Fortschrittsbegriffes vermieden werden, damit wir uns nicht, wie Taguieff sich ausdrückt,
in einen Teufelskreis bewegen: „Il y a là un cercle théorique qui, pour ne pas devenir
‚cercle vicieux‘ doit faire l’objet d’une clarification.“
Die Philosophie sollte hier nicht schweigen, sondern ist der prädestinierte Ort einer
rigorosen kritischen Auseinandersetzung um mögliche Formulierungen eines allgemeinen
Fortschrittsverständnisses. Auch wenn sie nicht in Gänze schweigt, so ist es doch
bezeichnend, dass in einem Projekt der OECD mit dem Titel The Global Project of
Measuring the Progress of Societies in einer begriffsgeschichtlichen Auflistung als die
einzigen zeitgenössischen Quellen Papst Paul der VI. mit seiner Enzyklika Populorum
Progressio von 1967 und der ägyptische Ökonom Abdel Hamid El-Gahzali mit seinem
Text Man is the Basis of the Islamic Strategy for Economic Development von 1994
genannt werden.102 Und auch Papst Benedikt XVI. hat in dreien seiner Enzykliken den
Fortschrittsbegriff diskutiert. 103 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die
zeitgenössische Auseinandersetzung um den Fortschritt hier als in den Händen
konfessioneller Religionen liegend erscheint, von denen man sich in der
Fortschrittsdiskussion gerade distanzieren wollte. Ich will hier keine falschen Fronten
proklamieren, aber ich denke, dass die Philosophie den Fortschrittsdiskurs nicht auf- und
damit abgeben sollte. Denn es wäre naiv, zu glauben, dass die mit dem Fortschrittsbegriff
verbundenen Fragen sich einmal erledigen werden. Die Frage nach dem Fortschritt als
einer objektiv guten Entwicklung wird, wenn vielleicht auch nicht unter diesem Namen,
ein ständiges Problem und somit, im positiven Falle, ein ständiges Projekt bleiben. Und als
Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. Auf Europäischer Ebene
wurde in 2007 von der Europäischen Kommission eine Konferenz zu dem Thema „Beyond GDP:
Measuring Progress in a Changing World“ ausgerichtet, aus der sich die bis heute aktive, internationale
Initiative „Beyond GDP: Measuring progress, true wealth, and the well-being of nations“ entwickelt hat.
Vgl. Für weitere Informationen siehe Webseite der Initiative, http://www.beyond-gdp.eu/.
102
Vgl. wikiprogress.org/index.php/Definition_of_progress#A_brief_history_of.C2.A0Progress.C2.A0.
103
Vgl. Benedikt XVI.: „Deus Caritas est“, 2005; ders.: „Spe salvi“, 2007; ders.: „Caritas in veritate“,
2009; alle online unter: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/index_ge.htm.
45
ein solches gilt es den Fortschritt zu verstehen. So erklärt sich schließlich auch der zweite
Teil des Untertitels dieser Arbeit: Fortschritt ist ein problematischer Begriff.
2 Zwei begriffslogische Modifizierungen
Schlägt man in einschlägigen Wörterbüchern das Wort „Fortschritt“ nach, so findet man
Formulierungen wie diese: Die etymologischen Wurzeln „Epidosis, prokope, prokoptein,
‹profectus›, ‹proficere›, ‹progressio›, ‹progressus› bedeuten allgemein Fortgang,
Fortschreiten primär zum Besseren, aber auch zum Schlechteren, Zunahme, Gedeihen,
Wachstum.“ 104 –„Obwohl der Ausdruck gelegentlich auch Abläufe zum Schlechteren
bezeichnen kann, meint ,Fortschritt‘ in der Regel eine Bewegung zum Besseren.“105 –
„,Fortschritt‘ [...] enthält bis heute immer ein teleologisches Implikat über den unterstellten
Verlauf der Ereignisgeschichte oder auch Handlungsgeschichte, meist eine
Aufstiegserwartung.“ 106 – „,Fortschritt‘ [...] ist ein in der Alltagssprache, in
Wissenschaften und in der Philosophie verwendeter Begriff zur Bezeichnung einer im
Vergleich mit Vorausgegangenem oder Bestehendem positiv oder negativ bewerteten
Entwicklung und Veränderung.“107 Drei Aspekte fallen in diesen Zitaten auf. Erstens tritt
„Fortschritt“ als ein evaluativer Begriff in Erscheinung. Zweitens wird diese evaluative
Komponente des Fortschrittsbegriffes ambivalent aufgefasst. „Fortschritt“ kann entweder
eine positive oder negative Entwicklung bedeuten. Und drittens wird „Fortschritt“ stets als
ein Steigerungsgeschehen dargestellt, ein Geschehen hin zum Besseren oder Schlechteren.
Als erste Annäherung an ein Verständnis von „Fortschritt“ habe ich weiter oben die
Formulierung einer „objektiv guten Entwicklung“ gebraucht. Diese Formulierung stimmt
nur mit dem ersten der drei genannten Aspekte uneingeschränkt überein. Hinsichtlich der
anderen beiden Aspekte bedeutet sie eine Modifizierung. Wenn „Fortschritt“ allein eine
„gute Entwickung“ bezeichnen soll, noch dazu im objektiven Sinne, ist damit eine
Bedeutungsverengung hinsichtlich des zweiten Aspektes verbunden: Eine Entwicklung
zum Schlechteren wird begrifflich ausgeschlossen. In Bezug auf den dritten Aspekt ist mit
der Formulierung einer „objektiv guten Entwicklung“ hingegen eine Ergänzung der in den
Zitaten deutlich werdenen Engführung von „Fortschritt“ im Sinne eines
104
Ritter, Joachim: „Fortschritt“, in: ders. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2,
Basel/Stuttgart: Schwabe & Co Verlag, 1972, Seite 1032.
105
Koselleck, Reinhart: „Fortschritt“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.):
Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1975, Seite 352.
106
Neuser, Wolfgang: „Fortschritt“, in: Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner/Christoph Wild
(Hrsg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band 1, Freiburg/München: Verlag Karl Alber,
2011, Seite 788.
107
Rosen, Michael: „Fortschritt“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, Hamburg:
Felix Meiner, 2010, Seite 218.
46
Steigerungsgeschehens verbunden. Zwar kann eine Verbesserung stets auch als „gute
Entwicklung“ bezeichnet werden. Es fragt sich aber, ob jedwede „gute Entwicklung“ auch
eine Verbesserung, also ein Steigerungsgeschehen bedeutet. Es sei hier bereits
vorweggenommen, dass ich „Verbesserung“ nur als einen von zwei möglichen Modi
verstehe, in denen sich eine Fortschrittsbewegung vollziehen kann. Im Folgenden gilt es
nun, diese beiden Modifizierungen gegenüber dem in den philosophischen Wörterbüchern
deutlich werdenden Verständnis von „Fortschritt“ zu begründen. Zunächst gehe ich auf die
mit der semantischen Eingrenzung auf positiv bewertete Entwicklungen verbundene
Entambiguisierung des Fortschrittsbegriffes ein. Im Anschluss daran werde ich zeigen,
inwiefern zwischen zwei verschiedenen Fortschrittsmodi unterschieden werden kann und
sollte.
Entambiguisierung des Fortschrittsbegriffes
Einen Grund, der für die Entambiguisierung des Fortschrittsbegriffes spricht, kann man in
der Tatsache sehen, dass dem Ausdruck „Fortschritt“ in der Alltagssprache der Gegenwart
grundsätzlich eine positive Bedeutung zukommt, welcher die immense philosophische
Kritik des zwanzigsten Jahrhunderts offenbar nichts anhaben konnte.108 Besonders im
Verhältnis zu den Begriffen „Stillstand“ und „Rückschritt“ wird die grundsätzliche
Positivität des Fortschrittbegriffes deutlich. Jedes Zögern auf die Frage, ob man für
Fortschritt sei, verwandelt sich spätestens in der Verneinung der weiteren Nachfrage, ob
das Zögern denn als Zustimmung zu Stillstand oder gar Rückschritt zu deuten sei, zu einer
latenten Bestätigung dieser Positivität. Genau aus diesem Grund konnte der jetzige USamerikanische Präsident, Barack Obama, in seinem ersten Wahlkampf 2008 in
unkommentierter Weise mit dem Worten „progress“ und „change“ – natürlich zum Guten
– für sich werben. Aber auch abseits des Alltages lässt sich diese Positivität des
Fortschrittsbegriffes ausfindig machen. Die Verwendungen des Ausdruckes „Fortschritt“
in den Präambeln der Charta der Vereinten Nationen, der Menschenrechtsdeklaration und
des Vertrages über die Europäische Union setzen eine positive Konnotation desselben
voraus. Das Gleiche gilt für den Gebrauch des Wortes „Fortschritt“ in den nationalen und
internationalen Diskursen zur Wachstumskritik. In der Ablehnung der ideologischen
Fokussierung nationaler und internationaler Politiken auf ökonomisches Wachstum kommt
der Ausdruck „Fortschritt“ als das ins Spiel, was es durch eben diese Entideologisierung
zu befördern gilt.109 Wenn also der Ausdruck „Fortschritt“ gegenwärtig nicht nur in der
Alltagssprache, sondern auch in politischen Diskursen bis hinein in internationale
Vertragswerke allein positiv verstanden wird, lässt sich meines Erachtens zu Recht dafür
108
Vgl. Neuser (2011), Seite 788; sowie Baumgartner, Hans Michael: „Die Idee des Fortschritts“, in: Max
Müller/Michael Schmaus (Hrsg.): Philosophisches Jahrbuch, 70. Jahrgang, 1. Halbband, München: Verlag
Karl Alber, 1962, Seite 158ff.
109
Vgl. Seite 44ff. dieser Arbeit.
47
argumentieren, in dem historisch aufweisbaren ambivalenten Gebrauch nicht mehr als eine
begriffsgeschichtliche Anekdote zu sehen, die für die aktuelle Bedeutung ohne Belang ist
und deshalb ignoriert werden kann.
Unabhängig davon aber lässt sich die grundsätzliche Positivität des Fortschrittsbegriffes
meines Erachtens auch aus den etymologischen Wurzeln „Gedeihen“ und „Wachsen“
ableiten. Die „begriffsgeschichtliche Anekdote“ der negativen Konnotation erscheint
sodann als Folge eines ungenauen Wortgebrauches. Man kann die vermeintliche
Ambiguität des Ausdruckes „Fortschritt“ als eine aus der „Aggregationsproblematik“
herrührende Begriffsverzerrung verstehen. Die „Aggregationsproblematik“ ergibt sich aus
einer über partielle Entwicklungen hinausgehenden Betrachtung einer Gesamtwirklichkeit.
Eine differenzierte Betrachtung dieses Zusammenhanges kann dazu beitragen, den
ambivalenten, ja geradezu paradoxen Gebrauch – dass ein Fortschritt auch eine negative
Entwicklung, also einen Rückschritt bedeuten kann –, wenn nicht zu delegitimieren, so
doch seiner Inkonsistenz in Bezug auf die etymologischen Wurzeln zu überführen. Die
Entzerrung des Fortschrittbegriffes kann dabei auf zwei Ebenen vorgenommen werden,
einer faktualen und einer evaluativen. Die Argumentation ist auf beiden Ebenen aber
letztlich die gleiche. Ausgehend von den etymologischen Wurzeln des Fortschrittsbegriffes
„Gedeihen“ und „Wachsen“ werde ich im Folgenden zunächst auf der faktualen, dann auf
der evaluativen Begriffsebene die Stringenz des ambivalenten Gebrauches von
„Fortschritt“ in Frage stellen. Es ist für ein Verständnis der sich anschließenden
Ausführungen nicht unentscheidend, im Bewusstsein zu haben, dass „Gedeihen“ und
„Wachsen“ nicht in ihrem vollen Bedeutungsumfang synonym gebraucht werden können.
Denn insofern „Wachsen“ offenbar stets irgendeine Art von Steigerungsgeschehen meint,
gilt dies nicht für das Wort „Gedeihen“. Zwar kann „Gedeihen“ als „gute Entwicklung“
auch einen Wachstumsprozess bezeichnen, ist aber nicht darauf reduziert. Es sind auch
positive Entwicklungen denkbar, welche nicht als Steigerungsgeschehen zu chrakterisieren
sind. Dazu später mehr. Wichtig ist an dieser Stelle erst einmal nur, im Kopf zu behalten,
dass sich das Wort „Fortschritt“ seinen etymologischen Wurzeln nach nicht allein auf
Steigerungszusammenhänge beziehen lässt und diese nur insoweit meinen kann, als sie
einem „Gedeihen“ nicht abträglich sind.
Faktuale Positivität
Auf faktualer Ebene können „Fortschritte“ überall dort ausgemacht werden, wo etwas als
faktisches „Gedeihen“ oder „Wachsen“ betrachtet wird. In der angenommenen Faktizität
des Gedeihens, sei es nun Wachstum oder nicht, tritt eine Positivität zu Tage, die ich als
faktuale Positivität bezeichnen möchte. Das Gedeihende erfährt durch sein Gedeihen eine
faktische Bejahung. Ein so verstandener Fortschritt kann mit Blick auf das Gedeihende
allein positiv verstanden werden, bezeichnet es in diesem Hinblick ausschließlich eine
48
„gute“ Entwicklung. Diese faktuale Positivität des Fortschrittsbegriffes erhält auch
dadurch keinen Abbruch, dass ihre Wirklichkeit in anderer Hinsicht möglicherweise mit
einer faktualen Negativität verbunden ist. So ist es denkbar, dass etwas anderes durch das
Gedeihende negativ beeinflusst wird, nicht mehr wächst, nicht mehr gedeiht, vielleicht
vermindert, gar vernichtet oder von vorne herein verhindert wird. Aber gerade wenn man
einen solchen negativen Zusammenhang, ein solches Nicht- oder Nicht-mehr-Gedeihen mit
in Betracht zieht, wird deutlich, dass dieses, weil es nicht „wächst“ oder „gedeiht“, eben
keinen „Fortschritt“ bedeuten kann. Auf faktualer Begriffsebene ist „Fortschritt“ dem
etymologischen Kern nach als „Gedeihen“ und „Wachsen“ allein positiv, ist Bejahung,
keine Negation, Verhinderung, Verminderung oder gar Vernichtung. Sonst wäre
„Gedeihen“ gleichbedeutend mit „Nicht-Gedeihen“, was offensichtlich ein Widerspruch
ist. Der hypothetische Fall reinen „Nicht-“ oder „Nicht-mehr-Gedeihens“ kann nicht
sinnvoll als Fortschritt im Sinne von „Gedeihen“ bezeichnet werden. Dies müsste er aber,
wenn die vermeintliche Ambivalenz im Fortschrittsbegriff selbst liegen sollte. In diesem
Zusammenhang wird also nicht ersichtlich, warum der Fortschrittsbegriff eine ambivalente
Bedeutung haben, faktuale Positivität und Negativität, „Gedeihen“ und „Nicht-Gedeihen“
gleichermaßen umfassen sollte.
Eine mögliche Überlegung bleibt. Vorausgesetzt jedes faktische „Gedeihen“ würde
synchron oder asynchron mit einem „Nicht-Gedeihen“ einhergehen, dann wäre es richtig
zu sagen, dass jeder Fortschritt sein Gegenteil gleichsam mitbedeute.110 Im ausschließlich
positiven Begriffe würde dieser Zusammenhang unreflektiert verlorengehen. Aus Gründen
einer diesbezüglichen Klarheit könnte es deshalb sinnvoll erscheinen, Fortschritt sowohl
positiv als auch negativ zu begreifen. Meines Erachtens wird dadurch allerdings genau das
Gegenteil erreicht. Die Unklarheit wird durch die widersprüchliche Begriffsverwendung,
in der Fortschritt sowohl eine positive als auch eine negative Entwicklung bezeichnen
kann, gesteigert und nicht beseitigt. Dabei kann man diese „Aggregrationsproblematik“
leicht in den Griff bekommen, wenn man sich Folgendes klar macht. „Fortschritt“ ist in
erster Linie ein Partial-, kein Totalbegriff.111 „Fortschritt“ bezieht sich als Begriff zunächst
nicht auf die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit, sondern nur in Hinsicht auf partiell in ihr
Gedeihendes oder Wachsendes. Dabei kann offen gelassen werden, ob zugleich anderes
nicht gedeiht und eben keine Fortschritte macht. Nicht im Fortschrittsbegriff, sondern in
dem Bergiff einer über partielles Gedeihen hinausgehenden Wirklichkeit ist die
Ambivalenzproblematik zu verorten. Es ist die Gesamtwirklichkeit, die zugleich
110
Dieser Zusammenhang kann auf unterschiedliche Weise vorgestellt werden. In seinem Aufsatz
„›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe“ macht Reinhart Koselleck vier
verschiedene Formen dieses Zusammenhangs in der Begriffsgeschichte aus. „Fortschritt“ und
„Niedergang“ erscheinen als Sukzessionsbegriffe, Gegenbegriffe, Korrelationsbegriffe oder
Kompensationsbegriffe; Koselleck, Reinhart: „›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zur Geschichte
zweier Begriffe“, in ders.: Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, Seite 162ff.
111
In diesem Punkt schließe ich mich Reinhart Koselleck an. Das aber heißt nicht, dass ein universaler
Fortschritt prinzipiell unmöglich ist; vgl. Koselleck (2006), Seite 180.
49
„Fortschritte“ und „Rückschritte“, „Gedeihen“ und „Nicht-Gedeihen“ umfassen kann. Und
wenn man danach fragt, ob die Wirklichkeit in ihrer Totalität einen Fortschritt darstelle, so
könnte eine Antwort allein aus der Aggregation der partiellen Entwicklungen abgeleitet
werden. In diesem Zusammenhang scheint der häufig vorgebrachte Hinweis, dass im
Französischen und Englischen ursprünglich nur im Plural von „Fortschritten“ statt im
Kollektivsingular „Fortschritt“ gesprochen wurde, auf die Sache nicht nur ein
begriffsgeschichtliches, sondern auch ein systematisches Licht zu werfen.112 Ein zwischen
Fortschritten und Rückschritten ausgeglichenes oder gar negatives Ergebnis stellt jedoch
keinen Grund dafür dar, dem Fortschrittsbegriff eine ambivalente Bedeutung
zuzusprechen, sondern allein dafür, in diesem Fall die Gleichsetzung von
„Gesamtwirklichkeit“ und „Fortschritt“ zu verneinen. 113 Es macht in diesem
Zusammenhang Sinn, zwischen der substantiellen Partialität und der aggregativen
Universalität des Fortschrittsbegriffs zu differenzieren.
Evaluative Positivität
Die evaluative Ebene bedeutet die begriffliche Einbeziehung jenes Phänomens, das sich
als subjektive Wertung faktischen Geschehens beschreiben lässt. Eine sich in faktischem
Gedeihen manifestierende Positivität kann eine evaluative Bestätigung oder aber
Ablehnung erhalten. Hierin nun könnte ein nachvollziehbarer Grund für einen
ambivalenten Gebrauch des Fortschrittsbegriffes vermutet werden. Durch Einbeziehung
der subjektiven Evaluation in den Begriff des Fortschritts scheint dieser nach zwei Seiten
hin deutbar: zum Guten und zum Schlechten. Die Bewertung eines faktischen Gedeihens
hängt davon ab, ob dieses mit den Interessen des wertenden Subjektes im Einklang steht
oder nicht. Ein interessiertes Subjekt ist nun aber selbst eine Entität, deren Gedeihen bzw.
Nicht-Gedeihen sich ohne Weiteres thematisieren lässt. Und entscheidend für das
Gedeihen eines solchen Subjektes ist, dass die faktischen Entwicklungen seinen Interessen
entsprechen. Analog führen Entwicklungen, die den Interessen des Subjektes
entgegenstehen, zu einem Nicht-Gedeihen desselben. Steht ein faktisches Gedeihen im
Einklang mit den subjektiven Interessen, dann wird jenes faktische Gedeihen durch ein
faktisches Gedeihen des interessierten Subjektes begleitet. Wir haben es sowohl mit
faktualer als auch evaluativer Positivität und in beiden Fällen mit einem Fortschritt im
Sinne von Gedeihen zu tun. Widerspricht ein faktisches Gedeihen jedoch den subjektiven
Interessen, dann steht jenes faktische Gedeihen einem faktischen Nicht-Gedeihen des
interessierten Subjektes gegenüber. In diesem Fall haben wir es mit faktischer Positivität
und evaluativer Negativität, einem Fortschritt als faktisches Gedeihen auf der einen und
112
Vgl. etwa Koselleck (2006), Seite 173.
Was sollte uns auch die Anwendung eines ambivalenten Begriffes auf eine ambivalente Wirklichkeit
bedeuten: die Ambivalenz der Ambivalenz? Wäre Ambivalenz dann doch nicht so ambivalent, wie wir
denken? Es ist begrifflich sinnvoll, den Fortschrittsbegriff von einer grundsätzlichen Gleichsetzung mit
einer Gesamtwirklichkeit und damit von der in dieser möglichen Ambivalenz zu befreien.
113
50
einem Rückschritt als faktisches Nicht-Gedeihen auf der anderen Seite zu tun. Wieder ist
es die über das einzelne Gedeihen hinausgehende Wirklichkeit, die sowohl Positivität als
auch Negativität, also Ambivalenz aufweisen und, insofern sie dies etwaig tut, gerade nicht
als Fortschritt bezeichnet werden kann.
Die zwei Modi des Fortschrittsbegriffes
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ich den Begriff der „Verbesserung“ nur als einen
von zwei möglichen Fortschrittsmodi verstehe. Und in den obigen Anmerkungen über das
Verhältnis der beiden etymologischen Grundbedeutungen von Fortschritt, „Gedeihen“ und
„Wachsen“, lag auch bereits ein erster Hinweis darauf, worin der zweite der beiden Modi
besteht. Es wurde deutlich, dass der Ausdruck „Fortschritt“ im Hinblick auf „Wachstum“
ein Steigerungsgeschehen beinhalten kann, aber nur insofern dieses einem „Gedeihen“,
einer „guten Entwicklung“ entspricht. Nicht jede gute Entwicklung aber bedeutet ein
Steigerungsgeschehen. Die Realisierung von Fortschritt als einer „guten Entwicklung“
lässt sich demnach auf zwei verschiedene Weisen denken. Zum einen kann eine „gute
Entwicklung“ eine Verbesserung bedeuten, sofern mit der Veränderung die Vorstellung
eines Übergangs von einem schlechteren zu einem besseren Zustand verbunden wird –
wobei hier erst einmal offen gelassen werden kann, wie genau dieses „Besserwerden“
konkret zu verstehen ist. Zum anderen kann unter einer „guten Entwicklung“ aber auch die
Fortführung einer bereits „gut“ verlaufenden Bewegung verstanden werden. In diesem
Falle genügt die Bewegung einem bestimmten Anspruch, ohne dass dieses Genügen mit
einer Steigerung verbunden ist. Die Eigenschaft, sich in einem der beiden Modi
Verbesserung oder Genügen äußern zu können, nenne ich die Bimodalität des
Fortschrittsbegriffes.114
Vor dem Hintergrund der begriffsgeschichtlichen Entwicklung in philosophischen und
politischen Auseinandersetzungen scheint der Modus der Verbesserung, modus
meliorativus, keiner weiteren Rechtfertigung zu bedürfen. Schaut man sich das
Fortschrittsverständnis einschlägigier philosophischer Konzepte und politischer
Programme der Vergangenheit an, dann geht es vornehmlich um Verbesserung bzw.
Steigerungsgeschehen. Ganz anders der Modus des Genügens, modus sufficiens. Es lässt
sich meines Erachtens aber recht einfach zeigen, dass es dabei letztlich um keine
Erweiterung des Fortschrittsbegriffes, sondern um die Explikation eines jeder
„Verbesserung“ immanenten Bedeutungsaspektes geht. Bei all dem gelten die folgenden
Überlegungen nicht erst für ein allgemeines Verständnis, sondern ebenso für zeitlich,
räumlich und sachlich relativierte Bedeutungen von „Fortschritt“.
114
Ähnlich hat Robert Spaemann eine Unterscheidung zwischen von ihm so benannten „A-Fortschritten“
und „B-Fortschritten“ vorgenommen; vgl. Spaemann (1994), Seite 130ff.
51
Eine „Verbesserung“ ist eine Veränderung, eine Bewegung oder ein Werden im modus
meliorativus, eben ein „Besserwerden“. Ein solches aber ist nur denkbar im Hinblick auf
einen Zielpunkt, dem sich die in Frage stehende Bewegung annähert. 115 Das
„Besserwerden“ kann hier im Grunde als Synonym zu dieser Annäherung verstanden
werden. Die Annäherung an ein Ziel bedeutet so die graduelle Steigerung im Hinblick auf
die Erfüllung eines Zieles. Dabei ist vorauszusetzen, dass das Ziel als Ziel der Bewegung
stets bewahrt bleibt. Die Bewahrung des Zieles schließt die Bewahrung des Anspruches
der Zielerfüllung mit ein. Zielvorstellungen, die nicht erfüllt werden können, sind aus
praktisch-theoretischer Sicht als Zielsetzungen zu diskreditieren. Diesen Zusammenhang
möchte ich als teleologische Suffizienz-Bedingung bezeichnen. „Verbesserung“ ist eine
teleologische Dynamik. Es sei hier nebenbei bemerkt, dass die Bewahrung eines Zieles in
der Veränderung nichts anderes heißt, als dass die Verbesserung in ihrem Kern einen
dritten, wenn auch für sich nicht schon progressiven Modus enthält, den modus
conservativus. Modus conservativus und modus meliorativus sind also, anders als man vor
dem Hintergrund politischer Debatten vorschnell meinen könnte, nicht nur keine sich
widersprechenden Modi einer Bewegung, sondern letzterer setzt ersteren sogar voraus.
Das Gesagte gilt auch dann, wenn die Zielbezogenheit nur von außen an eine Bewegung
herangetragen wird, ohne dass ihr dieser Zielbezug als immanenter selbst zukäme. Auch in
einer solchen Projektion muss die Bewegung beständig auf ein, wenn auch ihr äußerlich
zugesprochenes, Ziel bezogen werden, soll sie als „Verbesserung“ thematisiert werden
können.
Ob in eine Bewegung bloß projiziert oder dieser als Realität zukommend, der Begriff der
„Verbesserung“ kommt im Hinblick auf seine notwendige Zielorientierung nicht ohne
einen modus conservativus aus. Anders aber als letzterer schließt der modus meliorativus
über die Bewahrung der Zielorientierung hinaus auch die Vorstellung einer tatsächlichen
Annäherung an die vollständige Erfüllung des Zieles mit ein. Sobald diese Annäherung
unterbrochen wird, hört die Bewegung auf, eine Verbesserung zu sein. Die Erfüllung der
Zielorientierung und -bewahrung ist der erstnotwendige, der Übergang zur vollständigen
Zielerfüllung der letztmögliche und letzthinreichende Schritt der Annäherung einer
jeglichen Verbesserungsbewegung. Eine Verbesserung stellt also nicht deshalb eine „gute“
Entwicklung dar, bloß weil in ihr irgendetwas gesteigert würde, sondern weil „Steigerung“
als eine graduelle Annäherung an die vollständige Erfüllung eines Zieles zu verstehen ist.
Und eine graduelle Steigerung im Hinblick auf eine Zielerfüllung kann natürlich auch mit
einer für die Erfüllung des Zieles notwendigen Schrumpfung bzw. Reduzierung von etwas
einhergehen.
Wenn Fortschritt als teleologische Dynamik auf die vollständige Erfüllung eines Zieles
abhebt, dann scheint, zumindest auf den ersten Blick, mit Eintreten der Zielerfüllung jede
115
Vgl. Robert Spaemanns Definition von „A-Fortschritten“, ebd.
52
weitere Fortschrittsbewegung ausgeschlossen. Fortschritt wäre so nur im Sinne einer
Steigerung des Grades der Zielerfüllung, also allein als Verbesserung denkbar und damit
Verbesserung die einzig mögliche Bedeutung von Fortschritt: Ist das Ziel vollständig
erreicht, so ist der Fortschritt abgeschlossen, die progressive Dynamik am Ende. Ich teile
diesen Gedanken, allerdings nur unter einem entscheidenden Vorbehalt: nämlich allein in
Zusammenhang mit der Vorstellung eines Zieles, welches man durch einen abschließend
zu erreichenden Zustand erfüllen kann.
Nicht aber gilt dies im Verhältnis zu Zielvorstellungen, deren vollständige Erfüllung nicht
in einem endgültigen Zustand mündet, sondern nur über einen stetigen Erfüllungsvollzug
erreicht werden kann. Zur Veranschaulichung eines solchen Vollzusgszieles kann zum
Beispiel die menschliche Atmung dienen. Das im modus conservativus verfolgte Ziel ist
eine suffiziente Sauerstoffversorgung des Körpers. Diese lässt sich nicht über einen zu
erreichenden Endzustand, sondern nur über eine fortlaufend ausreichende Atmung
sicherstellen. Soweit der Körper weder mit zu wenig noch mit zuviel Sauerstoff versorgt
wird, kann dieses Ziel in einem modus sufficiens weiterhin erfüllt, nicht aber verbessert
bzw. gesteigert werden. Ein solcher Fortgang der Atmung im modus sufficiens ist
nichtsdestotrotz dynamischer Natur. Die Atmung, an sich bereits Bewegung, verändert
sich im Hinblick auf ihr Ziel erheblich. Atemfrenquenz und -volumen variieren zum
Beispiel in Abhängigkeit zur Belastung des Körpers, um diesen jeweils im richtigen Maße
mit Sauerstoff zu versorgen. Die suffiziente Atembewegung samt ihrer Veränderungen
kann also mit Fug und Recht als eine Dynamik beschrieben werden, die, trotz Erfüllung
des gegebenen Zieles, in dieser Erfüllung weder an ein Ende kommt noch eine
„Verbesserung“ bedeutet.
Damit wäre die Vorstellung einer teleologischen Dynamik gewonnen, welche dem
Fortschrittsbegriff eine von „Verbesserung“ abweichende Bedeutung verleihen kann. Eine
Dynamik, die sich vor dem Hintergrund der Suffizienzwahrung als eine „gute“
Entwicklung im modus sufficiens beschreiben lässt. Für ein weniger physiologisches
Beispiel liegt hier nicht zuletzt der Gedanke an die aristotelische eudaimonia nahe. Sie ist
wohl eine der wirkungsmächtigsten philosophischen Konzeptionen eines solchen
Vollzugszieles. Und sie steht nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in Nähe zu dem
hier beschriebenen Fortschritt als ein „Gedeihen“ im modus sufficiens. Die eudaimonia ist
für Aristoteles „das vollkommene und selbstgenügsame Gut“, nach dem es im
menschlichen Leben zu streben gilt, und in Bezug auf welches andere Ziele nur als Mittel
erscheinen können.116 Die eudaimonia ist kein zu erreichender Zustand, sondern wird von
Aristoteles als eine „tugendmäßige Tätigkeit der Seele“ bestimmt.117 Deshalb könnte auch
116
Aristoteles: Nikomachische Ethik (Übers. Olof Gigon), Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler, 2001,
Seite 25f.
117
Vgl. ebd., Seite 33, 39.
53
selbst derjenige, der sein ganzes bisheriges Leben hindurch vollkommen tugendhaft gelebt
hat und mit den notwendigen äußeren Gütern versorgt war, nicht schon glückselig genannt
werden. Denn vor ihm liegt eine unabsehbare Zukunft, in der er seine Glückseligkeit erst
noch und immer wieder neu erringen muss bzw. immer in der Gefahr schwebt, diese zu
verlieren.118 Die eudaimonia, die Glückseligkeit, findet für Aristoteles ihre Verwirklichung
nicht grundsätzlich in einem Steigerungsgeschehen. Denn „der wahrhaft Gute und
Verständige“ trägt „in guter Haltung jede Art von Schicksal“ und tut „in der gegebenen
Lage stets das Beste“. 119 Vollkommene Tugendhaftigkeit ist bei Aristoteles keine
„Verbesserung“, sondern das stetige Hervorbringen des „Besten“. Heute das „Beste“ zu
tun, ist nicht weniger gut als morgen das „Beste“ zu tun. Der Superlativ ist „das
vollkommen Gute“, verstanden als eine die notwendigen äußeren Güter nicht aussparende
tugendhafte Tätigkeit, das prakton agathon.120 Dementsprechend müsste die Komparation
auch nicht heißen „gut/besser/am besten“, sondern etwa „am wenigsten gut/weniger
gut/gut“. „Weniger gut“ ist „besser“ als „am wenigsten gut“, „gut“ ist „am besten“. Die
eudaimonia kann also als ein Fortschritt im modus sufficiens verstanden werden. Ein
Fortschritt im modus meliorativus ist im Rahmen dieser aristotelischen Konzeption als
Einübung und Steigerung tugendhaften Verhaltens bis hin zu jenem vollkommenen
Vollzug denkbar. Analog zu der hier getroffenen Unterscheidung zwischen NichtVollzugszielen und Vollzugszielen unterscheidet auch Aristoteles zwischen
zweckdienlichen (kinetischen) und selbstzwecklichen (energetischen) Vollzügen.121
Auch wenn sich also ein „Gedeihen“ im modus sufficiens verständlich machen lässt, ist
damit letztlich aber noch nicht begründet, warum der Fortschrittsbegriff nicht dennoch auf
den modus meliorativus, auf die Vorstellung eines ansteigenden Erfüllungsgrades
beschränkt werden sollte. Denn man könnte ja weiterhin dafür argumentieren, mit dem
Ausdruck „Fortschritt“ allein Bewegungen im modus meliorativus zu bezeichnen. Anders
formuliert: Warum sollte nicht genauso wie das „Gedeihen“ den Umfang des im
Fortschrittsbegriff umschlossenen „Wachsens“ einschränkt, das „Wachsen“ den Umfang
des im Fortschrittsbegriff enthaltenen „Gedeihens“ einschränken? Warum sollte die
begriffliche Einschränkung asymmetrisch ausfallen? Warum sollte „Fortschritt“ nicht
ausschließlich als „Verbesserung“ verstanden werden?
Das grundlegende Argument für diesen Schritt wird deutlich, wenn man sich die
Plausibilität der folgenden Reformulierung des modus meliorativus vor Augen führt: Der
modus meliorativus ist ein graduell zu seiner vollständigen Verwirklichung drängender
modus sufficiens. Es wird mit dem modus sufficiens also kein völlig neuer
118
Vgl. ebd., Seite 45.
Vgl. ebd. Seite 43.
120
Vgl. ebd., Seite 24.
121
Aristoteles: Metaphysik (Übers. Hermann Bonitz), Zweiter Halbband, Buch IX Kapitel 6, Hamburg:
Felix Meiner Verlag, 1991, Seite 115ff.; Aristoteles NE (2006), Seite 9.
119
54
Fortschrittsmodus eingeführt, als vielmehr der eigentliche überhaupt erst benannt. Ich habe
bereits herausgestellt, dass der modus meliorativus in der Orientierung an einem Ziel dem
Anspruch der vollständigen Erfüllung desselben insofern genügt, als dass er einer
tatsächlichen Annäherung an diese Erfüllung entspricht. Denn in der Annäherung ist das
Erreichen des Zieles mitgedacht, steht die vollkommene Erfüllung mindestens als
projizierte am Ende der Bewegung. Sobald die Steigerung des Erfüllungsgrades einer
solchen Bewegung unterbrochen wird, hört sie auf, dem Anspruch der vollständigen
Erfüllung gerecht zu werden, diesem in ihrer Dynamik zu genügen, hört sie auf, eine
Verbesserung zu sein. Eine Verbesserung ist eine teleologische Bewegung, die durch die
Steigerung des Erfüllungsgrades der vollständigen Erfüllung eines Zielanspruches gerecht
wird. Verbesserung ist also ein Erfüllungsgeschehen. Eine Verbesserung, eine Bewegung
im modus meliorativus, kann als eine besondere Form des modus sufficiens bezeichnet
werden. Nicht Steigerung steht im Zentrum des Verbesserungsbegriffes, sondern
Erfüllung, wenn auch als eine bloß projizierte am Ende des Prozesses. Erfüllung aber ist
kein Steigerungsgeschehen. Wenn etwas erfüllt wird, wird es erfüllt, nicht gesteigert.
Selbstverständlich kann Erfüllung auf dem Wege einer graduellen Steigerung der
Erfüllung erreicht werden. Dann wäre sie mit „Verbesserung“ gleichbedeutend. Genauso
ist aber auch ein Erfüllungsgeschehen denkbar, das, soweit die Erfüllung eines Zieles nicht
abschließend zu erreichen ist, sich als fortschreitende vollständige oder vollkommene
Erfüllung im modus sufficiens darstellt. Wenn es im Kern also gar nicht um Verbesserung
geht, sondern diese vielmehr als eine Variante einer auf „vollständige Erfüllung des
Zielanspruches“ gerichteten Bewegung zu verstehen ist, dann erscheint der modus
sufficiens als die grundsätzliche Bewegungsform von Fortschritt. Dieser kann sich
entweder in vollkommener oder aber verzögerter Ausprägung manifestieren. Der modus
meliorativus ist, wenn man so will, ein dilatorischer modus sufficiens.
3 Vollkommenheit als Ziel des Fortschritts? – zu Aristoteles
Dass der modus sufficiens bisher in der Fortschrittsdiskussion keine begriffsbildende
Beachtung findet, drückt sich unter anderem darin aus, dass die antike Philosophie, anders
als die mit der jüdisch-christlichen Tradition verschmolzene Philosophie, in der
grundlegenden Diskussion des Fortschrittsbegriffs keine Rolle spielt. So schreibt etwa
Christian Meier in seiner Übersicht über den „‘Fortschritt’ in der Antike“, dass sich in der
Antike nie ein eigentlicher Fortschrittsbegriff gebildet habe, „mindestens in der
heidnischen Antike hat man nie gemeint, daß die gesellschaftlichen und ethischen
Bedingungen sich prozessual verbesserten, ja daß die Geschichte in einem umfassenden
55
Veränderungsprozeß bestehe“. 122 Ähnlich vertitt auch Friedrich Rapp in seiner
Untersuchung über Entwicklung und Sinngehalt der Fortschrittsidee die Ansicht,
dass es „für die unbedingte Fortschrittserwartung der Moderne [...] in der Antke kein
Gegenstück“ gibt.123
Diese Diagnose ist insoweit nachvollziehbar, als die genannten Autoren, und wohl die
meisten mit ihnen, von dem sich spätestens seit dem achtzehnten Jahrhundert
durchsetzenden, zunächst mit einem grundsätzlichen Optimismus verbundenen
Verständnis von „Fortschritt“ als „universales Verbesserungsgeschehen“ ausgehen. Diese
begriffliche Reduzierung vor Augen, ist es nur verständlich, dass Fortschritt zwar als
Säkularisierung der mit Augustinus einsetzenden systematischen theologischen Deutung
der Geschichte im Sinne eines auf ein erst noch zu erreichendes Heil bezogenen
Geschehens verstanden werden kann, nicht aber als eine Modifizierung der der Antike für
gewöhnlich zugeschriebenen Vorstellung von der Geschichte als „Wiederkehr des
Gleichen“.124 Letztere scheint hingegen viel eher mit dem modus sufficiens vereinbar,
insofern dieser als stetiges Hervorbringen des gleichen Sachverhalts interpretiert werden
kann. Solange „Fortschritt“ ausschließlich als „Verbesserung“ verstanden wird, können
antike Konzepte wie zum Beispiel die aristotelische eudaimonia im Rahmen einer
grundlegenden Analyse des Fortschrittsbegriffes keine positive Bedeutung gewinnen.
Wenn aber, wie dargelegt, der modus sufficiens, sei es in seiner vollkommenen oder
dilatorischen Form, als der eigentliche Modus des Fortschritts angesehen wird, dann ist
damit die Möglichkeit eröffnet, aus diesem Grund bisher ausgeklammerte Bezüge in die
Fortschrittsdiskussion mit einzubeziehen. Dies gilt, wie am Beispiel der aristotelischen
eudaimonia deutlich geworden, auch im Hinblick auf die Philosophie der Antike.
Ein
anderer
mit
dem
Verständnis
von
Fortschritt
als
„universales
Verbesserungsgeschehen“ in Zusammenhang stehender Grund für die bisherige
Vernachlässigung der antiken Philosophie besteht darin, dass die auch in der Antike
vorhandenen Vorstellungen von meliorativen Entwicklungen nicht universell genug
gedacht wurden, um in die Nähe des modernen Fortschrittsbegriffes zu kommen. In
diesem Sinne schreibt Christian Meier: „Subjekte wie Bereiche dieses Fortschreitens sind
in der Regel partiell, die zeitlichen Dimensionen eng begrenzt.“125 Und Friedrich Rapp
122
Meier, Christian: „‘Fortschritt’ in der Antike“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck
(Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1975, Seite 353f.
123
Vgl. Rapp, Friedrich: Fortschritt – Entwicklung und Sinn einer Philosophischen Idee, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992, Seite 108.
124
Als paradigmatische Ausformulierung des Gedankens, den Fortschrittsbegriff als Säkularisierung der
jüdisch-christlichen Heilsvorstellung zu verstehen, kann Karl Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen
gelten. Dort stellt auch er der linearen Geschichtsvorstellung des Mittelalters und der Moderne die zirkuläre
der Antike gegenüber; vgl. Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart: Kohlhammer,
1973; vgl. auch Rapp ( 1992), Seite 104ff.
125
Meier, Christian (1975), Seite 353.
56
führt aus: „Doch dieses partielle und eher zufällige Fortschrittsverständnis darf nicht
überinterpretiert werden. Es unterscheidet sich sowohl von der konkreten Einlösung als
auch von den theoretischen Hintergrundvortellungen her grundsätzlich von den
systematischen und weitreichenden Fortschrittserfahrungen in allen Lebensbereichen, wie
sie für die Moderne charakteristisch sind.“126 Auch dieser Aspekt erscheint in einem
anderen Licht, wenn der modus sufficiens als der grundlegende Modus von Fortschritt in
den Blick kommt. Wenn auch die antiken Vorstellungen von „Verbesserungen“ nur
„partiell“ und „zufällig“ erscheinen mögen, so gilt dies zum Beispiel wiederum nicht für
die aristotelische Vorstellung einer „guten Entwicklung“ im modus sufficiens. Denn bei
Aristoteles lässt sich eine nicht „zufällige“, sondern systematische Vorstellung eines nicht
„partiellen“, sondern universellen Fortschritts im modus sufficiens ausmachen.
In aller Kürze127: Aristoteles legt der gesamten Natur, dem gesamten Kosmos das Prinzp
der Entelechie zugrunde, nicht als singuläre Zielstrebigkeit der einen Natur, sondern als
sämtlichem individuellen Strebensprozessen in der Natur zukommender Drang zur
vollkommenen Verwirklichung wesenhafter Anlagen. Trotz ihrer Indiviualität und
Diversität treffen sich die unzähligen Strebensprozesse in ihrem Drang nach
Vervollkommnung, in ihrer Ausrichtung auf Vollkommenheit. Diese Vollkommenheit, auf
die jegliches individuelle Streben gerichtet ist, ist keine Vorstellung oder andersartige
Vorwegnahme der jeweiligen individuellen Vollkommnheit, sondern eine vollkommene
Wirklichkeit, die Gottheit, der unbewegte Beweger. Die Gottheit „zieht“ in ihrer
Vollkommenheit „wie ein Geliebtes“ alles Seiende, oder besser, Werdende zu sich hin und
so in seine jeweilige wesenhafte Vervollkommnung.128 Nach Aristoteles kommt jedem
Streben die seinem Wesen entsprechene Vervollkommnung zunächst nur als Potentialität
(dynamei) zu. Ihre Verwirklichung (entelechie/energeia) ist offen. Die Verwirklichung der
Potentialität, die entelechie, kann nun im obigen Sinne als ein Erfüllungsgeschehen
verstanden werden. Sie ist die Erfüllung jeweiliger Wesenheit. Was sich hier abzeichnet,
ist ein zumindest denkbarer universeller Fortschritt als synchrone und asynchrone
Vervollkommnung sämtlichen individuellen Strebens im modus sufficiens. Wolfgang
Welsch schreibt: „Wenn man so will, hat Aristoteles die bei Platon auf den Mensch
beschränkte homoiosis theo (Platon, Theatet 176 b 1 f.) ontologisch universalisiert.“129 Die
homoiosis theo, „die Verähnlichung mit Gott [...], daß man gerecht und fromm sei mit
Einsicht. [...] Gott ist niemals auf keine Weise ungerecht, sondern im höchsten Sinne
126
Rapp, Friedrich (1992), Seite 108.
Zum ausführlicheren Nachvollzug der folgenden Kurzdarstellung verweise ich neben der Lektüre der
Primärtexte, vor allem Physik Bücher II, VII und VIII sowie Metaphysik, Buch XII, auf Weischedel,
Wilhelm: Der Gott der Philosophen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1971, Seite 45-59;
Craemer-Ruegenberg, Ingrid: Die Naturphilosophie des Aristoteles, Freiburg/München: Verlag Karl Alber,
1980; und Welsch, Wolfgang: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, München: Wilhelm Fink
Verlag, 2012, Kapitel IV und VI.
128
Vgl. Aristoteles ME (1991), Zweiter Halbband, Buch XII, 1072 b 3, Seite 255.
129
Welsch (2012), Seite 271, Fn. 78.
127
57
vollkommen gerecht, und nichts ist ihm ähnlicher, als wer unter uns ebenfalls der
Gerechteste ist. Und hierauf geht auch die wahre Meisterschaft eines Mannes, so wie seine
Nichtigkeit und Unmännlichkeit. Denn die Erkenntnis hiervon ist wahre Weisheit und
Tugend, und die Unwissenheit hierin offenbare Torheit und Schlechtigkeit“. 130 Die
platonische homoiosis theo wird bei Aristoteles als eudaimonia zur anthropologischen
Spezifizierung des universal anwendbaren entelechischen Begriffs der Vervollkommnung.
Bei Aristoteles kann sich nicht mehr nur der Mensch „gut entwickeln“, sondern alles, aber
auch alles, was sich im Kosmos überhaupt entwickelt. Universaler geht es wohl nicht.
Nur bedeutet diese Vorstellung einer universalen Vervollkommnung nicht unbedingt eine
„universale Verbesserung“. Zwar ist auch im Rahmen dieses Begriffes eines „universalen
Fortschritts“ eine „universale Verbesserung“ denkbar. Solange sich mindestens einer der
individuellen Vervollkommnungsprozesse im modus meliorativus vollzieht, ohne dass
diese Verbesserung in der Aggregation sämtlicher Prozesse durch anderweitige
Rückschritte aufgehoben würde, hätten wir es es mit einer „universalen Verbesserung“ zu
tun. Aber die Potentialität universaler Verbesserung bleibt endlich. Sie endet in dem
Moment, in dem sich sämtliche Strebensprozesse gemäß ihres jeweiligen Wesens
vollkommen entwickeln, ohne dass deshalb die individuellen Entwicklungen oder die
universale Entwicklung als Aggregat der individuellen Prozesse an ein Ende gekommen
sein müssten. Der Maximalbegriff des Fortschritts, einer „guten Entwicklung“, wäre diese
vollkommene Entwicklung sämtlicher im Kosmos enthaltener Strebensprozesse im modus
sufficiens. Besser ginge es nicht.
Die Philosophie Aristoteles eröffnet dabei auch einen Ausblick darauf, wie es möglich ist,
an der Universalisierbarkeit des Fortschrittsbegriffes festzuhalten, ohne in das Zwielicht
der Ambivalenz zu treten. Weil Aristoteles die Vervollkommnung primär in individueller
Entwickung sucht, lässt sich auch im Kontext einer synchrone und asynchrone
Rückschritte aufweisenden Gesamtwirklichkeit widerspruchsfrei von Fortschritt bzw.
Fortschritten sprechen. Dass Aristoteles zumindest für den Menschen als zoon politikon
die Verwirklichung dieser Vervollkommnung unausweichlich an ein staatliches
Gemeinwesen rückgebunden sieht, bedeutet hier keinen Widerspruch. Denn der Staat
erhält seine Bedeutung wiederum nur im Hinblick auf die durch ihn und in ihm zu
erreichende Vollkommenheit des Einzelnen, bestenfalls jedes Einzelnen.131 Der Staat hat
keine vom Zusammenspiel der individuellen Vollkommenheitsbestrebungen unabhängige
Wirklichkeit. Und die Individuen streben ihrerseits nach einem Staat nur, insoweit es zu
ihrer wesenhaften Natur gehört, ihre individuelle Vollkommenheit in staatlicher
Gemeinschaft zu erlangen. Die Wirklichkeit einer über die individuellen Entwicklungen
130
Platon: Theaitetos, in: ders.: Werke, Band 6, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990,
Seite 107.
131
Vgl. Welsch (2012), Seite 310.
58
hinausgehenden universalen Vervollkommnung wird so niemals unabhängig von ersteren
veranschlagt werden können und kann deshalb nicht in Widerspruch zu diesen stehen.
Universaler Fortschritt wird vor diesem Hintergrund nicht als substantielle, sondern als
eine von individuellen Wirklichkeiten abhängige aggregative Eigenschaft der
Gesamtwirklichkeit verstanden. Wenn es die individuellen Prozesse ihrer Wirklichkeit und
ihrem Zusammenspiel nach nicht hergeben, dann findet eben kein universaler Fortschritt
statt. Seine Potentialität bleibt nichtsdestotrotz widerspruchsfrei denkbar.
Wenn Friedrich Rapp im Zitat Christian Meiers mit diesem darüber übereinstimmt, dass
der antike Fortschrittsgedanke nichts über die Zeit im Ganzen besage und
dementsprechend verschiedenste Veränderungen zum Guten und zum Schlechten
nebeneinander wahrgenommen werden könnten, ohne dass dies einen Widerspruch
bedeuten würde, dann trifft diese Aussage in etwa – aber eben nicht genau – den soeben
beschriebenen Zusammenhang.132 Denn im Kontext des hier entwickelten „aristotelischen“
Fortschrittsverständnisses sind sehr wohl Aussagen über die Zeit, und den Raum, im
Ganzen möglich. Werden Veränderungen zum Guten von Veränderungen zum Schlechten
überwogen, so lässt sich daraus ableiten, dass eine so beschaffene Wirklichkeit im Ganzen
eben keinen Fortschritt verzeichnet. Das aber heißt weder, dass ein universeller Fortschritt
unmöglich wäre, noch, dass „die Antike“ keine Ansatzpunkte für die Vorstellung eines
solchen bereithielte. Und dieses „aristotelische“ Fortschrittsverständnis scheint mir
schließlich auch in keinem grundsätzlichen Widerspruch zu der begriffslogischen Analyse
und Kritik zu stehen, die Friedrich Rapp in dieser Hinsicht für den modernen
Fortschrittsbegriff liefert: „Der ganzheitlich betrachtete Geschichtsprozeß ist anders
strukturiert als das zielgerichtete Tun der wertenden, wollenden und handelnden Person.
Das Zusammenspiel der unkoordinierten und oft sogar gegenläufigen Umstände,
Tendenzen, Absichten und Maßnahmen läßt sich nur im metaphorischen Sinne einem
Geschichtssubjekt zuschreiben.133 [...] Doch es entsteht ein falsches Bild, wenn man dem
subjektiven Streben der Individuen bzw. des Kollektivs eine objektive Erfolgsgarantie
unterlegt, d.h. wenn man den Fortschrittsgedanken verdinglicht und ihm eine
eigenständige, automatische Wirksamkeit zubilligt. Hier gilt die treffende Bemerkung, die
sich in Kants handschriftlichem Nachlaß fand (HN, 172): ‘Der Moralische Wahn besteht
darin, daß man die Meinung von einer möglichen moralischen Vollkommenheit vor eine
solche wirklich hält.’“ 134 Man sollte zwischen der substantiellen Partialität und der
aggregativen Universalität des Fortschrittsbegriffs unterscheiden.
132
Vgl. Rapp (1992), Seite 108.
Ebd., Seite 48.
134
Rapp (1992), Seite 59.
133
59
4 „Befriedigung“ als Ziel des Fortschritts
Von Aristoteles zu Hegel, ...
Es ist aber nicht so, dass sich die Relevanz der antiken Philosophie für das
Fortschrittsdenken vor dem Hintergrund der oben entwickelten Modifizierungen nun erst
im Nachhineien ergeben würde. Vielmehr kann gezeigt werden, dass sie für die moderne
Fortschrittsdiskussion immer schon ein entscheidender Gesprächspartner war. Dies gilt
zum Beispiel für die Philosophie Hegels, einem der profiliertesten Protagonisten der
modernen Fortschrittsdiskussion. Folgt man Terry Pinkard, der wiederum als einer der
wichtigsten zeitgenössischen Hegel-Interpreten gelten kann, so ist Hegels Philosophie
sogar als ein „Disenchanted Aristotelian Naturalism“ zu verstehen, ein entzauberter
aristotelischer Naturalismus.135
Aus zwei Gründen werde ich im Folgenden genauer auf Pinkards Hegel-Interpretation
eingehen: Zum einen, weil sie an einem konkreten Beispiel deutlich macht, dass eine
vorschnelle und oberflächliche Gleichsetzung von „Fortschritt“ und „universaler
Verbesserung“ nicht nur, wie gezeigt, in systematischer, sondern möglicherweise auch in
begriffsgeschichtlicher Hinsicht unhaltbar ist. Setzt man den modernen Fortschrittsbegriff
(als wenn es den einen Fortschrittsbegriff gäbe) in undifferenzierter Weise mit dem einer
„universalen Verbesserung“ gleich, so verliert man den Blick für das kritische Potential
gegenüber einer solchen Gleichsetzung und die damit verbundene Aktualität, die in der
modernen Fortschrittsdiskussion selbst liegen. 136 In diesem Zusammenhang steht denn
auch der zweite Grund für eine genauere Auseinandersetzung mit Pinkards Verständnis der
hegelschen Philosophie. Denn Pinkard geht es ja nicht primär darum, der langen Reihe von
Hegel-Interpretationen bloß eine weitere, neuartige hinzuzufügen. Sondern es geht ihm
darum, aus der hegelschen Philosophie Grundlagen für ein aktuelles Verständnis unseres
Menschseins zu gewinnen, das im Einklang mit der zeitgenössischen Wissenschaft steht
und uns bei der Orientierung unseres Lebensvollzuges behilflich sein kann. Auch wenn
Pinkard seine Auseinandersetzung mit Hegel selbst nicht, zumindest nicht explizit, als
Beitrag zur Fortschrittsdiskussion formuliert, so wird deutlich werden, dass sie als ein
solcher verstanden werden kann. Genausowenig wie Pinkard strebe ich nach so etwas wie
einer „Rehabilitierung“ der aristotelischen oder hegelschen Philosophie. Es ist mir an einer
kritischen Wiederaufnahme der Fortschrittsdiskussion gelegen. Dabei bietet Pinkards
135
Vgl. Pinkard, Terry: Hegel´s Naturalism – Mind, Nature, and the final Ends of life, New York: Oxford
University Press, 2012, Seite 17.
136
Diesem Anliegen folgt auch Johannes Rohbeck in seiner Wiederaufnahme geschichtsphilosophischer
Diskussionen; Rohbeck, Johannes: Aufklärung und Geschichte – Über eine praktische
Geschichtsphilosophie der Zukunft, Berlin: Akademie Verlag, 2010, Seite 32ff.
60
Auseinandersetzung mit „Hegels Aristotelismus“ einen guten Ansatzpunkt, mit dem oben
modifizierten Fortschrittsbegriff in der zeitgenössischen Philosophie anzuknüpfen.
Auch wenn Pinkard den Ausdruck „Disenchanted Aristotelian Naturalism“ explizit nur als
Überschrift des ersten Kapitels in Hegel´s Naturalism gebraucht, verbirgt sich dahinter ein
Gedanke, der sich durch das gesamte Buch zieht. Die „Entzauberung“ besteht nach
Pinkard darin, dass Hegel die aristotelische Philosophie von dem Gedanken einer
„teleologically and devinely ordered nature“ befreit hat.137 Wir erinnern uns an Aristoteles
Vorstellung eines Kosmos, in welchem alles Streben in seiner Erfüllung auf die Gottheit,
den unbewegten Beweger hin ausgerichtet ist. Hegel hat nun, folgt man Pinkard, den
Kosmos von dieser Gottheit befreit, dessen Wirklichkeit Aristoteles als „Denken des
Denkens“138, als ein selbstbezogenes Denken konzipierte. Die Gottheit ist in ihrer ewigen
Selbstgenügsamkeit vollkommen erfüllt und der Zielpunkt sämtlichen Strebens, das sich
nach dieser selbstgenügsamen Vollkommenheit „sehnt“. 139 Aus der aristotelischen
eudaimonia, als die der menschlichen Natur entsprechende Variante dieser ersehnten
Vollkommenheit, sei, so Pinkard, bei Hegel die „Befriedigung“ geworden.140 Zu Hegels
Begriff des „guten Lebens“ schreibt er: „It would be life of Befriedigung, satisfaction,
success in living a good life. Although such a social world may lack the warmth of the
Greek direct democracy, it nonetheless has a kind of fragile nobility that Greek life lacked:
It is a world in which faith in the organic unity of the people and the whole cannot not be
present and in which whatever unity there is must instead be held in place by each thinking
of himself or herself as both sovereign and subject of the whole. It is, that is, a world
where the ‘concept’ – reason itself – and not the organic per se is authoritative.“141
Bei Aristoteles lag die Antwort auf die Frage nach dem „guten Leben“ noch in der
Souveränität einer göttlich geordneten, unveränderlichen Natur. Die subjektive Suche nach
dem „guten Leben“ konnte ihre Erfüllung nur in einer dieser objektiven Ordnung
entsprechenden Lebensführung finden. Hegel aber verstand die Vorstellung einer solchen
göttlichen Ordnung als eine Projektion des menschlichen Denkens. In dieser Projektion
verkennt das Denken, dass es selbst Urheber und insofern Souverän dieser Ordnung und
der mit dieser verbundenen Vorstellung von einem „guten Leben“ ist. Die Natur „an sich“
hat kein Ziel, auf das hin die Frage nach einem „guten Leben“ eine Antwort finden könnte.
Und das gilt nicht allein für das menschliche Leben: „However, even at the level of
organic life, the stage of natural development at which the terms better and worse begin to
become meaningful, nature remains impotent since nature on its own can not organize
itself into something like the best version of a lion, a rose, or a trout, much less organize
137
Pinkard (2012), Seite 129.
Vgl. Aristoteles Metaphysik (1991), Buch XII Kapitel 9, Seite 269.
139
Vgl. Welsch (2012), Seite 266f.
140
Vgl. Pinkard (2012), Seite 94.
141
Ebd., Seite 145.
138
61
itself as a whole into a better whole. As a whole, nature aims at nothing, even if there are
some creatures in the natural order that do aim at some things.“142 Schon einfachen
Organismen unterliegende Prozesse weisen in ihrer Ausrichtung auf Erhaltung und
Reproduktion eine sehr rudimentäre Form von Normativität auf und können dem Gebrauch
von Ausdrücken wie „gute Entwicklung“, „besser“ und „schlechter“ einen Sinn
verleihen.143 Darüber hinaus bekommt auch die Rede von „Gründen“ vor dem Hintergrund
der hier angesprochenen Normativität einen Gehalt. Die Ausrichtung auf Erhaltung und
Reproduktion stellt für den jeweiligen Organismus in konkreten Situation einen Grund dar,
etwas zu tun oder zu unterlassen – etwa für einen Hasen angesichts eines über ihm
kreisenden Raubvogels im nächsten Gebüsch Schutz zu suchen. Dass der Hase diesen
Begründungszusammenhang unserer Annahme nach nicht reflektiert, bedeutet hier keinen
Widerspruch. Gründe müssen als solche nicht gewusst werden, um wirklich bzw. wirksam
zu sein. Und schließlich gibt noch jeder Einzeller in seiner nicht durch die äußere Natur
erklärbaren Ausrichtung auf Erhaltung und Reproduktion, in dieser inneren „Zentriertheit“
oder „Innerlichkeit“, auch dem Ausdruck „Subjekt“ eine über den logischgrammatikalischen Sinn hinausgehende, tiefere Bedeutung.144
Mit Hegel unterscheidet Pinkard zwischen zwei Stufen dieser Innerlichkeit.145 Auf der
ersten Stufe besteht die Innerlichkeit in einem „bloßen“, auch für Tiere und einfachere
Organismen geltenden selbstbezüglichen Verhalten. Die Selbstbezüglichkeit des
Verhaltens besteht in der durch die äußere Natur nicht erklärbaren Zielgerichtetheit des
Verhaltens. Der Organismus verhält sich zu seinen ihm eigenen Zielen. Auf der zweiten
Stufe wird diese Innerlichkeit dadurch kompliziert, dass sie in sich selbst reflektiert wird.
Bedeutet die erste Stufe ein „bloßes“ selbstbezügliches Verhalten, so bedeutet die zweite
Stufe ein selbstbezügliches Verhalten, das sein selbstbezügliches Verhalten selbst
reflektiert. Diese zweite, dem Menschen eigentümliche Stufe der Innerlichkeit, die
„inwardness as inwardness“ wie Pinkard auch sagt, ist dabei nicht im Sinne einer
substantiellen Unterscheidung zwischen nicht-menschlicher und menschlicher Natur zu
verstehen, sondern eher als ein gradueller Unterschied der Selbstbezüglichkeit von
Organismen.146 Davon unberührt bleibt die Feststellung, dass dieser graduelle Unterschied
der Selbstbezüglichkeit mit enorm unterschiedlichen Verhaltensweisen der jeweiligen
Organismen einhergeht. Ein Lebewesen, das sein eigenes zielgerichtetes Verhalten
reflektiert, löst sich in der Reflexion seiner Ziele als Ziele aus einem eher dispositional zu
charakterisierenden Verhalten. Es kann nicht nur darüber reflektieren, auf welchen Wegen
142
Ebd., Seite 22f.
Vgl. ebd., Seite 17ff.
144
Hegel benutzt den Ausdruck „Zentrum“, vgl. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften, in ders.: Werke 9, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, § 350-352, Seite
430ff.; ähnlich spricht Teilhard de Chardin von der „Zentriertheit“ oder „Zentro-Komplexität“, vgl.
Teilhard de Chardin, Pierre: Die Entstehung des Menschen, München: C. H. Beck, 2006, Seite 20.
145
Pinkard (2012), Seite 17ff.
146
Ebd., Seite 27ff.
143
62
ein bestimmtes Ziel erreicht werden kann und welchen dieser Wege es einzuschlagen gilt,
weil er die größte Aussicht auf Erfolg verspricht. Sondern es kann auch darüber
reflektieren, wie es sein würde, andere Ziele zu verfolgen, und welche es letztendlich
verfolgen will und aus welchen Gründen. Damit wird der Spielraum möglichen Verhaltens
immens erweitert. Die vorgestellte zweistufige Differenzierung ist mit den
evolutionstheoretischen Argumentationsmustern der Naturwissenschaft kompatibel. Der
Entwicklungsgedanke sollte dabei aber nicht nur auf den Übergang von der ersten zur
zweiten Stufe der Innerlichkeit bzw. Subjektivität bezogen werden, sondern er behält seine
Relevanz auch auf den jeweiligen Stufenniveaus.
Bei Hegel wird die aristotelische Vorstellung einer göttlich geordneten Natur zur Episode
eines geschichtlichen Prozesses, in dem sich das menschliche Leben in sozialer
Reziprozität auf immer neue Weise formuliert. Dabei werden die natürlichen Anlagen des
Menschen nicht überwunden, aber sie besitzen eine gewisse Plastizität, können in
unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlich figurieren, unterschiedliche Rollen
oder Funktionen ausfüllen. Diese Gestaltungen können sich in ihrem Zusammenspiel
stabilisieren und sich so zu einer „Lebensform“ fügen bzw. ordnen. Eine solche
Lebensform konkretisiert in ihrer Ordnung, was es heißt, ein „gutes Leben“ zu führen:
eben eine den Ordnungsvorstellungen dieser Lebensform gemäße Lebensführung. Aber so
träge eine Lebensform auch sein mag, so sehr sie sich auch als „zweite Natur“ in den
Prozess des menschlichen Lebens einschreiben mag, sie bleibt nicht unveränderlich. Wenn
Hegel von der Gestaltlosigkeit der Zukunft spricht, dann meint er damit die Offenheit, in
die hinein sich die von der Vergangenheit geprägte Gegenwart gestaltet.147
Der historische Prozess ist bei Hegel nicht bloß eine sequentielle Abfolge unzähliger
Ereignisse und verschiedener Lebensformen. Die Geschichte ist vielmehr der „Raum“, in
dem „das Denken“ auf die von ihm selbst geprägten Lebensvollzüge und insofern auf sich
selbst trifft. Jeder Tag konfrontiert uns neu mit den Lebensgestaltungen vergangener Tage.
Die Vergangenheit bleibt so immer im doppelten Sinne in der Gegenwart aufgehoben. Und
dies nicht allein effektiv, sondern auch reflexiv. Das Denken dringt allmählich zu dem
Punkt vor, an dem es sich als Autor der das menschliche Leben und die Geschichte
prägenden Ordnungsvorstellungen erkennt. Es wird sich seiner selbst bewusst, es denkt
sich selbst. Das von Aristoteles auf eine äußere Gottheit projizierte Sich-selbst-Denken
wird bei Hegel vom Denken in sich selbst zurückgeholt. Denken aber ist eine Tätigkeit
endlicher Subjekte, so auch das Sich-selbst-Denken des Denkens. Endliches Denken kann
keine absolute Souveränität besitzen. Jedes endliche Subjekt bleibt in seinem Denkvollzug
von „erster“ und „zweiter“ Natur, von natürlichen und erworbenen
Verhaltensdispositionen sowie von äußeren natürlichen und sozialen Anforderungen
147
Vgl. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: ders.:
Werke, Band 18, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, Seite 501.
63
beeinflusst und ist in diesem Zusammenhang weder autonom, geschweige denn
selbstgenügsam oder vollkommen. 148 Aber das endliche Denken weiß in seinem
Selbstbewusstsein um seinen, wenn auch verschwindend geringen, Anteil an der
Entwicklung des Ganzen.149 Es erkennt sich in seiner Teilhabe am „absoluten Geist“ als
der von den Individuen in ihrem Zusammenspiel hervorgebrachte, Zeiten und Räume
überspannende Prozess des in den Formen des Lebens sich entäußernden, diese wieder in
sich aufnehmenden und umgestaltenden Denkens.
So weiß sich das endliche Individuum in diesem partialen Sinne als „sovereign and subject
of the whole“. Darin liegt für Pinkard die „nobility“ des modernen Selbstbewusstseins,
wenn man so will, seine wahrhafte Charakterstärke. Sie vermag es, die in die griechischen
Ruinen dringende Kälte tapfer zu tragen. Die Kälte speist sich letztlich aus der Erkenntnis,
dass die dem menschlichen Leben Orientierung gebenden Ordnungsvorstellungen und die
aus ihnen erwachsenden formellen und informellen Institutionen keine unbedingte Geltung
beanspruchen können. Es gibt keine „absolute“, d.h. vom Denken unabhängige
Orientierungsmöglichkeit wie sie im Hinblick auf die aristotelische Naturordnung
thematisch wird. Zwar stehen die Lebensformen der endlichen Subjektivität als objektive
gegenüber. Sie besitzen jedoch nur insoweit Objektivität, als sie der Macht – wenn auch
nicht dem Einfluss – der einzelnen endlichen Individuen entzogen sind, nicht aber als
unabhängig vom Denken überhaupt Bestehende. Trotz seiner Machtlosigkeit erkennt das
endliche Selbstbewusstsein die Lebensformen als Emanationen des übergreifenden
Denkprozesses, des „absoluten Geistes“. Und insofern der „absolute Geist“, aus dem die
Lebensformen fließen, nicht ohne das individuelle, endliche Denken denkbar ist, insofern
das Individuum also Teil hat an jenem „Absoluten“, versteht es sich als Souverän, als nicht
an die Ordnungen Gebundenes, sondern diese Gründendes.
Darin liegt der „Eigensinn“ der Menschen begründet, der nach Hegel darin besteht, „nichts
in der Gesinnung anzuerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist
[...].“150 Diese Rechtfertigung geschieht für Hegel im Zuge reflexiver Aneignung, „denn
erst im Denken bin ich bei mir, erst das Begreifen ist das Durchbohren des Gegenstandes,
der nicht mehr mir gegenübersteht und dem ich das Eigene genommen habe, das er für
sich gegen mich hatte.“151 Das Denken ist die „unbedingte“ Instanz, insofern es sich selbst
der Grund ist, etwas zu wollen. Das endliche Selbstbewusstsein stellt sich so als zwischen
den Extremen der Souveränität und der Machtlosigkeit oszillierend dar. Seine dieser
Oszillation entsprechende Wirklichkeit liegt dazwischen: Es gründet nicht, sondern
148
Vgl. Pinkard (2012), Seite 101.
Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke, Band 3, Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, 1970, Seite 67.
150
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.: Werke, Band 7,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, Seite 27; vgl. Pinkard (2012), Seite 173ff.
151
Hegel (1986), Seite 47; vgl. Pinkard (2012), Seite 30ff.
149
64
modifiziert, es wird nicht gezwungen, sondern erkennt an. Was auf den ersten Blick als
eine zum Zerreißen bestimmte Spannung erscheint, in der das endliche Selbstbewusstsein
dazu gedrängt wird, sich auf einer Seite der beiden sich gegenseitig ausschließenden
Extreme zu verorten, wird im „wahren“ Selbstbewusstsein in der Erkenntnis des eigenen
Wesens aufgehoben, das sich weder als absolut souverän noch absolut machtlos erkennt.
Vielmehr kann es sich als, wenn auch verschwindend geringen, Teil des Ganzen und so
sein Leben in einem über es hinausgehenden Sinnzusammenhang verstehen.
Pinkard fasst zusammen: „[...] that means learning to live by breathing rather thin air or, as
Hegel himself concluded his preface to his 1807 Phenomenology, it means acknowledging
that ‘the share in the total work of spirit which falls to the activity of any individual can
only be very small.’ This self-reflection on the part of natural creatures is the final end of
the world, at least in the sense that there is no further purpose outside of that purpose itself
and that such a purpose is, or can become, intellegible to itself. Hegel´s claim is not that
the world was designed in any way to achieve that goal, nor is it a claim that we create the
sense of the world (as if we could do that in any such way we pleased). The meaning that
we are to find in the world has to do with the facts of our being the primates we are, and
also we can sublate some of those facts – we can circumscribe their authority – we cannot
ignore them. We are the creatures for whom our existence is a problem, and in becoming
self-conscious, we institute a space of reasons that we ourselves do not then control.“152
Warum Pinkard zufolge die beschriebene Selbstreflexion als Endzweck der Welt, oder
vielleicht besser, als Endzweck unseres Lebens in der Welt gelten kann, erschließt sich nur
dann, wenn man jene Reflexion in Verbindung zu der Vorstellung eines „befriedigenden
Lebens“ setzt, die Pinkard als hegelsche Wendung der aristotelischen eudaimonia
interpretiert.153 Jene Selbstreflexion schützt uns in der Oszillation zwischen Souveränität
und Machtlosigkeit davor, in der Fixierung auf einen der beiden Pole, wenn man so will,
manisch bzw. depressiv oder im ständigen Hin-und-her-Springen zwischen den Polen
manisch-depressiv zu werden. Es ist dieser Zusammenhang, in dem Hegel für Pinkard
weniger als „the alleged philosopher of totality“ erscheint, denn als „philosophical
therapist trying to inoculate us against the temptations toward wholeness in a sphere (the
finite) where it cannot be found“.154 In der Selbstreflexion erkennen wir unser endliches
Leben als eine zwischen Souveränität und Machtlosigkeit gespannte Oszillation. Eine
Spannung, die sich auch im Zusammenhang des politischen Status widerspiegelt, der dem
menschlichen Individuum vor dem Hintergrund dieser Selbstreflexion in modernen Staaten
zugesprochen wird. Auf der einen Seite wird jedes Individuum als freies, selbstbestimmtes
152
Pinkard (2012), Seite 191.
Vgl. ebd., Seite 191f.; Pinkard selber spricht an dieser Stelle nicht mehr von „Befriedigung“, sondern
von „successful lives“, meint damit aber, soweit ich sehe, das Gleiche.
154
Ebd., Seite 175.
153
65
Subjekt anerkannt. Auf der anderen Seite ist dieser politische Status der individuellen
Autonomie abhängig von der Anerkennung durch andere. Im Akt der politischen
Anerkennung individueller Autonomie wird diese sogleich und unvermeidbar relativiert.
Diese Spannung zieht sich durch sämtliche Zusammenhänge des menschlichen Lebens.
Das moderne, sich selbst reflektierende Subjekt nimmt sich stets als seine Ziele selbst
setzendes und verfolgendes Individuum wahr, zum anderen aber auch in seiner
unüberwindbaren Abhängigkeit von anderem und anderen. Diese Spannung bedeutet
keinen Widerspruch. Ein solcher entsteht nur dann, wenn Autonomie und Abhängigkeit
absolut gesetzt werden. Nur für ein Subjekt, das Autonomie absolut versteht, muss diese
mit der Abhängigkeit von anderem und anderen in einen Widerspruch geraten. Nur für ein
Subjekt, das Abhängigkeit absolut versteht, ist diese mit jeglichem Gedanken von
Autonomie unvereinbar. Solange wir die sich zwischen Souveränität und Machtlosigkeit
liegende Spannung nicht als natürliche Eigenschaft unseres Lebens verstehen, werden wir
dazu neigen, uns selbst fremd zu sein, uns in unserem Leben nicht beheimatet zu fühlen.
Wir werden immer wieder versuchen, diese Entzweiung von unserem Leben in der
Auflösung dieser Spannung zu suchen. Dies wäre nur dadurch möglich, wenn wir uns auf
eine Seite der beiden widersprüchlichen Pole von absoluter Autonomie und absoluter
Abhängigkeit schlagen könnten. Die extremen Positionen in der Debatte um die Freiheit
bzw. Determiniertheit des menschlichen Willens können durchaus als reflexive Versuche
einer solchen Spannungslösung verstanden werden. Aber für uns Lebewesen, die weder
absolut frei noch absolut determiniert sind, wird dadurch nichts gewonnen. Vielmehr
entfernen wir uns durch solcherlei Extrempositionen noch weiter von uns selbst. Ein
„befriedigendes Leben“ ist auf diesem Wege nicht zu erreichen.
Die einzige Lösung, folgt man Pinkards Hegel-Interpretation, liegt darin, unser Leben
gerade als die zwischen Souveränität und Machtlosigkeit liegende Spannung zu begreifen,
anstatt diese Spannung überwinden zu wollen. In einem Leben, in dem wir immer wieder
und unausweichlich der Situation ausgesetzt sind, etwas zu wollen, das nicht nur von
anderem und anderen abhängig ist, sondern häufig auch verhindert wird, oder etwas zu
tun, das nicht unserem eigenen Willen entspricht, sondern zu dem wir uns von anderem
und anderen gedrängt sehen, besteht die einzige Aussicht auf ein „befriedigendes Leben“
darin, diese Spannung als wesenhafte Eigenschaft unseres Lebens zu verstehen. Dieses
Verständnis unseres eigenen Wesens ist der Ausgangspunkt, von dem aus wir uns von
allen uneinlösbaren normativen Ansprüchen, von allen uneinlösbaren Vorstellungen eines
„guten Lebens“ befreien können.
Aber diese Befreiung bedeutet eben keine Auflösung der Spannung, sondern, diese in den
Griff zu bekommen: „The goal of coming to grips with that tension in self-conscious life
and the activity itself of coming to grips with the tension and remaining at one with oneself
66
within the tension are not a means to freedom. It is freedom itself.“155 Freiheit als Bei-sichselbst-Sein kann hier also in dem Sinne verstanden werden, dass das, was wir tun, dem
entspricht, was wir wollen. Andernfalls würden unser Tun und unser Wollen sich
widersprechen und wir in diesem Sinne nicht bei uns selbst und also unfrei sein. Auf den
ersten Blick liegt es nahe, diese Freiheit im gebräuchlichen Sinne von „Handlungsfreiheit“
zu verstehen. Aber das wäre nicht richtig. Es geht hier nicht darum, dass wir frei sind,
wenn wir tun, was wir wollen, und unfrei, wenn wir nicht tun, was wir wollen. Denn dann
würde das In-den-Griff-Bekommen der Spannung, das es zu erlernen gilt („coming to grips
with the tension“), doch nur Mittel zum Zweck der Freiheit und nicht selbst Freiheit sein
können. Freiheit würde so wieder nur in dem aussichtslosen Unterfangen der Auflösung
der Spannung gesucht, nicht aber erreicht werden können.
Der sich aus der obigen Feststellung ergebende Widerspruch, dass Freiheit als Bei-sichSein in der Spannung auf der einen Seite als Entsprechung von Wollen und Tun zu
verstehen ist, auf der anderen Seite wiederum auch nicht, kann aufgelöst werden, wenn
man sich vor dem Hintergrund des Gesagten Folgendes klar macht: Indem wir die
beschriebene Spannung als wesenhafte Eigenschaft unseres Lebens anerkennen, wird die
Zielsetzung der Auflösung dieser Spannung sinnlos. Sie widerspricht unserer Natur.
Würden wir ihr folgen, wären wir nicht bei uns und damit unfrei. Wir würden etwas
Unmögliches wollen. Es bleibt uns allein das Ziel, die Spannung in den Griff zu
bekommen. Indem wir uns in diesem Selbstbewusstsein dasjenige Tun als Ziel setzen, das
unserer Natur – nicht der Natur – entspricht, sind wir bei uns selbst und also frei. Und dies
auch dann, wenn das, was wir im alltäglichen Leben wollen, von anderem und anderen
abhängig ist oder verhindert wird – und auch dann, wenn wir etwas tun, was wir nicht
wollen, sondern zu dem wir uns von anderem und anderen gedrängt sehen.156
Dieses Ziel ist kein Ziel, das zu irgendeinem Zeitpunkt unseres endlichen Lebens
abschließend erfüllt werden könnte. Es entspricht vielmehr der Aufgabe, mit der wir, als
die Lebewesen, die wir sind, von der Geburt bis zum Tod das gesamte Leben hindurch
konfrontiert werden. Und dies auch dann, wenn wir diese Aufgabe uns nicht als Ziel setzen
oder sie noch nicht einmal als Aufgabe und mögliches Ziel reflektieren. Unser Leben
bedeutet immer schon ein Suchen danach, diese Spannung in den Griff zu bekommen, ist
letztlich diese Suche. Soweit wir uns diese auch reflexiv als Ziel setzen, sind wir bei uns
selbst, sind wir frei, wollen wir das, was wir tun, ja was wir sind, was immer auch die
konkreten Kontexte und Konsequenzen dieses Tuns sein mögen.
Sich dieses Ziel zu setzen, kann so als ein sich selbst wollendes Leben verstanden werden.
Insoweit scheint dieser Zielsetzung eine gewisse, wenn auch unvollkommene
155
156
Ebd., Seite 107f.
Vgl. ebd., Seite 174.
67
Selbstgenügsamkeit nicht abgesprochen werden zu können. Darüber hinaus scheint es auch
so, als könne dieses Ziel als eine Art „final end“, als ein Endzweck, für uns gelten. Nicht
als Ziel, um dessen willen wir alles andere tun, sondern als eine quasi-unbedingte Norm.
Die „Quasi-Unbedingtheit“ ergibt sich daraus, das jene als Ziel gesetzte Aufgabe sich zu
keinem Zeitpunkt unseres Lebens erübrigt, sich nicht nur in bedingten Situationen unseres
Lebens einstellt – mag unser Leben auch noch so bedingt sein. Die Spannung ist eine
wesenhafte Eigenschaft unseres bedingten, endlichen Lebens, der Umgang mit ihr eine
Notwendigkeit, auch dann, wenn wir dies nicht reflektieren und reflektiert darauf zielen.
Stets sind wir durch unser Leben dazu aufgefordert, unsere „erste“ und „zweite Natur“
sowie die Bedingungen unserer natürlichen und sozialen Umwelt zu modifizieren oder
anzuerkennen, wenn die Modifizierung eines konkreten Sachverhaltes zumindest
zeitweilig außerhalb unserer Möglichkeiten liegt.
Was es genau bedeutet, diese Spannung in den Griff zu bekommen, dazu macht Pinkard
keine genaueren Aussagen. Meines Erachtens kann es sinnvoll nur bedeuten, in der
Vermittlung von Modifikation und Anerkennung die Spannung in einem Bereich zu
halten, in welchem die individuellen Kräfte nicht übermäßig gespannt und daraufhin
„irrational“ entladen werden. Eine „irrationale“ Entladung wäre dabei als ein in Negation
des eigenen Lebens mündendes Tun zu verstehen. Entweder unmittelbar als
Autoaggression oder mittelbar als Aggression gegenüber einer Umwelt, von der das
Individuum abhängig ist. In dieser Negation des eigenen Lebens sind wir nicht bei uns
selbst, also unfrei. Vor diesem Hintergrund wird so auch die Normativität des Zieles
nachvollziehbar. In all unserem konkreten Modifizieren und Anerkennen kann das In-denGriff-Bekommen der Spannung als übergeordnete Norm verstanden werden, im Hinblick
auf welche wir unser Tun stets orientieren müssen, wenn wir bei uns selbst bleiben und in
diesem Sinne frei sein wollen.
Darüber hinaus delegitimiert dieses Ziel seinem Inhalt nach grundsätzlich alle konkreten
oder abstrakten Zielsetzungen, welche für ein Individuum unerfüllbar sind, da die
Verfolgung uneinlösbarer Zielsetzungen ja gerade zu übermäßiger Spannung führt.
Dementsprechend scheint es auch plausibel, von der grundsätzlichen Erfüllbarkeit dieser
quasi-unbedingten Norm auszugehen. Als erfüllbares normatives Ziel weist das In-denGriff-Bekommen der Spannung auf ein Leben, das in dem Erfüllt-Werden dieses Zieles
und der damit einhergehenden Vermeidung von Aggression in doppeltem Sinne
„Befriedigung“ mit sich bringt, wenn auch keine Aussicht auf eine aristotelische
„Glückseligkeit“. Das ist im Kern der Hintergrund, vor dem Pinkards Aussage, dass die
beschriebene Selbstreflexion als „final end of the world“ gelten kann, Sinn zu machen
beginnt, der Einsicht zugänglich wird – „such a purpose is, or can become, intellegible to
itself“. Wir sind Lebewesen, die sich selbst in gewisser Weise ein Endzweck bzw.
Selbstzweck sind und sich diesen Sachverhalt in der Reflexion einsichtig machen können.
68
Und dies auch dann, wenn wir uns im Sinne der heute in den Naturwissenschaften
vorherrschenden Vorstellung als zufällige Produkte der kosmologischen Evolution
verstehen und nicht als Teil einer „teleologically and devinely ordered nature“.
So jedenfalls verstehe ich Pinkards Interpretation der hegelschen Philosophie als
entzauberten Aristotelismus. Die Entzauberung mündet in die Aufhebung der eudaimonia
in der „Befriedigung“, in einem „befriedigenden Leben“. Es ist an dieser Stelle nicht mein
Interesse, danach zu fragen, ob Pinkard mit seinem Verständnis des hegelschen Denkens
als einer Transformation der aristotelischen Philosophie Recht hat. Für Schnädelbach zum
Beispiel läge hier Platon näher.157 Interessant ist jedoch, dass Schnädelbach in seiner
Beantwortung der Frage, was es vom hegelschen Erbe für eine aktuelle Philosophie, die
den Versuch einer „gedanklichen, theoretischen und praktischen Weltorientierung“
unternimmt, aufzuheben gilt, zu ähnlichen Schlüssen kommt.158
Mit Hegel gälte es an der Einheit der Vernunft festzuhalten, wenn diese auch nicht mehr
die „‚Totalität aller Gesichtspunkte‘ [...] aus Gründen unserer Endlichkeit, sondern allein
die Einheit der endlichen Vernunft selber“ sein könne.159 „Damit ist nichts Ontisches
gemeint oder Psychisches, so als gäbe es das: die ‚eine‘ Vernunft in allen Menschen oder
Kulturen. Auch verstehe ich darunter nicht Uniformität des Vernünftigen in der Welt oder
seine systematische Unterordnung unter ein Prinzip. ‚Einheit der Vernunft‘ – das ist wie
‚Einheit der Welt‘: grundsätzliche Zugänglichkeit auch ihrer entlegenen Territorien,
prinzipielle Verständlichkeit des in ihr Geschehenen, Gelebten und Gesagten. Nicht der
‚Pluralismus‘ ist die Alternative zu Hegels Singular, sondern das, was in der
Menschenwelt Pluralität möglich macht: die kommunikative Einheit der Vernunft; nur
durch sie wird die ‚Vielheit ihrer Stimmen‘ überhaupt vernehmbar. Ich halte es für eine
wichtige Aufgabe, dieses Vernunftkonzept in einer Theorie der Rationalität systematisch
zu entwickeln und in einer Anthropologie der Vernunft abzusichern, die uns auf der
Grundlage humanwissenschaftlichen Wissens zeigt, was es bedeutet, daß wir endliche,
zugleich natürliche und geschichtliche und im übrigen auch vernunftbegabte Wesen sind.
In der praktisch-politischen Verlängerung des Gedankens der kommunikativen Einheit der
Vernunft wird das sichtbar, was auch real solche Einheit allein ermöglicht: der Frieden.
Die Idee des Friedens tritt so an die Stelle der Utopie der Versöhnung; sie ist keine Utopie,
sondern ein Ziel, das auch endliche Wesen im Prinzip realisieren können, während
Versöhnung nicht in unserer Macht steht. Das Christentum war so weise, Versöhnung zur
Angelegenheit Gottes zu erklären; Frieden hingegen ist eine menschliche Angelegenheit:
auch als untereinander und mit der Wirklichkeit Unversöhnte können wir Frieden
157
Vgl. Schnädelbach, Herbert: Hegels Lehre von der Wahrheit, Berlin: Humboldt-Universität, 1993, Seite
6ff.
158
Ebd., Seite 22.
159
Ebd.
69
schließen und Frieden halten; das können wir von uns verlangen. So weist die Einheit der
Vernunft selbst auf die Idee des Friedens und damit auf eine Ethik der Solidarität unter
endlichen, natürlichen und geschichtlichen, im übrigen vernunftbegabten Lebewesen.
Hegel wäre dies nicht genug, aber uns sollte es genügen.“160
Wenn Schnädelbach die „Einheit der kommunikativen Vernunft“ als „prinzipielle
Verständlichkeit“ des in der Welt „Geschehenen, Gelebten und Gesagten“ mit Habermas
Worten raumzeitlich in die Vermittlung der „Vielheit ihrer Stimmen“ aufgehen lässt, dann
steht das in einer gewissen Nähe zu Pinkards Beschreibung der hegelschen Vernunft als
„ongoing interchange“ oder „ongoing process of understanding the world and ourselves“,
als einem Prozess, in dem „the infinite exists, as it were, as our own reflective
consciousness of this finitude“. 161 Auch Schnädelbachs Absage an die „Utopie der
Versöhnung“ liegt nicht weit von Pinkards Hegel-Darstellung als einem „philosophical
therapist trying to inoculate us against the temptations toward wholeness in a sphere (the
finite) where it cannot be found“. 162 Und schließlich weist nicht nur Schnädelbachs
„Einheit der Vernunft“ auf die „Idee des Friedens“, sondern auch die bei Pinkard deutlich
gemachte Ausrichtung auf ein „befriedigendes Leben“, ein unserem Tun Rationalität
verleihendes Ziel, das in seiner Verwirklichung in doppeltem Sinne „Befriedigung“ zeitigt
– als Erfüllung des Zieles und in der damit verbundenen Vermeidung von Aggression sich
selbst und anderen gegenüber. Dass dieser Frieden sowohl bei Schnädelbach, als auch bei
Pinkard für uns „untereinander und mit der Wirklichkeit Unversöhnte“ nicht ohne
Spannung zu haben ist, entspricht unserer endlichen Natur und sollte uns nicht stören. Im
Gegenteil „uns sollte es genügen“, wie Schnädelbach, oder „that should suffice“, wie
Pinkard sagt. 163 „Die unversöhnte Welt wird so endlich davon befreit, als
durchschlagendes Argument gegen Vernunft überhaupt herhalten zu müssen; vielleicht
erhöht genau dies die Chancen ihrer Veränderung [...]“ 164 – zum Guten, wie ich zu
ergänzen geneigt bin. Pinkards Hegel-Interpretation kann meines Erachtens geradezu als
ein Beitrag zu der von Schnädelbach verfolgten Theorie der Rationalität verstanden
werden. Ob dies Hegel genügen würde oder nicht, sei dahingestellt. Entscheidend für eine
aktuelle philosophische Diskussion, auch des Fortschrittsbegriffs, ist es, das kritische
Potential zu bergen, das in der Auseinandersetzung etwa mit Hegel liegt – oder aber
anderen Protagonisten, die hier ebenfalls hätten zu Wort kommen können –, unabhängig
davon, ob man die Quelle dieses kritischen Potentials innerhalb oder außerhalb des
Denkens verortet, mit dem man sich auseinandersetzt.
160
Ebd., Seite 22f.
Pinkard (2012), Seite 186ff.
162
Ebd., Seite 175.
163
Ebd., Seite 195.
164
Schnädelbach (1993), Seite 21.
161
70
Es bedarf nun keines großen Schrittes mehr, um die Verbindungen zwischen dieser für die
Gegenwart nutzbar gemachten Auseinandersetzung mit Hegel und dem oben entwickelten
modifizierten Verständnis des Fortschrittsbegriffes zu explizieren. „Befriedigung“ im
vorausgesetzten Sinne kann bei Pinkard, und meines Erachtens auch bei Schnädelbach, als
Superlativ dessen verstanden werden, was wir auf der Suche nach einem „guten Leben“ in
unserer Endlichkeit erreichen können. Nicht als Folge der Realisierung bestimmter
Vorstellungen eines „guten Lebens“, auch wenn derlei Vorstellungen bei der Suche eine
Rolle spielen mögen, sondern als „gutes Leben“ selbst, als das durch Modifizierung und
Anerkennung von „erster“ und „zweiter Natur“ sowie von natürlichen und sozialen
Bedingungen unserer Umwelt zu erreichende In-den-Griff-Bekommen der Spannung.
Jener Spannung, die unser Leben von der Geburt bis zum Tod durchzieht, unser Leben
ausmacht, in gewisser Weise unser Leben ist. „Befriedigung“ meint individuelle
„Befriedigung“, auch dann, wenn ihre Realisierung von anderem und anderen abhängig ist.
So wird sie der oben geforderten substantiellen Partialität gerecht. Damit vermeidet sie
auch die Ambivalenzproblematik. Universalität wird aggregativ gedacht, im besten Fall
als ein „befriedigendes Leben“ aller zu einer Zeit sowie zukünftig lebenden und zur
„Befriedigung“ fähigen Wesen. Und schließlich wird „Befriedigung“ auch der Bimodalität
des Fortschrittsbegriffes gerecht. Ein „unbefriedigendes Leben“ gibt Anlass und Raum zur
Verbesserung, dem modus meliorativus. Ein „befriedigendes Leben“ erübrigt nicht die
weitere Suche nach der Realisierung eines solchen im modus sufficiens.
Die vorangehenden Ausführungen geben nicht nur Grund zu der Wahrnehmung, dass die
antike Philosophie mehr zum Fortschrittsbegriff zu sagen hat, als bisher angenommen
wurde, sondern auch zu dem Verdacht, dass die zeitgenössische Philosophie viel mehr
über den Fortschrittsbegriff diskutiert, als es oberflächlich den Anschein hat. Solange man,
wie auch Pinkard, „Fortschritt“ auf „Verbesserung“ oder gar auf „universale
Verbesserung“ reduziert, scheint jene Wahrnehmung und dieser Verdacht unbegründet.165
Akzeptiert man jedoch die begrifflichen Modifizierungen, beginnt sich die Perspektive zu
ändern. Ich halte den von Pinkard in Auseinandersetzung mit Hegel entwickelten Begriff
der „Befriedigung“ im Rahmen der Fortschrittsdiskussion für sehr fruchtbar. Mit ihm
nehmen wir Abstand von uneinlösbaren Vorstellungen darüber, was es zu tun gilt. Nichterfüllbare Zielvorstellungen sind als Zielsetzungen zu verabschieden. Warum sollten wir
uns um etwas bemühen, das wir nicht erfüllen können und so ein unbefriedigendes Leben
führen? Mit dem Begriff der „Befriedigung“ begeben wir uns reflexiv auf die Suche nach
einer Lösung dieser praktischen Problematik. Wenn wir mit Pinkard dieses Anliegen auch
Hegel unterstellen, dann könnte man den hegelschen und von Schnädelbach als
„skandalös“ bezeichneten Satz, „was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist,
das ist vernünftig“ wenn nicht verteidigen, so doch im hegelschen Sinne aufheben. Eine
solche Aufhebung könnte in etwa lauten: Was vernünftig ist, muss stets wirklich sein
165
Vgl. Pinkard (2012), Seite 120; dort definiert er „progress“ als „getting better at any kind of practice“.
71
können, was wirklich ist, muss stets vernünftig sein können.166 Damit wäre nicht mehr,
aber auch nicht weniger gesagt, als dass Vernunft und Wirklichkeit nicht grundsätzlich
gegeneinander verschlossen sein dürfen, vernünftiges Tun sich stets verwirklichen können
muss. Es wäre nicht vernünftig, vernünftiges Tun in unrealisierbaren Vorstellungen zu
suchen. Weiter oben habe ich diesen Sachverhalt als teleologische Suffizienz-Bedingung
bezeichnet.167
Für ein genaues Verständnis dessen, was der Begriff eines „befriedigenden Lebens“ in
dieser Hinsicht für die philosophische Diskussion des Fortschrittsbegriffes leistet, lohnt es
sich, noch einmal nachzuvollziehen, worin die Problematik des aristotelischen
Glückseligkeitsgedankens liegt, die, folgt man Pinkard, von Hegel durch den
Befriedigungsbegriff gerade gelöst wurde. Anders als Pinkard, bin ich nicht der Meinung,
dass Aristoteles Glückseligkeitsbegriff zu abstrakt ist.168 Vielmehr scheint er mir, wie ich
zu zeigen versuche, in gewisser Hinsicht viel zu konkret. Ich werde im Folgenden also
Aristoteles Begriff der Glückseligkeit einer kritischen Diskussion unterziehen. Aber nicht
nur für Aristoteles Denken war die Glückseligkeit zentral, sondern auch für Immanuel
Kant. In der Auseinandersetzung mit ihm tritt die teleologische Suffizienz-Problematik im
Rahmen der Glückseligkeitsdiskussion vor verändertem theoretischen Hintergrund noch
einmal in aller Schärfe hervor. Deshalb möchte ich auch Kant als weiteren
Gesprächspartner ins Spiel bringen. Wir werden sehen, dass auch er das Problem nicht
gelöst hat. Im Nachvollzug der kantischen Argumentation erreichen wir jenen Stand der
Diskussion, an den Hegel historisch anknüpfte. Vor diesem Hintergrund gewinnt sein
Denken an Deutlichkeit, weshalb es auch Pinkard ratsam erschienen sein mag, von der
Einleitung bis zum Schluss seiner Hegel-Interpretation beständig den Kontrast zu Kant zu
suchen. Wir werden so ein besseres Verständnis davon erreichen, inwiefern es der von
Pinkard in seiner Auseinandersetzung mit Hegel herausgearbeitete Begriff der
„Befriedigung“ vermag, eine adäquatere Berücksichtigung der teleologischen SuffizienzBedingung im Rahmen der Fortschrittsdiskussion zu ermöglichen. In der Diskussion der
kantischen Philosophie wird auch deren Verhältnis zu Aristoteles deutlich werden.
... von Hegel zurück zu Aristoteles ...
Aristoteles erklärte denjenigen für vollkommen glückselig, der sein gesamtes Leben
hindurch bis in den Tod hinein tugendhaft gehandelt hat und mit den notwendigen äußeren
Gütern versorgt war.169 Geht einer seiner Glückseligkeit verlustig, so wird er nur, wenn
166
Vgl. Schnädelbach (1993), Seite 12; Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des
Rechts, in: ders.: Werke, Band 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, 24.
167
Vgl. Seite 52 dieser Arbeit.
168
Vg. Pinkard (2012), Seite 90.
169
Vgl. Aristoteles NE (2001), Seite 45.
72
überhaupt, unter großen Schwierigkeiten und mit Glück zu einem glückseligen Leben
zurückfinden, die vollkommene Glückseligkeit aber bleibt für immer außerhalb seiner
Reichweite.170 Aristoteles sah die Glückseligkeit vor allem durch äußere Schicksalsschläge
gefährdet. Um sie dennoch als ein nicht allein von Zufall und Glück, das „bei einem und
demselben Menschen vielfach kreist“171, abhängiges Ziel deutlich zu machen, hielt er
dieser Unwägbarkeit die „Beständigkeit“ der „tugendgemäßen Handlungen“ entgegen.172
Wenigstens diese der Vernunft obliegenden Glückseligkeitsbedingung liegt bei Aristoteles
in individueller Hand, so „daß der wahrhaft Gute und Verständige in guter Haltung jede
Art von Schicksal trägt und in der gegebenen Lage stets das Beste tut [...]. Wenn das so ist,
dann wird der Glückselige niemals unselig werden, wohl aber auch nicht vollkommen
selig, wenn er nämlich in Schicksale wie das des Priamos gerät.“173 Man kann dies als
Einsicht seitens Aristoteles lesen, dass vollkommene Glückseligkeit kein lebenspraktisches
Ziel sein kann. Es würde unvernünftig und unbefriedigend sein, in einem auch durch
negative Zufälle geprägten Leben sein Lebensglück an vollkommener Glückseligkeit zu
messen. In diesem Sinne ist dann auch die Einschränkung zu verstehen, die Aristoteles
seiner Aussage anfügt, dass diejenigen unter den Lebenden glückselig genannt werden
können, die ein den beschriebenen Vorstellungen entsprechendes Leben führen und führen
werden: „glückselig freilich als Menschen“. 174 Deutlicher wird Aristoteles an anderer
Stelle: „Denn nichts, was zur Glückseligkeit gehört, darf unvollkommen sein. Aber ein
solches Leben ist höher als es dem Menschen als Menschen zukommt.“ 175 Der
Tugendhafte führt ein Leben zwischen Unseligkeit und vollkommener Glückseligkeit. Er
sollte sich damit zufrieden geben.
Der Ausdruck „Befriedigung“ scheint mir deshalb auf den Punkt zu bringen, was
Aristoteles mit der Unterscheidung zwischen vollkommener Glückseligkeit und
(unvollkommener) Glückseligkeit deutlich zu machen versuchte. Die (unvollkommene)
Glückseligkeit versteht Aristoteles als einen aus tugendhafter Tätigkeit selbst
entspringenden Genuss, der dem Tugendhaften, wenn auch nicht vollkommen, so doch
weitgehend unabhängig vom äußeren Schicksal zuteil wird. 176 Dieser Genuss ist
Bedingung dafür, auch in einem unvollkommenen Leben „Befriedigung“ zu finden. Dass
Aristoteles anders als Hegel diese „Befriedigung“ letztlich ins Verhältnis zu einer
vollkommenen Gottheit, dem unbewegten Beweger als einer vollkommen
selbstgenügsamen Wirklichkeit setzte, einem „Ursprünglichen und Ewigen“, in dem sich
„nichts Schlechtes, kein Fehl, nichts Verdorbenes“ findet und das in einem durch Zufälle
170
Vgl. ebd.
Ebd., Seite 41.
172
Vgl. ebd., Seite 43
173
Ebd., Seite 43f.
174
Vgl. ebd., Seite 45.
175
Ebd., Seite 443.
176
Vgl. ebd., Seite 35.
171
73
und Schicksalsschläge beeinträchtigten Leben als unveränderlicher Orientierungspunkt die
Möglichkeit vernünftigen, d.h. tugendhaften auf Glückseligkeit gerichteten Tuns
garantiert, ändert nichts an der grundsätzlichen Gemeinsamkeit, Vernunft und Wirklichkeit
praktisch-theoretisch in Einklang miteinander bringen zu wollen.177 Der Unterschied liegt
„allein“ in der Konzeption jenes Orientierungspunktes, der bei Hegel, folgt man Pinkard,
in der Ausrichtung auf die individuelle, wenn auch von anderem und anderen abhängige,
„Befriedigung“ selbst als in der Ausrichtung auf eine göttliche Vollkommenheit zu finden
ist. Genau darin, in dieser Befreiung von der Gottheit, sieht Pinkard ja gerade die Leistung
der hegelschen Philosophie als einem „entzauberten Aristotelismus“.
Weitab davon diese „Befreiung von Gott“ aus einem antimetaphysischen Dogmatismus
heraus gut zu heißen, scheint mir die aristotelische Konzeption der Glückseligkeit in ihrem
Verhältnis zu einer göttlichen Vollkommenheit, selbst wenn diese nicht selbst als göttlich,
sondern als „das Göttlichste in uns“ interpretiert wird, tatsächlich ein grundlegendes
Problem zu enthalten, das einer Auflösung bedarf.178 Ausgangspunkt der aristotelischen
Ethik ist der teleologische Gedanke, dass die Frage, was es zu tun gilt, reflexiv nur
zufriedenstellend beantwortet werden kann durch etwas, das ausnahmslos um seiner selbst
willen angestrebt wird und demnach nicht wiederum auf etwas anderes verweist. Platon
hatte diesen formalteleologischen Gedanken durch die Idee des Guten, das agathon,
inhaltlich zu füllen gesucht. Das Gute als ewige Idee war für ihn das einzig mögliche
Endziel alles vernünftigen Strebens. Zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik kritisiert
Aristoteles nun diese platonische Idee. Eine ewige Idee ist nichts in der Endlichkeit zu
Verwirklichendes und kann für endliche Wesen wie uns deshalb auch kein Endziel ihres
Tuns sein. „Auch wenn das Gute existiert, das eines ist und allgemein ausgesagt wird, oder
das abgetrennt und an und für sich besteht, so ist es doch klar, daß dieses Gute für den
Menschen weder zu verwirklichen noch zu erwerben ist. Nun ist es aber ein solches, was
wir suchen.“ 179 In der Glückseligkeit meint er eben ein solches realisierbares
„vollkommene und selbstgenügsame Gut“ als „Endziel des Handelns“ gefunden zu
haben.180
Auf dieser abstrakten Ebene allerdings ist damit noch nicht viel gewonnen. Denn auf der
einen Seite wird das vernünftige und tugendhafte Streben unmissverständlich als Streben
nach vollkommener Glückseligkeit verstanden, auf der anderen Seite müsste es aber als
unvernünftig und also nicht tugendhaft angesehen werden, die vollkommene
Glückseligkeit als Ziel endlichen Strebens zu setzen, da sie durch ein solches, wie
177
Vgl. Aristoteles ME (1991), Seite 131f.; ich vertrete also nicht die unter dem Schlagwort „don´t mix
ethics with metaphysics“ vertretene These, dass aristotelische Ethik und Metaphysik strikt voneinander zu
trennen seien.
178
Aristoteles NE (2001), Seite 439.
179
Ebd., Seite 23.
180
Vgl. ebd., Seite 27.
74
Aristoteles selbst sagt, nicht erfüllbar ist. Das unerfüllbare endliche Streben nach
vollkommener Glückseligkeit müsste eine Unzufriedenheit mit sich bringen, die der von
Aristoteles mit der (unvollkommenen) Glückseligkeit verbundenen Vorstellung von
Genuss bzw. „Befriedigung“ geradewegs entgegensteht. Die (unvollkommene)
Glückseligkeit würde so nichts anderes bedeuten, als dass das Ziel des Strebens,
vollkommene Glückseligkeit, nicht erfüllt würde, unbefriedigt bleibt. Sich mit der
(unvollkommenen) Glückseligkeit zufrieden zu geben aber hieße dann, die vollkommene
Glückseligkeit als Zielsetzung aufzugeben, durch die nach Aristoteles das vernünftige und
tugendhafte Leben und damit die (unvollkommene) Glückseligkeit doch überhaupt erst
möglich sein soll. Auf dieser abstrakten Ebene also kann Aristoteles das Problem,
Vernunft und Wirklichkeit praktisch-theoretisch in Einklang miteinander zu bringen, nicht
lösen. Er bliebe, vor verändertem theoretischen Hintergrund, jenem Defizit verhaftet,
welches Aristoteles in Zusammenhang mit der Idee des Guten für die platonische
Philosophie diagnostizierte, und das zu lösen er sich gerade zum Ziel setzte.
Für Aristoteles ist das Streben nach Glückseligkeit als dem letzten und für sich selbst, d.h.
nicht um irgendetwas anderen willen, erstrebte Gut eine anthropologische Konstante.
„Aber damit, daß Glückseligkeit das höchste Gut sei, ist vielleicht nicht mehr gesagt, als
was jedermann zugibt. Wir möchten aber noch genauer erfahren, was sie ist.“181 Und
genau in dieser Konkretisierung muss er nun das leisten, was seiner Meinung nach Platon
mit seiner Idee des Guten schuldig geblieben ist: die Realisierbarkeit des Guten zu
plausibilisieren. Dazu muss Aristoteles nicht nur verständlich machen, inwiefern unser
Streben nach vollkommener Glückseligkeit nicht in Widerspruch mit der von ihm
konstatierten Tatsache gerät, dass wir diese in unserer Endlichkeit nicht werden erreichen
können. Sondern er muss auch deutlich machen, inwieweit die vollkommene
Glückseligkeit im Einflussbereich unseres Tuns liegt.
Dass alle Menschen ihre vollkommene Glückseligkeit durchweg begrüßen würden, soll
hier zugestanden werden. Aber entscheidend ist, dass sie auch als zumindest potentieller
Zielpunkt unseres Tuns angesehen werden kann. Das kann sie jedoch nur, wenn sie im
Bereich dessen liegt, was wir durch unser Tun erreichen können. Nicht aber wenn es einer
Notwendigkeit entspricht oder dem Schicksal anheim gestellt ist, ob sie uns zuteil wird
oder nicht. So sehr man Glückseligkeit auch begrüßen mag, es würde keinen Sinn machen,
praktisch nach ihr zu streben, wenn die Erfüllung außerhalb dessen liegt, was durch das
praktischen Streben erreicht werden kann. 182 Die Konkretisierung des
181
Ebd., Seite 27.
Aristoteles macht dies selbst an verschiedenen Stellen deutlich. Sehr ausführlich zum Beispiel:
„Überlegt man nun alles und ist alles ein Gegenstand der Überlegung, oder gibt es Ausnahmen? Wir
müssen vielleicht sagen: Gegenstand der Überlegung natürlich nicht für den Einfältigen oder
Wahnsinnigen, sondern für den Verständigen. Über das Ewige stellt man keine Überlegungen an, etwa über
den Kosmos oder darüber, daß Diagonale und Seite inkommensurabel sind. Ebenso tut man es nicht über
182
75
Glückseligkeitsstrebens muss also ein auf den ersten Blick unlösbar erscheinendes
Problem lösen. Sie muss die Aussage, dass vollkommene Glückseligkeit das Endziel
unseres praktischen Strebens ist, mit der Aussage, dass vollkommene Glückseligkeit
außerhalb dessen liegt, was wir in unserem endlichen Leben erreichen können, in einen
plausiblen Zusammenhang bringen.
Weiter oben wurde deutlich, dass Aristoteles die Unvollkommenheit der von uns endlichen
Wesen zu erreichenden Glückseligkeit im äußeren Schicksal begründet liegen sah. In
dieses äußere Schicksal sind wir in all denjenigen Zusammenhängen verwickelt, in denen
wir aufgrund unserer Natur von äußeren Gütern abhängig sind, seien diese physischer oder
sozialer Art. Es ist deshalb konsequent, wenn Aristoteles das Streben nach der
Verwirklichung der Glückseligkeit, wie im Übrigen auch Platon, in einer „inneren“
Tätigkeit des Menschen sucht, der Tätigkeit der Vernunft. Wo, wenn nicht hier, kann eine
gegenüber dem äußeren Schicksal weitestgehend unabhängige und unserem Einfluss
obliegende Tätigkeit gefunden werden? Das vernünftige Tun, das sind die
„tugendgemäßen Handlungen“ denen wir uns in einem unwägbaren Leben mit
„Beständigkeit“ widmen können. Doch auch diese und der mit ihnen sich einstellende
Genuss bleiben, soweit sie sich auf äußere Güter beziehen, in den Wendekreis des
Schicksals gebannt. Die durch sie zu gewinnende Glückseligkeit bleibt problematisch. Wir
mögen uns um sie bemühen, ihr Eintreten aber liegt nicht in unserer Gewalt.
Dies gilt bei Aristoteles für alle Tugenden, bis auf eine Ausnahme: „die betrachtende
Tätigkeit der Vernunft“, die theoria. 183 Ihr nun kommt im letzten Buch der
Nikomachischen Ethik die Rolle zu, der formalen Bestimmung der Glückseligkeit als dem
„vollkommenen und selbstgenügsamen Gut“, als dem „Endziel des Handelns“ eine
inhaltliche Konkretisierung zu geben, welche, anders als das platonische agathon, die
gesuchten Bedingungen praktisch-theoretischer Suffizienz erfüllt. Aristoteles beschreibt
das „Betrachten“ als „Tätigkeit Gottes, die an Seligkeit alles übertrifft [...]“.184 „So groß
aber der Unterschied ist zwischen diesem Göttlichen selbst und dem aus Leib und Seele
zusammengesetzten Wesen, so groß ist auch der Unterschied zwischen der Tätigkeit, die
von diesem Göttlichen ausgeht und allem sonstigen tugendgemäßen Tun. Ist nun die
Vernunft im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches, so muß auch das Leben nach
die Dinge, die in Bewegung sind, und zwar immer in derselben Weise, sei es aus Notwendigkeit oder durch
Natur oder aus irgendeiner andern Ursache, wie etwa Sonnenwenden und -aufgänge. Ebenso auch nicht
über das, was immer wieder anders ist, wie Dürre und Regenfälle; und ebenso nicht über das Zufällige, wie
das Finden eines Schatzes. Und auch nicht über sämtliche menschlichen Dinge: Kein Spartaner wird sich
überlegen, wie etwa die Skythen ihren Staat am besten einrichten könnten, denn derartiges steht gar nicht in
unserer Gewalt. Wir überlegen uns also die Dinge, die in unserer Gewalt und ausführbar sind. Denn das ist
auch das einzige, was übrig bleibt.“, ebd., Seite 103.
183
Ebd., Seite 443.
184
Vgl. ebd., Seite 449.
76
der Vernunft im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich sein.“185 „Soweit sich
demnach das Betrachten erstreckt, soweit erstreckt sich auch die Glückseligkeit, und den
Wesen, denen das Betrachten in höherem Grade zukommt, kommt auch die Glückseligkeit
in höherem Grade zu, nicht zufällig, sondern eben aufgrund des Betrachtens, das seinen
Wert in sich selbst hat. So ist denn die Glückseligkeit ein Betrachten.“ 186 Die
Glückseligkeit ist für Aristoteles demzufolge die selbstgenügsame und mit einem eigenen
Genuss verbundene Tätigkeit des Betrachtens, die Tätigkeit der „theoretischen Vernunft“.
Sie ist das prakton agathon. In ihr strebt man nicht mehr nach Glückseligkeit, sondern man
hat sie erreicht. Sie ist vollkommen, „wenn sie auch noch die volle Länge eines Lebens
dauert“.187
Inwiefern schafft es nun diese inhaltliche Bestimmung der Glückseligkeit, die Aussage,
dass vollkommene Glückseligkeit das Endziel unseres Strebens ist, mit der Aussage, dass
vollkommene Glückseligkeit außerhalb dessen liegt, was wir in unserem endlichen Leben
erreichen können, ohne Widerspruch in Einklang miteinander zu bringen? Zunächst einmal
liegt für Aristoteles die selbstgenügsame Betrachtung der „theoretischen Vernunft“ im
Rahmen unserer menschlichen Möglichkeit. Da sich die aristotelische Glückseligkeit in
dieser betrachtenden Tätigkeit selbst findet und sich nicht erst als etwas dieser Tätigkeit
Äußeres einstellen würde, das womöglich wiederum von anderem abhängig wäre, ist
Glückseligkeit etwas, das wir tatsächlich erreichen können: eben indem wir theoretisch
betrachten. Also auch dann, wenn sie nicht vollkommen ist, d.h. unser gesamtes endliches
Leben ausfüllt. Wenn wir theoretisch betrachtend der Glückseligkeit teilhaftig werden, so
ist dieser Genuss unabhängig davon, ob er sich nun über ein vollständiges Leben hinzieht
oder nicht. Nach vollkommener Glückseligkeit zu streben, bedeutet also, soviel als
möglich in der theoretischen Betrachtung zu leben. Hier gibt es keine theoretisch
vorwegzunehmende Grenze, sondern diese hängt allein von den zu einem jeweiligen
Zeitpunkt gegebenen individuellen Möglichkeiten ab. Nach vollkommener Glückseligkeit
zu streben, heißt alle Anstrengungen darauf zu richten, unser jeweiliges diesbezügliches
Maximum auszuschöpfen. In dem Streben nach vollkommener Glückseligkeit wird diese
also nicht als ein zu erfüllendes Ziel gedacht. Sie wird vielmehr als Inbegriff des jeweils
maximal Möglichen, als ein Ideal verstanden. Aristoteles hätte dementsprechend auch
schreiben können, dass es für uns endliche Wesen darum geht, zu einem jeweiligen
Zeitpunkt alles dafür zu tun, einen möglichst langen Zeitraum in der betrachtenden
Tätigkeit der „theoretischen Vernunft“ zu verbringen. In diesem Sinne scheint die
Aristotelische Konkretisierung der Glückseligkeit den Widerspruch zwischen dem Streben
nach vollkommener Glückseligkeit und der Unmöglichkeit, diese in einem endlichen
Leben zu erreichen, in den Griff zu bekommen.
185
Ebd., Seite 443.
Ebd., Seite 449.
187
Vgl. ebd., Seite 443.
186
77
Aber dieser Schein ist meines Erachtens durch eine Ungenauigkeit erkauft, die ich im
Folgenden kurz herausarbeiten möchte. Die Tätigkeit der „theoretischen Vernunft“ kann
Aristoteles nur dann als Konkretisierung der Glückseligkeit plausibilisieren, wenn sie die
formalteleologischen Charakteristika eines Endziels aufweist. Die Glückseligkeit soll ein
selbstgenügsames Ziel sein, das wir um seiner selbst willen anstreben und in dessen
Erreichen unser Streben seine Erfüllung findet. Dementsprechend stellt Aristoteles die
Betrachtung dar als eine Tätigkeit der „theoretischen Vernunft, die nicht handelt und nicht
hervorbringt“, die also weder als Klugheit (phronesis) noch als Kunst (techne), die allein
Tugenden unserer „praktischen Vernunft“ sind, mit unserem Streben in Verbindung steht.
Die „theoretische Vernunft“ betrachtet einfach, nicht aber um zu betrachten, auch nicht um
glückselig zu sein, sondern ist in ihrer Selbstgenügsamkeit und dem mit ihr verbundenen
Genuss die der Glückseligkeit entsprechende Tätigkeit.188
Die Unterscheidung zwischen „theoretischer“ und „praktischer Vernunft“ richtet sich nach
der Unterscheidung der Inhalte, die durch die Vernunft „betrachtet“ werden.189 Vernunft
ist für Aristoteles stets eine „betrachtende Tätigkeit“, deren Inhalte sich entweder auf
„notwendige“ („was sich nie anders verhalten kann“) oder „mögliche Wahrheiten“ („was
sich so und anders verhalten kann“) beziehen können.190 „Notwendige Wahrheit“ findet
sich im Hinblick auf ewig gültige Sachverhalte, die durch Geist (nous), Wissenschaft
(episteme) und Weisheit (sophia) erkannt werden können. „Mögliche Wahrheit“ bedeutet
ein durch Geist (nous), Klugheit (phronesis) oder Kunst (techne) sicherzustellendes,
richtiges bzw. gutes Verhalten im Bereich unseres „Handelns“ und „Hervorbringens“.191
Die „theoretische Vernunft“ ist also deshalb „reine“ betrachtende Tätigkeit, weil ihr Inhalt
sich weder mittelbar oder unmittelbar auf unsere Handlungen bezieht noch sich auf ein
Hervorbringen richtet oder von ihr hervorgebracht wird.
Diese Unterscheidung der „theoretischen Vernunft“ von der „praktischen Vernunft“ lässt
sich jedoch nur im Hinblick auf den Inhalt der Vernunft festmachen, nicht im Hinblick
darauf, was die Vernunft als „betrachtende Tätigkeit“ selbst ist. Die „theoretische
Vernunft“ ist, nicht anders als die „praktische Vernunft“, ein Handeln. Die „theoretische
Vernunft“ ist ein Handeln, das „notwendige Wahrheiten“ betrachten will, die „praktische
Vernunft“ ein Handeln, das auf das Erfassen „möglicher Wahrheiten“ gerichtet ist. Von
dieser praktischen Seite her betrachtet, d.h. wenn wir die Vernunft als ein Handeln
endlicher Wesen verstehen, verliert aber noch die theoretischste Vernunft ihre
Selbstgenügsamkeit. Jegliche Vernunfttätigkeit bedarf als Tätigkeit endlicher Wesen
sowohl physischer Güter, d.h. der notwendigen körperlichen Ernährung, Pflege und
188
Zur aristotelischen Unterscheidung zwischen der „praktischen“ und der „theoretischen Vernunft“ gemäß
der von ihm angenommenen Zweiteilung des vernunftbegabten Teiles der Seele vgl. ebd., Seite 237ff.
189
Vgl. ebd., Seite 237f.
190
Vgl. ebd., Seite 249.
191
Zur Rolle des Geistes (nous) für die praktische Vernunft vgl. ebd., Seite 239f., 247f.
78
Gesundheit, als auch sozialer Güter, d.h. eines sozialen Umfeldes, in dem ihre Betätigung,
wenn nicht sogar gefördert, so doch zumindest nicht gestört oder verhindert wird.
Zwar erkannte Aristoteles dies grundsätzlich an: „Auch bedarf diese Glückseligkeit der
äußeren Güter nur wenig oder doch weniger als das Leben gemäß den ethischen Tugenden.
Mögen beide das zum Unterhalt Nötige auch gleich sehr brauchen [...], so muß sich doch
bei der jeweiligen Tätigkeit ein großer Unterschied ergeben. Der Freigebige braucht Geld
[...], und der Gerechte braucht es, [...]; der Mutige bedarf der Kraft, [...] und der Mäßige
bedarf der Freiheit. [...] Man zweifelt freilich, welches von den Erfordernissen der Tugend
das wichtigere ist, der Wille oder das Werk. Doch findet sie offenbar ihre Vollendung erst
in beiden zugleich. Nun bedarf sie aber, um zu handeln, vieler Dinge und bedarf ihrer
desto mehr, je größer und schöner ihre Handlungen sind. Der Betrachtende aber hat,
wenigstens für diese seine Tätigkeit, keines dieser Dinge nötig, ja sie hindern ihn eher
daran. Sofern er aber Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, wird er auch wünschen, die
Werke der ethischen Tugend auszuüben; so wird er denn solcher Dinge bedürfen, um als
Mensch unter Menschen zu leben.“192 Aristoteles begründete aber dieses Eingebettet-Sein
des theoretischen Betrachtens in die menschlichen Zusammenhänge nicht über die Natur
der „theoretischen Vernunft“ selbst. Er begründete es überhaupt nicht, er konnte es
schlichtweg nicht leugnen.
Das Vernachlässigen dieses Begründungszusammenhangs lässt ihn an einer merkwürdigen
Spaltung der Vernunft hinsichtlich des menschlichen Lebens festhalten. So zum Beispiel,
wenn er die durch die Tugenden der praktischen Vernunft erreichbare Glückseligkeit mit
jener der theoretischen Vernunft vergleicht: „Somit ist auch das ihnen gemäße Leben
menschlich, und menschlich auch die Glückseligkeit, die es gewähren kann. Dagegen
diejenige, die das Leben nach der Vernunft gewährt, ist für sich.“193 Die Vernunft erscheint
zwiegespalten. Zum einen in ihrem Bezug auf das menschliche Leben und die menschliche
Glückseligkeit, zum anderen in ihrem Bezug auf das „göttliche“ Leben und die „göttliche“
Glückseligkeit, die irgendwie „für sich“ ist.
Und tatsächlich nimmt Aristoteles eine Aufteilung der Vernunft vor. Er überträgt die
Unterscheidung der Inhaltsarten auf die Vernunft selbst. Insofern die Inhalte einen
kategorischen Unterschied zwischen „notwendigen Wahrheiten“ und „möglichen
Wahrheiten“ aufweisen, so ist ihm auch die Vernunft kategorisch in zwei Teile geteilt.
Aristoteles spricht von „Gattungen“: „Denn wenn die Gegenstände der Gattung nach
verschieden sind, so ist auch der dem einen oder andern Gegenstand zugeordnete
Seelenteil der Gattung nach verschieden, wenn nämlich das Erkennende auf Grund einer
192
193
Ebd., Seite 445f.
Ebd., Seite 445.
79
gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit dem Gegenstande erkennt.“194 Zwar ist
diese schon zu vorsokratischer Zeit verbreitete epistemologische Vorstellung der
Ähnlichkeit „des Erkennenden [...] mit dem Gegenstande“ gewissermaßen dem damaligen
Wissensstand geschuldet. Aber es hätte für Aristoteles doch wahrlich im Rahmen seiner
Möglichkeiten gelegen, folgende Frage zu stellen: Wenn es zwei Teile der Vernunft gibt,
die jeweils unterschiedliches erkennen, und demnach unterschiedlich sind, wie kann es
dann sein, dass es möglich ist, die unterschiedlichen Inhalte aufeinander zu beziehen,
miteinander zu vergleichen und zu verbinden?
Die Vernunft kann also nicht einfach in einem Nebeneinander zweier Vernunftvermögen
bestehen. Vielmehr müsste entweder ein drittes Vermögen vorausgesetzt werden, das sich
der anderen beiden Vernunftvermögen bedient, oder aber, was ebenso gut denkbar und
weniger voraussetzungsreich wäre, die individuelle Vernunft ist insgesamt nur eine
einzige, welche sich jedoch auf unterschiedliche Inhalte beziehen kann. Und er selbst hat
mit seinem Begriff des Geistes (nous) einen Ansatzpunkt für die Konzeption einer solchen
Einheit der individuellen Vernunft gegeben. Denn „Geist“ (nous) versteht Aristoteles als
Voraussetzung und Vermögen, die Wahrheit zu finden, „teils im Bereich dessen, was sich
nie anders verhalten kann, teils auch im Bereich dessen, was sich so und anders verhalten
kann“, also als gemeinsamen Ausgangspunkt des Erfassens sowohl „notwendiger“ als auch
„möglicher Wahrheiten“.195
Hätte Aristoteles den Gedanken der individuellen Einheit der Vernunft weiter verfolgt, so
hätte er in der Bestimmung derselben nicht bei der Spezifizierung ihrer möglichen Inhalte
stehen bleiben können. Er hätte auch ihre von spezifischen Inhalten unabhängigen
Eigenschaften explizieren müssen. Das aber hätte bedeutet, sowohl die „theoretische
Vernunft“ als auch die „praktische Vernunft“ allgemein als „betrachtende Tätigkeiten“
endlicher Wesen, oder genauer, insofern sie, wie Aristoteles selbst sagt, demselben auf
Wahrheit gerichteten „Geist“ entspringen, als Handlungen vernunftbegabter endlicher
Wesen zu verstehen. Als ein Handeln endlicher Wesen aber verweist Vernunft, oder
vielleicht besser vernünftige Tätigkeit, nicht erst ihrem möglichen Inhalte nach auf
physische und soziale Güter. Sie ist niemals selbstgenügsam. Oder wie Aristoteles sagt:
„Denn die Natur genügt sich selbst zum Betrachten nicht; dazu bedarf es auch der
leiblichen Gesundheit, der Nahrung und alles anderen, was zur Notdurft des Lebens
gehört.“ 196 Doch merkwürdigerweise hat er aus dieser immer wieder anklingenden
Einsicht nicht die naheliegenden Konsequenzen gezogen und der Vernunft insgesamt, also
auch der theoretischen, Selbstgenügsamkeit abgesprochen.
194
Ebd., Seite 239.
Vgl. ebd., Seite 247f.
196
Ebd., Seite 449.
195
80
Aber nicht nur auf dieser Vollzugsebene erweist sich die Selbstgenügsamkeit der
„theoretischen Vernunft“ als unhaltbar. Die Selbstgenügsamkeit der „theoretischen
Vernunft“ sieht Aristoteles, wie bereits deutlich gemacht, deshalb gegeben, weil sie auf
inhaltlicher Ebene weder auf eine ihr äußerliche, zu vollziehende Handlung noch auf einen
ihr äußerlichen, hervorzubringenden Gegenstand oder Sachverhalt gerichtet ist. Aber selbst
diese inhaltliche Selbstgenügsamkeit löst sich auf, sobald man sich den
Handlungscharakter der „theoretischen Vernunft“ vor Augen führt. Denn dann fragt sich,
was das Ziel des theoretischen Handelns ist. Nach Aristoteles wäre es die Erkenntnis
„notwendiger Wahrheiten“. Nun mag noch die Erkenntnis solcher „notwendigen
Wahrheiten“ in den Bereich des theoretischen Handelns, in die Tätigkeit selbst fallen –
wobei sie genaugenommen als ein Hervorbringen der Erkenntnis auch als ein praktisches
Handeln bezeichnet werden könnte. Das aber, was erkannt wird, fällt wohl kaum in dessen
Bereich. Denn die Erkenntnis „notwendiger Wahrheiten“ ist selbst nicht mit diesen
„notwendigen Wahrheiten“ identisch. Sie ist deshalb auch in inhaltlicher Hinsicht nicht
selbstgenügsam, sondern, zumindest dem Anspruch nach, auf „äußere“, d.h. von ihr
unabhängige Sachverhalte bezogen.
Nun mag angenommen werden – was durchaus bezweifelt werden kann –, dass das auf die
Erkenntnis „notwendiger Wahrheiten“ zielende theoretische Handeln nichts anderem dient
als dieser Erkenntnis und ihm so eine relative Selbstgenügsamkeit zukäme und wegen der
Notwendigkeit seiner Inhalte in gewisser Weise auch der Zufall ausgeschaltet wäre.
Jedoch würde auch dies alles nichts daran ändern, dass das theoretische Handeln weder
dem Inhalt noch dem bloßen Vollzug nach einer selbstgenügsamen Tätigkeit gleichkäme.
Es wäre eine uns mögliche Handlung, die aufgrund ihrer Abhängigkeit von anderen
Handlungen und Gütern in ein „befriedigendes“ Zusammenspiel mit diesen gebracht
werden müsste. Sie läge also nicht auf einer der praktischen Vernunft entrückten Sphäre,
sondern wäre Teil einer vernünftigen Praxis, die bei Aristoteles ihr Zentrum im tätigen
Geist (nous) als Inbegriff des Vernunftvermögens hätte finden können. So wäre die
theoretische Betrachtung eine Tugend nicht über, sondern neben anderen Tugenden. Und
selbst wenn man, wie Aristoteles, dieser eine auch noch so große Genussfülle zuschriebe,
so würde dies nichts darüber aussagen, wann und wie lange man sich dieser Tätigkeit für
ein glückseliges Leben widmen sollte.197 So kann die theoretische Betrachtung keineswegs
mehr als das übergeordnete und selbstgenügsame Ziel menschlichen Tuns, als die
Glückseligkeit selbst verstanden werden. Anders als es Aristoteles zu zeigen versuchte,
verfehlt sie die formalteleologischen Bedingungen.
In der Forschung ist bereits viel darüber diskutiert worden, wie die Rolle der theoretischen
Betrachtung im Sinne von Aristoteles zu interpretieren sei. Dabei wird zwischen einer
197
Vgl. ebd., Seite 445.
81
„dominanten Interpretation“ und einer „inklusiven Interpretation“ unterschieden.198 Die
„dominante Interpretation“ geht davon aus, dass Aristoteles die theoretische Betrachtung
mit der Glückseligkeit gleichsetzte. Die „inklusive Interpretation“ geht ihrerseits davon
aus, dass die theoretische Betrachtung einen wichtigen, nicht aber den alleinigen Beitrag
zur Glückseligkeit leistet. Ich will und kann hier nicht entscheiden, welche dieser beiden
Interpretationen im Sinne Aristoteles ist. Es lässt sich aber Folgendes sagen: Aristoteles
hätte in dem Versuch, die Glückseligkeit in eine maßgeblich unserem Einfluss obliegende
Tätigkeit zu legen und damit die der platonischen Philosophie diagnostizierte teleologische
Suffizienz-Problematik zu lösen – anders als Platons Idee des Guten sollte die
Glückseligkeit verwirklichbar sein –, bei der „dominanten Interpretation“ landen müssen.
Meines Erachtens muss der Versuch, Selbstgenügsamkeit in einer sehr spezifischen und
alles andere als selbstgenügsamen Tätigkeit des menschlichen Lebens zu suchen, jedoch
scheitern. Ich betrachte die „inklusive Interpretation“ für die systematisch haltbarere. Da
aber das inklusive Verständnis der Glückseligkeit weitgehend in die vom Schicksal
durchzogene Sphäre äußerer Güter verwoben ist, muss mit diesem der Anspruch auf eine
uns obliegende Verwirklichbarkeit aufgegeben werden. Wir mögen uns um unsere
Glückseligkeit bemühen, indem wir ihr nicht vorsätzlich zuwiderhandeln und sie
begrüßen, wenn sie sich für kurze oder längere Zeit einstellen sollte. Aber wir selbst
können Glückseligkeit nicht verwirklichen. Welche der beiden Interpretationen man auch
immer Aristoteles zuschreiben mag, letztlich ist keine der beiden in seinem Sinne, wenn es
darum gegangen sein sollte, zu zeigen, dass Glückseligkeit etwas ist, das wir in unserem
endlichen Leben verwirklichen können.
Da hilft auch Aristoteles folgender Aufruf nichts: „Man darf aber nicht auf jene Meinung
hören, die uns anweist, als Menschen nur an Menschliches und als Sterbliche nur an
Sterbliches zu denken, sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich
zu sein und alles zu tun, um nach dem Besten, was in uns ist, zu leben. Denn mag es auch
klein an Umfang sein, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles
Hervorragende. Ja, jeder Einzelne ist wohl gerade dieses, wenn anders es unser
vornehmster und bester Teil ist. Also wäre es auch unsinnig, wenn einer nicht sein eigenes
Leben leben wollte, sondern das eines anderen. Und was wir oben gesagt haben, paßt auch
hierher. Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist, ist auch für es das beste und
genußreichste. Für den Menschen ist dies das Leben nach der Vernunft, wenn die Vernunft
am meisten der Mensch ist. Also ist dieses Leben auch das glückseligste.“199 Was aber, so
kann man zurückfragen, wenn es gerade unsere Vernunft ist, die uns in praktischtheoretischer Hinsicht deutlich macht, dass es keinen Sinn macht und alles andere als
198
Vgl. Horn, Christoph: „Glück bei Aristoteles“, in: Dieter Thomä/Christoph Henning/Olivia
Mitscherlich-Schönherr (Hrsg.): Glück – Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J. B. Metzler, 2011,
Seite 123f.
199
Aristoteles NE (2001), Seite 443f.
82
befriedigend ist, nach etwas zu streben, das nicht in unserer Macht steht? Was, wenn es
gerade unsere Vernunft ist, die uns sagt, dass es sinnlos und unbefriedigend ist, wenn wir
unsere Vernunft über unsere sonstige Natur stellen, anstatt sie ohne eine grundsätzliche
Hierarchisierung in ein „befriedigendes“ Zusammenspiel mit dieser zu bringen?
Im wortwörtlichen Sinne merkwürdig ist es, dass Aristoteles, der sich dieses Widerspruchs
bewusst gewesen sein muss, versucht hat, diesen in deontologischem Wortlaut vom Tisch
zu wischen: „Man darf aber nicht“ und „wir sollen“. So scheint sich uns, zumindest für
einen kurzen Moment, eine der bekanntesten und wirkungsreichsten Strebensethiken unter
der Hand als Sollensethik zu entpuppen. Es geht hier nicht allein um die auch Aristoteles
nicht verborgen gebliebene Tatsache, dass wir Menschen keineswegs immer alles dafür
tun, „nach dem Besten, was in uns ist, zu leben“, keineswegs immer das Beste in diesem
Sinne wollen. Diesen Widerspruch zwischen ethischem Anspruch und ethischer
Wirklichkeit hätte Aristoteles unter Umständen noch durch das Wort „sollen“ in den Griff
bekommen können. Dies aber ist unmöglich, wenn, wie bei ihm der Fall, ein Widerspruch
in dem ethischen Anspruch, im „Sollen“ selbst zutage tritt. Etwas nicht Leistbares
verwirklichen zu sollen, ist genauso unvernünftig wie etwas nicht Leistbares verwirklichen
zu wollen. Sein Verweis auf ein Sollen hilft Aristoteles also nicht weiter. Er hat den
Widerspruch zwischen der Aussage, dass vollkommene Glückseligkeit das Endziel unseres
Strebens ist, und der Aussage, dass vollkommene Glückseligkeit außerhalb dessen liegt,
was wir in unserem endlichen Leben erreichen können, nicht aufgelöst. Aristoteles hat es
demnach nicht geschafft, Vernunft und Wirklichkeit praktisch-theoretisch in Einklang
miteinander zu bringen, wenn ein vernünftiges Leben in der Verwirklichung von
Glückseligkeit in unserem endlichen Leben bestehen soll.
... und über Kant ...
Dieses Ergebnis aber ließe die Glückseligkeit als zeitlich zu verwirklichendes Ziel unseres
Handelns ausscheiden. Dementsprechend könnte auch kein praktisch relevanter
Fortschrittsbegriff auf dem der Glückseligkeit aufbauen. Einer der diesen Schritt nicht
gehen wollte, war Immanuel Kant. Diese Feststellung mag vielleicht verwundern, wird
doch die kantische Ethik für gewöhnlich geradezu in Gegensatz zur aristotelischen gestellt.
Für mich spricht allerdings vieles gegen eine solche Gegensätzlichkeit. Dies wird allein
daran deutlich, dass im Zentrum sowohl der aristotelischen als auch der kantischen Ethik
ein tugendhaftes und auf Glückseligkeit zielendes Leben nach der Vernunft steht. Damit
sollen nicht die Unterschiede zwischen beiden Ethiken geleugnet werden. Aber ich denke,
dass sie nicht im Sinne einer grundsätzlichen Gegensätzlichkeit interpretiert werden
müssen. Vielmehr kann die Ethik Kants als ein Versuch verstanden werden, die von
Aristoteles
nicht
aufgelöste
teleologische
Suffizienz-Problematik
des
83
Glückseligkeitsbegriffs schließlich doch in den Griff zu bekommen. Es wird sich jedoch
zeigen, dass auch Kant diese Aufgabe nicht gelöst hat.
Die „dominante Interpretation“ der aristotelischen Glückseligkeit hat sich als theoretisch
unhaltbar erwiesen. Auch für Kant kam ein solches eingeschränktes Verständnis der
Glückseligkeit nicht in Frage. In großer Nähe zur „inklusiven Interpretation“ schreibt er:
„Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im ganzen
seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht, und beruhet also auf der
Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen
Bestimmungsgrunde seines Willens.“200 Nicht anders als Aristoteles ist Kant sich jedoch
im Klaren, dass ein solcher vollkommener „Zustand“ nicht etwas ist, dessen Erreichen wir
für unser endliches Leben auch nur erhoffen können. Erneut finden wir uns also in jener
widersprüchlichen Situation wieder, in der die vollkommene Glückseligkeit zum Ziel
unseres Strebens gesetzt wird, gleichzeitig aber als außerhalb dessen liegend angenommen
wird, was wir in unserem endlichen Leben erreichen können. Auch Kant muss also
Antwort auf die Frage geben, inwiefern vollkommene Glückseligkeit sinnvoll als Ziel
vernünftigen Strebens gelten kann. Vor dem Hintergrund seines „inklusiven“
Verständnisses ist es Kant von vornherein verwehrt, die Auflösung dieses Problems in der
Identifizierung der Glückseligkeit als einer vom äußeren Schicksal möglichst
unabhängigen partikularen Tätigkeit zu suchen, in deren Rahmen „Vollkommenheit“ als
Inbegriff des je „maximal Möglichen“ zu verstehen wäre. Er muss also auf andere Weise
„das Schicksal“ in den Griff des individuellen Handelns bekommen und die
Vollkommenheit der Glückseligkeit mit der Unvollkommenheit unseres endlichen Lebens
in Einklang bringen.
Kant ist sich dieser praktisch-theoretischen Problematik nicht nur bewusst, sondern er
macht die teleologische Suffizienz-Bedingung explizit zum entscheidenden Prüfstein seiner
praktischen Philosophie. Im Abschnitt über die „Antinomie der praktischen Vernunft“
schreibt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft: „Da nun die Beförderung des
höchsten Guts [...] ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist, und mit dem
moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des
ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach
praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet,
dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an
sich falsch sein.“201 An der Frage nach der Möglichkeit der Verwirklichung des dem
moralischen Willen notwendig zukommenden Zieles entscheidet sich für Kant also, ob
200
Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Band VII, Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, 1956, Seite 255.
201
Ebd., Seite 242f.
84
dem moralischen Gesetz objektive Geltung zugesprochen werden kann, entscheidet sich
seine Wahrheit.
Noch einmal etwas genauer: Kants Antwort auf die Frage, was es zu tun gilt, ist
bekanntlich der kategorische Imperativ. In der Analytik der Kritik der praktischen
Vernunft formuliert er diesen als das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ 202 In der Dialektik bestimmt er dann „die
Bewirkung des höchsten Gutes in der Welt“ als „das notwendige Objekt eines durchs
moralische Gesetz bestimmbaren Willens“. 203 Kants „höchstes Gut“ ist als
Zusammenstimmen von Tugend und Glückseligkeit, d.h. von moralischem Willen und
einem mit seiner Verwirklichung verbundenen Genuss zu verstehen.204 Als das „höchste
Gut“ physischer, sozialer und theoretischer Wesen geht dieses, soweit es in unserer Welt
verwirklicht wird, mit dem Genuss physischer, sozialer und theoretischer Güter einher,
wird aber nicht durch diese bestimmt.205 Dazu Kant: „Daß Tugend (als die Würdigkeit
glücklich zu sein) die oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswert
scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit, mithin das oberste
Gut sei, ist in der Analytik bewiesen worden. Darum ist sie aber noch nicht das ganze und
vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen;
denn, um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert, und zwar nicht bloß in den
parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zwecke macht, sondern selbst im
Urteile einer unparteiischen Vernunft, die jene überhaupt in der Welt als Zweck an sich
betrachtet. Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben
nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens,
welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche
denken, gar nicht zusammen bestehen.“206 Für Kant ist also die „völlige Angemessenheit
der Gesinnung zum moralischen Gesetze die oberste Bedingung des höchsten Guts“,207
„worin doch Tugend immer, als Bedingung, das oberste Gut ist, weil es weiter keine
Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar
angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern
jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt“.208 Deshalb
202
Ebd., Seite 140.
Ebd., Seite 252.
204
Vgl. ebd., Seite 238ff.; ich schließe mich mit dieser Interpretation der Untersuchung Pauline Kleingelds
an; vgl. Kleingeld, Pauline: Fortschritt und Vernunft: Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg:
Königshausen & Neumann, 1995, Seite 152ff.
205
Vgl. Kleingeld (1995), Seite 144f.
206
Kant KpV (1956), Seite 238.
207
Ebd., Seite 252.
208
Ebd., Seite 239.
203
85
muss die völlige Angemessenheit der Gesinnung „eben sowohl möglich sein, als ihr
Objekt, weil sie in demselben Gebote es zu befördern enthalten ist“.209
Nach der Vernunft zu leben, bedeutet für Kant das „unaufhörliche Streben“ zur
„pünktlichen und durchgängigen Befolgung“ des moralischen Gesetzes. 210 In dieser
„Gesinnung“ zielen wir notwendigerweise auf „die Beförderung des höchstens Guts“ als
der Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit. 211 Eine „durchgängige und
pünktliche Befolgung“ des moralischen Gesetzes aber wäre nicht nur eine „völlige
Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetze“, sondern auch eine „völlige
Angemessenheit des Willens“ insgesamt, d.h. vollkommene Sittlichkeit, die nach Kant
vollkommene Glückseligkeit zur Folge haben müsste. 212 „Sofern nun Tugend und
Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch
Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren
Würdigkeit glücklich zu sein) ausgeteilt, das höchste Gut einer möglichen Welt
ausmachen: so bedeutet dieses das Ganze, das vollendete Gute, [...].“213 Auf was wir nach
Kant also in unserem vernünftigen Streben nach „pünktlicher und durchgängiger
Befolgung“ des moralischen Gesetzes notwendigerweise zielen, ist letztlich vollkommene
Glückseligkeit. In diesem Zusammenhang wird der erste Aspekt seines Lösungsversuches
der teleologischen Suffizienz-Problematik deutlich. Kant schließt, anders als Aristoteles,
das „Schicksal“ als Störungsgröße zwischen Sittlichkeit bzw. Tugendhaftigkeit und
„inklusiver“ Glückseligkeit aus. Glückseligkeit wird „ganz genau in Proportion der
Sittlichkeit“ ausgeteilt. Weiter unten wird genauer gezeigt werden, wie Kant diese
Annahme zu rechtfertigen sucht. Mit dieser Annahme tritt die Frage nach der
Angemessenheit bzw. Unangemessenheit des Willens zum moralischen Gesetz ins
Zentrum der Problematik. Als einzige Begründung für das Ausbleiben unserer
vollkommenen Glückseligkeit bliebe so unsere sittliche Fehlbarkeit. Nun könnte an dieser
Stelle der Zufall erneut seine Finger ins Spiel bringen. Kann es nicht sein, dass unsere
sittlichen Fähigkeiten stark durch das „Schicksal“ geprägt sind? Kant geht dieser
209
Ebd., Seite 252.
Vgl. ebd., Seite 253.
211
Vgl. ebd., Seite 252.
212
Diese Unterscheidung zwischen „völliger Angemessenheit der Gesinnung“ und „völliger
Angemessenheit des Willens“ ist, wie wir sehen werden, für die kantische Argumentation sehr
entscheidend. Die „völlige Angemessenheit der Gesinnung“ zum moralischen Gesetz als „unaufhörliches
Streben“ nach „durchgängiger und pünktlicher Befolgung“ desselben und damit nach vollkommener
Glückseligkeit ist uns nach Kant als endlichen Wesen möglich. „Sie [die völlige Angemessenheit der
Gesinnung; T. W.] muss also ebenso möglich sein, als ihr Objekt, weil sie in demselben Gebote dieses zu
befördern enthalten ist.“ Die „völlige Angemessenheit des Willens“ aber, als vollkommene
Übereinstimmung unseres Tuns mit dem moralischen Gesetze ist zwar Ziel der „völligen Angemessenheit
der Gesinnung“ liegt aber außerhalb dessen, was wir in einem endlichen Leben erreichen können. „Die
völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit,
deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist.“; vgl. ebd.,
Seite 252.
213
Ebd., Seite 239.
210
86
Möglichkeit durch seine Konzeption der moralischen Gesinnung von vorherein aus dem
Weg. Indem er die Glückseligkeit als Glückseligkeit vernünftiger Wesen definiert, grenzt
er alle Fälle fehlender Vernunft aus. Mag der Zufall auch unvernünftige Lebewesen
hervorbringen, sie bleiben außerhalb der kantischen Ethik. Vernunft aber ist für Kant am
Ende allein praktisch, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der
spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist.“214
Praktische Vernunft zu haben wiederum bedeutet, die Fähigkeit zu besitzen, a priori, d.h.
unabhängig von irgendwelchen empirischen Umständen, das moralische Gesetz zu
erkennen und zum Inhalt der „Gesinnung“ zu machen.
Dies ist meines Erachtens auch einer der Hauptgründe, warum sich Kant von der
aristotelischen Klugheitslehre distanziert hat. Die Klugheit (phronesis) ist zu sehr vom
Zufall bestimmt, als dass sie im Zentrum rationalen Handelns stehen könnte. Zum einen ist
auch für Aristoteles Klugheit, so wie alle anderen Tugenden, eine Eigenschaft, die nur
mühsam durch Erfahrung erworben, durch falsche Erziehung und falsche Ratschläge
jedoch stark behindert werden kann. Erziehung und fremde Ratschläge aber sind
empirische Umstände, die für denjenigen, dem sie zuteil werden, zufällig sind. Zum
anderen muss, und dies scheint mir für Kant das entscheidendere Argument zu sein, eine
endliche Vernunft in dem Versuch der Erkenntnis des überkomplexen Zusammenhangs
möglicher Handlungen und deren Verhältnis zur Glückseligkeit stets an ihre Grenze
stoßen. Und das umso mehr, als die Klugheit eben nicht auf partiale Qualitäten einzelner
Handlungen, sondern auf deren Qualifizierung in Bezug auf „das gute Leben im ganzen“
gerichtet ist.215 Sie kann aus Gründen ihrer Endlichkeit oder auch Begrenztheit selbst unter
den besten Voraussetzungen prinzipiell nicht leisten, was Aristoteles von ihr verlangt,
nämlich im Zusammenspiel mit dem Geist (nous) die praktische „Wahrheit“ zu finden, d.h.
das der Glückseligkeit entsprechende richtige Tun. So zumindest sieht es Kant: „Was aber
wahren dauerhaften Vorteil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt
werden soll, in undurchdringliches Dunkel eingehüllt, und erfordert viel Klugheit, um die
praktische darauf abgestimmte Regel durch geschickte Ausnahmen auch nur auf
erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen.“216 Eine so geartete Klugheit kann in
Bezug auf die Glückseligkeit nicht zum praktischen Kriterium einer vernünftigen Praxis
werden, wenn die Vernünftigkeit der Praxis unter anderem gerade darin bestehen soll, dass
das Erreichen gesetzter Ziele im Einflussbereich individuellen Strebens liegt. Wenn die
„inklusive“ Glückseligkeit von der Klugheit als der zwischen den verschiedenen Tugenden
vermittelnden Tugend abhängig gemacht wird, diese aber nicht nur vom Zufall beeinflusst
ist, sondern dem an sie gestellten Anspruch prinzipiell, d.h. auch unabhängig von der
Zufallsproblematik, nicht gerecht werden kann, dann erfüllt noch nicht einmal die „innere“
214
Ebd., Seite 252.
Vgl. Aristoteles NE (2001), Seite 245.
216
Kant KpV (1956), Seite 149.
215
87
Tugendtätigkeit jene praktisch-theoretische Suffizienz-Bedingung, die Aristoteles durch
diese gerade gesichert sehen will. Tugendhaftes Handeln läge so außerhalb unseres
Einflussbereiches. Dann wäre es nicht nur unmöglich, „daß der wahrhaft Gute und
Verständige in guter Haltung jede Art von Schicksal trägt und in der gegebenen Lage stets
das Beste tut [...].“217 Sondern der „wahrhaft Gute“ wäre selbst eine Unmöglichkeit.
Die kantische Kritik an Aristoteles erwächst meines Erachtens nicht in Hinsicht auf das
Verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit. Denn auch Aristoteles macht wie Kant
die Tugend zur Bedingung der Glückseligkeit. Dies wird gerade auch im Rahmen seiner
Ausführungen zur Klugheit deutlich. „Wie wir sagen, daß Menschen, die gerecht handeln,
darum noch nicht Gerechte sind, etwa solche, die das von den Gesetzen Vorgeschriebene
nicht aus sich tun, sondern widerwillig oder aus Unwissenheit oder aus irgendeiner
anderen Ursache (dennoch tun sie aber, was man soll und was der Tugendhafte tun soll),
so scheint es auch eine bestimmte Verfassung zu geben, in der man erst handelt, so daß es
wirklich gut ist, ich meine durch Willensentscheidung und um der Tat selbst willen. Die
Willensentscheidung wird nun durch die Tugend richtig; daß aber alles geschieht, was
seiner Natur nach um dieses Zieles willen geschehen muss, das ist nicht das Werk der
Tugend [nicht der ethischen Tugend, doch aber der dianoethischen Tugend; T. W.],
sondern einer andern Fähigkeit. [...] Man muß aber noch einen kleinen Schritt
weitergehen: nicht nur die Haltung gemäß der rechten Einsicht, sondern auch diejenige mit
der rechten Einsicht ist Tugend. Die rechte Einsicht in diesen Dingen ist aber die
Klugheit.“218 Das Handeln aus „rechter Einsicht“ und nicht aus Gründen der Lust oder
Unlust ist bei Aristoteles nicht anders als bei Kant die für das tugendhafte Handeln und die
Glückseligkeit entscheidende Haltung. „Denn die Prinzipien des Handelns liegen in
seinem Zwecke. Ist man aber durch Lust oder Schmerz verdorben, so sieht man gleich das
Prinzip nicht mehr, und man weiß nicht mehr, daß man um seinetwillen und wegen ihm
alles wählen und tun soll.“219 Bei Aristoteles ist dieses Prinzip die um ihrer selbst willen
erstrebte Glückseligkeit. Klugheit bedeutet die „rechte Einsicht“ bezüglich all dessen,
„was seiner Natur nach um dieses Zieles willen geschehen muss“.
Kant negiert nun, dass uns eine empirisch gegründete Klugheit zu dieser Einsicht verhelfen
kann. Nach Aristoteles müssten wir bezüglich einer bestimmten Handlung in etwa zur
folgenden Einsicht gelangen können: Ich tue dieses bestimmte, weil es der Glückseligkeit
entspricht und die Glückseligkeit „das Ziel und das Beste ist“.220 Zu einer solchen Einsicht
in die Verbindung bestimmter Handlungen mit dem Ziel der Glückseligkeit aber ist laut
Kant die endliche Vernunft überhaupt nicht fähig. Wäre sie es, so hätte Kant wohl keine
217
Aristoteles NE (2001), Seite 43f.
Ebd., Seite 265ff.
219
Ebd., Seite 247.
220
Vgl. ebd., Seite 265.
218
88
grundsätzlichen Probleme mit der aristotelischen Ethik gehabt, sieht man einmal von
seiner Kritik der Mesotes-Lehre ab.221 Egal wie tugendhaft eine bestimmte Handlung in
bestimmter Hinsicht auch immer sein mag, wir können nicht einsehen, ob sie zur
Glückseligkeit gereicht. Damit kann die Glückseligkeit, wenn sie auch das Ziel unseres
Handelns sein mag, nicht als Prinzip der Bestimmung unseres Willens dienen. Wenn auch
in der aristotelischen Ethik gilt, keine Glückseligkeit ohne Tugend, so bleibt die
Verbindung und damit die Orientierung tugendhafter Handlungen im Hinblick auf die
Glückseligkeit ungeklärt. Sie wird in dem Begriff der „Klugheit“ bloß postuliert. Und Kant
wäre der letzte, der Postulate im praktisch-theoretischen Zusammenhang abgelehnt hätte.
Ihm zufolge widerspricht diesem Postulat aber die Erfahrung, dass die endliche Vernunft
zu einer solchen Leistung überhaupt nicht fähig ist. Ein Postulat, das der Erfahrung
widerspricht, verliert grundsätzlich seine Berechtigung. Kann die Glückseligkeit aus den
genannten Gründen nicht als Handlungsprinzip, d.h. zur Bestimmung des Willens dienen,
so liegt der Verdacht nahe, dass einer durch das Ziel der Glückseligkeit bestimmten Praxis
hinterrücks nichts anderes übrig bleibt, als sich an Lust und Unlust zu orientieren, die Lust
zu suchen, die Unlust zu meiden.222 Ein solches Lust-Unlust-Kalkül kann aber weder für
Kant noch für Aristoteles Bestimmungsgrund von Tugend sein. In seiner Überschätzung
der Fähigkeit der endlichen Vernunft kann Aristoteles noch behaupten, dass die Prinzipien
des Handelns in seinem Zweck, d.h. in der Glückseligkeit liegen. Kant aber sieht, dass die
aristotelische Klugheit in ihrer empirischen Begrenztheit das Streben nach Glückseligkeit
ungewollt zu einem Streben nach eigenem Lustempfinden verkommen lässt. So bezeichnet
er denn auch die Klugheit als „Maxime der Selbstliebe“.223
Wenn die Glückseligkeit also nicht zur Orientierung des endlichen Willens dienen kann,
dann stellt sich die Frage, worin anders das Prinzip des Handelns liegen kann. Kant
argumentiert dafür, dass der „kategorische Imperativ“ als das „Grundgesetz der reinen
praktischen Vernunft“ eben dieses Prinzip darstelle. Er ist der Ansicht, dass die endliche
Vernunft, anders als hinsichtlich der von Aristoteles postulierten, auf Glückseligkeit
gerichteten Klugheit, zur Erkenntnis des „sittlichen Gesetzes“ a priori in der Lage ist. Was
nach diesem Prinzip „zu tun sei, ist für den gemeinen Verstand ganz leicht und ohne
Bedenken einzusehen“, so dass selbst „der gemeinste und ungeübteste Verstand selbst
ohne Weltklugheit damit umzugehen“ weiß.224 „Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit
Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit, der empirisch-bedingten Vorschrift der
Glückseligkeit nur selten, und bei weitem nicht, auch nur in Ansehung einer einzigen
Absicht, für jedermann möglich.“225 Wie oben deutlich gemacht, bedeutet dies jedoch
221
Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, in: ders.; Werke in zwölf Bänden, Band VIII,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956, Seite 535f., 566f.
222
Vgl. Kant KpV (1956), Seite 128f.
223
Vgl. ebd., Seite 148.
224
Vgl. ebd., Seite 149.
225
Ebd., Seite 149.
89
nicht, dass damit Glückseligkeit als Ziel eines auf das „sittliche“ oder „moralische Gesetz“
gerichteten Willens wegfallen würde. Vielmehr bezieht Kant die Glückseligkeit im
Rahmen des Begriffs des „höchsten Guts“ als das „notwendige Objekt eines durchs
moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ unmissverständlich mit ein.226 Glückseligkeit
bleibt als Aspekt der Zielbestimmung bestehen, nicht aber als Prinzip der Bestimmung des
Willens. Genauso wenig wie bei Aristoteles die Glückseligkeit von der Tugend entkoppelt
ist, lässt Kant die Glückseligkeit als Ziel des Wollens fallen. Anders aber als Aristoteles,
und meines Erachtens aus nachvollziehbaren Gründen, vertritt Kant die Position, dass der
Begriff der Glückseligkeit letztlich keine Handlungsorientierung biete, die, über den
bloßen Anspruch hinaus, eine vom Hedonismus zu unterscheidende Praxis ermöglichen
würde. Wenn Aristoteles im Hinblick auf die Glückseligkeit sagt, „man darf aber nicht auf
jene Meinung hören, die uns anweist, als Menschen nur an Menschliches und als
Sterbliche nur an Sterbliches zu denken, sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns
bemühen, unsterblich zu sein und alles zu tun, um nach dem Besten, was in uns ist, zu
leben“227, so kann man Kants Konzentration auf das „Sollen“ als den Versuch verstehen,
die im aristotelischen „Sollen“ unbewältigte teleologische Suffizienz-Problematik zu lösen.
Und in der Konzentration auf das „Sollen“, so Kants Position, ist es selbst dem „gemeinen
Verstand ganz einfach und ohne Bedenken“ möglich, das entscheidende Prinzip zu
erkennen, das „zu aller Zeit“ ein tugendhaftes Leben ermöglicht. Ein solches
uneingeschränkt gültiges Prinzip muss, so Kant, die Form eines allgemeinen Gesetzes
annehmen. Denn ohne Allgemeingültigkeit könnte es nicht zur durchgehenden
Orientierung eines tugendhaften Lebens dienen. Dieses Gesetz aber, insofern es
uneingeschränkt gültig sein soll, kann nicht als abhängig von irgendwelchen empirischen
Bedingungen gedacht werden. Deshalb „bleibt nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetzes
überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll [...].“228 „Der Wille
wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die
bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestimmungsgrund als die
oberste Bedingung aller Maximen angesehen. [...] Denn der Gedanke a priori von einer
möglichen allgemeinen Gesetzgebung, der also bloß problematisch ist, wird, ohne von der
Erfahrung oder irgend einem äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt
geboten. [...] Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetztes ein Faktum der Vernunft
nennen [...].“229 Insofern für diese subjektive Einsicht nach Kant zunächst nichts weiter als
endliche Vernunft selbst vorausgesetzt werden muss und sie demnach als jedem
vernünftigen Subjekt zugängliche Einsicht verstanden werden kann, erscheint es
gerechtfertigt, ihr nicht nur subjektive, sondern auch objektive Gültigkeit zuzusprechen.
226
Vgl. ebd., Seite 238f., Seite 252ff., sowie Seite 178f.
Aristoteles NE (2001), Seite 443f.
228
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metapyhsik der Sitten, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Band VII,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956, Seite 51.
229
Kant KpV (1956), Seite 141.
227
90
Sie gilt für alle vernünftigen Wesen. „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt
(dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“230 Oder,
wie weiter oben bereits zitiert, das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“231 Kants Formulierung dieses Grundgesetzes
führt uns auf das „Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung“, d.h. auf die Form der
allgemeinen Gesetzgebung als Prinzip der Tugend überhaupt zurück.
Deren durchgängige Befolgung hätte eine Welt zur Folge, in der die „vernünftigen Wesen
in ihr, sofern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als
mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat“ 232, es im
Ganzen ihrer Existenz also „alles nach Wunsch und Willen“ ginge, glückselig wären.233 So
wird verständlich, inwiefern sich Kant dazu berechtigt sieht, „eigene Vollkommenheit“
und „fremde Glückseligkeit“ als die beiden „Zwecke, die zugleich Pflichten sind“, aus
dem „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ abzuleiten. „Eigene
Vollkommenheit“, die „völlige Angemessenheit des Willens“ zum moralischen Gesetz ist
ein Zweck, den sich die subjektive Willkür setzen kann. Er ist zugleich Pflicht, insofern
das moralische Gesetz eben genau dies fordert. Mit der „eigenen Vollkommenheit“ zielt
die subjektive Willkür zugleich aber auch auf „fremde Glückseligkeit“, weil die „eigene
Vollkommenheit“ der maximale, subjektiv mögliche Beitrag eben zu jenem
Zusammenstimmen der eigenen mit jeder anderen Freiheit ist, also für eine Welt, in der
allen „alles nach Wunsch und Willen geht“. „Eigene Glückseligkeit“ sei zwar ein Zweck,
könne aber keine Pflicht sein, weil jeder sie ohnehin „von selbst will“. „Fremde
Vollkommenheit“ könne weder Pflicht noch Zweck sein. Denn sich diese zum Zweck zu
setzen, obliege allein der jeweiligen fremden Willkür, könne also auch nur für diese eine
Pflicht sein. 234 „Eigene Vollkommenheit“ und „fremde Glückseligkeit“ sind die zwei
Seiten des „Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft“, dessen „notwendiges Objekt“
das „höchste Gut“ als die durch Glückseligkeit vollendete Tugend ist. Die Vorstellung der
durchgängigen Befolgung des moralischen Gesetzes führt uns zu der Vorstellung einer
„moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der
Neigungen) abstrahieren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen
proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken, weil die durch sittliche
Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen
Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien,
230
Ebd., Seite 142.
Ebd., Seite 140.
232
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: ders: Werke in zwölf Bänden, Band III und IV,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956, Seite 679.
233
Vgl. Kant KpV (1956), Seite 255.
234
Vgl. Kant MdS (1956), Seite 515f.
231
91
Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden.“235 Auch
wird hier noch einmal deutlich, inwiefern Glückseligkeit zwar das Ziel eines durch das
moralische Gesetz bestimmten Willens ist, nicht aber als Prinzip der Bestimmung
subjektiver Willkür dient. Nicht aus dem Begriff der Glückseligkeit kann bestimmt
werden, was zu tun sei, sondern im Hinblick auf das, was zu tun sei, erscheint
Glückseligkeit als mögliche Wirklichkeit am Horizont der praktischen Vernunft.
Nun ist der kantischen Philosophie immer wieder der Vorwurf gemacht worden, mit ihrer
Konzeption des Tugendprinzips die ethische bzw. moralische Problematik auf eine
abstrakte und rein formale Ebene zu heben, die weit davon entfernt ist, eine
alltagstaugliche und der Wirklichkeit gerecht werdende Orientierung bieten zu können.
Weil das „Grundgesetz der praktischen Vernunft“ von allen empirischen Bedingungen des
Handelns absehe, könne es nicht als praktikables Prinzip von Handlungen dienen. Vor
diesem Hintergrund müsste allem Handeln, das stets durch empirische Faktoren geprägt
und der Wille also niemals „rein“ und durch die „bloße Form des Gesetzes“ bestimmt ist,
letztlich die Tugendhaftigkeit abgesprochen werden. Tugend wäre somit ein Ding der
Unmöglichkeit. Und man könnte daher den Schluss ziehen, dass Kant es aus diesem
Grunde genauso wenig wie Platon und Aristoteles geschafft hat, die teleologische
Suffizienz-Problematik zu lösen. Ich bin dahingegen der Ansicht, dass sich Kants
Philosophie gegen die Abstraktheits- und Formalismus-Vorwürfe gut verteidigen lässt.
Hierzu sei neben Kants eigenen Ausführungen zur konkreten Anwendung des
kategorischen Imperativs und der aus ihm abgeleiteten Tugendpflichten auf die Arbeiten
von Onora O´Neill, Marcia Baron und Christoph Horn verwiesen.236 Der kategorische
Imperativ abstrahiert zwar als solcher von allen empirischen Bedingungen, erfährt seine
Anwendung aber gerade im Hinblick auf eine empirische Praxis. Er ist als Prinzip eines
reflexiven Verfahrens zu verstehen, in dem es vernünftigen Wesen im Hinblick ihrer wie
auch immer bedingten Handlungsmöglichkeiten möglich ist, jene Handlungen
auszuscheiden, die der Pflicht und damit der Tugendhaftigkeit widersprechen.
Der kategorische Imperativ ist entscheidend für die Bestimmung der Maximen, denen
konkrete Handlungen entsprechen sollen, nicht aber für die Bestimmung der konkreten
Handlungen selbst. „Denn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die
Handlungen selbst, gebieten kann, so ist´s ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz)
einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben
235
Kant KrV (1956), Seite 680.
Vgl. Kant GMS (1956), Seite 52ff.; sowie die Kasuistiken in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten,
Kant MdS (1956), Seite 553ff.; O´Neill, Onora: „Kantische Gerechtigkeit und kantianische Gerechtigkeit“,
in: Karl Ameriks/Dieter Sturma (Hrsg.): Kants Ethik, Münster: mentis, 2004, Seite 58-73; Baron, Marcia:
„Handeln aus Pflicht“, in: ebd., Seite 80-97; Horn, Christoph: „Die Menschheit als objektiver Zweck –
Kants Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs“, in: ebd., Seite 195-212 sowie Horn,
Christoph/Mieth, Corinna/Scarano, Nico: „Kommentar“ in: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007.
236
92
könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht, gewirkt
werden sollte.“237 Für Kant gibt es, wie gezeigt, zwei Zwecke, die zugleich Pflichten sind:
„eigene Vollkommenheit“ und „fremde Glückseligkeit“.238 Aus diesen leitet er weitere
Pflichten „gegen sich selbst“ und „gegen andere“ ab, die wiederum stets nur als Maximen
von Handlungen, nicht aber zur konkreten Bestimmung von Handlungen dienen können.
In diesem hier von Kant offen gelassenen Spielraum ist nicht nur Platz für die Klugheit,
wie Kant es selbst in der Metaphysik der Sitten ausführt,239 Sondern meines Erachtens auch
für die aus „erster“ und „zweiter Natur“ erwachsenden Bedürfnisse und Bedingungen,
unter deren Einfluss sich die Bestimmung von konkreten Handlungsmöglichkeiten
vollzieht.240 Kant negiert nicht den Einfluss von „erster“ und „zweiter Natur“ sowie von
Klugheit auf die Praxis, sondern er negiert nur ihre Eignung, dem Handeln vernünftiger
Wesen eine „auf das ganze Dasein“ bezogene Richtung geben zu können. Diese findet sich
nach Kant allein in dem Prinzip der reinen praktischen Vernunft als der formalen
Bestimmung einer allgemeinen Gesetzgebung, die unbedingt und widerspruchsfrei
gebietet, welcher Maxime nach es zu handeln gilt.
Es war mir wichtig, deutlich zu machen, dass das Problem der kantischen Philosophie in
Bezug auf die teleologische Suffizienz-Bedingung nicht in der formalen Definition des
kategorischen Imperativs liegt. Ich sehe nicht, dass seine Abstraktheit es grundsätzlich
verhindern würde, ihn in einen sinnvollen Zusammenhang mit empirischen Sachverhalten
zu setzen. Meines Erachtens liegt das Problem vielmehr, wie ich nun zeigen will, im
Festhalten an dem Begriff der Glückseligkeit. Kant hat es selbst als ein Problem
angesehen, dass jene Vorstellung einer „moralischen Welt“ als einem „System der mit der
Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit“ als solche an die Bedingung
gekoppelt ist, dass alle vernünftigen Wesen in ihren Handlungen dem moralischen Gesetz
entsprechen. „Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee,
deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann tue, was er soll, d. i. alle
Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der
alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen. Da aber die Verbindlichkeit
aus dem moralischen Gesetze für jedes besonderen Gebrauche der Freiheit gültig bleibt,
wenn gleich andere diesem Gesetze sich nicht gemäß verhielten, so ist weder aus der Natur
der Dinge der Welt, noch der Kausalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnis zur
Sittlichkeit bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden, und die
angeführte notwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu sein, mit dem
237
Kant MdS (1956), Seite 520.
Vgl. ebd., Seite 515.
239
„Denn beide Tugendpflichten haben einen Spielraum der Anwendung (latitudinem) und, was zu tun sei,
kann nur von der Urteilskraft, nach Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit
(den moralischen) [...] entschieden werden.“ Ebd., Seite 567, Fußnote.
240
Vgl. ebd., Seite 522.
238
93
unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kann durch die
Vernunft nicht erkannt werden, wenn man bloß Natur zum Grunde legt [...].“241
Was Kant hier bemerkt, ist, dass es einem vernünftigen, sich durch das moralische Gesetz
bestimmenden und darin notwendig auf das zweite „Bestandsstück“ des höchsten Gutes als
der proportional zur Sittlichkeit zuteilwerdenden Glückseligkeit zielenden Willen
zuwiderlaufen würde, wenn diese proportionale Zuteilung ausbliebe.242 Halten sich nicht
alle vernünftigen Wesen an das moralische Gesetz, so ist nicht zu ersehen, wie in einer so
gearteten Welt der noch so tugendhaft Handelnde von dem durch andere verursachten Leid
und Unglück freigehalten werden soll. Man kann diese Problematik noch einmal
verschärfen: In einer Welt, in der nicht nur sozialer Unbill als Quelle von Unglück gelten
kann, sondern in der wir auch von anderen negativen Umwelteinflüssen bedroht sind,
können wir selbst dann, wenn sich alle vernünftigen Wesen vollkommen tugendhaft
verhielten, nicht einsehen, wie eine proportionale Entsprechung von Tugend und
Glückseligkeit jemals als gesichert angenommen werden kann. So sehr wir uns also auch
tugendhaft verhalten mögen und uns in diesem Sinne der Glückseligkeit als würdig
erweisen, können wir „weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Kausalität der
Handlungen“ entnehmen, wie uns Glückseligkeit in Proportion zu unserer Sittlichkeit
überhaupt zuteil werden könnte, außer durch einen völlig unwahrscheinlichen Zufall.
Vor diesem theoretischen Hintergrund verliert, so Kant, alle Moralität an Kraft und es liegt
der Gedanke nahe, dass „das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich“ und „das
moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere
eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein“ muss. 243 „Denn der
Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu
sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens [...] gar nicht
zusammen bestehen.“ 244 Um dieses Problem zu lösen, hat Kant nun die praktische
Vernunft dazu berechtigt gesehen, „das Dasein Gottes“ zu postulieren. Nur ein der
moralischen und natürlichen Welt gemeinsamer Urheber könne den „notwendigen
Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit eines zur
Welt als Teil gehörigen, und daher von ihr abhängigen, Wesens, welches eben darum
durch seinen Willen nicht Ursache dieser Natur sein, und sie, was seine Glückseligkeit
betrifft, mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht durchgängig
einstimmig machen kann“, gewährleisten. 245 „Folglich ist das Postulat des höchsten
241
Kant KrV (1956), Seite 680f.
Kant KpV (1956), Seite 258.
243
Vgl. ebd., Seite 242f.
244
Ebd., Seite 238.
245
Vgl. ebd., Seite 255f.
242
94
abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten
ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.“246
Man kann die Legitimität dieser „Moraltheologie“ mit Recht in Frage stellen.247 Denn
dadurch, dass wir die Wirklichkeit eines Gottes voraussetzen müssen, damit das kantische
moralische Gesetz uns nicht als „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt,
mithin an sich falsch“ erscheint, ist dessen Existenz nicht im geringsten bewiesen. Es sei
Kant hier aber zugestanden, dass durch die Berechtigung des Zweifels nicht auch schon
das Gegenteil gilt, die Nichtexistenz Gottes. Und solange es zumindest möglich ist, die
Existenz eines Gottes, wie ihn Kant uns hier vorstellt, zu denken, ohne die praktische
Vernunft in einen Widerspruch mit der theoretischen Vernunft zu bringen, führt die
Abhängigkeit von diesem moraltheologischen Glaubensakt zumindest nicht zur
Inkonsistenz der kantischen Ethik, wenn sie vielleicht auch an Überzeugungskraft verliert.
Man kann Kant also das Gottespostulat konsistenztheoretisch zugestehen, solange es nicht
durch einen unaufhebbaren Widerspruch im Verhältnis zu unserer theoretischen Vernunft
oder durch einen empirischen Nachweis der Nichtexistenz des kantischen Gottes
falsifiziert wird. Ich sehe nicht, dass dies bereits geschehen wäre, noch wie dies geschehen
sollte. Auf der Ebene begrifflicher Konsistenz mag Kant das Problem des Zusammenhangs
von Tugend und Glückseligkeit bis hierhin also gelöst haben.
Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Voraussetzung einer Austeilung
der Glückseligkeit „ganz genau in Proportion der Sittlichkeit“ zur Folge hat, dass als
einziger Grund für das Ausbleiben vollkommener individueller Glückseligkeit die sittliche
Fehlbarkeit der jeweiligen subjektiven Willkür angenommen werden kann. Nun nimmt
Kant aber nicht nur dieses an, sondern auch, dass keine endliche Vernunft jemals
vollkommen glückselig sein könne. Welches endliche und vernünftige Wesen könnte
schon von sich behaupten, dass es ihm „im ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und
Willen“ ginge? Auch Aristoteles war der Überzeugung, dass ein vollkommen glückseliges
Leben höher sei „als es dem Menschen als Menschen“ zukommt. Und ich denke, wir
können Aristoteles und Kant getrost darin zustimmen. Nun heißt dies vor dem Hintergrund
der kantischen Konzeption des Zusammenhanges zwischen Tugend und Glückseligkeit
aber nichts anderes als: Wenn auch „die völlige Angemessenheit der Gesinnung zum
moralischen Gesetze“ als das „unaufhörliche Streben“ zur „pünktlichen und
durchgängigen Befolgung“ des moralischen Gesetzes als eine Möglichkeit endlicher
Vernunft gedacht wird, wäre ihr die tatsächlich „pünktliche und durchgängige Befolgung“
desselben unmöglich. 248 Andernfalls wäre es unverständlich, warum vollkommene
Glückseligkeit einer endlichen Vernunft nicht zuteil werden kann. Genau in diesem Sinne
246
Ebd., Seite 256.
Kant KrV (1956), Seite 683.
248
Vgl. Kant KpV (1956), Seite 252f.
247
95
schreibt Kant: „Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze ist
Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte
seines Daseins, fähig ist.“249
Nun stellt sich aber die Frage, wie endliche Vernunft es sinnvoll als ihre eigene Pflicht
verstehen kann, sich die „völlige Angemessenheit des Willens“ zum moralischen Gesetz
als Ziel ihrer „Gesinnung“ zu setzen, wenn ihr zugleich die Erfüllung desselben unmöglich
ist. Kann dieser Widerspruch nicht aufgelöst werden, so ist die „eigene Vollkommenheit“
als eine vernünftige Zielsetzung zu verwerfen, weil ein unerfüllbares Ziel kein wirkliches
Ziel sein kann. „Die völlige Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen Gesetze“ als
das Streben nach der „eigenen Vollkommenheit“ wäre praktisch-theoretisch
unverständlich, geschweige denn als Pflicht anerkennungsfähig. Kant muss die
Möglichkeit der „eigenen Vollkommenheit“ für seine Ethik jedoch voraussetzen. Dies
kann er schließlich nur über die Ent-Endlichung der Vernunft im Postulat der
„Unsterblichkeit der Seele“. „Da sie [die Vollkommenheit; T. W.] indessen gleichwohl als
praktisch notwendig gefordert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden
Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist, nach
Prinzipien der reinen praktischen Vernunft, notwendig, eine solche praktische
Fortschreitung als das reale Objekt unseres Willens anzunehmen. Dieser unendliche
Progressus ist aber nur unter der Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden
Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die
Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich. Also ist das höchste Gut, praktisch, nur unter der
Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich; mithin diese, als unzertrennlich mit
dem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat der reinen praktischen Vernunft [...].“250
So versucht Kant die „eigene Vollkommenheit“ in einem die Unsterblichkeit der Seele
voraussetzenden „ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit“
als Möglichkeit vernünftigen Handelns praktisch-theoretisch aufrecht zu erhalten.251
Anders als das Gottespostulat scheint mir dieser Schritt jedoch völlig ins Leere zu laufen.
Nicht deshalb, weil die „Unsterblichkeit der Seele“, was immer genau darunter zu
verstehen wäre, als empirisch widerlegt gelten muss. Sondern weil die Vorstellung eines
„ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit“ in sich
inkonsistent ist. Denn auch eine unendliche Annäherung ist keine Erfüllung der völligen
Angemessenheit. So bliebe es selbst in einer unendlichen Fortdauer der Existenz dabei,
dass wir moralisch zu etwas aufgefordert wären, das wir niemals erfüllen können. Kant
widerspricht sich selbst, wenn er auf der einen Seite fordert, dass die „völlige
Angemessenheit“ möglich sein soll, auf der anderen Seite jedoch die Unmöglichkeit, diese
249
Ebd., Seite 252.
Ebd.
251
Ebd.; vgl. auch 143f.
250
96
in unserer „Sinnenwelt“ vollkommen zu erreichen, „ins Unendliche“ verlängert, um am
Ende diesen Widerspruch in einer göttlichen, die Unendlichkeit umfassenden Anschauung
aufzulösen, in der jener unendlichen Unmöglichkeit völliger Angemessenheit dann doch
irgendwie die Eigenschaft zukommt, „völlig adäquat zu sein“.252 Auch für einen Gott,
noch dazu einen, der, wie Kant sagt, ohne „Nachsicht und Erlassen“ schaut, kann nicht aus
einer unendlichen Unmöglichkeit der völligen Angemessenheit eine völlige
Angemessenheit werden. Kants Argument ist nicht konsistent und leistet allein schon aus
diesem Grund nicht das, was es bezwecken soll 253 : die objektive und unbedingte
Gültigkeit, die Wahrheit des moralischen Gesetzes praktisch-theoretisch dadurch
abzusichern, dass die Möglichkeit der Erfüllung desselben konsistenztheoretisch plausibel
gemacht wird.254
Kant hätte in seinem Festhalten an dem Anspruch „völliger Angemessenheit“ einerseits
und der Unmöglichkeit, diesem in unserem endlichen Leben gerecht zu werden,
andererseits viel eher deutlich machen müssen, wie sich unser angenommenes Dasein nach
dem Tod verändert, so dass wir schließlich doch die Möglichkeit haben, jenen Anspruch
zu erfüllen. Darüber hinaus hätte er erklären müssen, in welchem Verhältnis unser
endliches Dasein zu dieser Veränderung steht, sodass deutlich wird, inwiefern der
moralische Anspruch schon in unserem endlichen Leben unbedingte Relevanz entfalten
kann. Für eine solche Lösung der Problematik hätte Kant allerdings einen tiefen Zug aus
der Pfeife metaphysischer Dichtkunst nehmen müssen, was ihm sicherlich nicht nur
Unbehagen bereitet hätte, sondern was er, und zumindest für die Wissenschaft zu Recht,
zutiefst ablehnte. So blieb ihm nichts übrig, als die für unser endliches Leben
angenommene Unmöglichkeit „völliger Angemessenheit“ in die Unendlichkeit zu
verlängern und den damit ebenfalls in die Unendlichkeit verlängerten Widerspruch
vorgeblich in einer göttlichen, zeitlosen Schau aufzulösen, welche uns unter der
Bedingung der Zeit lebenden Menschen verwehrt sei. An dieser Stelle entpuppt sich das
vermeintliche Argument nicht als eine Auflösung des Widerspruchs, sondern als eine
Verdrängung und Verklärung desselben im Namen des „Unendlichen“.255 Das kann nicht
gut gehen.
Es ist in gewisser Weise bezeichnend, dass Kant seine Verklärung dieses Widerspruchs
durch eine Nutzenerwägung ergänzt. „Der Satz von der moralischen Bestimmung unserer
Natur, nur allein in einem ins Unendliche gehenden Fortschritte zur völligen
Angemessenheit mit dem Sittengesetz gelangen zu können, ist von dem größten Nutzen,
nicht bloß in Rücksicht auf die gegenwärtige Ergänzung des Unvermögens der
252
Ebd., Seite 254.
Andere Kritikpunkte gegenüber Kants Konzeption der Unsterblichkeit können darüber hinaus
angebracht werden; vgl. Kleingeld (1995), Seite 156.
254
Vgl. Kant KpV (1956), Seite 242f.
255
Vgl. ebd., Seite 253.
253
97
spekulativen Vernunft, sondern auch in Ansehung der Religion.“256 Der Nutzen liegt für
Kant zum einen darin, dass durch einen in praktischer Hinsicht notwendig anzunehmenden
unendlichen Fortschritt die Postulierung der „Unsterblichkeit der Seele“ gerechtfertigt
würde, wozu die „spekulative“ oder „theoretische Vernunft“ niemals hinreiche. Zum
anderen liegt der Nutzen in der Disziplinierung des endlichen Willens. Denn was Kant
weiter zum Stichwort der „Religion“ ausführt, zielt darauf, dass die Annahme eines im
endlichen Dasein unmöglich zu erfüllenden und einen unendlichen Fortschritt
voraussetzenden Gesetzes mögliche Vorstellungen von einer „nachsichtlichen“ Moral auf
der einen und „theosophische Träume“ von einem „völligen Erwerb der Heiligkeit des
Willens“ auf der anderen Seite vereiteln würde, „durch welches beides das unaufhörliche
Streben, zur pünktlichen und durchgängigen Befolgung eines strengen unnachsichtlichen,
dennoch aber nicht idealischen, sondern wahren Vernunftgebots, nur verhindert wird“.257
Haben hier das Ziel, die Behauptung der „Unsterblichkeit der Seele“ rechtfertigen zu
können, und ein vermeintlicher psychologischer Nutzen Kant zur begrifflichen Verklärung
anstatt zur konsistenten Aufklärung des Widerspruchs motiviert?
Es gibt meines Erachtens zwei Möglichkeiten, mit dem aufgezeigten Widerspruch
umzugehen. Eine Möglichkeit besteht darin, die völlige Angemessenheit der
Unangemessenheit in dem Sinne zu interpretieren, dass es für unser Dasein völlig
angemessen ist, die völlige Angemessenheit unseres Willens zum moralischen Gesetz
nicht zu erreichen. Wollte man dabei überhaupt noch an Kants moralischem
Vollkommenheitsanspruch festhalten, so könnte dies, anders als dieser meinte, nur mit
„Nachsicht“ und „Erlass“ einhergehen. Auch bräuchte es für ein solches Verständnis
weder die Vorstellung eines „ins Unendliche gehenden Progressus“ noch die für diesen
vorauszusetzende Unsterblichkeit der Seele. Wenn es für uns in unserem Dasein völlig
angemessen ist, dem moralischen Gesetz nicht völlig angemessen zu sein, entfällt die
Notwendigkeit nach einer argumentativen Vermittlung zwischen dem Anspruch der
Vollkommenheit und der Unmöglichkeit dieser in einem endlichen Leben gerecht zu
werden. In dieser Auflösung des Widerspruchs ist letztlich kein Platz für eine unbedingte
Geltung des kantischen moralischen Gesetzes. Ist die Erfüllung des moralischen Gesetzes
nicht möglich, kann dieses aus praktisch-theoretischer Sicht keine objektive und
unbedingte Gültigkeit für uns besitzen. Es könnte maximal, was Kant bestreitet, als ein
Ideal, nicht aber als ein „wahres Vernunftgebot“ verstanden werden.258
Die zweite und, wie ich weiter unten zu zeigen mich bemühen werde, sinnvollere
Möglichkeit der Auflösung des Widerspruchs besteht darin, die Unmöglichkeit der
„völligen Angemessenheit“ als, und hier kann man der wortwörtlichen Formulierung
256
Ebd.
Vgl. ebd.
258
Vgl. ebd., Seite 253.
257
98
Kants folgen, Unmöglichkeit der „völligen Angemessenheit“ zu einem „Zeitpunkte“ zu
verstehen.259 Das moralische Gesetz kann nur im Vollzug völlig erfüllt werden. Kant selbst
nennt „das unaufhörliche Streben, zur pünktlichen und durchgängigen Befolgung eines
strengen unnachsichtlichen, dennoch aber nicht idealischen, sondern wahren
Vernunftgebots“ als Modus der Erfüllung.260 Man kann dem moralischen Gesetz nicht
dadurch völlig genügen, dass man sich diesem allein zu einem bestimmten Zeitpunkt
angemessen verhält. Diese situative Angemessenheit zu einem Zeitpunkt ist zwar
notwendig, nicht aber hinreichend für eine „völlige Angemessenheit“. Letztere ist nur als
durchgängige Erfüllung im modus sufficiens denkbar. In diesem Verständnis ergibt sich
erst gar kein Widerspruch zwischen dem Anspruch „völliger Angemessenheit“ und der
Unmöglichkeit, diesem zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres endlichen Lebens völlig
gerecht zu sein. Es ist eben nur möglich, dem Anspruch völlig gerecht zu werden. Das
moralische Gesetz wird als ein Vollzugsziel gedacht.
Natürlich kann ein solches Gerecht-Werden auch in einem modus meliorativus seinen
Vollzug finden, soweit situative Angemessenheit nicht erreicht ist. Aber ein modus
meliorativus als ein, wie Kant schreibt, „Progressus ins Unendliche, von den niederen zu
den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit“ kann nicht nur nicht zu „völliger
Angemessenheit“ führen, sondern negiert von vorne herein selbst die Möglichkeit
situativer Angemessenheit. 261 Denn der modus meliorativus setzt situative
Unangemessenheit voraus. Kann diese aber selbst in einem unendlichen „Progressus“ nicht
überwunden werden, was für die Vorstellung einer unendlichen Bewegung im modus
meliorativus vorauszusetzen wäre, dann bleibt also bereits die situative Angemessenheit
außerhalb unserer Möglichkeiten. Es wäre ein Ziel, dem weder situativ noch durchgehend
angemessen entsprochen werden könnte, und das aus diesem Grund nicht nur keine
unbedingte Geltung, sondern überhaupt keine praktische Relevanz besitzen könnte, ja
praktisch-theoretisch überhaupt nicht als Ziel zu begreifen wäre.
Nur wenn die situative Angemessenheit als möglich gedacht wird, und wenn die
Unmöglichkeit der völligen Angemessenheit zu einem Zeitpunkt des endlichen Daseins
nichts anderes heißt, als dass ein Vollzugsziel, als welches hier das moralische Gesetz
verstanden wird, eben nicht zu einem Zeitpunkt abschließend erfüllt werden kann, dann
lässt sich der Widerspruch als ein scheinbarer auflösen und das moralische Gesetz könnte
tatsächlich als ein „wahres Vernunftgebot“ begriffen werden. Es wäre von der
durchgängigen Möglichkeit situativer Angemessenheit auszugehen, die in ihrer
„unaufhörlichen“ und „durchgängigen“ Verwirklichung zu völliger Angemessenheit
entwickelt werden könnte. Und will man unter „völliger Angemessenheit“ nicht eine
259
Vgl. ebd., Seite 252, 253f.
Ebd., Seite 253.
261
Ebd.
260
99
solche verstehen, die das gesamte Leben von der Geburt bis zum Tode andauert, um nicht
demjenigen, der einmal vom moralischen Gesetz abgewichen ist, dieses Ziel als
unerfüllbares auf immer zu entziehen, so kann das nur heißen: Das moralische Gesetz ist
als ein Vollzugsziel zu verstehen, dessen völlige Erfüllung als Möglichkeit durchgehender
situativer Angemessenheit von einem beliebigen Zeitpunkt endlichen Daseins aus bis zum
Tode hin immer wieder neu zu denken ist. Auch für ein solches Verständnis des
moralischen Gesetzes bräuchte es weder einen „ins Unendliche gehenden Progressus“
noch eine für diesen vorauszusetzende „Unsterblichkeit der Seele“.
Man kann sich nun fragen, was Kant daran gehindert hat, sich auf eine der beiden
aufgezeigten Möglichkeiten zur Auflösung des Widerspruchs einzulassen. Dass beide auf
ihre Weise die teleologische Suffizienz-Bedingung berücksichtigen, hätte für Kant wohl
kaum ein Argument gegen diese sein können. Die erste hätte er wahrscheinlich deshalb
abgelehnt, weil sie letztlich auf einen moralischen Relativismus hinausläuft. Für die zweite
Möglichkeit aber gilt dies nicht. Was also hielt Kant auch von dieser zweiten
Lösungsmöglichkeit ab? Hier fällt zunächst ins Auge, dass diese, genau wie die erste, ohne
das Postulat der „Unsterblichkeit der Seele“ auskommt, also einem jener Aspekte, für
welche die Annahme eines „ins Unendliche gehenden Progressus“ nach Kant „von dem
größten Nutzen“ sei. Die schon angedeutete Vermutung, dass Kants Philosophie von dem
Ziel motiviert gewesen sein könnte, eine Rechtfertigung für die Annahme der
„Unsterblichkeit der Seele“ zu finden, könnte in diesem Zusammenhang noch einmal
verstärkt und etwa mit Blick auf jenen Zusatz von 1787 in der Einleitung zur Kritik der
reinen Vernunft erhärtet werden: „Und gerade in diesen letzteren Erkenntnissen, welche
über die Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden, noch Berechtigung
geben kann, [...] die wir, der Wichtigkeit nach, für weit vorzüglicher, und ihre Endabsicht
für viel erhabener halten, als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen
kann, wobei wir, sogar auf die Gefahr zu irren, eher alles wagen, als daß wir so angelegene
Untersuchungen aus irgendeinem Grunde der Bedenklichkeit, oder aus Geringschätzung
und Gleichgültigkeit aufgeben sollten. Diese unvermeidlichen Aufgaben der reinen
Vernunft selbst sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit [Hervorhebung im Original; T.
W.].“262 Man muss nicht von diesen „unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft“
ablassen, um zugestehen zu können, dass Kant irrte, wenn er meinte, durch den „ins
Unendliche gehenden Fortschritte“ ein Argument für die Rechtfertigung der Annahme der
„Unsterblichkeit der Seele“ gegeben zu haben.
Aber selbst wenn man von der zumindest nicht völlig abwegigen Vermutung einer solchen
Motivierung der kantischen Philosophie absieht, so gibt es einen zweiten Gesichtspunkt,
der ihn auch dann noch an einer Auflösung des Widerspruchs gehindert haben würde.
Dabei geht es um die vollkommene Glückseligkeit, die nach Kant das „höchste Gut“, „das
262
Kant KrV (1956), Seite 49.
100
notwendige Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ erst
vollendet.263 Denn solange man mit Kant erstens an der Glückseligkeit, von der er mit
Aristoteles übereinstimmend und zu Recht meinte, dass sie im endlichen Leben nicht zu
erreichen sei, als einem Teilaspekt praktischer Zwecksetzung festhält, und zweitens das
Erlangen derselben in genauer Proportionalität von der Angemessenheit des Willens zum
moralischen Gesetz abhängen lässt, dann muss vor diesem Hintergrund auch die Erfüllung
des letzteren als für ein endliches Leben unmöglich erreichbar konzipiert werden.
Natürlich könnte man nun weitere Überlegungen dazu anstellen, inwiefern Kants
Festhalten am Begriff der Glückseligkeit mit dem möglichen Motiv der Rechtfertigung der
Unsterblichkeits-Annahme in Zusammenhang steht. Man könnte argumentieren, dass er
die Glückseligkeit instrumentalisierte. Im Zusammenhang mit dem moralischen Gesetz
hätte er die Glückseligkeit als etwas im endlichen Leben nicht zu Erreichendes dann dafür
gebraucht, um einen unendlichen Fortschritt in moralischer Hinsicht voraussetzen und die
„Unsterblichkeit der Seele“ postulieren zu können. Die Glückseligkeit als
Erfüllungsgehilfe der Unsterblichkeit? Weiter war es ja auch die Glückseligkeit bzw. das
Problem ihrer zur Glückswürdigkeit proportionalen Austeilung, das zum Postulat der
Existenz Gottes geführt und damit nach Kant zur Auflösung einer weiteren jener
„unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft“ beigetragen hat. Vielleicht war es aber
auch anders herum Kants primäres, praktisch-philosophisches Festhalten an dem
aristotelischen Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit, das ihn erst sekundär zu
den Postulaten von der „Unsterblichkeit der Seele“ und der „Existenz Gottes“ führte.
Wie dem auch sei, ob von Kant instrumentalisiert oder nicht, es ist die beschriebene
Engführung von Moral und Glückseligkeit, die dazu führt, dass die Erfüllung des
moralischen Gesetzes prinzipiell der Reichweite endlicher Praxis entzogen wird, und Kant
dazu Anlass gibt, in seinem Versuch einer praktisch-theoretischen Plausibilisierung des
moralischen Anspruches jene haltlose Formulierung eines unendlichen Fortschritts im
modus meliorativus zu konstruieren. Der Begriff eines unendlichen Fortschritts im modus
meliorativus ist systematisch unhaltbar, damit einhergehend aber auch jegliches durch
einen solchen vermeintlich zu erreichendes Ziel, und damit wiederum die Vorstellung
eines Gesetzes, das ein nur so zu erreichendes Ziel zum „notwendigen Objekt“ hat. Mit
Kants eigenen Worten lässt sich schließlich folgern: Damit aber „ist also das höchste Gut
nach praktischen Regeln unmöglich“ und „so muß auch das moralische Gesetz, welches
gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt,
mithin an sich falsch sein.“ 264 Kants Philosophie hält dem von ihm selbst gesetzten
Prüfstein der teleologischen Suffizienz-Bedingung nicht stand. Genauso wenig wie
Aristoteles schafft es Kant, die Glückseligkeit praktisch-theoretisch als Ziel tugendhaften
bzw. moralischen Handelns zu plausibilisieren. Und sein Festhalten an der Glückseligkeit
263
264
Ebd., Seite 252.
Siehe Kant KpV (1956), Seite 242f.
101
disqualifiziert schließlich auch das moralische Gesetz, das genauso wie die aristotelische
Klugheit nicht dazu hinreicht, eine endliche Vernunft der Glückseligkeit teilhaftig werden
zu lassen.
... zurück zu Hegel
Kant hat mit seiner Aussage Recht, dass vollkommene Glückseligkeit etwas ist, dessen
wir, wenn überhaupt, nur in einem Dasein nach dem Tode teilhaftig zu werden hoffen
können. Auch Aristoteles hätte sich damit einverstanden geben können, wenn auch mit der
Bemerkung, dass er das Postulat der „Unsterblichkeit der Seele“ ablehne und eine diese
voraussetzende Hoffnung deshalb als illusorisch ansehe. Auch hat Kant in seiner Kritik an
Aristoteles Recht damit, dass der Glückseligkeitsbegriff im Zusammenspiel mit der
Klugheit nicht zur Orientierung endlicher Vernunft dienen kann. Sein Versuch, eine solche
Orientierung in einem moralischen Gesetz zu finden, muss jedoch in dem Moment
scheitern, in dem er die Erfüllung desselben in genauer Proportion zur Glückseligkeit setzt
und so die endliche Unerreichbarkeit der letzteren auf die erstere überträgt. Der einzige
Ausweg, der ihm bleibt, ist, auf irgendeine Art und Weise die endliche Vernunft über den
Tod hinaus existieren zu lassen, damit sie etwas sinnvoll als ein praktisches Ziel verstehen
kann, dessen endliche Verwirklichung unmöglich ist. Eine solche Annahme bedürfte aber
weiterer Annahmen über die Eigenart dieses nachtodlichen Daseins und dessen Verhältnis
zum endlichen Dasein, sodass verständlich wird, wie die Verwirklichung schließlich
möglich ist und warum es schon im endlichen Dasein darum gehe, jenes endlich nicht zu
verwirklichende Ziel zu verfolgen. Die von Kant vorgeschlagene Verunendlichung der
endlichen Unmöglichkeit reicht nicht aus und ist begrifflich inkonsistent. Aber auch
unabhängig von dieser Inkonsistenz, hätte sich Kant von solcherlei Spekulation über die
Eigenart eines nachtodlichen Daseins fernhalten sollen.
Die Möglichkeit eines Daseins nach dem Tod muss nicht bestritten werden, um einsehen
zu können, dass wir ganz gewiss in unserem endlichen Dasein keine Erfahrungen haben,
die uns dazu berechtigen, etwa von einer unendlichen Zeitlichkeit eines möglichen
nachtodlichen Daseins oder von einer dann gegebenen moralischen Perfektibilität
auszugehen. Wenn es uns empirisch auch versagt ist, die Möglichkeit eines Daseins nach
dem Tode zu falsifizieren, so sollte diese Unmöglichkeit nicht als Freifahrtschein dafür
genommen werden, willkürlich formulierte Ansprüche an die endliche Vernunft, welche
zu einer Überspannung derselben führen, durch ein nachtodliches Dasein theoretisch
rechtzufertigen zu suchen. Wenn Kant meint, dass diejenigen, die von einer im endlichen
Dasein möglichen Erfüllung des „moralischen Gesetzes“ ausgehen, das „Vermögen des
Menschen [...] über alle Schranken hoch gespannt“ haben und etwas annehmen, „das aller
Menschenkenntnis widerspricht“, so kann er dies nur sagen, weil er zuvor seine
Vorstellung vom „moralischen Gesetz“, nicht zuletzt in der Verknüpfung zur
102
Glückseligkeit, selbst so hoch gehängt hat, dass sie für ein endliches Leben unerreichbar
sein muss.265 Nicht die anderen, sondern er selbst überspannt den Bogen. Anders als Kant
halte ich es nicht für „schwärmende, de[r] Selbsterkenntnis ganz widersprechende
theosophische Träume“, sondern für eine praktisch-theoretische Notwendigkeit, dass ein
Gesetz, dem zu entsprechen endliche Vernunft sich aufgefordert verstehen können soll,
von dieser auch erfüllt werden kann, ohne dass sie dafür ihre Verunendlichung annehmen
müsste.266
Die in Auseinandersetzung mit Aristoteles und Kant gewonnenen Befunde lassen es
schließlich ratsam erscheinen, den Glückseligkeitsbegriff im Rahmen praktischer
Handlungsziele fallen zu lassen. Auf der Suche nach einem praktisch relevanten
Fortschrittsbegriff kann uns weder die aristotelische eudaimonia noch Kants „höchstes
Gut“ richtungsweisend sein. Ob Kant mit seinem Bezug auf das „moralische Gesetz“
vielleicht dennoch einen zu diskutierenden Ansatzpunkt für eine Orientierung des
Fortschrittsbegriffes gegeben hat, wird noch zu untersuchen sein. Zumindest ist ein
„moralisches Gesetz“, das in der aufgezeigten Weise an den Begriff der Glückseligkeit
gekoppelt ist, nicht hilfreicher als die Glückseligkeit selbst. Nach der zeitlichen
Verwirklichung der zeitlich nicht zu verwirklichenden Glückseligkeit bzw. des „höchsten
Gutes“ zu streben, ist ein äußerst unbefriedigendes Unterfangen und steht dem, was durch
dieses Streben erreicht werden soll, geradewegs entgegen. Ein solches Streben würde nicht
nur nicht zu einem „glückseligen“, sondern noch nicht einmal zu einem „befriedigenden
Leben“ führen. Die Sehnsucht nach einem glückseligen Leben, in dem nach Aristoteles
„nichts [...] unvollkommen sein [darf]“ oder mit Kants Worten „alles nach Wunsch und
Willen geht“267, wird, wenn sie sich bewusst oder unterbewusst als etwas zeitlich zu
Verwirklichendes mit unseren praktischen Zielen verbindet, vielmehr zum Nährboden
lebensfeindlicher Reflexe, die bis zu politisch verheerenden Einstellungen und
Überzeugungen hin auswachsen können. Wer die Unvollkommenheit der Spannung des
Lebens zwischen Souveränität und Machtlosigkeit nicht als etwas versteht, was es zu
halten, sondern was es aufzulösen gilt, wendet sich gegen die Natur unseres endlichen
Daseins.
Pinkard zufolge war dies auch Hegels Einsicht: „On Hegel´s view, which only really
comes to full display in his Berlin lectures in the 1820s, one of the deeper pathologies of
modern European life is its widespread failure to come to grips with these tensions
inherent in that form of life and that, rather than seeking a sublation of those tensions
within a more comprehensive vision of self-interpreting agency and in the limited although
necessary aspirations of political and social life, a large element within it instead longs for
265
Ebd., Seite 258.
Ebd., Seite 253.
267
Aristoteles NE (2001), Seite 443; Kant KpV (1956), Seite 255.
266
103
some state of resolved tension, a new golden age or a utopia yet to come, which, instead of
sublating these tensions, seeks to overcome them or transcend them. The way this demand
for reconciliation and this feature of life feed on each other is itself the basis of the
perpetual temptation to push toward the disaster that lies in any attempt to fashion a
politics that would make us completely whole again.“268 Man muss Aristoteles und Kant in
diesem Zusammenhang zugute halten, dass sie beide deutlich darauf hinwiesen, dass
Glückseligkeit nichts ist, was wir in der Endlichkeit erreichen könnten. Zur Rechtfertigung
in der Endlichkeit zu realisierender Glückseligkeitsverheißungen lassen sie sich also nicht
instrumentalisieren. Dennoch bleibt es dabei, dass sich beide auf ihre Weise dafür
aussprechen, dass es für die endliche Vernunft darum geht, nach der zeitlichen
Verwirklichung von Glückseligkeit und damit nach einer Auflösung der Spannung des
unvollkommenen, endlichen Lebens zu streben, auch wenn man diese in der Endlichkeit
nicht zu erreichen vermag. Dies ist nicht nur im Hinblick auf die begriffliche Praxis eine
unbefriedigende Position. Wenn es zu entscheiden gilt zwischen den praktischen
Zielsetzungen der Glückseligkeit bzw. des „höchsten Gutes“ auf der einen Seite, die weder
zu einem glückseligen noch zu einem befriedigenden Leben führen, und der
„Befriedigung“ im Pinkard-Hegelschen Sinne auf der anderen Seite, die eine realistische
Chance auf Erfüllung hat, so ziehe ich entschieden die letztere vor.
Trotz all der Kritik an Aristoteles und Kant in Bezug auf die Glückseligkeit, wäre es
meines Erachtens vermessen und dem eigenen Erleben widersprechend, so zu tun, als ob
diese damit nicht etwas tief in unserer Natur Verwurzeltes angesprochen hätten. Das
Empfinden von Glück ist ein überaus wichtiger Aspekt unseres Lebens. Wir sind nicht nur
glücksfähig, sondern auch glücksbedürftig. Keine noch so volle sinnliche oder soziale
„Befriedigung“ kann uns die auf Sinnlichkeit und sozialen Status nicht reduzierbare Lust
am Leben, die wir auch Freude oder eben Glück nennen können, ersetzen. Zumeist
entfaltet dieses Glück ganz versteckt seine Wirkung, kann aber hier und da und immer mal
wieder in den Vordergrund treten, um dann jäh wieder in den Hintergrund zu rücken, von
wo aus es unbemerkt das Leid des Lebens zu tragen hilft. Und mir erscheint es so, dass
Glückseligkeit nichts anderes meint als das pure, durch nichts getrübte Lebensglück. Doch
wie soll das in unserem endlichen und unvollkommenen Dasein möglich sein. Wie sollte
die Verwirklichung eines solchen Purismus in der unvollkommenen Endlichkeit gelingen.
Man könnte denken, durch Reduzierung von Leid. Doch der Glücks-Purismus kennt nicht
die Grenze, an der das Ziel der Verringerung von Leiden sich auf Leid bringende Weise
gegen die Leid verursachenden und empfindenden Wesen selbst zu richten beginnt. Das
Ziel der Verringerung von Leiden ist eines, das Ziel des Glücks-Purismus etwas anderes.269
268
269
Siehe Pinkard (2012), Seite 174f.
Auf dieses Problem werden wir weiter untern noch einmal zurückkommen, vgl. Seite 142 dieser Arbeit.
104
Wenn ich mich hier deutlich gegen eine teleologische Bestimmung des
Fortschrittsbegriffes durch den Begriff der Glückseligkeit bzw. des „höchsten Gutes“ und
für den Begriff der „Befriedigung“ ausspreche, so heißt dies jedoch mitnichten, dass hier
an einem Fortschrittsverständnis gearbeitet wird, welches mit dem Begriff des Glücks
überhaupt inkompatibel wäre. Dies ist nicht der Fall. Man muss keine „Feindschaft“ oder
generelle „Abstinenz“ gegenüber dem Glücksbegriff hegen, um zu verstehen, dass nicht
nur die Glückseligkeit, sondern auch das unvollkommenere und sehr wohl erlebbare
zeitliche Glück nicht im Sinne eines in der Zeit zu verwirklichenden Zieles dienen kann.270
Mit Dieter Thomä bin ich der Meinung, dass einen gerade die Auseinandersetzung mit
dem Glück zu der Erkenntnis gelangen lässt, „dass es nämlich nicht geschaffen wird,
sondern zuteil wird. Beim Liebäugeln mit dem Glück bezieht man sich auf etwas, das den
Zugang verwehrt, wenn man es in den Griff bekommen will.“271 Mit der Absage an den
Glücksbegriff als Zielbestimmung des Fortschritts ist die Vorstellung völlig vereinbar,
dass dieser mit dem Erleben von Glück einhergehen kann. Aber Glück kann eben nicht
sinnvoll als ein praktisches Ziel begriffen werden, und deshalb dem Fortschrittsbegriff
auch keine praktische Richtung geben. Es geht beim Fortschritt nicht darum, Glück
herzustellen oder zu verwirklichen. Nicht weil Glück etwas wäre, dessen wir nicht
bedürften und das wir nicht begrüßen sollten, wenn es sich einstellt, sondern weil es sich
einer vorsätzlichen Herstellung entzieht. Glück kann nicht kreiert werden.
Und gerade in dieser Einsicht liegt eine gewisse Glücksträchtigkeit. „Das dualistisch
verspannte Bild subjektiver Zielsetzungen und objektiver Bedürftigkeiten in der Moderne
führt dazu, daß vom Glück, von dem doch nicht gelassen werden kann, Zerrbilder
entworfen werden. Das moderne Konzept selbstbestimmten Lebens hadert mit dem
glücklichen Lebensvollzug, dem glücklichen Eingelassensein in das Leben, und so gleitet
ihm das Glück durch die Finger. Diejenigen, die ihm dann um so hartnäckiger nachjagen,
bemerken nicht, daß sie es nur weiter vor sich her und von sich weg treiben. Wenn man
sich statt dessen in die Unverfügbarkeit des Glücks findet, so heißt dies auch, daß man die
Tatsache dieser Unverfügbarkeit selbst zu genießen bereit ist. Sie gehört geradewegs zum
Glücke selbst. Das Glück hängt an dem Selbst, das sich dessen erfreut und damit im reinen
ist, sich nicht vollends im Griff zu haben.“272 Und wenn dieses Damit-im-Reinen-Sein,
„sich nicht vollends im Griff zu haben“ letzlich auf nichts anderes verweist, als was man
mit Pinkard als Selbsterkenntnis und Anerkennung der eigenen Natur als einer Spannung
zwischen Souveränität und Machtlosigkeit bezeichnen kann, die es zu halten gilt, dann
sollte dieser Hinweis genügen, um deutlich zu machen, an welcher Stelle das Glück in dem
noch weiter zu entwickelnden Fortschrittsbegriff sogar seinen systematischen Platz erhält.
270
Die Begriffe „Feindschaft“ und „Abstinenz“ im Zusammenhang mit dem Glück übernehme ich aus
Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, Seite 12.
271
Ebd., Seite 267.
272
Ebd., Seite 269.
105
Nur sollte man eben nicht meinen, die Spannung des eigenen Lebens deshalb halten oder
in den Griff bekommen zu können, weil man glücklich sein will, noch, dass ein In-denGriff-Bekommen der Spannung schon auch bedeutet, glücklich zu sein. Das In-den-GriffBekommen der Spannung ist primär ein Tun, ist Tätigkeit. Und „natürlich findet man im
Zusammenhang mit dem Glück an vorderer Stelle Lebensformen, die mit Schaffensdrang
und tätiger Erfüllung verbunden sind. Doch das Glück fällt damit nicht einfach zusammen,
mit ihm ist vielmehr eine unaufhebbare Differenz zu einem rein tätigen Selbstverständnis
festgeschrieben.“273
Es handelt sich hierbei nicht um ein auf die Kritik folgendes, ehrerbietiges Zugeständnis
an zwei Größen der menschlichen Geistesgeschichte. Denn wenn ich auch dem Glück
abspreche, dem Fortschrittsbegriff eine Orientierung geben zu können, so heißt dies nicht,
dass in der Bestimmung des letzteren auf das erstere gänzlich verzichtet werden könnte.
Denn mit dem Glück ist ein Erleben angesprochen. Der Kern dieses Erlebens drückt sich
meines Erachtens in positiven und negativen Empfindungen aus, zu denen eben auch das
Glück als die positivste, wenn auch nicht unbedingt aufdringlichste aller Empfindungen
gehört. Dieses Erleben ist nicht nur kompatibel mit dem Fortschrittsbegriff, sondern es
gehört sogar zu dessen Bestimmung, insoweit es zur Charakteristik derjenigen Subjekte
gehört, für die der Fortschrittsbegriff überhaupt Relevanz besitzt, die also die Subjekte von
Fortschritt sind und sich als solche verstehen können. Ohne dieses Erleben würde die
Formulierung einer „guten Entwicklung“ höchstens funktionalen Sinn haben können. Aber
funktionale Subjekte, von denen man zum Beispiel im Zusammenhang von künstlicher
Intelligenz sprechen kann, stehen ihrem Tun und ihrer Entwicklung letztlich indifferent
gegenüber. Ihre Existenz geht sie auf dieser fundamentalen Ebene nichts an, sie ist ihnen
egal. Sie haben keine Lust am Dasein, sie empfinden weder Freude noch Glück, und auch
kein Leid. Wenn es jemals eine künstliche Intelligenz geben könnte, die erleben würde –
was ich stark bezweifele, hier aber nicht weiter diskutieren kann –, dann könnte sie sehr
wohl zu den Fortschrittssubjekten gezählt werden.
Ohne positives und negatives Erleben könnte die Spannung, die es im Rahmen des
Fortschrittsbegriffs in den Griff zu bekommen gilt, überhaupt nicht in den Blick kommen.
Ein Roboter kann zwar bestimmte Ziele verfolgen und Lernprozesse durchlaufen, aber sie
bedeuten ihm nichts. Und mag er selbst seine Ziele und seine Erfolge bzw. Misserfolge
operativ reflektieren, so aber leidet er weder, wenn er seine Ziele nicht erreicht, noch freut
er sich, wenn er sie erfüllt. Er hat kein unbefriedigendes oder befriedigendes Erleben. Aus
funktionaler Sicht mag es für einen Roboter ein „Gut“ oder „Schlecht“ geben, nicht aber
aus phänomenaler Sicht. Phänomenalität bedeutet primär Erleben, nicht Reflexivität. Ein
funktionales Subjekt erlebt sich selbst nicht als Subjekt einer guten oder schlechten
Entwicklung und kann sich damit auch nicht als Subjekt eines Fortschritts, einer „guten“
273
Ebd., Seite 267.
106
bzw. „befriedigenden“ Entwicklung wahrnehmen. Nur erlebende Subjekte sind Subjekte
des Fortschritts. Und wenn es im Fortschritt im Sinne eines „befriedigenden Lebens“
darum geht, die phänomenale Spannung, die das Leben dieser Subjekte ausmacht, in den
Griff zu bekommen, zählt es wahrscheinlich zu einer der schwersten Übungen, das Glück
unausweichlich zu begrüßen, nicht aber kreieren zu wollen. Aristoteles und Kant haben
dieser Versuchung zumindest auf der Ebene begrifflicher Praxis, soweit ich sehe, nicht
widerstanden und blieben insoweit nicht hinreichend gespannt.
Es sollte nun deutlich sein, worin die Leistung des Begriffs der „Befriedigung“ besteht,
wie Pinkard ihn in der Auseinandersetzung mit Hegel herausgearbeitet hat. Er gibt uns
nicht nur eine alternative Zielformulierung zu jener in unserer erlebenden Natur
wurzelnden und aus dieser erwachsenden Glückssuche, die einen, je sehnsüchtiger sie
betrieben wird, umso unbefriedigender zurücklässt. Er befreit uns nicht nur von den mit
dieser Glückssuche verbundenen begrifflichen Unzulänglichkeiten und Inkonsistenzen
sowie den die endliche Vernunft überfordernden Ansprüchen. Sondern er schafft es auch,
das Glück im hegelschen Sinne in sich aufzuheben. Mit dem Begriff der „Befriedigung“
wird das Glück nicht aus dem Fortschritt verbannt, sondern erhält einen systematischen
Platz. 274 Wir haben einen kurvenreichen Weg hinter uns. In der systematischen
Modifizierung des Fortschrittsbegriffes landeten wir bei Aristoteles. Von diesem aus
gelangten wir zu Hegel, dessen Philosophie Pinkard als einen entzauberten Aristotelismus
versteht und der uns zu jenem Begriff der „Befriedigung“ führte. Um besser zu verstehen,
welches Defizit der aristotelischen Philosophie durch diesen gelöst wird, ging es von
Hegel zurück zu Aristoteles und dessen Begriff der eudaimonia, der sich als praktisch
inoperabel erwies. Glückseligkeit lässt sich im unvollkommenen endlichen Leben nicht als
ein zu verwirklichendes Ziel verstehen. Von da aus ging es über Kant, der die
Glückseligkeit zu retten versuchte, es aber auch über die Annahme des „moralischen
Gesetzes“ und der „Unsterblichkeit der Seele“ nicht schaffte, die mit der Vorstellung einer
praktischen Verwirklichung von Glückseligkeit verbundenen Widersprüche aufzulösen,
zurück zu Hegel und dem Begriff der „Befriedigung“. Das Ergebnis ist keine völlige
Verabschiedung des Glücks, sondern seine Aufhebung in einer veränderten begrifflichen
Konstellation.
274
Zwar spricht auch Pinkard von der „sublation of happiness“, arbeitet aber nicht genauer aus, wie diese
Aufhebung zu verstehen ist; vgl. Pinkard (2012), Seite 89ff.
107
5 Subjektiver Fortschritt
Stellen wir die „Befriedigung“ als ein durch Modifikation und Anerkennung zu
verwirklichendes In-den-Griff-Bekommen der phänomenalen Spannung zwischen
Souveränität und Machtlosigkeit ins Zentrum des Fortschrittsbegriffes, so nehmen wir
nicht nur Abschied von der Glückseligkeit, sondern von allen praktisch uneinlösbaren
Zielvorstellungen, die uns im Versuch ihrer Verwirklichung in ein unbefriedigendes Leben
führen würden. Ein so verstandener Fortschritt kann per Definition kein unrealisierbares
Unternehmen sein. Es ist die Vorstellung eines Fortschrittes, der seine Substanz in
individuellen Subjekten findet, soweit diese es im Abgleich ihrer natürlichen und
erworbenen Dispositionen mit den natürlichen und sozialen Bedingungen ihrer Umwelt
vermögen, ein „befriedigendes Leben“ zu führen. Wie die individuelle „Befriedigung“ zu
verwirklichen ist, kann nicht allgemein geklärt werden, sondern ist eine, durchaus sehr
anstrengende, Aufgabe, deren Lösung nur von den konkreten Subjekten in den konkreten
Verhältnissen, in denen sie sich bewegen, jeweils immer wieder neu entwickelt werden
kann. Fortschritt als „Befriedigung“ hebt so nicht ab auf allgemeingültige Vorstellungen
davon, was ein Subjekt in einer bestimmten Situation konkret wollen sollte, sondern
überlässt es weitgehend den Subjekten selbst, wie die Frage und das Bedürfnis nach einem
„befriedigenden Leben“ für sie im Konkreten zu beantworten ist. Insofern könnte man
auch von einem subjektivistischen Fortschrittsbegriff sprechen.
Dieses subjektivistische Verständnis ist, wie deutlich geworden sein sollte, jedoch nicht als
ein Individualismus zu verstehen, der das individuelle Subjekt als eine Instanz versteht, die
in einer bestimmten Situation völlig willkürlich über ihre Bedürfnisse oder Interessen und
die Wege ihrer Befriedigung entscheiden könnte. So ist unsere situative Suche nach
subjektiver Befriedigung stark beeinflusst durch unsere biologische Konstitution, bisherige
biographische Prägungen und die aktuellen natürlichen, sozialen und kulturellen
Umweltbedingungen, die allesamt nicht zu unserer freien Disposition stehen. Doch im
Umgang mit diesen liegt stets ein Freiheitsgrad, der, wenn er auch oft nicht ins
Bewusstsein kommt und nicht selten sehr gering sein mag, niemals unterschätzt werden
sollte. Was in einer konkreten Situation als marginal und zu vernachlässigen erscheint oder
vielleicht noch nicht einmal wahrgenommen wird, kann auf lange Sicht einen immensen
Unterschied bedeuten, der die Grenze unserer Wahrnehmung zum anderen Extrem hin
überschreitet. Diese bedingte Freiheit ist die notwendige Bedingung vor deren Hintergrund
die Rede sowohl von einer Spannung zwischen Souveränität und Machtlosigkeit als auch
von Modifikation und Anerkennung überhaupt Sinn ergibt. Die bedingte Freiheit ist diese
subjektive Spannung zwischen Souveränität und Machtlosigkeit, ist das subjektive
Modifizieren und Anerkennen, ist das Subjekt selbst, nicht als ein sich raumzeitlich
verwirklichendes identisches Selbst, sondern als ein sich erst noch entwickelndes, um sein
Dasein sich mühendes individuelles Leben. Ich gebe Pinkard Recht, wenn er sagt: „The
108
goal of coming to grips with that tension in self-conscious life and the activity itself of
coming to grips with the tension and remaining at one with oneself within the tension are
not a means to freedom. It is freedom itself.“275
Aber anders als es zumindest der Formulierung nach den Anschein hat, kann Freiheit nicht
an die Bedingung der reflexiven Zielsetzung, jene Spannung durch Modifizierung und
Anerkennung in den Griff zu bekommen, und ein sich anschließendes Bemühen geknüpft
sein, dieses zu tun, um in diesem Tun bei sich selbst zu bleiben. Denn die reflexive
Zielsetzung des In-den-Griff-Bekommens der Spannung könnte herzlich wenig ausrichten
ohne die primäre Eigenschaft, modifizieren und anerkennen zu können. Freiheit, das
eigene Schaffen, hängt nicht von dieser reflexiven Zielsetzung ab. Vielmehr halte ich diese
reflexive Zielsetzung, wie jede andere auch, für eine modifizierte Entwicklung von
Freiheit. Das sich reflexive Ziele setzende Leben kann gerade vor dem Hintergrund
evolutionstheoretischer Überlegungen als eine die Bedingungen seiner selbst und seiner
Umwelt anerkennende Modifikation eines vorgängigen Lebens verstanden werden. Und
insofern dieses vorgängige Leben sich unter Anerkennung der Bedingungen – auf einer
vor-reflexiven Praxisebene vielleicht besser Anpassung oder Adaption – zu einem
selbstbewussten Leben modifiziert hat, kann es, in dieser Eigenschaft des eigenen
Schaffens, mit vollem Recht als ein freies Leben bezeichnet werden. Also auch dann,
wenn es sich die durch Modifizierung und Anerkennung in den Griff zu bekommende
Spannung nicht reflexiv, sondern eher reflexhaft zum Ziel setzt. Die Spannung und das
Bedürfnis ihres In-den-Griff-Bekommens ist kein Problem, das erst durch Reflexivität
virulent wird. Sie ist gegeben mit dem Dasein phänomenaler Subjekte, deren für sie
bedeutsames Dasein nicht erst reflexiv, sondern existenziell ein Problem ist; deren Leben
also nicht einfach gegeben ist, sondern um das sie sich, wie gering das Ausmaß auch
immer sein mag, durch Modifikation und Adaption beständig neu bemühen müssen.
Würden sie dazu nicht frei sein, würden sie nicht existieren.
Am Ende seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes schreibt Hegel: „Weil übrigens
in einer Zeit, worin die Allgemeinheit des Geistes so sehr erstarkt und die Einzelheit, wie
sich gebührt, um soviel gleichgültiger geworden ist, auch jene an ihrem vollen Umfang
und gebildeten Reichtum hält und ihn fordert, der Anteil, der an dem gesamten Werk des
Geistes auf die Tätigkeit des Individuums fällt, nur gering sein kann, so muß dieses, wie
die Natur der Wissenschaft schon es mit sich bringt, sich um so mehr vergessen, und zwar
werden und tun, was es kann, aber es muß ebenso weniger von ihm gefordert werden, wie
es selbst weniger von sich erwarten und für sich fordern darf.“276 Wenn man mit Pinkard
daran festhält, dass Hegels „Geist“ kein metaphysisches Wesen ist, das sich in der Natur
und den natürlichen Wesen entäußert und diese als seine Emanationen erkennend wieder
275
276
Ebd., Seite 107f.
Hegel (1970), Seite 67.
109
in sich zurücknimmt und durch den Prozess der Geschichte hindurch sich allmählich seiner
selbst bewusst wird, sondern „Geist“ die Eigenschaft bewusster Wesen ist, sich in ihrem
Tun von allen Inhalten ihres Tuns als Ziele oder Gründe, d.h. sich reflexiv von sich selbst
zu differenzieren und dadurch Selbst-bewusstsein zu haben, dann kann man vor dem
Hintergrund der aktuellen, überaus kontroversen Diskussionen in der Philosophie des
Geistes das hegelsche Zitat in folgender Weise geradezu umdrehen.277 „Weil übrigens in
einer Zeit, worin der Zweifel des Geistes an seiner allgemeinen Natur so sehr erstarkt und
die Einzelheit, wie sich gebührt, um soviel entscheidender geworden ist, auch jener an
keinem vollen Umfang und gebildeten Reichtum mehr festhält und ihn fordert, der Anteil,
der an dem gesamten Werk des Geistes auf die Tätigkeit des Individuums fällt, zwar nur
gering sein kann, so muss dieses doch, wie die Natur der Wissenschaft schon es mit sich
bringt, um so mehr bedacht werden, und zwar wie es denn konnte, was es wurde und tat,
aber es muss ebenso weniger von ihm gefordert werden, wie es selbst von sich hat
erwarten und fordern können.“
Das heißt, wenn wir danach fragen, wie es denn dazu kam, dass wir „Geist“, also ein sich
von seinem Tun und damit von sich selbst reflexiv differenzierendes Selbst-bewusstsein
haben, dann lautet die Antwort, wie sie die heutige, evolutionstheoretisch geprägte
Wissenschaft mit sich bringt: weil die Individuen, in deren Entwicklungslinie wir stehen,
dazu frei waren, unter Anerkennung bzw. Adaption der extra- und intraindividuellen
Bedingungen ihres jeweiligen Daseins, dieses jeweils, und wenn nur in äußerst geringem
Maße, in einer Weise zu modifizieren, dass in der Abfolge unzähliger Generationen seit
einigen tausend Jahren Lebewesen geboren werden, die sich in ihrem Tun von sich selbst
reflexiv differenzieren können. Denn was in dieser Hinsicht phylogenetisch über die
Individuen einer evolutionären Linie hinweg gilt – dass dem vorgängigen Leben die, wenn
auch unreflektierte, Freiheit zugekommen sein muss, ein solches selbst-reflexives
Bewusstsein hervorzubringen –, muss zumindest indirekt auch ontogenetisch für diese
Individuen selbst gelten, ohne die jene supraindividuelle Entwicklung überhaupt nicht
hätte stattfinden können. Aber wir sollten natürlich nicht fordern, dass auch nur
irgendeines jener unreflektierten Individuen sich diese Entwicklung unreflektiert,
geschweige denn reflektiert zum Ziel gesetzt hat. Sie folgten „nur“ ihrem Interesse nach
Erhaltung und Reproduktion ihres zur Modifikation und Adaption fähigen Daseins, d.h.
nach der Erhaltung und Weitergabe eines bedingt freien Lebens, das ihre bedingte Freiheit
ausmachte, ja das sie selbst waren. Geist, verstanden als Selbst-Bewusstsein, ist nicht die
Bedingung von Freiheit, sondern deren Folge. Und so hat jedes dieser unzähligen
unreflektierten Individuen, die uns niemals bekannt sein werden, seinen eigenen uns
ebenfalls niemals bekannt werdenden Anteil „an dem gesamten Werk des Geistes“, weil
sie es waren, die sich unter den Bedingungen ihres Daseins individuell in einer Weise
modifiziert haben, die uns die Wirklichkeit eröffnet hat, uns reflexiv von unserem eigenen
277
Vgl. Pinkard (2012), Seite 45ff., Seite 105.
110
modifizierenden und anerkennenden Tun und damit von uns selbst zu differenzieren, die
uns die Wirklichkeit eröffnet hat, selbst-bewusst zu sein.
Man kann in diesem Gedanken sogar bis an den Anfang allen Lebens zurückgehen. Folgen
wir etwas ausführlicher dem, was Daniel Dennett in Ellbow Room dazu schreibt: „In the
beginning, there were no reasons; there were only causes. Nothing had a purpose, nothing
had so much as a function; there was no teleology in the world at all. The explanation for
this is simple: there was nothing that had interests. But after millennia there happened to
emerge simple replicators, and while they had no inkling of their interests, and perhaps
properly speaking had no interests, we, peering back from our Godlike vantage point at
their early days, can nonarbitrarily assign them certain interests – generated by their
defining ‚interests’ in self-replication. That is, maybe it really made no difference, was a
matter of no concern, didn´t matter to anyone or anything whether or not they succeeded in
replicating (though it does seem we can be greatful that these simple replicators did) but at
least we can assign them interests conditionally. If these simple replicators are to survive
and replicate, thus persisting in the face of increasing entropy, their environment must
meet certain conditions: conditions conducive to replication must be present or at least
frequent. Put more anthropomorphically, if these simple replicators want to continue to
replicate, they should hope and strive for various things: they should avoid the ‚bad’ things
and seek the ‚good’ things. Still more dramatically, were we to imagine ourselves as
guardians of their interests, we could see quite clearly that there would be steps to be
taken, assistance to be rendered, warnings to be issued. This is not to saying very much
yet, for it is also true that if we imagine ourselves to take a fancy to some particular
beautiful rock formation spewed up millions of years ago by some volcanic eruption, we
can readily imagine the steps we would have to take to preserve it – to protect it from
erosion, from being buried in sediment, from being broken by subsequent volcanic
eruptions, and so on. What is the difference? In what way did the interests of replicators
take on a life of their own? Just this: the replicators began to turn into crude guardians of
their own interests. Indeed their power of self-replication depended on it. Unlike the
volcanic sculpture, they were not utterly helpless and dependent on the solicitude of
others; they could fend for themselves, a bit. The day that the universe contained entities
that could take some rudimentary steps toward defending their own interests was the day
that interests were born. The very tendencies of these organisms to preserve this and that
(their varieties of homeostasis) helped sharpen the definition of their interests. Only certain
sorts of homeostasis tended to be self-preserving in the long run; those kinds were
replicated and hence persisted, and hence gave further definition to crude, primordial
‚interests’ in self-preservation and self-replication. Thus if body-temperature maintenance
played an important role in the self-preservation of members of a species, bodytemperature maintaining control systems that evolved would persist. And that species’
catalog of interests would come to include the maintenance of a certain (range of) body
111
temperature. The basic themes of this story have been well presented many times. Food
seeking, predator avoiding, mate locating, mating, and health maintaining (self-repairing,
trauma avoiding, energy conserving, and so on) are the highest-level subgoals of
replicators. In interaction with the particular species’ circumstances, these subgoals breed
other, instrumental subgoals: odor detecting, hole digging, locomoting, pattern
recognizing, pain feeling, mate impressing, and so forth.“278
Wir haben gute Gründe, aus evolutionstheoretischer Perspektive auf die Entstehung
unserer Lebensform zu blicken. Aber wir sollten sehr vorsichtig sein, welche Geschichten
wir über diese Entwicklung erzählen. Insbesondere dann, wenn wir uns gedanklich deren
„Anfang“ nähern, von dem es uns versagt ist, unmittelbar etwas zu erfahren. Was immer
die genaueren Bedingungen waren, unter denen das oder die ersten Lebewesen entstanden
sind, wenn es an jenem Anfang, wie Dennett sagt, nur „äußere“ Ursachen (causes) aber
keine „inneren“ Gründe (reasons) in der Natur, in der Welt und im Kosmos gegeben hat,
dann geht die so lapidar daherkommende Formulierung „but after millennia there
happened to emerge simple replicators“, die ein Interesse bzw. einen „inneren“ Grund
aufwiesen, schwungvoll über ein meines Erachtens riesiges explanatorisches Problem
hinweg. Denn wie ist es einzusehen, dass in einem Kosmos bloß „äußerer“ Ursachen ein
Lebewesen mit einem „inneren“ Grund entsteht – zunächst wohl als ein unreflektiertes
Interesse? Aus äußeren Ursachen kann ein „inneres“ Interesse nicht erklärt werden. Auch
nicht durch die Vorstellung eines Schöpfers oder intelligenten Designers, der für das
begriffliche „Ur-Subjekt“, um das es hier geht, als deren angenommene Ursache völlig
äußerlich bleibt. Natürlich muss die Potentialität der Entstehung interessierter Subjekte
vorausgesetzt werden. Aber diese Potentialität kann eben nicht als Ursache gedacht
werden, wie man etwa einen Menschen als Potentialität seiner Handlungen beschreiben
könnte.
Es gibt meines Erachtens keine befriedigendere Lösung dieses explanatorischen Problems
– und ich kann dieser Position hier nur Ausdruck verleihen, nicht aber für sie ausgiebig
argumentieren –, als anzuerkennen, dass die Entstehung interessierter Subjekte nicht aus
der Natur, der Welt, dem Kosmos oder sonst einer als Ursache verstandenen Wirklichkeit
erklärt werden kann. Um Pinkard in dieser Hinsicht erneut zu zitieren: „However, even at
the level of organic life, the stage of natural development at which the terms better and
worse begin to become meaningful, nature remains impotent since nature on its own can
not organize itself into something like the best version of a lion, a rose, or a trout“ – oder,
wie ich ergänzen will: into the worst version of even a most simple unicellular
organism.279 Auf der anderen Seite heißt das aber nicht, dass die Entstehung des Lebens
aus sich selbst heraus erklärt werden könnte. Die Entstehung von Leben, die Entstehung
278
279
Dennett, Daniel C.: Ellbow Room, Cambridge, MA/London, England: The MIT Press, 1984, Seite 21f.
Pinkard (2012), Seite 22f.
112
eines individuellen lebendigen Subjektes hat ihren Grund nicht in sich selbst. Dazu müsste
es ja bereits existieren. Es bleibt auf die Möglichkeit der Entstehung von lebendigem
Dasein verwiesen. Weder ist es selbst seine Möglichkeit noch ist diese Möglichkeit die
Möglichkeit eines bestimmten interessierten Daseins. Das interessierte Subjekt ist kein
Individuum, das seine individuelle Möglichkeit ergreift, sondern ein individuelles
Ergreifen der Möglichkeit lebendigen Daseins überhaupt. Und dieses individuelle
Ergreifen der Möglichkeit verstehe ich als den „inneren“ Grund, das „Ur-Interesse“,
welches ich als das Zentrum eines jeden interessierten Subjektes begreife.
Insofern die Entstehung des interessierten Subjekts weder durch Ursachen noch durch
einen ihm eigenen Grund und auch nicht durch die vorauszusetzende Potentialität der
Entstehung interessierter Subjekte überhaupt vollständig zu erklären ist, bleibt eine
Restwirklichkeit, die in kausaler Hinsicht als Wunder, in statistischer Hinsicht als Zufall,
in praktischer Hinsicht als Freiheit bezeichnet werden kann. Wenn Dennett schreibt „the
day that the universe contained entities that could take some rudimentary steps toward
defending their own interests was the day that interests were born“, dann kommt darin
genau diese Gleichursprünglichkeit von interessiertem Subjekt und Freiheit zum Ausdruck
– auch wenn ich nicht den Eindruck habe, dass Dennett selbst diese Konsequenz so klar
gezogen hat. Die „entities“ mussten frei sein, ihre Interessen zu verteidigen, konnten dazu
aber nur frei sein, wenn sie mindestens ein Interesse hatten. Ohne ein einziges Interesse
wird eine uninteressierte Entität, ihr mögen Freiheitsgrade in welcher Hinsicht und in
welchem Umfang auch immer zugesprochen werden, nicht frei sein, ihre Interessen zu
verteidigen. Und welche Freiheit für diese Entität auch angenommen werden mag, so wird
es nicht die Freiheit sein können, sich aus sich selbst heraus zu einem interessierten
Subjekt zu verwandeln. Denn soweit sie nur aus „äußeren“ Ursachen heraus entsteht, kann
sie nicht mehr als ein physikalisch oder chemisch strukturierter Stoff oder Prozess sein, der
keine ihm eigene Individualität besitzt, das, was man als „Innerlichkeit“ oder
„Zentriertheit“ bezeichnen kann, und also nicht einmal ansatzweise aus sich selbst heraus
auch nur zu irgendetwas sich zu entwickeln fähig ist.
Das minimal vorauszusetzende und zentrale Interesse muss meines Erachtens also das
individuelle Ergreifen der Möglichkeit interessierten Daseins selbst sein, die freie
Wirklichkeit eines individuellen Bemühens um das eigene Dasein. Wäre ein solches, zwar
unbegründetes, dennoch aber grund-legendes Interesse nicht möglich, könnte meines
Erachtens die Existenz interessierter Lebewesen nicht erklärt werden und wir müssten in
unseren erklärenden Reflexionen letztlich unsere eigene Existenz negieren.280 Natürlich ist
280
Es ist genau dies die Konsequenz moderner Selbstorganisationstheorien, in denen das „Selbst“ letztlich
zu einem Niemand erklärt, meines Erachtens verklärt wird. Dazu Michael Hampe: „Das ‚Selbst‘ der
Selbstorganisationstheorien und die ‚Autonomie‘ dissipativer Strukturen haben weniger oder nichts mit
einer selbstbewußten Reflexivität zu tun als vielmehr mit dem, was wir meinen, wenn wir sagen, etwas
geschehe ‚von selbst‘. Wenn die Tür ‚von selbst‘ zugeht oder sich der Schmerz ‚von selbst‘ legt, dann
113
eine solche Erklärung, das gestehe ich gerne zu, wohl eher das Eingeständnis der Grenze
unserer Erklärungsmacht, als eine wirkliche Erklärung – aber wer sagt, dass solche
Eingeständnisse nicht Teil der Wissenschaft sein dürfen? Ich verstehe ein solches
Eingeständnis im Sinne einer epistemischen Haltung, die Alfred North Whitehead als
Demut und Bescheidenheit theoretischer Tätigkeit bezeichnet hat.281 Es ist kein „Opfer des
Intellekts“, sondern die Anerkennung einer Begrenzung desselben, die man mit Max
Weber geradezu als „Rechtschaffenheitspflicht“ wissenschaftlichen Arbeitens verstehen
kann. Und es erscheint mir in diesem Sinne angebracht, diese Grenze expressiv kenntlich,
d.h. explizit zu machen, und nicht, wie es etwa Dennett tut, über diese hinwegzuwischen,
so als sei nichts gewesen.282
Für die Annahme der Freiheit, ein Interesse verteidigen zu können, reicht es aber noch
nicht aus, die Gleichursprünglichkeit von Freiheit und Interesse vorauszusetzen. Das
minimal vorauszusetzende Interesse muss als ein wirkliches, wenn nicht schon als ein
reflektiertes, dann doch in anderer Hinsicht einen Unterscheid zu einer uninteressierten
Wirklichkeit wie etwa Dennetts vulkanischer Gesteinsformation aufweisen. Es reicht nicht,
wie es Dennett im Zusammenhang dieses Beispiels tut, die Antwort darauf zu reduzieren,
dass im Unterschied zu der Gesteinsformation „the replicators began to turn into crude
guardians of their own interests“. Denn wie sollten sie als unreflektierte Lebewesen dazu
fähig sein, ihr Verhalten auf ein Interesse zu zentrieren? Was also könnte die Eigenschaft
sein, welche dieses unreflektierte interessierte Verhalten verständlich macht? Die einzige
plausible Antwort auf diese Frage scheint mir das im letzten Abschnitt bereits
angesprochene Erleben zu sein, das sich als ein positives und negatives Empfinden in
Abhängigkeit von einer dem Interesse entsprechenden oder widersprechenden
Entwicklung manifestieren kann. Natürlich könnte man ein solches Erleben auch als eine
Art von Reflexivität bezeichnen. Aber es ist eine Reflexivität des Erlebens, nicht des
meinen wir nicht, daß hier in der Tür oder dem Schmerz Prozesse der Reflexivität ablaufen, die uns
Respekt abfordern. Vielmehr hat niemand die Tür zugemacht, und niemand muß etwas gegen den Schmerz
tun, weil hier etwas ohne Planung und Intention geschehen ist bzw. geschehen wird.“ Hampe, Michael:
Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007, Seite 129. Titeltragend
kommt diese „Verniemandung“ des Subjekts auch in Thomas Metzingers Being No One zum Ausdruck.
Metzinger, Thomas: Being No One, Cambridge, MA/London: The MIT Press, 2004. Diese Abschaffung
des „Selbst“, das wird bei Metzinger deutlich, erwächst aus einer meiner Meinung nach nicht begründbaren
Reduzierung desselben auf seine reflexive Tätigkeit und der in einer solchen möglichen
Selbstbezüglichkeit. Ich hingegen halte, wie ich hier deutlich mache, Reflexivität für eine evolutionär späte
Entwicklung und Ausdifferenzierung eines ein interessiertes Erleben voraussetzenden reflexhaften
Resonierens. Und dieses je individuelle interessierte Erleben ist nicht Niemand, sondern jeweils ein
Jemand, der, das werde ich an einer anderen Stelle dieser Arbeit herausstellen, einen Wert bedeutet (vgl.
Seite 147f. dieser Arbeit). Und genau dieser Wert, nicht Reflexivität ist es, was uns Respekt abverlangen
kann und sollte. Diese Diskussion verlangt letztlich auch nach einem neuen Willensbegriff, der nicht auf
Reflexivität und Planung reduziert werden kann, sondern diese müssten vielmehr ihrerseits auf einen, wenn
auch grund-losen, so doch aber grund-legenden, vor-reflexiven Lebenswillen zurückgeführt werden.
281
Vgl. Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, Seite 56.
282
Vgl. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, Stuttgart: Recalm, 1995, Seite 40ff.
114
begrifflichen Urteilens oder gar Wissens. Erleben setzt kein begriffliches Urteilen voraus.
Ich möchte sie deshalb als ein eher reflexhaftes Resonieren eines erlebenden Ergreifens
von einem reflexiven Räsonieren eines intelligenten Begreifens unterscheiden.283 Ohne ein
solches erlebendes reflexhaftes Resonieren sehe ich nicht, wie jene unreflektierten
„replicators“ jemals dazu fähig und frei gewesen wären, erste Schritte zur Verteidigung
ihrer Interessen zu unternehmen, sich auch nur in die Richtung irgendeines Interesses zu
organisieren, zu einem Organismus zu entwickeln. Ich nehme aus diesem Grund die
Gleichursprünglichkeit nicht nur von Freiheit und Interesse, sondern auch von Erleben an.
Die vorangegangenen Überlegungen führen, das sollte deutlich geworden sein, die
Auseinandersetzung um den Fortschrittsbegriff auch ins Zentrum der zeitgenössischen
Philosophie des Geistes und zu dem von David Chalmers sogenannten „explanatory
gap“.284 Auch hier wird in meinem Verständnis also implizit über den Fortschrittsbegriff
mitverhandelt. Ich werde mich diesbezüglich auf keine weiteren Detaildiskussionen
einlassen können, weil dies von dem Ziel dieser Arbeit, ein grundlegendes Verständnis des
Fortschrittsbegriffes zu entwickeln, zu weit abführen würde. Es kann an dieser Stelle nur
festgehalten werden, dass die in diesen Diskussionen erörterten Fragen von entscheidender
Bedeutung für das hier noch weiter zu entwickelnde Verständnis von Fortschritt sind. Was
meine eigene Position betrifft, so habe ich deutlich gemacht, dass ich nicht denke, dass wir
dieses explanatorische Problem oder diese explanatorische Lücke – wohl eher expressiv
als explanatorisch – befriedigend werden lösen können ohne die Konzession an eine
kausale Unerklärlichkeit, sei es im Hinblick auf äußere Ursachen, sei es im Hinblick auf
innere Gründe. 285 Das bedeutet keine creatio ex nihilo! Denn die vorauszusetzende
Möglichkeit oder Potentialität der Entstehung interessierter, erlebender und freier Subjekte
muss eine wirkliche Möglichkeit und damit eine Wirklichkeit und kein nihilo sein. Aber
nicht nur das ex nihilo greift hier vorbei, sondern auch die creatio trifft den
Zusammenhang nicht. Denn eine creatio verweist auf eine Erschaffung eines Geschöpfes
durch einen Schöpfer. Ein solches Verhältnis kommt meines Erachtens aber in der
Relation zwischen Potentialität und der Entstehung interessierter, erlebender und freier
Subjekte gerade nicht in Frage.286 Genau deshalb habe ich ihre Entstehung in kausaler
283
Zum Begriff des Reflexes und seiner Bedeutung für das individuelle Erleben vgl. Hampe, Michael:
Erkenntnis und Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, Seite 110ff.
284
Chalmers, David: „Facing Up to the Problem of Consciousness“, in: Journal of Consciousness Studies,
2(3), 1995, Seite 200-219.
285
In dem Eigeständnis einer bloß expressiven Lösung des explanatorischen Problems der Entstehung von
Leben liegt eine Verbindung zu einem weiter unten ausführlich diskutierten Teilaspekt vernünftigen
Verhaltens, den man als ästhetisch-diskursives Verhalten bezeichnen kann. Bei diesem Hinweis will ich es
an dieser Stelle belassen; vgl. Seite 141ff. dieser Arbeit.
286
Gunnar Hindrichs, der sich, soweit ich sehe, in Das Absolute und das Subjekt gedanklich mit genau dem
gleichen Problem auseinandersetzt, spricht nachvollziehbarerweise in diesem Zusammenhang deshalb auch
von einem „Ungrund“. Hindrichs, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt, Frankfurt a.M.: Vittorio
Klostermann, 2008, Seite 290ff.; meines Erachtens könnte man auch von einer absoluten Potentialität
115
Hinsicht als Wunder, statistischer Hinsicht als Zufall und in praktischer, man könnte auch
sagen, erlebender Hinsicht als Freiheit bezeichnet.
Ich neige dazu, einen Wirklichkeitsbegriff zu vertreten, den man wohl am ehesten als
Individualpsychsimus oder aber in Anlehnung an Pierre Teilhard de Chardin auch als
Korpuskularpsychismus benennen kann, ohne dass mit dieser Bezugnahme eine
Zustimmung zu seiner Vision der Evolution als einer progressiven Bewegung auf eine
Vollendung hin verbunden wäre.287 In dieser Sichtweise kann zwar keinen Stoffen, doch
aber Molekülen oder Atomen ein Erleben zugesprochen werden. Wenn Michael Hampe
schreibt, dass der metaphysische Empirismus von Charles Sanders Peirce und Alfred
North Whitehead in Hinsicht auf den „Verdacht des Anthropomorphismus oder
Panpsychismus“ vielleicht dahingehend präzisiert werden sollte, dass „das Auftreten von
Empfindungen außerhalb der Relevanzordnung von Perspektiven innerhalb solcher
Ordnung terminologisch scharf zu trennen“ ist, dann gebe ich ihm Recht.288 Und ich sehe
eine solche scharfe Trennung eben in dem Unterschied zwischen Individualität und
Stofflichkeit und denke, dass man Individualität – nicht Identität – als die grundlegende
Bedingung von perspektivischen Relevanzordnungen verstehen kann. Ein Stein also erlebt
demnach nicht, weil er keine Individualität hat, sondern ein Stoff ist. Durchaus halte ich es
aber für denkbar, dass mit den einzelnen Molekülen, die einen Stein ausmachen, und in
diesen mit den Atomen je ein wie auch immer geartetes individuelles Erleben korreliert. Es
handelt sich bei dieser Version eines metaphysischen Empirismus also nicht um einen
Panpsychismus, zumindest nicht im klassischen Sinne. Auch denke ich nicht, das man hier
von einem Anthropomorphismus sprechen sollte, bei dem man zwischen zwei Spielarten
unterscheiden kann: einer positiven und einer negativen. Der positive
Anthropomorphismus projiziert die menschliche Form des Erlebens in die Gegenstände
seiner Reflexion, der negative hingegen spricht diesen mit der menschlichen Form des
Erlebens auch das Erleben selbst ab. Ist Erleben aber an eine bestimmte Form gebunden?
Ich will es hier bei diesen Anmerkungen belassen und nur noch eine letzte hinzufügen: Da
Fortschritt über das individuelle Subjekt hinausgeht, dem Begriffe nach zeitlich und
räumlich über dieses in eine weite prozesshafte Offenheit ausgreift, liegt die Bedeutung
der Entwicklung einer Prozessphilosophie, welche die Irreduzibilität des individuellen
interessierten, erlebenden und freien Subjekts auf äußere Ursachen oder innere Gründe
mitdenkt, für den hier vorgeschlagenen Fortschrittsbegriff auf der Hand. Alfred North
Whiteheads Philosophie bietet dazu meines Erachtens zumindest einen Ausgangspunkt,
sowie die für seine Philosophie wichtigen Denker Charles Sanders Peirce, William James
sprechen, wenn diese eben nicht als schöpferische Macht, sondern allein als ermöglichende Kraft zu
verstehen wäre. Ich werde weiter unten noch darauf zu sprechen kommen; vgl. Seite 216ff. dieser Arbeit.
287
Vgl. Teilhard de Chardin (2006), Seite 19ff.
288
Hampe (2006), Seite 116f.
116
und John Dewey. Jedoch scheint mir zum Beispiel Hans Jonas’ Kritik an Whiteheads
Prozessontologie bedenkenswert, wenn er schreibt, dass sie entscheidende Fragen der
Lebenserfahrung am Ende ausklammern muss, so nicht zuletzt die individuelle Angst vor
dem Tod, ein Aspekt der uns weiter unten noch beschäftigen wird: „Während die Polarität
von Selbst und Welt, wie auch von Freiheit und Notwendigkeit, Raum in Whiteheads
System findet, tut es die von Sein und Nichtsein entschieden nicht – und damit auch nicht
das Phänomen des Todes (noch, beiläufig, das des Bösen): welches Verständnis des
Lebens aber kann es geben ohne ein Verständnis des Todes? Die tiefe Angst biologischer
Existenz hat in diesem großartigen Schema keinen Platz.“289 Trotz oder gerade mit solchen
kritischen Einwänden im Sinn stimme ich Michael Hampe zu, wenn er im Text auf dem
Buchrücken von Erkenntnis und Praxis – Zur Philosophie des Pragmatismus schreibt: „Es
gilt, an das philosophische Differenzierungsniveau wieder anzuknüpfen, das der klassische
Pragmatismus und seine Metaphysik in ihrem Verständnis vom individuellen Leben, von
der Wissenschaft und der Religion schon einmal erreicht hatten.“290 Eine Empfehlung, die
aber nicht als „Zurück zu Peirce, James, Dewey und Whitehead“ zu verstehen ist.291
Wenn, wie ich argumentiert habe, das minimale und zentrale Interesse eines jeden noch so
einfachen Organismus das individuelle Ergreifen der Möglichkeit interessierten Daseins
überhaupt ist, dann steht dieses Verständnis im völligen Einklang mit unserer
Beschreibung von Organismen als sich um ihr eigenes Dasein bemühende Lebewesen.
Aber nicht nur mit dem Bemühen um die eigene Existenz, sondern auch mit dem Bemühen
um Reproduktion ist dieser innerste Nisus zu vereinen.292 Da das individuelle Ergreifen ein
Ergreifen der Möglichkeit interessierten Daseins überhaupt ist, bedeutet es nicht nur ein
Interesse am eignen Dasein, also an Selbsterhaltung, sondern eben auch ein Interesse an
der Möglichkeit anderen Daseins, besteht mit dem individuellen Ergreifen der Möglichkeit
auch das wirkliche Interesse an Reproduktion, der Ermöglichung neuen interessierten
Daseins. Aber wiederum kann die Verwirklichung dieses Reproduktionsinteresses nicht als
Ursache neuen interessierten Daseins verstanden werden. Denn es bleibt dabei, dass ein
solches nicht aus „äußeren“ Ursachen entstehen kann. Die an Reproduktion interessierten
Organismen können nur durch Adaption und Modifikation diejenigen Bedingungen
herbeiführen, unter denen sich ein neues individuelles Ergreifen der Möglichkeit
289
Jonas, Hans: Organismus und Freiheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973, Seite 150. In dieser
Hinsicht müsste meines Erachtens an einer Modifizierung von Whiteheads Ontologie gearbeitet werden.
Ein entscheidender Ansatzpunkt scheint mir die Thematisierung des individuellen Interesses am Leben und
Erleben zu sein. Denn nur weil wir ein grund-legendes individuelles Interesse an unserem Leben und
Erleben haben, bedeutet der Tod ein Problem für uns. Die Möglichkeit einer Erweiterung der
whiteheadschen Ontologie durch den Begriff des Interesses wird an einer anderen Stelle dieser Arbeit
etwas deutlicher, wenn auch nicht ausgiebig diskutiert werden; vgl. Seite 151ff. dieser Arbeit.
290
Hampe (2006).
291
Vgl. ebd., Seite 44.
292
Den Begriff des „innersten Nisus“ entlehne ich Williams, Bernard: Ethics and the Limits of Philosophy,
London: William Collins, 1985, Seite 44.
117
interessierten Daseins überhaupt unbegründet zu einem ihnen ähnlichen Organismus
entwickeln kann. Dieses neue individuelle Ergreifen adaptiert die vorgefundenen
Bedingungen, bleibt aber darin frei, diese in Verfolgung seiner Interessen in welch
geringem Umfang auch immer zu modifizieren, die Form seines Lebens
weiterzuentwickeln und weiterzugeben. Das Leben nimmt seinen evolutionären Lauf.
Hinsichtlich der Unbegründetheit des Entstehens eines individuellen Subjektes jedoch ist
die Entwicklung jedes neuen Organismus ein Anfang nicht weniger als jener des oder der
ersten.
Im letzten Abschnitt habe ich bereits deutlich darauf hingewiesen, dass die Subjekte des
Fortschritts in einer erlebenden Beziehung zu ihren Zielen stehen müssen. Diese
vorauszusetzende Verbindung wurde nun noch einmal ausführlicher dargestellt und durch
den Freiheitsbegriff ergänzt. Dabei habe ich Pinkards in seiner Hegel-Interpretation
entwickeltes Verständnis von Freiheit als ein „Bei-sich-selbst-Sein“ kritisiert. Hinter dem
„Bei-sich-selbst-Sein“ verbirgt sich eine Vorstellung von Freiheit, in deren Zentrum ein
selbst-bewusstes Subjekt steht, das sich reflexiv das Ziel setzt, die Spannung, die es als
sich selbst begreift, in den Griff zu bekommen, und insofern es dieses vermag, bei sich
selbst ist und bleibt. Vor evolutionstheoretischem Hintergrund habe ich dafür
argumentiert, dass es sich dabei um eine Modifikation von Freiheit handelt, für die nicht
schon ein selbst-bewusstes Subjekt vorausgesetzt werden muss, sondern ein bewusstes
bzw. erlebendes Subjekt bereits hinreicht. Ein erlebendes Subjekt ist in der
modifizierenden und adaptierenden Verfolgung seiner Interessen frei. Und so es sich
seinen Interessen entsprechend verhält, ist es erlebend bei sich, wenn auch nicht bei-sichselbst im Pinkard-Hegelschen Sinne. Pinkard selbst weist mit Referenz auf Hegels Begriff
des „Selbstgefühls“ auf dieses eher reflexhafte Selbstverhältnis als eine Vorform
intelligenterer, d.h. reflexiver Selbstverhältnisse hin.293 Der Begriff des Protobewussteins,
wie er in der Philosophie des Geistes immer wieder auftaucht, scheint mir in diesem
Zusammenhang völlig berechtigt.
In der Darstellung des Begriffes der „Befriedigung“ habe ich darüber hinaus deutlich
gemacht, dass die selbst-bewusste Freiheit nicht als „Handlungsfreiheit“ zu verstehen sei.
Das gleiche gilt für die „bloß“ erlebende Freiheit. Auch ein unreflektiertes Subjekt, wenn
es durch was auch immer daran gehindert wird, einem bestimmten Interesse
nachzukommen, und auch daran scheitert, die äußeren Bedingungen daraufhin seinem
Interesse gemäß zu modifizieren, bleibt darin frei, sein Interesse entsprechend zu
adaptieren. Die Anpassung der Interessen ist selbst ein Tun, eine innere Modifikation. Das
unreflektierte Subjekt ist so stets dazu frei, irgendetwas zu tun, auch wenn das eben nicht
heißt, dass es alles tun kann, woran auch immer es ein Interesse entwickelt. Es ist eine
physische Freiheit, insoweit sie sich in dem verwirklicht, was wir Materie nennen. Es ist
293
Vgl. Pinkard (2012), Seite 57f.
118
eine metaphysische Freiheit, insofern sie nicht durch die Materie als solche, vorgestellt als
raumzeitlicher Wirkungszusammenhang bloß „äußerer“ Ursachen, erklärt und also nicht
auf diese reduziert werden kann. Die Existenz interessierter, erlebender und freier
Subjekte setzt, um es noch einmal zu sagen, meines Erachtens eine Gesamtwirklichkeit
voraus, in der praktische Freiheit, statistischer Zufall und kausale Wunder ihren Platz
haben. Eine Wirklichkeit, die gerade so viele Wunder enthält wie es Lebewesen, in
welcher Form auch immer, gab, gibt und geben wird. Eine Wirklichkeit, in welcher der
statistische Zufall in Relation zu den Bedingungen, in denen er jeweils registriert wird,
sich zu statistischen Regelmäßigkeiten verdichtet. Regelmäßigkeiten, die wiederum
niemals erkannt werden könnten, wären nicht Lebewesen entstanden, die zur Entwicklung
erkenntnisfähiger Subjekte beizutragen frei gewesen sind.
Diese metaphysisch-physische Freiheit ist mitnichten unbedingt oder absolut zu verstehen,
sondern als eine von ihrer Potentialität und den raumzeitlichen Bedingungen, in denen sie
sich verwirklicht, bedingte. Ohnehin halte ich den Begriff einer „absoluten“ oder
„unbedingten Freiheit“ für in sich widersprüchlich. Ein absolut freies Wesen wäre, wenn
auch zu nichts anderem, so doch zu seiner Freiheit bestimmt, oder stärker formuliert,
verdammt, was mit der suggerierten Vorstellung einer absoluten Freiheit nicht in Einklang
zu bringen ist. Selbst ein Gott könnte niemals absolut frei sein. Insofern verstehe ich die
Bedingtheit der Freiheit anders als etwa Hans Jonas nicht als eine „Antinomie der
Freiheit“, sondern als die Natur der Freiheit selbst. 294 Zu einer „Antinomie“ oder
„dialektische(n) Freiheit“ kann die bedingte Freiheit nur werden, wenn wir sie zuvor,
meiner Meinung nach fälschlicherweise, mit dem Begriff der Unbedingtheit implizit
kurzschließen. Es ist vielmehr dieser Kurzschluss, der zu einer selbst für einen Gott
unauflösbaren Antinomie führt. Ein freies Wesen sollte seine bedingte Freiheit also nicht
als Mangel oder gar Degradierung verstehen, sondern als die Natur der Freiheit selbst.
Unsere Natur ist die phänomenale Spannung zwischen Souveränität und Machtlosigkeit,
die es für uns auf befriedigende Weise zu leben gilt.
Diese Formulierung scheint mir eine plausible, möglichst allgemeine Formulierung dessen
zu sein, was wir sind und um was es uns geht, insofern sie sich auf das gesamte Leben
eines individuellen Subjektes beziehen lässt, unabhängig davon, unter welchen
Bedingungen ein solches Leben konkret gelebt wird. Diese Bedingungen, die Kontexte,
die Formen, in denen wir unsere Natur leben, können sehr unterschiedlich sein. Aber bei
aller Verschiedenheit geht es in unserem natürlichen Gespannt-Sein zwischen Souveränität
und Machtlosigkeit darum, diese Spannung durch Modifizieren und Anerkennen auf
befriedigende Weise zu leben. Ein solches befriedigendes Leben, nicht die Reflexion
unserer Natur, ist der Endzweck, nicht der Welt, sondern unser jeweiliger Endzweck in der
Welt. Die Selbst-Reflexion kann dabei helfen, von unerfüllbaren und dieser Natur
294
Vgl. Jonas (1973), Seite 130ff.
119
widersprechenden Zielsetzungen im Kleinen wie im Großen Abstand zu nehmen, und so
ihren Teil zu einem befriedigenden Leben beitragen. Aber sie ist nicht selbst unser
Endzweck, sondern ermöglicht „nur“ diesen reflexiv zu begreifen, um ihn für unsere
reflexive Praxis bestimmend werden zu lassen. Ich denke, dass dies als eine subjektiv
nachvollziehbare allgemeine Formulierung des Lebenszieles interessierter, erlebender und
freier Subjekte in der Welt gelten kann. Individuelle, nach „Befriedigung“ suchende
Lebewesen sind die Subjekte des Fortschritts.
6 Objektiver Fortschritt
Eine Antwort auf die Frage nach objektivem Fortschritt zu geben, das sollte soweit
deutlich sein, kann nicht heißen, von der individuellen Suche nach einem befriedigenden
Leben Abstand zu nehmen. Objektiver Fortschritt setzt in seiner substantiellen Partialität
die „Befriedigung“ individueller Subjekte voraus. Aber der Begriff eines objektiven
Fortschritts kann nicht bei der individuellen Befriedigung stehen bleiben, sondern er muss,
um einer möglichen aggregativen Universalität gerecht werden zu können, auch
verständlich machen, in welcher Verbindung die Suche nach einem befriedigenden Leben
eines einzelnen Subjektes mit denen anderer steht. Es muss aufgezeigt werden, inwiefern
die individuelle Suche nach Befriedigung die Befriedigung anderer nicht ausschließen
muss und so mit der Möglichkeit eines befriedigenden Lebens aller zu einer Zeit sowie
zukünftig lebenden und zur „Befriedigung“ fähigen Wesen zusammengedacht werden
kann. Außerdem gilt es herauszuarbeiten, inwiefern ein Subjekt es als ein mit seiner
individuellen Befriedigung vereinbares, praktisches Ziel verstehen kann, sein Leben in
einer Weise zu gestalten, die einer solchen Möglichkeit nicht widerspricht und worin diese
Weise genauer besteht. Nur so kann ersichtlich werden, inwiefern die individuelle Suche
nach einem befriedigenden Leben im doppelten Sinne „Befriedigung“ mit sich bringen
kann, als ein befriedigendes Leben in Frieden. Dieses Optimum eines objektiven
Fortschritts ist, das sei hier noch einmal mit Schnädelbachs Worten deutlich gesagt, keine
„Utopie der Versöhnung“, sondern ein spannungsgeladenes, mitunter äußerst
anstrengendes und niemals abschließend zu erfüllendes Projekt.
Befriedigung und Relativismus
Was wir soweit durch den Begriff der „Befriedigung“ gewonnen haben, ist ein allgemeines
Verständnis davon, um was es individuellen Subjekten in ihrem Leben geht. Die
Allgemeinheit dieses Begriffs sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nicht
dazu hinreicht, uns ein adäquates Verständnis von Fortschritt in einem objektiven Sinne zu
vermitteln. Zwar kann der allgemeinen Beschreibung unseres Daseins als individueller,
120
wenn auch von anderem und anderen abhängiger Suche nach einem befriedigenden Leben
meines Erachtens mit guten Gründen Objektivität zugesprochen werden. Man müsste
schon begründet behaupten können, dass es uns umgekehrt subjektiv um ein
unbefriedigendes Leben ginge oder es uns gleich wäre, ob wir ein befriedigendes oder
unbefriedigendes Leben führen. Dies halte ich für abwegig. So unterschiedlich oder gar
gegensätzlich die konkreten Bedürfnisse und Interessen verschiedener Subjekte oder eines
individuellen Subjektes im Verlauf seines Lebens auch sein mögen, stets geht es um die
Erfüllung bzw. Befriedigung derselben. Die Suche nach Befriedigung kann mit Recht als
das übergeordnete Ziel eines jeden individuellen Lebens bezeichnet werden. Und dieses
Ziel lässt es ratsam erscheinen, unsere Freiheit dafür zu gebrauchen, uns von allen
uneinlösbar erscheinenden Bedürfnissen und Zielen zu verabschieden, deren Verfolgung
uns bloß unbefriedigt oder frustriert zurücklassen würde. Aber damit ist eben noch keine
Antwort auf die Frage nach einem objektiven Fortschritt gegeben. Wir hätten nur eine
negative Orientierung gewonnen, die man etwa in der folgenden Weise in Form eines
kategorischen Imperativs ausdrücken kann: Wolle niemals etwas, das zu verwirklichen dir
unmöglich ist. Dieser Imperativ erfüllt notwendig die teleologische Suffizienzbedingung.
Wenn wir uns in unserer Freiheit nur diejenigen Ziele setzen, die wir auch verwirklichen
können, dann ist die Realisierbarkeit derselben von vornherein gegeben und es scheint, als
sei damit eine Orientierung gewonnen, die uns den Weg in ein befriedigendes Leben mit
einem Minimum an Frustration weist. Aber hier regt sich ein gewisser Widerstand. Mit
Bernard Williams können wir diesen wie folgt formulieren: „It is not enough, though, for
this freedom merely that we should not be frustrated in doing whatever it is we want to do.
We might be able to do everything we wanted, simply because we wanted too little. We
might have unnaturally straitened or impoverished wants. This consideration shows that
we have another general want, if an indeterminate one: we want (to put it vaguely) an
adequate range of wants.“295
Dieser Einwand bringt zum Ausdruck, dass die negative Normativität des
Befriedigungsbegriffes es letztlich unbestimmt lässt, ob es nicht innerhalb des Bereiches
des subjektiv Realisierbaren allgemeine Ziele bzw. Interessen gibt, deren Nichterfüllung
wiederum Frustration, also ein unbefriedigendes Leben zur Folge hat. Es könnte
unbefriedigend sein, den Bereich des subjektiv Realisierbaren der Verbindlichkeit eines
subjektiven Relativismus zu überlassen. Williams fasst die Möglichkeit solcher
allgemeinen Interessen in dem unbestimmten Interesse zusammen, einen angemessenen
Umfang von Interessen zu haben. Aber worin dieser Umfang an Interessen genau besteht,
diesbezüglich ist er sehr zurückhaltend. Zu Recht, denn konkrete Vorstellungen davon,
worin genau ein angemessener Umfang von Interessen besteht, sind, zumindest zum
größten Teil, nichts, was für alle Menschen und über alle Zeiten hinweg allgemeingültig
feststeht. Sondern solche Vorstellungen sind das Ergebnis eines intersubjektiven
295
Williams (1985), Seite 57.
121
historischen Prozesses, in dem sich, zunächst und zumeist lokal begrenzt, Vorstellungen
über das, was es heißt, nicht nur „Befriedigung“, sondern „Befriedigung“ in einem „guten
Leben“ zu finden, erst herausbilden und die im Laufe der Zeit immer wieder modifiziert
werden. Die Hervorbringung solcher Vorstellungen ist eine soziale Notwendigkeit,
zumindest dann, wenn Sozialität, also ein Minimum an Zusammenhalt überhaupt möglich
sein soll. Ohne gemeinsame normative Vorstellungen kann eine Gesellschaft keine
Stabilität erhalten, würde sie in sich zusammenfallen bzw. sich erst gar nicht herausbilden.
Aus dieser sozialen Notwendigkeit erwachsen die historischen Lebensformen, von denen
wir mit Hegel sprechen können, und die ihnen entsprechenden Vorstellungen von einem
„guten Leben“.296 Natürlich sind diese Vorstellungen Konventionen. Aber das heißt nicht,
dass sich ein Individuum diesen einfach entziehen könnte, weil es ihre Konventionalität
reflektiert. Die Konventionalität verhindert nicht ihre objektive Geltung, die derjenige
erfahren wird, der sich nicht entsprechend den jeweils gültigen Konventionen seines
Lebensumfeldes verhält. Es ist für die objektive Geltung von Konventionen ohne Belang,
das es Zeiten gab, in denen sie nicht galten, und es Zeiten geben wird, in denen sie nicht
mehr gelten werden. Eine solche Endlichkeit objektiver Sachverhalte ist auch nichts, das
allein in ethischen Zusammenhängen aufträte. Das Glas ist voll Wasser. Ich trinke das
Wasser. Das Glas ist leer. Historizität und Konventionalität sind per se keine Argumente
gegen die Objektivität, d.h. gegen die von der Zustimmung eines individuellen Subjektes
unabhängige Geltung normativer Vorstellungen. Vielmehr erklärt die Konventionalität ja
gerade die Geltung überindividueller Normen, nicht allein ihre Veränderlichkeit. Sie
gelten, weil eine Vielzahl von Gesellschaftsmitgliedern aus welchen Gründen auch immer
diese Normen unbewusst oder bewusst, implizit oder explizit anerkennt und sie durch ihr
Verhalten dem individuellen und sozialen Leben informell und formell einschreibt, sich
mit ihnen biographisch verbindet, sie verkörpert und als „zweite Natur“ an die nächste
Generation weitergibt. Ihre Konventionalität kann also kein generelles Argument gegen
die objektive Geltung von Normen und für ihre Problematisierung sein.
Wann aber werden konventionelle Normen problematisch? Sie werden es dann, wenn die
Erfüllung einer objektiven Norm, die Erfüllung einer anderen objektiven Norm unmöglich
macht. So können zum Beispiel Arbeitsethos und Familienethos einer Gesellschaft in
Konflikt miteinander geraten oder pazifistische Überzeugungen mit der Forderung nach
militärischem Handeln, um unterdrückten Menschen in anderen Ländern Hilfe zu leisten
oder angesichts anderer Sachverhalte, die etwaig als Anlass gesehen werden. Die Kontexte
und Gründe der gesellschaftlichen Hervorbringung widersprüchlicher, objektiver Normen
können vielfältig sein, brauchen uns hier im Detail aber nicht weiter anzugehen. Ein
Widerspruch zwischen objektiven Normen zeigt an, dass sie problematisch geworden sind.
Es ist also der Widerspruch zwischen Konventionen, nicht die Konventionalität oder der
296
Vgl. Seite 63 dieser Arbeit.
122
Inhalt einer einzelnen Konvention per se, der diese delegitimiert. Ein solcher Widerspruch
kann nicht gelebt werden, ohne dass mindestens eine der Normen in ihrer objektiven
Geltung relativiert wird. Kann dieser Widerspruch nicht über eine grundsätzliche oder
bedingte Hierarchisierung oder eine anderweitige Anpassung der Normen aufgelöst
werden, besteht die Notwendigkeit, dass sich die Gesellschaft von mindestens einer der
Normen ganz verabschiedet. Welche Lösung auf welchem Wege auch immer gefunden
werden mag, sie ist wiederum nur als ein konventionelles Ergebnis zu verstehen, dessen
Erfolg mit der gelebten Anerkennung dieser Lösung gleichbedeutend ist. Ist eine
Gesellschaft, sind ihre Mitglieder in einem Konfliktfall nicht zu einer solchen Anpassung
ihrer Lebensform und -weise bereit, wird dies im günstigen Fall nur zu einer
Destabilisierung des sozialen Zusammenhalts führen.297
Befriedigung und politisches Interesse?
Bringt uns nun dieser gesellschaftliche Hintergrund dem objektiven Fortschrittsbegriff
näher? Zumindest ist es so, dass wir, soweit wir in Gesellschaft leben und in dieser ein
befriedigendes Leben führen wollen, uns den in dieser objektiv gültigen Normen nicht
einfach entziehen können. Auch dem Prozess der konfliktinduzierten Anpassung
objektiver Normen können wir aus diesem Grunde nicht gleichgültig gegenüberstehen.
Das subjektive Interesse entwickelt sich zu einem politischen Interesse. So könnte das
unbestimmte Interesse, von dem Williams schreibt, durch dieses politische Interesse näher
definiert werden. Und der Zusammenhang des individuellen Interesses an einer
Gesellschaft mit den durch dieses Interesse verbundenen objektiven Anforderungen
scheint uns tatsächlich der Vorstellung eines objektiven Fortschritts näherzubringen. Denn
was hier sofort deutlich wird, ist, dass nicht mehr nur die jeweils individuelle Suche nach
„Befriedigung“ praktisch relevant ist, sondern notwendigerweise auch die Suche nach
„Befriedigung“ anderer Mitglieder der Gesellschaft. Die Objektivität dieses Fortschritts
läge dabei nicht in erster Linie in der objektiven Gültigkeit bestimmter gesellschaftlicher
Normen, sondern darin, dass das in der Gesellschaft lebende individuelle Subjekt seine
subjektive Suche nach Befriedigung nicht allein mit sich selbst ausmachen kann. Es ist auf
die Koordination seiner Interessen mit denen anderer angewiesen. Das individuelle Subjekt
ist nicht die allein entscheidende Instanz. Und nur insoweit die intersubjektive
Interessenskoordination die Ausbildung objektiv gültiger Normen notwendig macht, ist in
dem politischen Interesse die Anerkennung und Geltung derselben eingeschlossen.
Objektiver Fortschritt könnte in diesem Sinne als die mit dem politischen Interesse der
individuellen Subjekte verbundene Hervorbringung, Anerkennung und Weiterentwicklung
überindividueller Normen bedeuten. Es wäre ein Fortschritt, dessen Erfolg in der
297
Vgl. Pinkard (2012), Seite 115ff. (Antike); sowie 147ff. (Moderne).
123
Herausbildung, in dem Bestand und in der Fortentwicklung eines wie auch immer
gearteten gesellschaftlichen Zusammenhanges gesehen werden könnte.
Diese Vorstellung eines objektiven Fortschritts würde aber weiterhin unbestimmt lassen,
welchen Inhaltes die objektiv gültigen Normen sind. Ihre konkrete Gestaltung hängt von
den konkreten Interessen derjenigen Subjekte ab, die in einer gegebenen Situation für die
Ausbildung der Normen entscheidend sind. Wer aber entscheidend ist, das ist im Zweifel
eine Frage physischer und psychischer Macht bzw. Gewalt, die sich im Extrem nur
insoweit zur Koordination mit anderen ihr widersprechenden Interessen aufgefordert sieht,
als sie diese durch Zwang zu unterdrücken oder gar zu vernichten sucht, um ihre eigenen
Interessen weitestgehend durchzusetzen. Koordination muss keine Kooperation bedeuten.
Der Zusammenhalt einer Gesellschaft kann real auf despotische Gewalt gebaut, die
intersubjektive Interessenkoordination zu einem großen Teil negativer Natur sein. So aber
kann ein gesellschaftlicher bzw. politischer Zusammenhang einem objektiven Fortschritt –
im optimalen Fall die Befriedigung aller im gesellschaftlichen Zusammenhang lebender
Subjekte – genau entgegenstehen. Politisches Interesse als solches zeigt der individuellen
Suche nach Befriedigung keine Richtung auf, in der ein objektiver Fortschritt am Horizont
sichtbar wird. Das politische Interesse ist eben kein Selbstzweck, sondern bleibt an andere
individuelle Interessen, deren Befriedigung ein Subjekt in einer Gesellschaft verwirklicht
wissen will, ja an die individuelle Suche nach Befriedigung als dem einzigen Selbstzweck
überhaupt rückgebunden. Spätestens wenn ein Subjekt keine seiner sonstigen Interessen in
einer Gesellschaft verwirklichen kann, verliert es sein Interesse an dieser und wird nur
noch mit Zwang zur Einhaltung der gesellschaftlichen Normen gebracht werden können.
Es gibt kein unbedingtes politisches Interesse. Das politische Interesse bleibt am Ende der
individuellen Suche nach „Befriedigung“ untergeordnet und kann den Begriff eines
objektiven Fortschritts aus sich heraus nicht näher bestimmen.
Was aber wiederum nicht heißt, dass Politik für den Fortschrittsbegriff keine Rolle spielen
würde. Es wird noch deutlich werden, inwiefern sie dieses tut. Auch Pinkard weist darauf
hin, dass das Einbezogen-Sein in historisch-gesellschaftliche Zusammenhänge, welche
Gestalt diese im Laufe der Geschichte auch immer angenommen haben und annehmen
werden, nicht ausreicht, um dem Leben eine über die individuelle Subjektivität
hinausgehende, aber dennoch befriedigende Richtung geben zu können. „Acknowledging
the historical situatedness of any form of life would be, of course, if left at that stage,
completely unsatisfactory. If left in that abstract form, it would simply be yet another
blandly self-contradictory muddle in the way that all forms of radical relativism are
blandly self-contradictory muddles.“298 Eine historische Lebensform beinhaltet zwar ohne
Frage objektive Normen, aber diese Normen ändern sich nicht nur, sondern können, und
das ist meines Erachtens der entscheidende Punkt, einem befriedigenden Leben massiv
298
Ebd., Seite 188.
124
entgegenstehen. Wenn wir das politische Interesse und die mit diesem verbundenen
historischen Lebensformen als solche ins Zentrum unserer Praxis stellen, landen wir erneut
in einem, wenn auch historisch-politisch verkomplizierten Relativismus, hätten also
gegenüber dem bloßen Begriff der subjektiven Befriedigung für ein Verständnis der
Möglichkeit objektiven Fortschritts nichts gewonnen.
Befriedigung und Wahrheit?
Mit Hegel will Pinkard das selbstwidersprüchliche und unbefriedigende Durcheinander
dieses Relativismus durch den Begriff der „Wahrheit“ in Ordnung bringen. „To avoid this
kind of bland relativism, Hegel’s proposal, stated most generally, is to make philosophy
the study of the development of the „Idea“ – the joint conception of our norms, the world,
and how the world (as it were) does or does not cooperate with the fulfillment of those
norms – as a way of characterizing the point of view in which we acknowledge our own
fallibility while at the same time continuing to commit ourselves to a robust conception of
truth.“ 299 Aber es bleibt dabei meines Erachtens völlig ungeklärt, wie uns diese
Verpflichtung gegenüber einer „robust conception of truth“ dem Problem dieses
normativen Relativismus positiv und auf befriedigende Weise begegnen lässt. Was Pinkard
unter einem robusten Wahrheitsbegriff versteht, wird von ihm nicht explizit definiert. Ich
gehe davon aus, dass er damit zumindest nicht den hegelschen Wahrheitsbegriff meint.
Denn dieser mag sein, was er will, robust ist er jedenfalls nicht.
Dies hat unter anderem Schnädelbach sehr deutlich herausgearbeitet. Hegel versteht
Wahrheit „objektiv nicht nur im Sinne eines Geltungsanspruches, sondern sie ist objektiv
wie ein Objekt. – Wahrheit als Gegenstand der Philosophie ist ferner ein Singular; sie ist
eine, und es gibt nur die eine Wahrheit. Die Namen der Wahrheit sind: das Ganze (‚Das
Wahre ist das Ganze.‘), das Absolute (‚... daß das Absolute allein wahr, oder das Wahre
allein absolut ist.‘) – Gott (die Philosophie hat wie die Religion ‚die Wahrheit zu ihrem
Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne – in dem, daß Gott die Wahrheit und er allein
die Wahrheit ist.‘) – Dieses Ganze, Absolute, das die religiöse Rede Gott nennt, ist drittens
auch die Wahrheit dessen, wovon die Philosophie handelt, wenn sie nicht nur von jenem
Singular spricht: von dem Gebiete des Endlichen, von der Natur und dem menschlichen
Geiste.“300 Schnädelbach argumentiert, und wie ich meine zu Recht, dass ein solcher
Wahrheitsbegriff, oder vielleicht besser: -anspruch, nicht haltbar ist. Wir können eine
solche Wahrheit in unserer Endlichkeit nicht nur nicht erkennen, wir können sie noch nicht
einmal denken. Dies ist, um es Hegel parodierend auszudrücken, absolut unbefriedigend.
299
300
Siehe Pinkard (2012), Seite 188.
Siehe Schnädelbach (1993), Seite 4f.
125
Ich erlaube mir, Schnädelbach diesbezüglich weiter ausgiebig zu zitieren: „Wenn das
Wahre das Ganze ist, dann bekommen wir logische Probleme. Schon Kant erkannte, daß
das Unbedingte [als das Ganze; T. W.] ohne Widerspruch nicht gedacht werden kann,
denn wir denken es erst, wenn wir es als Einheit des Unbedingten und des Bedingten
denken. Hegel macht an dieser Stelle aus der Not eine Tugend: Das Unbedingte könne nur
mit dem Widerspruch und als Widerspruch gedacht werden, aber wer von uns kann
wirklich den Widerspruch denken? (Ich habe den Verdacht, daß die Verteidiger der
Dialektik, sofern es sie überhaupt noch gibt, das auch nicht können.) – Daraus ergeben sich
semantische Kopfschmerzen: Ist nur das Ganze wahr, dann kann es das Falsche nicht
außer sich haben; also müssen wir Wahrheit als wahre Einheit von Wahrheit und
Falschheit denken – aber können wir so etwas überhaupt verstehen? – ferner bringt uns der
Holismus der Wahrheit methodologisch in Schwierigkeiten, denn ist das Wahre das Ganze,
dann kann die Methode, dieses Wahre zu erkennen, kein von ihm Verschiedenes und ihm
Äußerliches sein; das Wahre wäre sonst nicht das Ganze. Also müssen wir das Wahre als
Einheit von Sache und Methode denken; aber wie ist das möglich? Wir hören hier von der
‚Selbstbewegung der Sache‘, der ‚Bewegung des Begriffs‘, vom ‚bacchantischen Taumel‘,
der ‚ebensosehr die einfache Ruhe ist‘, und wir fühlen den Verdacht in uns aufsteigen, das
sei magisches Denken oder bestenfalls ein Rattenkönig irreführender Metaphern. – Wer
Hegels Wahrheitslehre folgt, kommt dann auch nicht umhin, seinen skandalösen Satz ‚Was
vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig‘ zu verteidigen.
Wenn die Erkenntniswahrheit von der Seinswahrheit abstammt, können wir nur das mit
Wahrheit erkennen, was wahr ist, d. h. was wir als das Wahre erkennen können. Vernunft
ist nach Hegel das Vermögen, die Wahrheit zu erkennen; damit sich dieses Vermögen
verwirklicht, muß die Wahrheit wirklich sein. Vernunft kann sich aber nach Hegel nur in
etwas verwirklichen, was Wirklichkeit der Vernunft ist, also muß am Orte der Wahrheit
das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig sein. Aus dem Satz, daß nur die
Erkenntnis des Wahren wahr sein kann, folgt, daß wir nur das vernünftig erkennen können,
was wir als vernünftig erkennen können, und genau dies muß von der Wirklichkeit gelten.
So hinterlässt Hegel seinen Erben, wenn sie sich seiner Lehre von der Wahrheit annehmen,
schwer zu beantwortende Fragen: Wie können wir das Wahre als das Ganze denken, wenn
wir dabei in Widersprüchen denken sollen? Was ist Wahrheit als Einheit des Wahren und
Falschen? Was heißt Einheit von Methode und Sache? Wie können wir uns vernünftig der
Einheit von Vernunft und Wirklichkeit versichern?“301
Schnädelbach macht aber nicht nur auf diese Unzulänglichkeiten des hegelschen
Wahrheitsanspruches aufmerksam, sondern auch auf eine mit diesem verbundene
normative Problematik: „Mit diesen theoretischen Rätseln aber ist es nicht genug; Hegels
Lehre von der Wahrheit hat auch normative Implikationen, wie seine Beispiele ‚wahrer
Freund‘, ‚wahres Kunstwerk‘, ‚wahrer Staat‘ zeigen: ‚Unwahr heißt dann soviel als
301
Schnädelnach (1993), Seite 11f.
126
schlecht, in sich unangemessen. ‘ Hegel zufolge hat die Konstatierung von Unwahrheit
immer auch eine wertende Komponente, aus der z.B. folgt, daß das, was ‚in sich
unangemessen‘ seinem Begriff nicht entspricht, mit Recht zugrunde geht. Umgekehrt soll
das Wahre zugleich das wirkliche und lebendige Gute sein, d.h. die durch Selbstreferenz
und neuzeitliche Subjektivität dynamisierte platonische Idee, die ja selbst schon das Wahre
und das Gute in sich vereinigte. (Für Hegel ist der Schopenhauersche Gedanke, das wahre
Sein als „unvergängliches Leben“ könne nicht gut, sondern vielleicht das Böse selbst sein,
schlicht unfaßbar). Für die Philosophie, die Hegel in diesem Punkt folgt, bedeutet dies eine
schwere Hypothek: Sie kann nur dann beanspruchen, die Wirklichkeit vernünftig zu
erkennen, wenn sie sie nicht nur als vernünftig, sondern auch als gut erkennt. Damit geht
das theoretische Ziel der Philosophie in ein praktisches über: aus der Übereinstimmung mit
der Wirklichkeit wird notwendig die Versöhnung mit der Wirklichkeit. Umgekehrt kann
die Wirklichkeit, die mit der Versöhnung unmöglich ist, nicht die Wirklichkeit der Idee
sein; sie ist entweder ,faule Existenz‘ oder nur ,irgendeine Abstraktion, die nicht zum
Begriffe befreit ist‘ und die nicht die Idee selbst, sondern nur irgendwelchen fehlgeleiteten
Subjekten zuzuschreiben ist. Hegelianer sind strukturell konservativ, denn bei ihnen gehört
die Versöhnung mit der Wirklichkeit selbst zum Wahrheitsbeweis ihrer Philosophie; die
steht und fällt auch in ihrem theoretischen Teil mit der Möglichkeit, in der faktischen
Macht die Macht der Idee als des ,lebendigen Guten‘ wiederzuerkennen und das natürliche
und historische Schicksal der Menschen mit der Wirklichkeit der Vernunft in Verbindung
zu bringen. Der ,Beweis‘ der Vernunft in der ,Erkenntnis der Vernunft‘ – das ist der
Hegelsche Gottesbeweis, der in der ,Wissenschaft der Logik‘ zu führen ist; der Philosophie
in ihren materialen Teilen hingegen – als Naturphilosophie und als Philosophie des Geistes
– weist Hegel über den Gottesbeweis hinaus die Aufgabe der Theodizee zu: ‚Man schleppt
es als eine Tradition mit sich, daß Gottes Weisheit in der Natur zu erkennen sei. So war es
eine Zeitlang Mode, die Weisheit Gottes in Tieren und Pflanzen zu bewundern. Man zeigt,
daß man Gott kenne, indem man sich über menschliche Schicksale oder über Produktionen
der Natur erstaunt. Wenn zugegeben wird, daß sich die Vorsehung in solchen
Gegenständen und Stoffen offenbare, warum nicht in der Weltgeschichte?‘“302
Ich habe Schnädelbach in diesem Zusammenhang so ausführlich zitiert, weil in seiner
Formulierung der Kritik des hegelschen Wahrheitsanspruches sehr deutlich wird,
inwiefern mit diesem in der Identifizierung von Wahrheit, Wirklichkeit und Vernunft nicht
nur die Vorstellung des gegenwärtigen Werdens als ein gutes, sondern auch die Hoffnung
auf oder sogar die Überzeugung von einer zukünftig guten Entwicklung verbunden ist. Mit
einem solchen Wahrheits-„Verständnis“ im Rücken würde sich erklären, warum Hegels
„Eule der Minerva“ dem Relativismus, dem „bacchantischen Taumel“ der Geschichte
zuschauen kann und dennoch „die einfache Ruhe“ bewahrt, ohne genauer zu wissen, wie
das, was sie erhofft oder wovon sie überzeugt ist, wirklich werden kann und was ihr
302
Ebd., Seite 12f.
127
eigener Anteil daran sein mag. Sie braucht es nicht zu wissen, sollte es auch nicht von sich
fordern, sondern damit zufrieden sein: Das Individuum muss „sich um so mehr vergessen,
und zwar werden und tun, was es kann, aber es muß ebenso weniger von ihm gefordert
werden, wie es selbst weniger von sich erwarten und für sich fordern darf.“303 Ich denke,
dass Schnädelbach in seinem Verständnis des hegelschen Wahrheitsanspruches als „die
durch Selbstreferenz und neuzeitliche Subjektivität dynamisierte platonische Idee“ Recht
hat und es erscheint mir deshalb zumindest etwas einseitig, Hegels Philosophie, wie
Pinkard dies tut, als einen entzauberten Aristotelismus zu verstehen. Aber sei es drum,
entscheidend sind für mich letztlich, wie gesagt, die Konsequenzen, die man aus der
Auseinandersetzung, in diesem Fall mit Hegel, zu ziehen bereit ist, unabhängig davon, ob
man diese affirmativ, modifizierend oder negierend gegenüber dessen Philosophie
versteht. Und ich habe den Eindruck, dass Pinkard und Schnädelbach auch bezüglich des
Wahrheitsbegriffes, den es zu bewahren gilt, durchaus nahe beieinander liegen.
Zunächst Schnädelbach: „Ist unsere Vernunft endlich, bedeutet dies den Abschied vom
Idealismus, womit ich nicht bloß eine erkenntnistheoretische Position meine, sondern die
Gestalt, die diese Position in der deutschen Philosophie durch Fichte angenommen hatte:
eine Philosophie des Absoluten in der Perspektive des absoluten Bewußtseins selber, also
die Synthese aus Spinoza und Kant, von der schon die Rede war, und der sich Kant selbst
noch widersetzt hatte. Absoluter Idealismus aber und eine Philosophie des Wahren als des
Ganzen – gleichgültig, ob sie sich zu Hegel bekennt oder nicht – ist ein und dasselbe; in
welcher Transformation auch immer: eine solche Wahrheitstheorie überspringt träumend
die Grenzen unserer Endlichkeit. Haben wir das eingesehen, können wir in der
Wahrheitstheorie Hegels objektive adeaquatio auf sich beruhen lassen, weil die nur einem
absoluten Bewußtsein zugänglich wäre. Wir treten den Rückstieg an vom metaphysischen
Wahrheitsbegriff zu dem der begründeten Geltungsansprüche, und damit müssen wir nicht
länger die Objektivität des Wahren als das Ganze fordern, damit das, was wir sagen, wahr
sein kann; ebensowenig müssen wir die objektive Einheit von Vernunft und Wirklichkeit
und die Versöhnung mit ihr fordern, um selbst vernünftig sein zu können. Die unversöhnte
Welt wird so endlich davon befreit, als durchschlagendes Argument gegen die Vernunft
überhaupt herhalten zu müssen; vielleicht erhöht genau dies die Chancen ihrer
Veränderung [...].“ 304 Pinkard ist hier weniger explizit, aber er verabschiedet sich
ebenfalls, wenn auch mit Hegel, von der Vorstellung einer Versöhnung in der
vergänglichen Wirklichkeit und bezeichnet Hegel, wie schon erwähnt, in diesem
Zusammenhang als „philosophical therapist trying to inoculate us against the temptations
toward wholeness in a sphere (the finite) where it cannot be found.“305 Und anderer Stelle
schreibt Pinkard: „If there is to be anything like empirical truth – any meaningful
303
Hegel (1970), Seite 67.
Schnädelbach (1993), Seite 20f.
305
Pinkard (2012), Seite 175.
304
128
conception of our experience as offering us genuine reasons for belief about things in the
world – then one must at least minimally take it for granted that there is a normative line to
be drawn between our awareness of an object and the object itself, and that it must be the
object itself that makes our awareness (or statement expressing our awareness or based on
our awareness) true.“306 Ich schließe mich dem Wahrheitsbegriff im Sinne begründeter
Geltungsansprüche genauso an, wie der Überzeugung, dass eine Versöhnung, die über den
Begriff eines immer noch spannungsreichen befriedigenden Lebens in Frieden hinausgeht,
in der Vergänglichkeit nicht zu verwirklichen ist.
Kommen wir mit dem hier auch Pinkard unterstellten Verständnis von Wahrheit als
begründetem Geltungsanspruch noch einmal zurück zu seinem Vorschlag, durch den
Wahrheitsbezug Ordnung in das relativistische Durcheinander zu bringen. Pinkard macht
zwar geltend, dass dieses möglich sei, macht aber nicht deutlich wie dies geschehen
könnte. Er beschreibt zunächst lediglich die Situation, dass wir in unserer normativen
Praxis dazu gezwungen sind, bestimmten Handlungsgründen eine unbedingte Geltung
zukommen zu lassen. Erstens, weil wir in unserer endlichen Vernunft nicht dazu in der
Lage sind, Letztbegründungen zu leisten. Zweitens, weil wir selbst und gerade auch in
diesem Wissen, nicht umhinkommen, bestimmte Gründe ohne Begründung, d.h.
unbedingt, gelten zu lassen oder zur Geltung zu bringen. Wir wären sonst nicht
handlungsfähig. Diese praktische Problematik ist ein weiterer Aspekt unseres Lebens in
Spannung zwischen Souveränität und Machtlosigkeit.
„Each acknowledges his own finitude and partiality, and in doing so, in the give-and-take
of their encounter, each forgives the other for having claimed such an absolute status for
himself. In religious terms, each acknowledges that he is not without sin, but in the same
more secular terms favored by Hegel, each acknowledges his own radical fallibility and
the temptation to claim a knowledge of the unconditional that outstrips the resources of the
individual agent. The ,true infinity‘ the agents seek is to be found within the ongoing
interchange itself, insofar as that interchange is oriented to truth. To phrase Hegel’s
conclusion in a rather breathlessly abstract manner: Amphibians breathe the thin air lying
within the twin commitments to truth („infinity“) and to their own fallibility („finitude“),
to the ideals of reason and the often prosaic and banal world in which it finds its
actualization. Their public lives display the same tension. It would be futile to expect
politics to abolish that tension, but it would be irrational to think that it could not be made
to live with it. The world as we find it is never fully rational, and ,who is not clever enough
to see a great deal in his own surroundings which is in fact not what it ought to be?‘ As
Hegel phrased the point in his 1819 lectures, we should say that ,the actual comes to be the
rational,‘ not that we need think that it has ever finally completed its job, or that what is
effectively at work in the world is rational at this moment. To understand that requires
306
Ebd., Seite 49.
129
attention to philosophical argument, but it also requires a form of life of rights-bearing,
moral individuals, who acquire a sense of egalitarian right from childhood onward, whose
participation in civil society is coupled with a feel for what is practical and workable, and
whose political temperament is shaped by a shared commitment to political and social
justice. It requires a ,second nature‘ that can live without enchanted illusions but not
without ideals and that, like all other human strivings, succeeds only when it also aims at
truth.“307
Es wird mir nicht ersichtlich, in welcher Weise der Wahrheitsbegriff, zumindest in
Anbetracht dessen, was Pinkard als wahre Erkenntnis gelten lässt, dem normativen
Relativismus auf befriedigende Weise entgegenwirkt. Er spricht von einer historischen
Lebensform, unserer modernen „westlichen“, in der sich die Individuen als rechtstragend
und moralisch verstehen und von Kindheit an an die Gedanken von rechtlicher Gleichheit
sowie politischer und sozialer Gerechtigkeit gewöhnt sind, diese aber zugleich nicht als
unbedingte Gebote, sondern als Ideale erkennen, um nicht den Sinn dafür zu verlieren, was
praktisch möglich ist und funktioniert; und fügt an, dass ein so geprägtes Streben, wie alles
andere menschliche Streben auch, nur erfolgreich sein könne, wenn es zugleich auf
Wahrheit ziele. Aber in welchem Zusammenhang stehen Wahrheitsbegriff und die
konventionellen Normen dieser historischen Lebensform?
Soweit ich Pinkard verstehe, bedeutet die Orientierung an der Wahrheit für ihn hier vor
allem das reflexive Eingeständnis unserer Begrenztheit, unser reflexives Vermögen mit
eingeschlossen. Die Anerkenntnis unserer Endlichkeit („finitude“) und Partialität
(„partiality“) bedeutet in normativen Zusammenhängen das Eingeständnis unserer
Unfähigkeit, unbedingte Gründe für dieses oder jenes Tun geben zu können. Wir kennen
kein unbedingtes Richtig oder Falsch. Dies wird besonders in der folgenden Passage
deutlich: „Many of those who followed in Kant’s wake took it that the task of grasping the
unconditioned had to be itself an infinite task, something we postulated but that in
principle could never be completed in human time – the mythical point at which the last
metaphysician supposedly finally delivers the knockout argument, and the project is over.
Hegel, on the other hand, thought that this task was always in the process of being
accomplished and that it is our reflective consciousness of this ongoing process of
understanding the world and ourselves as the kinds of creatures who must ask those
questions that is the permanent element in the story. As ‚Idea,‘ we have a view of
ourselves and the world as standing in one unity. The finite world is the world in which we
live, where our metaphysical speculations inevitably contradict each other and the infinite
exists, as it were, as our own reflective consciousness of this finitude. To compress this
view into Hegel’s own preferred jargon: ,Reason is at the same time only the infinite
insofar as it is absolute freedom which consequently presupposes to itself its own
307
Ebd., Seite 186f.
130
knowledge and by that means makes itself finite, and it is the eternal movement to sublate
this immediacy, to comprehend itself, and to be knowledge of the rational.‘“308
In der Reflexion unserer Endlichkeit erkennen wir, dass alle unsere Spekulationen über das
Unbedingte dieses nicht zu fassen vermögen und, insofern wir dies gleichwohl versuchen,
uns mit unseren endlichen, bedingten Begriffen notwendigerweise widersprechen müssen.
Es ist in dieser Hinsicht keine Wahrheit zu haben. Die Suche nach dem Unbedingten, das
Pinkard hier offensichtlich mit Hegel als die „Idee“ bzw. „das Ganze“ versteht, wird so zu
einem endlosen Prozess, in dem, solange immer wieder neu nach dem Unbedingten gefragt
und Antwort gegeben wird, sich stets neuer Widerspruch erheben wird. Dieser
Widerspruch kann allein in der Anerkennung der Endlichkeit und Bedingtheit unserer
Vernunft aufgehoben werden, wodurch wir überhaupt erst zur Vernunft bzw. diese zu sich
selbst gelangt. Die individuelle Vernunft differenziert sich von sich selbst, bestimmt sich
reflexiv allein durch sich selbst und ist in diesem Sinne „unbedingt“ oder „infinit“, d.h. ist
in dieser Reflexion durch nichts anderes außer sich selbst begrenzt und frei.309 Aber
insofern Vernunft, um zu sich selbst zu kommen, das Wissen um sich selbst, also sich
selbst voraussetzen muss, ist sie in sich selbst, d.h. ihrer eigenen Wirklichkeit oder Natur
nach, bedingt und endlich. Der Widerspruch zwischen Bedingtheit und Unbedingtem wird
so in der selbst-reflexiven Erkenntnis der eigenen Endlichkeit der Vernunft aufgehoben,
die zu einer unbedingten Erkenntnis, auch ihrer selbst, nicht fähig ist. So kann es der
endlichen Vernunft nur immer wieder neu darum gehen, zu verstehen, um was es ihr geht
und was ihre endliche Wirklichkeit für sie bedeutet, ohne jemals zu einer unbedingten
Erkenntnis darüber zu gelangen. Pinkard schließt aus dieser Unmöglichkeit unbedingter
Erkenntnis auf unsere radikale Fehlbarkeit („radical fallibility“), nicht nur, aber gerade
auch in normativer Hinsicht.
Nun stellt sich jedoch die entscheidende Frage: Wenn es für uns normativ kein
unbedingtes Richtig oder Falsch gibt, und wenn wir diesen Umstand erkennen, wie können
wir dann in dem, was wir tun, normativ jemals radikal fallibel sein. Natürlich wird in
dieser Erkenntnis niemand mehr mit irgendeinem Recht behaupten können, dass er in
seinem Tun richtig läge, weil dieses Tun durch einen unbedingten Grund gerechtfertigt
werde. Aber das bräuchte er in dieser Erkenntnis ja auch überhaupt nicht und es dürfte von
ihm konsequenterweise auch nicht erwartet werden. Es würde am Ende sogar die
unbegründete Feststellung genügen, dass er etwas will; dass er will, was er tut; dass er tut,
was er tut. Und wie sollte jemand darin jemals falsch liegen? Dass jemand anderes etwas
anderes will und tut, mag er Gründe dafür geben oder nicht, würde mitnichten die
Fehlbarkeit des ersten noch die seiner selbst bedeuten und wäre auch überhaupt kein
Problem, solange ihr Wollen und Tun sich nicht widerspricht. Aber auch im Falle eines
308
309
Ebd., Seite 188.
Vgl. ebd., Seite 45ff.
131
Widerspruches läge dann keiner der beiden im eigentlichen oder eben radikalen Sinne
falsch. Eine andere Frage ist es, wie diese problematische Situation gelöst wird. Und hier
kommt die Lebensform ins Spiel, die Ideale und Normen bereit hält, welche einen Rahmen
setzen, innerhalb dessen mit oder ohne Einsatz dritter Gewalt der Widerspruch praktisch
aufgelöst werden kann. In Bezug auf einen solchen Rahmen könnte man dann natürlich
von einem Richtig oder Falsch sprechen, mit Sicherheit aber nicht in einem radikalen,
sondern nur in einem relativen Sinn. Man könnte also nur von einer relativen Fallibilität
sprechen. Denn die gültigen Ideale und Normen sind in Anbetracht der konstatierten
Konventionalität und Historizität jeder Lebensform ja nicht notwendig etwa auf rechtliche
Gleichheit sowie politische und soziale Gerechtigkeit hin ausgelegt. Die Lösung dieses
Widerspruches bleibt in historisch-politisch verkomplizierter Weise relativistisch. Und ich
sehe nicht, wie die Ausrichtung auf Wahrheit, zumindest in ihrer von Pinkard
beschriebenen Konsequenz für die Selbst-Erkenntnis, hieran irgendetwas ändern könnte.
Im Gegenteil, sie scheint mir den Relativismus, offenbar ungewollt, weiter
festzuschreiben.
Wenn uns der Begriff der Wahrheit in diesem Kontext wirklich weiter helfen soll, dann
müsste von der grundsätzlichen Möglichkeit begründeter Aussagen über ein von seiner
Reflexion und also auch von historischen Konventionen, welche ohne Reflexion nicht zu
denken sind, unabhängiges normatives Faktum ausgegangen werden. Hierbei muss es
nicht schon um etwas Unbedingtes gehen. Es würde ein Sachverhalt genügen, der in
unserer bedingten Natur begründet liegt. Auch macht es dann keinen Sinn, davon
auszugehen, dass wir uns in dieser Hinsicht notwendig widersprechen müssten. Natürlich
bleibt die Möglichkeit des Widerspruches bestehen. Aber dieser wäre in epistemischen
Fehlern oder in Missverständnissen, nicht im Gegenstand der Erkenntnis begründet. Und
erst unter der Voraussetzung eines solchen normativen Faktums würde auch die Rede von
unserer radikalen und nicht nur relativen Fallibilität in normativen Zusammenhängen wenn
überhaupt einen Sinn ergeben. Ist eine solche Erkenntnis möglich? Bernard Williams
äußert sich diesbezüglich eher pessimistisch: „The project of giving to ethical life an
objective and determinate grounding in considerations about human nature is not, in my
view, very likely to succeed. But it is at any rate a comprehensible project, and I believe it
represents the only intelligible form of ethical objectivity at the reflective level.“310
Ob wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, gehen wir nicht von einer grundsätzlichen
Erkenntnismöglichkeit eines normativen Faktums aus, dann könnte der Begriff der
Wahrheit dem Relativismus nicht im Geringsten etwas entgegenstellen, das uns, wenn
auch keine „einfache Ruhe“ gibt, so doch auch nicht hilflos in den „bacchantischen
Taumel“ der Geschichte blicken lässt. Ohne diese Möglichkeit würden wir uns von
hegelschen Eulen in benjaminsche Engel der Geschichte verwandeln, die mit
310
Williams (1985), Seite 153.
132
aufgerissenen Augen und offenem Mund, ihre Flügel im Sturm verfangen mit dem Rücken
voran in die Zukunft getrieben werden, um zu sehen wie sich vor ihnen „unablässig
Trümmer auf Trümmer häuft.“311 Befriedigend wäre diese Aussicht nicht. Ich stimme mit
Bernard Williams insoweit überein, dass, wenn eine solche durch unsere Natur
begründbare, objektive Aussage über ein normatives Faktum möglich sein sollte, diese
Erkenntnis weder Grund der Möglichkeit wäre, uns diesem entsprechend zu verhalten,
noch, dass ein solches Verhalten durch einen solchen Aufweis erst zu einem richtigen oder
„wahren“ würde.312 Die praktischen Konsequenzen einer solchen Untersuchung werden
also nicht neu und ungewohnt erscheinen müssen. Aber ich bin der Ansicht, dass wir in
unserer reflexiven Natur nicht auf die Explikation eines solchen normativen Faktums,
wenn dies möglich ist, verzichten sollten. Denn unsere Praxis ist von unseren Reflexionen
darüber, was wir als wahr oder nicht-wahr ansehen, stark beeinflusst. Die Reflexion ist
selber Teil der Praxis. Und allein ein solches normatives Faktum könnte dem
Fortschrittsbegriff über den Relativismus hinaushelfen. Bevor ich zu dem Versuch des
Aufweises eines solchen in unserer Natur liegenden normativen Faktums mit einer sich
daran anschließenden Wiederaufnahme der hier vorgebrachten Kritik an der pinkardschen
Argumentation übergehe, ist es jedoch notwendig, deutlich zu machen, was ich dabei als
„unsere Natur“ voraussetze.
Befriedigung und natürliche Vernunft
Ich will mit Schnädelbachs Worten danach fragen, was es auf einer sehr allgemeinen
Ebene „bedeutet, daß wir endliche, zugleich natürliche und geschichtliche und im übrigen
vernunftbegabte Wesen sind.“313 Zunächst einmal denke ich, dass die Begriffe „endlich“,
„natürlich“ und „geschichtlich“ auf unterschiedliche Weise in die gleiche Richtung zeigen.
Sie weisen auf unsere Begrenztheit hin; unsere „Endlichkeit“ bedeutet die raumzeitliche
Begrenztheit unserer Fähigkeiten sowie unserer Existenz insgesamt; unsere
„Natürlichkeit“ weist auf unsere Begrenztheit in Form der Abhängigkeit von unserer
physischen und sozialen Umwelt; unsere „Geschichtlichkeit“ meint unsere Begrenztheit in
Hinsicht auf die Determination unserer Existenz durch vergangenes Geschehen, aber auch
die Notwendigkeit zur Veränderung. Was aber bedeutet die „Vernunftbegabtheit“? Ich will
„Vernunft“ zunächst nicht schon als Reflexivität oder gar Diskursivität verstehen, sondern
ihren Kern in dem weiter oben beschriebenen eher reflexhaft sich verhaltenden
interessierten, erlebenden und freien Subjekt suchen, das sich im Ergreifen der
Möglichkeit interessierten Daseins überhaupt um sein individuelles, nicht einfach
311
Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders.: Erzählen – Schriften zur Theorie der
Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007, Seite 133.
312
Vgl. Williams (1985), Seite 155.
313
Schnädelbach (1993), Seite 23.
133
gegebenes Dasein bemüht.314 Damit aber wird Vernunft an die Thematik der Begrenztheit
zurückgebunden. Denn dieses subjektive Dasein ist ein endliches, natürliches und
geschichtliches. Und gerade in der Begrenztheit des subjektiven Daseins kann, so denke
ich, deutlich werden, was Vernunft meint. Hierin stimme ich wiederum mit Bernard
Williams überein, der darauf hingewiesen hat, dass es die Begrenzungen, die Restriktionen
sind, vor deren Hintergrund überhaupt deutlich werden kann, was es heißt, vernünftig zu
sein. Er bezeichnet ein vernünftiges Wesen als einen „finite, embodied, historically placed
agent“.315 Ähnlich verstehe ich Vernunft als ein bestimmtes Verhalten eines endlichen,
verkörperten bzw. natürlichen und geschichtlichen sowie interessierten, erlebenden und
freien Daseins.
Es bleibt die Frage, worin dieses Verhalten genauer besteht. Dazu gilt es zunächst einen
kleinen Umweg zu machen und sich Folgendes deutlich vor Augen zu führen. Mit der
Begrenztheit ist eine grundlegende Differenz zwischen dem begrenzten Subjekt selbst und
der es umgebenden Umwelt gesetzt. Dabei handelt es sich letztlich um die gleiche
Differenz von der auch Pinkard spricht, wenn er, wie schon zitiert, in Bezug auf den
Wahrheitsbegriff schreibt: „[...] one must at least minimally take it for granted that there is
a normative line to be drawn between our awareness of an object and the object itself.“316
An anderer Stelle führt er aus: „Direct observation involves drawing a quasi-metaphysical
line between appearance and the „inner“ of appearance – between appearance and what
appears – and that line is drawn within experience itself by our conceptual capacities as
linked to our sensory capacities, not by our sensory capacities alone.“317
Dazu will ich anmerken: Selbst wenn es jeweils das Subjekt ist, das diese Linie, diese
Differenz reflexhaft oder reflexiv zieht, haben wir, so denke ich, allen Grund, nicht nur
von einer „quasi-metaphysical line“ zu sprechen, sondern von einer metaphysischen
Differenz, die tatsächlich, also auch unabhängig von ihrer Reflexion besteht. Diese
Differenz kann nicht weniger objektiv sein als die Gegenstände, die wir als von uns
geschieden erkennen. Natürlich sollte diese Differenz nicht zu einem Ding hypostasiert
werden, das unabhängig von den sich unterscheidenden Entitäten besteht. Auch bedeutet
sie mitnichten die Negation der wechselseitigen Beeinflussung von Subjekt und Umwelt.
Aber das ändert nichts daran, dass es sich dabei um eine reale oder wirkliche Differenz
handelt. Und insofern sie mit den Sinnen nicht zu erkennen ist, die uns mit den äußeren
Gegenständen verbinden, für sich also diese Grenzlinie vielmehr überschreiten als sie zu
setzen, ist diese Differenz mit vollem Recht als metaphysisch zu bezeichnen. Ich verstehe
den Begriff der „Metaphysik“ nicht in einer Weise, die seine grundsätzliche Loslösung von
314
Vgl. Seite 108ff. dieser Arbeit.
Vgl. Williams (1985), Seite 57f.
316
Pinkard (2012), Seite 49.
317
Ebd., Seite 52f.
315
134
der „Physik“ propagiert, wenn auch als einen Bereich von Erkenntnissen, welche nicht
durch Sinneswahrnehmung begründet werden können. Negiert man die Objektivität dieser
metaphysischen Differenz, so befindet man sich unausweichlich entweder auf dem Weg zu
einer im Solipsismus endenden Verabsolutierung der eigenen Subjektivität oder man muss
behaupten, dass das individuelle Subjekt im eigentlichen Sinne gar nicht existiert.
Ich denke nicht, dass diese Positionen theoretisch haltbar sind – was ihrer möglichen
heuristischen Funktion im Rahmen kognitiver Experimentalität keinen Abbruch tut –, und
mit Sicherheit sind sie es auch nicht praktisch. Niemand wird im Alltag darum herum
kommen, diese Differenz vorauszusetzen. Man mag hier noch einwenden, dass diese
Differenzierung zwar praktisch notwendig sei, dies jedoch keinen Beweis für deren
Objektivität bedeute, d.h. für deren vom Subjekt unabhängiges Bestehen. Nun, sie besteht
sicher nicht unabhängig von ihm, insofern diese subjektive Unterscheidung objektiv auch
das sich von den äußeren Gegenständen unterscheidende Subjekt voraussetzt. Aber sie
besteht sicherlich unabhängig von ihrer subjektiven Anerkennung. Mehr als die
zugestandene, praktisch erfahrene Notwendigkeit dieser Unterscheidung braucht meines
Erachtens auch gar nicht gefordert zu werden, um die Objektivität dieser Differenz
begründet behaupten zu können. Die Objektivität dieser Unterscheidung sagt dabei noch
nichts über das Verhältnis zwischen unseren positiven Vorstellungen und den
Gegenständen aus, die wir durch diese Vorstellungen repräsentieren. Hier bleibt aller
Raum für Diskussionen. Ich für meinen Teil gehe nicht davon aus, dass wir die Dinge
wahrnehmen können, wie sie an sich sind. Denn unsere Wahrnehmungen von den Dingen
sind unsere Wahrnehmungen von den Dingen und geben keine Auskunft darüber, wie es
denn ohne diese um die Dinge stünde. Ob etwa ein Baum auch wie ein Baum aussieht,
wenn ihn keiner sieht, ist eine sinnlose Frage. Dennoch halte ich einen bescheideneren
adaequatio-Begriff für haltbar und sinnvoll. Wir können die von uns unterschiedenen
Gegenstände so wahrnehmen, wie es für unsere Zwecke hinreichend und in diesem Sinne
adäquat ist. Die Feststellung, dass es von uns und unserer Wahrnehmung unabhängige
Dinge gibt und diese einen Einfluss darauf haben, dass und wie wir sie wahrnehmen, bleibt
davon unberührt. Und in diesem Zusammenhang kann auch Kants Begriff des „Dinges-ansich“ eine durchaus sinnvolle Bedeutung bekommen. Das „Ding-an-sich“ meint dann
nichts weiter, als dass etwas von mir real Verschiedenes existiert, ohne damit
irgendwelche weiteren Ansprüche hinsichtlich einer Erkenntnis dieses „an-sich“ zu stellen
und ohne diesem mit der Existenz auch schon eine unbedingte Substanzialität, d.h. eine
selbstsuffiziente Existenz zusprechen zu wollen.
Vor dem Hintergrund der beschriebenen metaphysischen Differenz zwischen Subjekt und
Umwelt sowie dem vorgeschlagenen Begriff der Adäquanz, der nicht nur in epistemischer
Hinsicht verstanden werden kann, werde ich nun versuchen, deutlich zu machen, worin ich
die Natur der Vernunft oder die natürliche Vernunft liegen sehe. Ich verstehe die
135
natürliche Vernunft, wie bereits gesagt, als eine grundlegende Verhaltensweise endlicher,
natürlicher und geschichtlicher sowie interessierter, erlebender und freier Subjekte. Ein
solches Subjekt steht in einer metaphysischen Differenz zu seiner Umwelt, von der es doch
abhängig ist, auf die es zur Verwirklichung seiner Interessen angewiesen ist, nicht zuletzt
in Bezug auf sein Interesse am eigenen Dasein. Vernunft ist das subjektive Bemühen um
ein nicht völlig beherrschbares, nicht abschließend zu erreichendes adäquates
Zusammenspiel zwischen Subjekt und Umwelt, das mit einem befriedigenden Erleben
einhergeht. Vernunft ist die auf Adäquanz mit der Umwelt zielende Aktivität des Subjekts.
Das Subjekt muss sich um die Verwirklichung seiner Interessen bemühen, sie werden von
der Umwelt nicht einfach erfüllt. Dabei kann man meines Erachtens zwischen drei
Aspekten unterscheiden. Zum einen muss das Subjekt die Umwelt modifizieren,
bearbeiten und gestalten, sie seinen Interessen adäquat machen. Ich möchte dies den
kreativen Aspekt der Vernunft nennen. Zugleich aber findet das Subjekt in sich und der
Umwelt Bedingungen vor, an die es sich und seine Interessen anzupassen ein Interesse hat,
um ein adäquates Verhältnis zwischen sich und der Umwelt herzustellen. Diesen
Zusammenhang bezeichne ich als adaptiven Aspekt der Vernunft. Und schließlich kann
das Subjekt in einem Verhältnis zu anderen Subjekten in der Umwelt stehen und ein
Interesse daran haben, seine Interessen mit denen der anderen in adäquater Weise zu
koordinieren. Dies nenne ich den kooperativen Aspekt der Vernunft. Zwar ist auch im
Rahmen des kooperativen Aspektes der Vernunft kreatives und adaptives Verhalten
gefragt, dennoch unterscheidet sich dieser Aspekt deutlich von den anderen Aspekten. Wir
werden noch darauf zurückkommen. Die dargestellten Aspekte verstehe ich als die drei nur
reflexiv voneinander zu trennenden Grundfähigkeiten jedes individuellen
vernunftbegabten Subjektes. Die konkrete Ausprägung dieser Aspekte kann evolutionär
bedingt unterschiedlich stark und sehr verschieden sein. Reflexivität und Diskursivität
begreife ich dabei als evolutionäre Weiterentwicklungen der sich „bloß“ auf reflexhafte
Weise kreativ, adaptiv und kooperativ verhaltenden Subjektivität, nicht also als eine
notwendige Bedingung von Vernunft. Und so finden wir denn auch in unserem reflexiven
und diskursiven Verhalten alle drei Vernunftaspekte wieder. Wir können reflexiv und
diskursiv nach neuen Möglichkeiten suchen, unsere Interessen zu verwirklichen. Dies
bedeutet zugleich aber auch ein Interesse daran, unsere Reflexionen und Diskurse an die
gegebenen, objektiven Bedingungen anzupassen, unter denen sich diese Möglichkeiten
allein ergeben. Schließlich können Reflexivität und Diskursivität auch dem Interesse an
der intersubjektiven Koordination von Interessen dienen.
Es ist nun nicht mehr schwer, eine evolutionäre Brücke zu schlagen von dem Begriff eines
reflexhaft vernünftigen und selbstbezüglichen Verhaltens zu einem reflexiv vernünftigen
Verhalten, das sich selbst reflektiert und das, worum es in seiner Individualität den drei
Aspekten nach geht, in einem Begriff als das gestaltend zu verwirklichende Schöne
136
(kreativer Aspekt), das Wahre (adaptiver Aspekt) und das Gute (kooperativer Aspekt)
vereint;318 und soweit die Adäquanz zwischen Subjekt und Umwelt keine abschließend zu
erreichende ist, diesen Inbegriff der Aspekte als ein gleichbleibendes Telos versteht. Wird
dieser Zielbegriff dann noch mit dem der Existenz kurzgeschlossen, dann sind wir in etwa
bei Platon. Die Verfolgung des Schönen, Wahren und Guten würde mit einem
befriedigenden, vielleicht sogar glücklichen Erleben einhergehen. In Bezug auf die weiter
oben ausführlicher behandelten Denker könnte man weiter sagen, dass Aristoteles das
teleologische Augenmerk von den drei Aspekten vernünftigen Verhaltens weg auf das
subjektive Erleben der Adäquanz hin gerichtet hat, die Befriedigung. Glückseligkeit wäre,
im Sinne meiner obigen Argumentation, die Befriedigung des puren Interesses am Dasein,
ein purer Genuss des Daseins.319 Aristoteles zufolge wäre dieser durch eine Betrachtung
oder Reflexion der ewigen Wahrheiten (adaptiver Aspekt) bzw. durch die Ausübung der
menschlichen Tugenden (kooperativer Aspekt) zu verwirklichen (kreativer Aspekt). Kant
kam zu der in Selbstreflexivität gründenden Formulierung des moralischen Gesetzes
(kooperativer Aspekt), dem es das Verhalten anzupassen gilt (adaptiver Aspekt), was die
Bedingung dafür ist, Glückseligkeit zu verwirklichen (kreativer Aspekt). Hegel hob dann
die Selbstreflexion als solche in ihrer Abstraktheit in den Vordergrund und versuchte sie
als Kulminationspunkt einer diesen hervorbringenden ewigen Bewegung der
Gesamtwirklichkeit (kreativer Aspekt) zu sehen, die zugleich als das Wahre (adaptiver
Aspekt) und das Gute (kooperativer Aspekt) zu verstehen sei.320 Diese verheiße dem
endlichen, natürlichen und geschichtlichen Subjekt keine Glückseligkeit, sondern allein
Befriedigung, wenn es seinen ihm adäquaten kreativen, adaptiven und kooperativen Anteil
an dieser Gesamtbewegung nimmt. Ich bin mir der äußerst groben Holzschnittartigkeit
dieser Darstellung sehr bewusst. Aber sie macht dennoch nachvollziehbar, dass in diesen
Reflexionen, die allesamt darüber Auskunft geben wollen, worum es vernünftigen Wesen
in ihrem Leben geht oder gehen sollte, worin ein vernünftiges Leben besteht, neben der
Ebene des Erlebens immer auch die drei genannten Aspekte virulent sind.
Ebenfalls sehr deutlich wird dieser Zusammenhang in der an Max Webers
kulturhistorische Diagnose der „Entzauberung der Welt“ anschließenden Theorie der
Rationalität von Jürgen Habermas.321 Im Laufe der abendländischen Geschichte, so der
318
Wem diese evolutionstheoretische Brücke als eine allzu brüchige, spekulative Konstruktion erscheint,
der sei auf die Ontogenese eines jeden menschlichen Daseins in seiner Entwicklung von seinem in der
Verschmelzung von Eizelle und Samen gründenden Ursprung bis zu einem sich reflexiv, selbstreflexiv und
diskursiv verhaltenden Subjekt hingewiesen. Warum sollte das, was in dieser individuellen Entwicklung
möglich ist, nicht auch in einer interindividuell-sukzessiven Evolution möglich sein? Allzumal wir das
menschliche Leben in seiner Entstehung ja gerade als aus einer solchen phylogenetischen Entwicklung
hervorgehend verstehen.
319
Vgl. Seite 104 dieser Arbeit.
320
Hegel benutzt den Begriff des Guten nicht in dieser Weise, aber sinngemäß ergibt sich dieser
Zusammenhang aus seiner Wahrheitslehre; vgl. Seite 125ff. dieser Arbeit.
321
Weber (1995), Seite 19.
137
Grundgedanke, sei die platonische Vorstellung der Vernunft als ein auf die ewige Idee des
Schönen, Wahren und Guten gerichtetes Handeln in die prozedurale Verwirklichung dreier
voneinander differenzierter Diskurse überführt worden: den ästhetischen, den
theoretischen und den praktischen. In diesen drei Diskursen würden dabei jeweils
unterschiedliche Geltungsansprüche „mit einem differentiellen Grad diskursiver
Verbindlichkeit“ erhoben: im ästhetischen die Authentizität (kreativer Aspekt), im
theoretischen die Objektivität (adaptiver Aspekt) und im praktischen die Moral
(kooperativer Aspekt). 322 Habermas versteht diese drei Geltungsansprüche „als
gleichursprüngliche Bezugspunkte eines dreistrahligen Differenzierungsprozesses“, der
ihre Loslösung voneinander bedeutet und eine „nachträgliche Integration von Inhalten“
ausschließt.323 Zusammengehalten werden sie dabei allein von ihrer auf die Norm des
Konsenses zielenden diskursiven Form. In ihrer inhaltlichen Losgelöstheit erscheint für
Habermas am Horizont diskursiver Praxis, „wenn die Argumentation nur offen genug
geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte“ 324 , die Möglichkeit, dass die
Geltungsansprüche eines jeden dieser drei Diskursfelder in der gegenseitigen, begründeten
Kritik jeweils gleichberechtigter Diskursteilnehmer lösbar sind.325 Und nur dadurch, dass
die drei Diskurse inhaltlich voneinander getrennt werden und zu ihrem je eigenen Recht
kommen, sei eine vernünftige Gestaltung der alltäglichen Lebenswelt möglich, in der am
Ende allein eine Vermittlung der drei ausdifferenzierten Diskurse ihren Ort und ihr Leben
haben kann. 326 In dieser philosophischen Konzeption der Vernunft ist es also die
diesseitige alltägliche Praxis, das Alltagsbewusstsein, in der unter Rückgriff auf die drei
voneinander getrennten Rationalitätsdiskurse nach einer Integration derselben zu suchen
ist, und nicht mehr „jenseits, in den Gründen und Abgründen der klassischen
Vernunftphilosophie“.327
Der im theoretischen Diskurs angesiedelten Philosophie bleibt allein, sich innerhalb
desselben zwischen den einzelnen Fachwissenschaften sowie nach außen hin zwischen den
Diskursen und der konkreten Alltagswelt hin und her zu bewegen und diskursive Angebote
zu machen, nicht aber darüber zu bestimmen, wie das Zusammenspiel der ansonsten
diskursiv fragmentierten Rationalität gedacht werden könnte. Die Philosophie ist, bildlich
gesprochen, nicht mehr das Herz der Vernunft, sondern der diskursive Blutkreislauf, nicht
mehr das Hirn, sondern das Nervensystem einer rationalen Lebenspraxis. Man kann sich
322
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995,
Seite 339f.
323
Habermas, Jürgen: „Entgegnung“, in: Axel Honneth/Hans Joas: Kommunikatives Handeln, Frankfurt
a.M.: Suhrkamp, 2002, Seite 327-405, Seite 334; 340.
324
Habermas (1995), Band 1, Seite 71.
325
Vgl. de Vries, Hent: Theologie im pianissimo & Zwischen Rationalität und Dekonstruktion, Kampen:
Uitgeversmaatschappij J.H. Kok, 1989, Seite 23ff.
326
Vgl. Habermas (1995), Band 1, Seite 339; sowie Habermas (1995), Band 2, Seite 586.
327
Habermas, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983,
Seite 26.
138
nur schwer dem Eindruck erwehren, dass für Habermas mit der Projektion eines solchen
diskursiv diversifizierenden und alltäglich integrativen Rationalisierungsprozesses die
Aussicht auf ein gutes, glückendes und befriedigendes, unter Umständen sogar glückliches
Leben verbunden ist. „Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne“328
und Verständigung, als dynamische Abfolge partikularer Konsense, könnte mit Habermas
durchaus als eine, wenn auch formale, „Antizipation des guten Lebens“ verstanden
werden.329 Hier sei an das Zitat von Schnädelbach erinnert: „In der praktisch-politischen
Verlängerung des Gedankens der kommunikativen Einheit der Vernunft wird das sichtbar,
was auch real solche Einheit allein ermöglicht: der Frieden.“330
Ich möchte im Folgenden den Begriff der Vernunft wie ich ihn vorgeschlagen habe in
Annäherung an diese Grundstruktur von Habermas’ Rationalitätstheorie weiter
verdeutlichen. Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen den von mir unterschiedenen drei
gleichursprünglichen Aspekten der Vernunft und den drei gleichursprünglichen
Bezugspunkten der voneinander differenzierten Diskursformen sowie zwischen meinem
Verständnis der Vernunft als ein Verhalten und der Prozeduralität der Diskurse ruft
geradezu nach einem solchen Vergleich; ebenfalls die, wenn auch bloß formale
Vorwegnahme eines friedlichen Lebens, auf welches diese Praxis zielt. Ich werde mich
dabei von jeglicher Detailkritik der habermasschen Argumentation fernhalten. Allerdings
wird in dieser Annäherung trotz aller strukturellen Gemeinsamkeit eine grundsätzliche
Kritik deutlich werden, die zugleich den Begriff der Vernunft als ein kreatives, adaptives
und kooperatives Verhalten eines interessierten, erlebenden und freien Subjektes im
Verhältnis zu seiner Umwelt tiefergehender qualifiziert.
Ein erster entscheidender Unterschied liegt in der Orientierung vernünftigen Verhaltens.
Während bei Habermas der intersubjektive Konsens, die diskursive Übereinstimmung als
oberste Norm der Rationalität angenommen wird, ist es bei dem von mir vorgeschlagenen
Vernunftbegriff die Übereinstimmung, die Adäquanz im Verhältnis zwischen
interessiertem Subjekt und physischer sowie sozialer Umwelt. In diesem
Vernunftverständnis wird der Verweis auf eine metaphysische Differenz zwischen Subjekt
und Umwelt vorausgesetzt. Ich nehme aber an, dass auch die Norm des Konsenses nicht
ohne diese Differenz auskommt. Habermas kann nicht im Ernst diese Differenz bestreiten
wollen, setzt er sie doch selbst in Form der voneinander unterschiedenen, um einen
Konsens ringenden Subjekte voraus. Eine Negation derselben hieße letztlich, seine
Rationalitätstheorie sowie die Wirklichkeit, die sie beschreiben soll, als ein Selbstgespräch
eines individuellen, sich selbst undurchsichtigen absoluten Subjektes zu verstehen, das,
328
Habermas (1995), Band 1, Seite 387.
Habermas, Jürgen: „Ein Interview mit der New Left Review“, in: ders.: Die neue Unübersichtlichkeit,
Kleine politische Schriften V, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985, Seite 213-257, Seite 236; vgl. de Vries
(1989), Seite 38 n. 97.
330
Schnädelbach (1993), Seite 23.
329
139
soweit es nicht Habermas selbst ist und auch nicht jeweils wir anderen, die wir uns mit
seinen Gedanken beschäftigen, ein drittes über uns stehendes sein müsste.
Oder aber die Konsequenz wäre, seinen im Diskurs befindlichen Subjekten und auch sich
selbst ihre wirkliche Existenz als Individuen abzustreiten, was die Sache nicht leichter
macht. Denn zur Negation der individuellen Existenz muss zumindest die Existenz des
individuellen Gedankens der Existenznegation vorausgesetzt werden. Oder, wenn auch
diesem Gedanken – so wie dem diesen denkenden Individuum – eine wirkliche Existenz
abgesprochen werden soll, dann müsste erklärt werden, wie es denn sein kann, dass ein
„nicht wirklich“ existierendes individuelles Subjekt sowohl über den Begriff eines
Individuums als auch über den einer „wirklichen“ Existenz verfügen kann, ohne die es sich
seine „wirkliche“ Existenz als Individuum gar nicht absprechen könnte. Man müsste etwa
von angeborenen Begriffen der Individualität und einer „wirklichen“ Existenz ausgehen
und zugleich erklären, wie diese einem nicht „wirklich“ existierenden Individuum
überhaupt angeboren sein können; und sich damit in den verwegensten metaphysischen
Spekulationen ergehen und meines Erachtens verlieren. Wir können zwar erleben, dass wir
„etwas“ denken oder sagen, nicht aber verstehen, was wir denken oder sagen, wenn wir
uns unsere individuelle Existenz absprechen.
Es ist dies die alte und doch immer wieder neue, prominent bei Augustinus und Descartes
zu findende Erkenntnis, dass sich ein Zweifel an unserer individuellen Existenz gar nicht
durchhalten lässt, und, so wir über eine berechtigte Heuristik hinaus nicht Abstand davon
nehmen, in Verzweiflung geraten. Mit dieser Erkenntnis muss weder die Annahme eines
identischen metaphysischen Selbst noch eine existenzielle Unabhängigkeit von der
Umwelt postuliert werden. Das tue ich explizit nicht. Weder schreibe ich einem
individuellen Subjekt eine metaphysische Identität zu, noch behaupte ich seine von der
Umwelt unabhängige Existenz. Ich behaupte allein seine Individualität und eine
metaphysische Differenz derselben zur Umwelt. Und ich nehme vor dem Hintergrund des
Gesagten an, dass ich mit Habermas über diese Annahme einen Konsens erzielen kann,
weil er sie für seine Theorie selbst voraussetzen muss, in seiner Alltagspraxis es ohnehin
tun wird. Es wäre ein Konsens über eine für den Konsens und damit für die Norm seiner
Theorie selbst vorauszusetzende Bedingung. Und indem dieser Konsens meinem
Verständnis nach nichts anderes heißt, als dass wir in diesem Konsens unsere Reflexion
und unser Selbstverständnis in ein adäquates Verhältnis zur Umwelt setzen, liegt in der
Norm des Konsenses selbst ein Verweis auf die Norm der Adäquanz zur Umwelt
verborgen.
Kommen wir nun zur Diskussion des Verhältnisses zwischen den drei Aspekten der
Vernunft und den drei Diskurstypen bei Habermas. Überraschenderweise wird diese
Annäherung vor allem eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem ästhetischen
140
Diskurs bedeuten, in deren Verlauf allerdings auch der theoretische und der praktische
Diskurs thematisch bleiben werden. Zunächst – und kurz – zu den meiner Meinung nach
weniger problematischen Verhältnissen. Der adaptive Aspekt ist mit dem theoretischen
Diskurs nicht schwer in Verbindung zu bringen. Der auf objektive Geltungsansprüche
zielende theoretische Diskurs kann ohne größere Schwierigkeiten als die gemeinsame
Suche nach Adaption unserer Reflexion an die unveränderlichen oder veränderlichen
Bedingungen unseres Lebens verstanden werden. Auch das Verhältnis zwischen
kooperativem Aspekt und praktischem Diskurs ist meines Erachtens unproblematisch. Im
praktischen Diskurs suchen wir reflexiv nach einer Einigung über die Regeln, nach denen
wir unsere Interessen koordinieren wollen. Wie aber verhält es sich mit dem kreativen
Aspekt, den ich als ein interessegeleitetes Gestalten der Umwelt verstehe, und dem
ästhetischen Diskurs? In welchem Sinne könnte der ästhetische Diskurs seine Basis in
einem interessegeleiteten Gestalten der Umwelt finden? Und ist es nicht gerade die
Intentionslosigkeit ästhetischen Schaffens, über die Habermas den Vernunftbegriff über
ein instrumentalistisches, auf die Verwirklichung von Interessen gerichtetes Verständnis
hinaus erweitern will?331
Hinter dem ästhetischen Diskurs verbirgt sich bei Habermas, soweit ich dies sehe, eine
intersubjektive Vergegenwärtigung und Vergewisserung des zweckfreien individuellen
Erlebens.332 Auf der Basis seiner authentischen Expressivität im Kunstwerk und dessen
Rezeption und Kritik können für das individuelle Erleben neben den auf Allgemeinheit
und Universalität hin ausgerichteten Diskursen über Objektivität und Moral Freiräume
geschaffen und seine diskursive Anwesenheit behauptet werden. Ich möchte zumindest
kurz umreißen, vor welchem Hintergrund diese These plausibel wird. Was wie
selbstverständlich klingt, zumindest für aufgeklärte Ohren, dass ein zweckfreies
individuelles Erleben nicht Gegenstand Allgemeingültigkeit beanspruchender theoretischer
und praktischer Reflexionen sein kann, ist nicht immer so selbstverständlich gewesen. So
sicherte die sich bei Platon findende sowie etwa mit den biblischen Religionen verbundene
und von Kant vor verändertem argumentatorischen Hintergrund aufgenommene
Vorstellung eines Erlebens nach dem Tod dem individuellen Subjekt diese
Selbstbezüglichkeit nicht nur in der behaupteten oder postulierten Objektivität dieses
nachtodlichen Daseins, sondern auch in den Vorstellungen der Moral, in denen es ja
gerade darum ging, sich um dieses jenseitige Erleben aus freien Stücken zu sorgen oder
zumindest einen Ausblick darauf zu bekommen. Bei Aristoteles war diese
Selbstbezüglichkeit des Erlebens, wenn auch nicht in der Vorstellung der Unsterblichkeit
der Seele, so doch aber in der Ausrichtung auf das Erleben der eigenen Glückseligkeit
thematisch; wobei man sich durchaus fragen kann, was Aristoteles eigentlich genau damit
meinte, wenn er sagt, dass wir uns soweit als möglich bemühen sollen, „unsterblich zu
331
332
Vgl. de Vries (1989), Seite 26ff.
Vgl. ebd., Seite 25ff.
141
sein“.333 Sollte dies nur heißen, sich der betrachtenden Existenz der unsterblichen Götter,
an die er doch nicht glaubte, oder dem ewigen „unbewegten Beweger“ soweit wie möglich
anzugleichen? Oder hielt er ein Dasein nach dem Tode, nicht der menschlichen Seele, die
er ja als den strebenden Aspekt unseres endlichen Lebens verstand, sondern als ein nicht
mehr strebendes, einfaches, unbewegtes und glückseliges Erleben für möglich? Hier ist vor
allem an seine Diskussion des nous in „De anima“ zu denken.334
Wenn ich hier hinsichtlich des Unsterblichkeitsgedankens von einer Selbstbezüglichkeit
des zweckfreien individuellen Erlebens spreche, so mag das vielleicht verwundern, weil
gerade mit solchen metaphysischen Gedanken zumeist die Vorstellung einer Zweck- oder
Sinngebundenheit verbunden wird. Aber welcher Sinn läge denn, zu Ende gedacht, in
einem Erleben nach dem Tod? Meines Erachtens kein anderer als im Erleben des
morgigen, des heutigen und gestrigen Tages: nämlich keiner. Erleben als solches, mag es
noch so unsterblich sein, hat keinen Sinn oder Zweck und kann so letztlich auch dem
diesseitigen Erleben keinen Sinn oder Zweck verleihen. Nun mag noch die Vorstellung
eines nachtodlichen Heils oder einer vollkommenen Glückseligkeit als ein solcher Sinn
oder Zweck gedacht werden. Aber welchen Sinn und Zweck hätte ein solches Erleben?
Die Antwort lautet wiederum: keinen. Es könnte schön, glückselig oder wunderbar
genannt werden und man könnte es als „sinnvoll“ beschreiben, ein solches leidloses
Erleben anzustreben. Aber wenn der Sinn des Erlebens in der Suche nach einem leidlosen
Erleben gesucht würde – ob diesseitig oder jenseitig – das ist letztlich ganz egal, dann
würden wir spätestens mit dem Erreichen desselben in einem sinnlosen Erleben landen.
Wer darauf besteht, dass dem Erleben ein Sinn zukommt und dieser im Heil zu finden sei,
der müsste konsequenterweise auch auf das Leid bestehen, weil es dem ansonsten
sinnlosen Erleben überhaupt erst einen Sinn zu geben vermag. Die Sinnstiftung läge dann
also gerade im Leid und nicht in einem leidlosen Erleben. Der den Sinn des Erlebens im
Heil Suchende befindet sich in einer masochistischen, vielleicht sogar
sadomasochistischen Sackgasse. Das Erleben, ob im Diesseits oder möglicherweise auch
im Jenseits, ist sinn- und zweckfrei. Und selbst ein „Dasein Gottes“ würde daran nichts
ändern. Völlig unberührt von dieser Sinn- und Zweckfrage bleibt hingegen, dass wir ein
immenses Interesse am individuellen Erleben entwickeln können und dass jedes Erleben
immanent immer schon mit einem Interesse verbunden ist. Es geht um die oben
beschriebene Gleichursprünglichkeit von Interesse, Erleben und Freiheit.335 Ich komme
wieder darauf zurück. Es sollte nun verständlich sein, wieso ich auch in den
metaphysischen Gedanken über ein Erleben nach dem Tod die Selbstbezüglichkeit eines
zweckfreien individuellen Erlebens sehe.
333
Siehe Aristoteles NE (2001), Seite 443.
Aristoteles: Über die Seele, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1995; vgl. hierzu Welsch (2012), Seite 207.
335
Vgl. Seite 113ff. dieser Arbeit.
334
142
Für ein sich in der Neuzeit immer weiter verbreitendes empirisches Denken erscheint
dieser Selbstbezug des Erlebens im Rahmen metaphysischer Ausgriffe auf ein
nachtodliches Erleben im zunehmenden Maße als unredlich. Vorstellungen über ein
Erleben nach dem Tod, auch in Form von Reinkarnationsgedanken, sind empirisch
prinzipiell nicht überprüfbar und verlieren für ein empirisches Denken, zumindest wenn es
konsequent durchgehalten wird, notwendig den Status berechtigter Behauptungen, ihren
Status als Wissen. Sie scheiden aus dem theoretischen Diskurs aus. Auch aus dem
praktischen Diskurs müssen sie deshalb für ein konsequent bleibendes empirisches Denken
herausfallen. Sie können nicht mehr in Verbindung mit vorauszusetzenden Normen zur
Konstruktion von Grund-Folge-Kalkülen in Hinblick auf jenseitigen Lohn oder jenseitiger
Strafe gebraucht werden; zur Begründung von Normen haben solche Vorstellungen noch
nie dienen können.
Ich möchte hier allerdings betonen, dass es ebenso in der Konsequenz des empirischen
Denkens liegen muss, die mit der Abstinenz gegenüber jeglichen empirischen
Ausmalungen verbundene Möglichkeit eines Erlebens nach dem Tode offen zu halten.
Denn genauso wenig, wie sich Vorstellungen über ein solches nachtodliches Erleben
empirisch überprüfen lassen, lässt sich auch die Negation desselben überprüfen. Dies wird
von einem nicht mehr empirischen Denken oft vergessen, welches das spätestens seit
Francis Bacon explizit formulierte naturwissenschaftlich-experimentelle Programm zur
Speerspitze einer „Vernunft“ macht, die nicht nur ein metaphysisches Weltbild nach dem
anderen zum Platzen bringen will, sondern ein ebensolches hinter sich herzieht.
Die sensualistisch-materialistische Verklärung, aus der eine solche Negation erwächst, hat
im Rahmen evolutionstheoretischer Gedankengänge auch ein anderes in diesem
Zusammenhang merkwürdiges Ergebnis mit sich gebracht. Aus einer sich im
Unsterblichkeitsgedanken ausdrückenden Selbstbezüglichkeit des individuellen Erlebens
wurde eine in die Unendlichkeit ausgreifende genetische Selbstbezüglichkeit. In der
Evolutionstheorie wird mittlerweile die „inclusive fitness“, zu verstehen als
generationsübergreifende, im Prinzip unendliche Weitergabe individueller Gene, als
„ultimate causality“, als die letztendliche Ursache individueller Motivation diskutiert.336
So wird die Unsterblichkeit des Erlebens materialistisch transformiert und in die Obhut
einer genetischen „Vernunft“ gegeben, die sich sogar in einem die Erfolgsaussichten
steigernden altruistischen Verhalten äußern könne, also wiederum praktische Aspekte, nun
aber auf genetischer Basis, in den theoretischen Diskurs integriert. Ein Gedanke, der
meines Erachtens materialistisch überhaupt nicht durchzuhalten ist. Denn letztlich werden
nur genetische Informationen, nicht aber die materiellen Träger der Information
weitergegeben. Die nach Unsterblichkeit strebende genetische „Vernunft“ hat also, genau
336
Bernard, Larry u.a.: „A Evolutionary Theory of Human Motivation“, in: Genetic, Social, and General
Psychology Monographs, 131(2), 2005, 129-184, Seite 134ff.
143
genommen, eine nicht-materielle Kehrseite. Was man aber unter dieser nicht-materiellen
Kehrseite genauer zu verstehen hat und inwiefern diese in irgendeiner Hinsicht ein
Interesse an ihrem Fortbestand haben könnte, aus dem heraus sie Individuen zu
altruistischem oder sonstigem ihren Fortbestand sicherndem Verhalten veranlasst und wie
sie dazu fähig wäre, bleibt dabei völlig ungeklärt. Und ich habe den Eindruck, dass hier die
Phantasie über ein begründetes Denken hinwegschnellt. Wie dem auch sei, für ein
konsequent empirisches Denken können wir Folgendes festhalten: Aus dem theoretischen
und praktischen Diskurs sind alle Ausmalungen über ein Erleben nach dem Tod
auszuschließen, nicht aber die Möglichkeit eines solchen. Diese Möglichkeit liefert aber
weder dem theoretischen Diskurs einen zu erforschenden Gegenstand noch kann sie im
praktischen Diskurs weiterhin für Grund-Folge-Kalküle gebraucht werden.
Wie aber hängt dieses vor dem Hintergrund der Entwicklung des neuzeitlichen
empirischen Denkens für den theoretischen und den praktischen Diskurs nachvollziehbare
Ergebnis mit der Ausbildung des ästhetischen Diskurses zusammen? Um einer möglichen
Antwort näher zu kommen, lohnt es sich, noch einmal einen Schritt zurück und hinüber
zum praktischen Diskurs zu gehen. Die Konsequenz, die das empirische Denken für den
praktischen Diskurs bedeutet, ist, dass in diesem Grund-Folge-Kalküle nicht mehr mit
Spekulationen über ein nachtodliches Erleben aufgeladen werden können. Wenn man nun
bedenkt, dass dadurch die Möglichkeit von Grund-Folge-Kalkülen im praktischen Diskurs
nicht generell aufgehoben ist, dann wird deutlich, dass hinter den Vorstellungen über ein
nachtodliches Erleben natürlich etwas anderes stecken muss, als eben diese Kalküle
überhaupt zu ermöglichen. Ein Aspekt ist Macht. Indem man etwa mit ewigen Qualen, aus
denen es anders als in einer kontingenten Welt keine Chancen des Entrinnens gibt, noch
nicht einmal durch den Tod, sondern dieser im Gegenteil gerade den Einstieg dorthin
bedeutet, oder aber zumindest mit dem Fegefeuer drohte, konnte man suggestiv, ja nicht
zuletzt auch autosuggestiv Gefügigkeit erzeugen; anders herum natürlich auch durch das
Versprechen ewiger Wonne. Etwas weniger drastisch sind die Wege der Reinkarnation.
Aber auch hier gilt: Es gibt kein Entkommen. Insofern bedeutet der empirische Abgesang
an die Nachtodphantasien eine Befreiung zumindest von diesen Mächten. Und diese
Befreiung ist in der Kunst offensichtlich. Denn es war ja gerade die Kunst, die diesen
Gedanken einen ästhetischen Ausdruck verlieh und die Bildwelten der Menschen prägte.
Man braucht sich nur die Veränderung künstlerischer Motive vor Augen zu halten, um
diese Befreiung zu erkennen. Aber diese Befreiung erklärt nicht auch schon das Festhalten
am künstlerischen Schaffen und die Herausbildung des ästhetischen Diskurses. Es gibt
neben der Macht noch einen zweiten und ich denke auch ursprünglicheren Hintergrund,
und dieser wird sich für den ästhetischen Diskurs als entscheidend entpuppen.
Der Gedanke an ein nachtodliches Erleben entspringt dem Interesse am individuellen
Erleben überhaupt, jenes grundlose Interesse, das ich als das grund-legende Interesse aller
144
individuellen Subjektivität beschrieben habe, und das wir je selbst sind.337 Individuelles
Erleben ist ohne dieses Interesse nicht zu haben, es fällt mit diesem wortwörtlich
individuell zusammen. Es ist an diesem Punkt ganz entscheidend, das individuelle Erleben
als ein interessiertes Erleben zu verstehen. Denn was sich anders als im Hinblick auf den
bloßen Begriff des Erlebens mit dem Interesse am eigenen Erleben auftut, ist die
Selbsttranszendenz eines jeden Subjekts. Ein Subjekt transzendiert sich im Interesse an
seinem nicht einfach gegebenen, sondern immer wieder neu zu erringenden Erleben in eine
unbestimmte Zukunft, die es aber gerade noch nicht erlebt. Das Innerste eines Subjekts
kann deshalb nicht auf den Begriff des Erlebens reduziert werden. Und diese
Selbsttranszendenz gilt für jeden noch so einfachen Organismus. Das
Selbsterhaltungsinteresse, ja allein schon das Selbsterhaltungsverhalten eines jeden
Organismus bedeutet eine über die Gegenwart hinausgehende Selbsttranszendenz in ein
noch unbestimmtes individuelles Erleben hinein.
Ich schließe mich in dieser Betrachtung einer philosophischen Biologie an, wie ihr auch
Hans Jonas in Organismus und Freiheit gefolgt ist.338 Jonas macht den Begriff einer
solchen natürlichen Transzendenz von Organismen allerdings allein im Hinblick auf die
Bedürftigkeit bzw. Abhängigkeit desselben von seiner Umwelt deutlich. Der Organismus
geht in seiner Abhängigkeit von einer von ihm unterschiedenen Umwelt immer schon über
sich hinaus und hat „Welt“.339 Ich bin jedoch der Ansicht, dass auch die im Interesse am
individuellen Erleben deutlich werdende Transzendenz in ein individuelles zukünftiges
Erleben hinein eine natürliche Transzendenz eines jeden Organismus ist. Diese
Selbsttranszendenz ist nicht abhängig von ihrer Reflexion, sondern ist die Bedingung
derselben, weil ohne sie überhaupt keine zur Reflexion fähigen Organismen existieren
könnten. Und diese Selbsttranszendenz des Organismus wird exakt bis zu jenem
Augenblick anhalten, in dem dieser stirbt. Dass nun, soweit ein Organismus dazu fähig ist,
in der individuellen Reflexion dieser vorgängigen Selbsttranszendenz und der reflexiven
Vorwegnahme des eigenen Todes der Gedanke an ein nachtodliches Erleben und, insofern
der Organismus an seinem Erleben interessiert ist, auch ein Interesse an einem solchen
geradezu reflexhaft entstehen muss, scheint mir auf der Hand zu liegen. Weil Jonas diese
organismische Selbsttranszendenz des Interesses am eigenen Erleben nicht expliziert,
entsteht in seiner biologischen Philosophie eine Kluft zwischen der Betrachtung
natürlicher Organismen und der philosophischen Thematisierung des Todes, einschließlich
des Unsterblichkeitsgedankens. Dies spiegelt sich schon im inhaltlichen Aufbau seines
Werkes wider. Er thematisiert den Tod „nur“ rahmend zu Beginn und am Ende seiner
philosophischen Auseinandersetzung, schafft es aber nicht, diesen in die philosophische
337
Vgl. Seite 112ff. dieser Arbeit.
Jonas, Hans: Organsimus und Freiheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973.
339
Vgl. ebd., Seite 133f.
338
145
Betrachtung der Organismen selbst zu integrieren und wird damit seiner gegenüber
Whitehead geäußerten Kritik nur teilweise gerecht.340
Worauf ich hier letztlich hinaus will, ist aber weniger der Gedanke an ein Erleben nach
dem Tode, sondern das diesem zugrunde liegende, nicht unbedingt reflektierte individuelle
Interesse am Erleben. Dieses vor-reflexive individuelle Interesse hält, wie gesagt, bis in
den Tod eines Organismus an, denn erst in diesem endet sein sich selbst transzendierendes
Selbsterhaltungsinteresse und -verhalten. In evolutionstheoretischen Überlegungen wird
dieses bis zum Ende der Selbsterhaltung andauernde Interesse am individuellen Erleben
zumeist dadurch kaschiert, dass dieses seine Erfüllung in der Reproduktion finden würde,
bildlich gesprochen etwa ein Einzeller in seiner Teilung. Dies halte ich für eine ungenaue
Beschreibung. Der Einzeller findet in der Teilung nicht die Erfüllung seines individuellen
Selbsterhaltungsinteresses, sondern das Ende desselben. Denn die Teilung ist nicht seine
Teilung – ein Individuum lässt sich nicht aufteilen –, sondern eben sein Ende und bedeutet
das Entstehen neuer Individuen.341 Man sollte, so denke ich, Selbsterhaltungsinteresse und
Reproduktionsinteresse nicht ineinander auflösen, auch wenn, ohne Frage, bei einem
Einzeller die Erfüllung des letzteren mit dem Ende des ersteren einhergeht. Warum ich
dies hier so deutlich mache und was dies mit dem ästhetischen Interesse zu tun hat, wird
noch klarer werden.
Ich halte die Ineinssetzung von Selbsterhaltungsinteresse und Reproduktionsinteresse, wie
sie auch im Rahmen der oben beschriebenen Vorstellung einer genetischen
Unsterblichkeitssuche deutlich wird, für ein Residuum, eine Reminiszenz oder ein
nostalgisches Echo jener Suche nach dem Sinn oder Zweck des Lebens, von dem doch
gerade die Evolutionstheorie vorgibt, Abstand zu nehmen. Es wird nicht recht durch- und
ausgehalten, dass das individuelle Erleben keinen Sinn oder Zweck hat, und so sucht man
einen solchen in den Nachkommen. Da hat sich ein Individuum sein Leben lang
abgerackert, um am Leben zu bleiben, keine Mühe gescheut und dann muss es doch
sterben. Welchen Sinn hat diese Plackerei gehabt? Dann doch wenigstens den, eigene
Nachkommen in die Welt zu setzen, die obendrein noch seine Gene in sich tragen und
diese weitergeben und weitergeben und weitergeben. Aber hätte dies einen Sinn?
Ich habe bereits deutlich gemacht, dass es kein zum Erfolg führendes Unternehmen ist, der
Unsterblichkeitsgedanke vermag dem Leben keinen Sinn oder Zweck zu geben. Das gilt
auch für seine genetische Transformation, unabhängig von ihrer grundsätzlichen
Fraglichkeit. So behält die Evolutionstheorie in ihrer Absage an den Sinn des Lebens,
wenn auch ungewollt, auch in Bezug auf das Individuum am Ende zwangsläufig Recht.
340
Vgl. Seite 117 dieser Arbeit.
Vgl. Lowe, E. Jonathan: The Possibility of Metaphysics – Substance, Identity, and Time, Oxford/New
York: Oxford University Press, 2001, 174ff.
341
146
Individuelles, interessiertes Erleben hat keinen Sinn oder Zweck und erhält einen solchen
auch weder durch den Gedanken an ein Erleben nach dem Tod noch durch die Weitergabe
individueller Gene. Und genau aus diesem Grund können wir uns auf das individuelle
Interesse am Erleben konzentrieren und den meines Erachtens ganz natürlich und
reflexhaft aus diesem erwachsenden Gedanken an ein mögliches nachtodliches Erleben
beiseite lassen, weil er diesem Interesse keinen zusätzlichen Gehalt gibt, sondern nichts
anderes als dessen Ausdruck ist: ein sich selbst bis zuletzt transzendierendes Interesse am
individuellen Erleben.
Was hier in der Thematisierung des individuellen Todes, des Endes aller
selbsttranszendierenden Bemühungen um Selbsterhaltung, und der Kritik der
evolutionstheoretischen Ineinssetzung von Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteresse
aufscheint, ist, dass nicht nur das individuelle Erleben, wie ich weiter oben ausgeführt
habe habe, sondern auch das Interesse am individuellen Erleben ein zweckfreies ist.
Interessiertes Erleben ist interessiertes Erleben, ob jetzt oder in Zukunft, es hat keinen
Zweck: Es ist interessiertes Erleben. Das im Interesse antizipierte zukünftige Erleben kann
dem jetzigen Erleben keinen Zweck verleihen, weil es selbst keinen hat und niemals haben
wird. Das Interesse an diesem ist zweckfrei. Aber diese Zweckfreiheit des individuellen
Interesses am Erleben ändert nicht in geringster Weise irgendetwas an dem Erleben dieses
Interesses und sollte es auch nicht. Vielmehr lässt sie dieses viel deutlicher noch
hervortreten. Weil dieses Interesse keinem Zweck untergeordnet werden kann – auch nicht
dem, Nachkommen hervorzubringen –, bekommt es umso mehr einen Wert in sich. Dieser
Wert ist kein unbedingter, weil, wie oben angemerkt, das interessierte Erleben nicht selbst
seine Möglichkeit ist.342 Aber es ist ein unbestimmbarer, unschätzbarer Wert.
Und wenn ich in meinem interessierten Erleben diese grund-legende Wertschätzung
erkenne, die unreflektiert und grund-los meinem Erleben immer schon zu eigen ist, dann
und nur dann kann deutlich werden, was mit den Worten „Sinn“ und „Zweck“ des Lebens
sinnvoll gemeint sein kann. Es ist der Wert, den ein interessiertes Individuum durch sein
interessiertes Erleben seinem Erleben je gibt. Es ist die sinn- und zweckfreie Wertfülle des
individuellen Erlebens. Das Leben macht für mich genau dann einen Sinn, wenn ich es für
mich als wertvoll erlebe. Die Sinnsuche wäre die Suche danach, dieses innerste Interesse,
diesen innersten Wert im Erleben zu halten. Und allein vor diesem Hintergrund macht es
auch Sinn von der Befriedigung als einem Endzweck eines jeden interessierten, erlebenden
und freien Subjektes zu sprechen.343 Ein befriedigendes Erleben ist oder hat keinen Zweck,
sondern ist ein Wert in sich. Das sinnvolle Leben und jede teleologische Rede liegen so
gerade in einem sinn- oder zweckfreien interessierten Erleben, einem zweckfreien
Werterleben begründet. Dieser Gedanke zeigt zugleich, dass ein sinn- oder zweckfreies
342
343
Vgl. Seite 112ff. dieser Arbeit.
Vgl. Seite 119f. dieser Arbeit.
147
Leben nicht als ein sinn- oder zweckloses Leben in der Bedeutung von wertfrei oder gar
wertlos missverstanden bzw. erlebt werden sollte. Es handelt sich hier also um keinen
Nihilismus – das genaue Gegenteil ist der Fall! Und es zeigt sich, dass ein wertvolles
Erleben nicht ohne Interesse und damit nicht ohne die damit verbundene
Selbsttranszendenz zu haben ist. Der Begriff des Erlebens als solcher könnte uns dieses
zweckfreie Werterleben nicht vermitteln, es sei denn, das interessierte Erleben würde
implizit schon mitgedacht. Explizit wird es nur erklärlich, insofern wir an unserem
individuellen Erleben ein Interesse haben bzw. ein Interesse sind. Und dieses zweckfreie
Interesse ist meines Erachtens das ontogenetisch unverzichtbare Interesse, ohne das kein
Organismus sich entwickeln könnte und so auch kein Mensch.344 Alle anderen Interessen
setzen es voraus, wenn sie ihm auch nicht unbedingt dienen müssen und sich sogar gegen
dasselbe wenden können. Ein individuelles Leben ist in seinem Grunde die
Verwirklichung dieses grund-losen und zweckfreien individuellen Interesses im und am
Erleben.
Es deutet sich bereits an, wohin uns dies führt. Ich habe den kreativen Aspekt als ein
interessegeleitetes Gestalten der Umwelt beschrieben. Fragt man nun im Rahmen des
ästhetischen Diskurses nach einer authentischen Expressivität des individuellen Subjekts,
so verstehe ich das vorhergehend dargelegte zweckfreie Interesse am Erleben als den
innersten und insofern authentischen Kern und Wert eines jeden Subjektes, den es in einer
solchen Expressivität zu entäußern gilt. Die Expressivität dieses allen anderen Interessen
zu-grunde liegenden und selbst zweckfreien Interesses bedeutet dann im Hinblick auf den
kreativen Aspekt nichts anderes, als eine zweckfreie, aber dennoch interessengeleitete
Gestaltung der physischen und sozialen Umwelt, d.h. eine von anderen Interessen,
Gewohnheiten und Notwendigkeiten des Lebens nicht unberührte, so aber ihrer Richtung
nach unbestimmte oder offene Gestaltung unseres Lebensraumes.
Der Künstler kann uns so immer wieder Räume eröffnen, in denen wir an die zweckfreie
Werthaftigkeit unseres individuellen interessierten Erlebens anschaulich erinnert werden
und uns in dieser Anschauung erleben können. Das empirische Denken kann auf die
Expressivität dieses innersten Interesses nicht verzichten, es müsste sich dafür schon selber
abschaffen, da dieses ihm selbst zu-grunde liegt. Weil es sich aber den Ausdruck desselben
im theoretischen und praktischen Diskurs versagt, in denen dieses zweckfreie Interesse
sich nicht anders als in reflexhaft über den Tod ausgreifenden ästhetischen Vorstellungen
manifestieren kann – es gibt keinen inneren Zweck, den erfüllend das zweckfreie Interesse
am Erleben ästhetisch ein zeitliches Ende finden könnte –, muss es sich in Form einer
zweckfreien Gestaltung der physischen und sozialen Umwelt in eben diese und ihre
Vergänglichkeit entäußern; darin inbegriffen, was man unsere geistige Umwelt nennen
kann, die in intersubjektiver Reziprozität reflexiv-diskursiv ausgefüllte Raumzeit.
344
Vgl. Seite 113ff. dieser Arbeit.
148
Das empirische Denken ist auf die Kunst und den ästhetischen Diskurs angewiesen. Der
theoretische Diskurs kann dem zweckfreien Interesse keine Heimat mehr sein. Denn wenn
er auch ohne letzteres nicht zu denken ist, so geht das zweckfreie Interesse doch nicht in
der intersubjektiven Adaption der Reflexion an die unveränderlichen und veränderlichen
Bedingungen des Erlebens auf. Im Hinblick auf den praktischen Diskurs gilt das gleiche.
Auch diesem liegt es zu-grunde. Aber das individuelle zweckfreie Interesse kann sich nicht
in der Koordination von Interessen und den dafür zu schließenden Kompromissen
erschöpfen; es ist, weil es für sämtliche Interessen und damit auch jegliche InteressenKompromisse stets vorauszusetzen ist, in gewisser Weise kompromisslos. Die
intersubjektive Vergegenwärtigung und Vergewisserung des zweckfreien individuellen
Interesses im ästhetischen Diskurs ist meines Erachtens ein natürliches Anliegen des
empirischen Denkens und bringt immer wieder neu eine grundlegende Wahrheit ans Licht.
Das individuelle Subjekt kann in seinem interessierten Erleben, kann seiner interessierten
Natur nach weder in der biologischen Reproduktion, noch – in soziokultureller
Verlängerung der Evolutionstheorie – in der Reproduktion von Lebensformen völlig
aufgehen, sondern braucht immer wieder eigene Raumzeit.
Und je größer im Zuge der Evolution nicht die Freiheit, sondern die Flexibilität oder
Optionalität in der Verfolgung des Interesses am Erleben geworden ist, je mehr Optionen
sich aufgetan haben, mit denen ein interessiertes Erleben sich verbinden kann – und hier
spielen die evolutionäre Entwicklung von Reflexivität und Diskursivität und die aus diesen
erwachsenen Kulturen und Wertvorstellungen eine entscheidende Rolle – desto größer ist
die Gefahr, den Sinn für den ursprünglichen Wert und den Grund jeglichen individuellen
Werterlebens zu verlieren, das grund-legende zweckfreie individuelle Interesse am Erleben
überhaupt. So erinnert der Künstler uns nicht nur an einen objektiven Aspekt einer jeden
subjektiven Natur, sondern auch an den Grund aller moralischen Diskussionen. Deshalb
erscheint mir der ästhetische Diskurs tatsächlich nicht nur von individuellem, sondern auch
von allgemeinem Interesse zu sein. Zudem werden das Kunstschaffen und der ästhetische
Diskurs auch evolutionstheoretisch so wirklich verständlich. Sie erwachsen dem jedem
individuellen Lebewesen zu-grunde liegenden zweckfreien Interesse am zweckfreien
Erleben. Der ästhetische Diskurs ist der siebente Tag, ist der Sabbat empirisch-diskursiven
Verhaltens.
Zu Beginn dieser Annäherung des von mir vorgeschlagenen Vernunftbegriffes an die
Grundstruktur der habermasschen Theorie der Rationalität habe ich bereits darauf
hingewiesen, dass in dieser eine grundsätzliche Kritik zum Vorschein kommen würde.
Diese will ich nun im Hinblick auf das Ergebnis meiner Reflexionen über das Verhältnis
von Authentizität und kreativem Aspekt verdeutlichen. Das Ergebnis besteht in der
Feststellung, dass der ästhetische Diskurs seine Kraft aus dem jedem Subjekt
zukommenden zweckfreien individuellen Interesse am Erleben schöpft, das zugleich die
149
Bedingung aller anderen Interessen ist, auch der sich im theoretischen und praktischen
Diskurs ausdrückenden, und auf das diese immer wieder zurückverwiesen sind. Ohne das
individuelle zweckfreie Interesse der Subjekte, sich in einer physischen und sozialen
Umwelt im Erleben zu halten, brächen sowohl der theoretische als auch der praktische
Diskurs zusammen – und natürlich auch der ästhetische –, weil es keinen Grund mehr
gäbe, ihnen nachzugehen. Diese nicht sonderlich spektakulär klingende Einsicht verweist
jedoch darauf, dass nicht der Konsens, sondern eben jenes je individuelle Interesse allem
vernünftigen Verhalten, auch dem diskursiv-prozeduralen in seinen drei unterschiedlichen
Formen, vorangeht. Zwar sind die so interessierten Subjekte für den Erhalt und in der
Gestaltung ihres Lebens von ihrer physischen und sozialen Umwelt abhängig und damit,
insoweit es sich um reflexions- und diskursfähige Subjekte handelt, auch von den
geschichtlich geprägten Diskursen und in diesen auf die Möglichkeit des Konsenses
angewiesen. Aber es bleibt dabei, dass sie immer wieder jeweils auf ihr individuelles
zweckfreies Interesse am Erleben und damit auf sich selbst zurückkommen müssen. Ohne
dieses macht nichts einen Sinn oder hat einen Wert, ist nichts vernünftig.
Ich will in diesem Zusammenhang an Max Webers eindrückliche und im Kern völlig
berechtigte, wenn in ihrer Formulierung auch mit Humor zu nehmende Schilderung des
„,Erlebnis[ses]‘ der Wissenschaft“ erinnern: „Und wer nicht die Fähigkeit besitzt, sich
einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung,
daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an
dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern.
Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das ,Erlebnis‘ der Wissenschaft
nennen kann. Ohne diesen seltsamen, von jedem Draußenstehenden belächelten Rausch,
diese Leidenschaft dieses: ,Jahrtausende mußten vergehen, ehe du ins Leben tratest, und
andere Jahrtausende warten schweigend‘: – darauf, ob dir diese Konjektur gelingt, hat
einer den Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes. Denn nichts ist für den
Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“345
Was Weber hier ausdrückt, ist das Erlebnis einer unschätzbaren Wertschätzung, die er in
seiner Arbeit erlebt, oder besser, die er dieser gegenüber aufbringt. Denn ohne dass er
diese Wertschätzung aufgebracht hätte, hätte er sie auch nicht erleben können. Aus der
Arbeit selbst und seinen Werken aber konnte er sie wohl nicht genommen haben, denn
einige Seiten später fügt er an: „Jeder von uns dagegen in der Wissenschaft weiß, daß das,
was er gearbeitet hat, in 10, 20, 50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der
Sinn der Arbeit der Wissenschaft [...] jede wissenschaftliche ,Erfüllung‘ bedeutet neue
,Fragen‘ und will ,überboten‘ werden und veralten.“346 Ganz Recht behalten sollte Weber
damit nicht. Er formulierte diese Sätze für einen Vortrag im Jahre 1917. Dass seine Werke
345
346
Weber (1995), Seite 12.
Ebd., Seite 17.
150
auch heute noch, fast einhundert Jahre später, immer noch zahlreichen Teilnehmerinnen
und Teilnehmern am theoretischen Diskurs, und das weltweit, als wichtige Bezugsquellen
gelten, belehrt uns eines Besseren. Von epistemischen Fehlschlüssen und zeitlich
bedingten Sachverhalten abgesehen, scheint es also doch möglich, zu bestimmten
Einsichten zu gelangen, die die von Weber angepeilte Haltbarkeit deutlich, ich würde
sogar sagen bei weitem übersteigen. Und auch wenn diese Einsichten, sind sie einmal
formuliert, im Hinblick auf den Gesamtdiskurs keinen Neuheitswert mehr zu haben
scheinen, so sind sie doch, für jede am Diskurs teilnehmende Person, die zu ihnen zum
ersten Mal gelangt, im Akt des Begreifens neu. Denn das individuelle Begreifen wird
niemals in einen Diskurs externalisiert werden können.
Mit dieser Feststellung und vor dem Hintergrund des Ergebnisses meiner Überlegungen
sowie der darin liegenden Kritik an Habermas’ Rationalitätstheorie möchte im Folgenden
eine fünfstufige Inversion von der diskursiven Ebene bis zu jenem innersten zweckfreien
individuellen Interesse am Erleben hin vorschlagen. Dazu werde ich in leicht abgeänderter
Form auf Whiteheads Stufen- oder Phasenmodell der Entstehung aussageartigen Erlebens
zurückgreifen.347 Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass wir jede Aussage, die wir in
einem Diskurs äußeren, auch erleben (Phase 5). Wir können aber eine Aussage nur als
Aussage erleben, wenn wir auch das Erlebnis eines Begriffes haben, dem wir mit dem
Aussageerlebnis Ausdruck verleihen (Phase 4). Für ein Begriffserlebnis wiederum müssen
wir mindestens ein Gegenstandserlebnis voraussetzen, das den Inhalt dieses Begriffes
bestimmt (Phase 3). Und für ein Gegenstandserlebnis müssen wir ein physisches Erlebnis
voraussetzen, ohne das uns das Gegenstandserlebnis nicht möglich wäre (Phase 2).348 Bei
Whitehead endet das Phasenmodell an dieser Stelle.
Ich bin jedoch der Ansicht, dass das physische Erleben, wie Whitehead es versteht, nicht
die letzte Voraussetzung sein kann. Wenn es zwar noch kein Gegenstandserlebnis ist, so
bedeutet es aber doch ein unbestimmtes Differenzerlebnis, man könnte auch sagen, das
Erlebnis der Gegenwart eines noch unbestimmten Anderen. Zu diesem Erlebnis aber muss
erstens die Möglichkeit des Erlebens überhaupt vorausgesetzt werden. Und zweitens muss
diese Möglichkeit zugleich die Möglichkeit des Differenzerlebnisses erklären können. Ein
pures Erleben muss nicht schon das Erleben von etwas anderem sein, als das Whitehead
das physische Erleben als ein „bezeichnendes“ Erleben ja gerade versteht. Es könnte
347
Vgl. Whitehead (1979), Dritter Teil: „Die Theorie des Erfassens“, Seite 401ff.; zusammenfassend Seite
474ff.
348
Die Phasen 2, 3, 4 entsprechen bei Whitehead den Phasen α, β, γ. Dem Ausdruckserleben gibt
Whitehead kein eigenes Symbol. Das Begriffserlebnis in Phase 4 kann sowohl singuläre als auch die
Integration einer Mehrzahl von Gegenstandserlebnissen meinen, was auf der Ausdrucksebene zum
Unterschied etwa von Erlebnissen der Namensnennung und abstrakten Begriffserlebnissen, die sich auf
bestimmte oder, insofern die Potentialität weiterer ähnlicher Gegenstandserlebnisse integriert wird, auch
auf unbestimmte Mengen von Gegenstandserlebnissen beziehen können. Diese Unterscheidung macht
Whitehead durch Einführung der δ-Phase deutlich.
151
ebenso das Erleben bloßer differenzloser Gegenwart sein – ein Erleben freilich, das für uns
Menschen wohl kaum vorstellbar ist. Nun bin ich der Ansicht, dass die Möglichkeit eines
solchen Differenzerlebnisses nur durch ein interessiertes Erleben erklärt werden kann.
Ohne das Erleben eines Widerspruchs könnte es kein Differenzerlebnis geben. Ein
Widerspruchserlebnis aber ist nur dort möglich, wo es ein Interesse gibt, dem
widersprochen werden kann. Also muss ein interessiertes Erleben für ein im Widerspruch
gründendes Differenzerlebnis vorausgesetzt werden. Und insofern ohne Differenzerlebnis
kein interessiertes Erleben an einem so erlebten Anderen möglich ist, für das
Differenzerlebnis jedoch ein interessiertes Erleben bereits vorausgesetzt werden muss,
kann dieses interessierte Erleben nur als Interesse am Erleben selbst, d.h. als zweckfreies
individuelles Interesse am Erleben verstanden werden (Phase 1). Und das zweckfreie
individuelle Interesse am Erleben, das habe ich deutlich gemacht, bedeutet ein
Werterleben.
So lässt sich meines Erachtens stringent zeigen, dass sämtliches in den Diskursen
erlebbares Ausdrucksverhalten auf jenes grund-legende zweckfreie individuelle Interesse
am Erleben zurückweist, weil es die Bedingung der Wahrnehmung von Differenz und
damit von Gegenständen und Begriffen und auf diese sich beziehender Ausdrücke ist.
Allein das ein zweckfreies individuelles Interesse am Erleben voraussetzende „objektive
Datum“ eines Differenzerlebnisses gibt uns die „logischen Subjekte“ unserer
Prädikationen an die Hand, wenn man so will, die „Dinge-an-sich“. Und andersherum
können wir die Aussage eines Anderen erst wirklich verstehen, wenn wir uns von der
Wahrnehmung der Prädikation des Anderen zumindest einmal bis zu jenem im
zweckfreien individuellen Interesse am Erleben wurzelnden Differenzerlebnis sozusagen
durchgelebt bzw. durcherlebt haben.349 Ein wirkliches Verstehen findet also erst unter
Einbezug einer vor-diskursiven, vor-reflexiven, vor-kognitiven evaluativen Ebene statt,
die ein zum evaluativen Erleben fähiges Subjekt voraussetzt, d.h. ein zweckfreies
individuelles Interesse am Erleben. Und es kann für ein befriedigendes Leben oftmals
ratsam sein, den Anderen nicht wirklich verstehen zu wollen – etwa wenn jemand uns von
einem schrecklichen Erlebnis berichtet. Wirkliches Verstehen, wirklicher Konsens kann
349
Es wäre eine interessante Untersuchung, diesen Gedankengang mit den fünf Momenten der Erkenntnis
bei Platon zu vergleichen, wie er sie etwa im „Siebenten Brief“ beschreibt: Name, Begriff,
Sinneswahrnehmung, geistige Erkenntnis, Idee; Platon: Siebenter Brief, in: ders.: Werke, Band 5,
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990, Seite 415ff. Name, Begriff und Sinneswahrnehmung
scheinen mir mit den Phasen 5, 4, 3 einfach in Verbindung zu bringen zu sein. Die geistige Erkenntnis, die
Wesens-Erkenntnis, könnte man insofern mit Phase 2 in ein analoges Verhältnis setzen, als sich in dieser
das „objektive Datum“ eines unabhängigen „Ding[es]-an-sich“ oder, mit Whitehead, ein „logisches
Subjekt“ einstellt. Die Idee allerdings geht in eine völlig andere Richtung. Statt weiter zu sich selbst, zum
erkennenden Individuum hin, führt sie Platon in das Reich der Ideen, mit der höchsten Idee des Schönen,
Guten und Wahren. Weiter oben habe ich bereits meinem Verständnis Ausdruck verliehen, dass ich darin
eine Teleologisierung und Hypostasierung der individuellen kreativen, adaptiven und kooperativen
Verhaltensaspekte sehe (vgl. Seite 136f. dieser Arbeit). Warum ist Platon an dieser Stelle diesen Schritt in
die Welt der Ideen gegangen?
152
nicht stets das letzte Ziel rationalen Handelns sein. Ich denke, dass man sich darauf
verständigen kann.
Ich möchte die von mir so genannte Phase 1 natürlich nicht als ein der Entstehung eines
Lebewesens zeitlich vorausgehendes Moment verstehen, aber als eines, das von Anfang an
jeder individuellen Ontogenese zugesprochen werden kann und das sich bis zu ihrem Ende
hin durchhält. Das zweckfreie individuelle Interesse am Erleben ist das raumzeitlich nicht
zu lokalisierende Zentrum jeder Ontogenese. Es ist keine Identität, sondern eine
raumzeitlich sich prozesshaft ausdehnende Individualität.350 Und diese Individualität tritt
uns etwa in der sinnlichen Wahrnehmung von Organismen deutlich entgegen. Die Phase 1
ist das individuelle, sich prozesshaft entwickelnde zweckfreie interessierte Erleben selbst.
Ein solches verbindet sich in seiner Ontogenese mit den je individuellen, geschichtlich
bedingten Gegebenheiten und Erlebnissen, verwächst mit diesen, kann im Falle eines
Menschen sich von evaluativem zu kognitivem, zu reflexivem und diskursivem Verhalten
ausbilden. 351 Die Zweckfreiheit des individuellen interessierten Erlebens bedeutet
grundsätzliche die Freiheit, sich mit den unterschiedlichsten Gegebenheiten, Sachverhalten
und Vorstellungen, mit verschiedenen Wertungs- und Ordnungsgewohnheiten sowie
Wertungs- und Ordnungsgedanken und den mit alldem einhergehenden
Wertpositionierungen zu verbinden. Individuell ist diese Freiheit durch die geschichtlichen
Umstände bedingt, in denen sie sich verwirklicht. Doch die grund-legende Zweckfreiheit
des individuellen Interesses kann nicht aufgehoben werden und ein Minimum an Freiheit
bleibt so stets gewahrt.
In dieser interessierten Freiheit stehen wir nun von Anfang unserer je individuellen
Entwicklung an in den historischen Bedingungen unserer physischen und sozialen Umwelt
und bemühen uns in dieser um den Erhalt unseres Erlebens. Wir entwickeln dabei weitere
geschichtlich bedingte Interessen, suchen danach, diese zu verwirklichen, passen uns an
und müssen unsere Interessen mit denen anderer koordinieren. So bemühen wir uns,
unsere Interessen in ein befriedigendes Zusammenspiel mit unserer Umwelt zu bringen,
350
Anders als Hans Jonas, bin ich der Ansicht, dass man den Begriff der Identität auf Organismen nicht
anwenden sollte. „Identität“ verstehe ich letztlich als die Eigenschaft, sich nicht zu verändern, so auch
Jonas. Genau dies trifft auf einen Organismus nicht zu. Ein Organismus ist im wahrsten Sinne des Wortes
ein individueller Prozess, als ein solcher aber bedeutet er Veränderung. So schreibt denn auch Hans Jonas
über das „Problem der Identität“: „Die organische Identität muß von ganz anderer Art sein“, etwa als die
Identität eines sich nicht verändernden Teilchens; Jonas (1973), Seite 128ff. Ich würde hingegen sagen,
dass es überhaupt kein Problem der Identität gibt, weil ein Organismus gar keine Identität hat oder ist,
sondern eben eine Individualität. Man könnte höchstens von einer numerischen Identität sprechen. Aber
auch darin sehe ich keinen Sinn. Ein individueller Prozess ist ein individueller Prozess und wird nicht in
irgendeiner Weise mehr ein individueller Prozess dadurch, dass man ihm eine numerische Identität
zuspricht. Die Individualität reicht dazu völlig aus.
351
Ich kann es hier nicht leisten, diese Gedanken mit entwicklungsphysiologischen und
entwicklungspsychologischen Erkenntnissen ins Verhältnis zu setzen, bin aber der Meinung, dass dies eine
lohnende Arbeit wäre.
153
unser Interessiert-Sein und unsere Umwelt in ein adäquates Verhältnis zueinander zu
setzen. Diese niemals abzuschließende Suche nach Adäquanz ist Vernunft, das individuell
vernünftige, nie zu einem Abschluss kommende, seiner Wirklichkeit nach weder evaluativ
noch kognitiv, noch reflexiv und damit auch diskursiv nicht einzuholende Verhalten
interessierter, erlebender und freier Subjekte.
Dass dabei für uns menschliche Wesen die Diskurse von enormer Bedeutung sind, und wir
auf diese nicht verzichten können, ändert aus dieser Sicht nichts daran, dass sich Vernunft
nicht in diesen und damit auch nicht im Konsens erschöpfen kann. Das diskursive
Verhalten findet seinen Ausgangs- und Endpunkt in allen seinen Ausprägungen immer
wieder neu in der individuellen Suche nach Adäquanz zur Umwelt und einem damit
einhergehenden befriedigenden Erleben. Es ist nicht eine Alltags- oder Lebenswelt,
sondern es sind die diese Alltags- oder Lebenswelt immer wieder neu formenden, nach
einem befriedigenden Erleben suchenden Individuen, in denen die Diskurse ihren Grund
haben, zusammenkommen und ihre Rationalität erhalten. Es erscheint mir dabei durchaus
irrational, nicht an den Diskursen soweit als individuell möglich teilzunehmen, weil sie
uns auf der Suche nach einem befriedigenden Erleben nicht gleichgültig sein können. Wir
können in unserer grundsätzlichen, aber jeweils auch individuell bedingten Begrenztheit in
unschätzbarem Maße von einem andauernden intersubjektiven Abgleich unserer
Reflexionen profitieren. Aber die Diskurse als solche verbürgen nicht ihre eigene
Rationalität, sondern bleiben an ein vor-diskursives, vor-reflexives und vor-kognitives
evaluatives Verhalten, und darin an das zweckfreie individuelle Interesse an einem im
Verhältnis zur Umwelt zu suchenden, befriedigenden Erleben zurückgebunden.
Ich schließe mich damit einer oftmals gegen Habermas’ Theorie der Rationalität
vorgebrachten Kritik an, dass die Vorstellung einer völligen inhaltlichen Trennung des
ästhetischen, theoretischen und praktischen Diskurses nicht plausibel ist. Das gilt zum
einen innerhalb der einzelnen Diskurse, die jeweils nie ganz auf die Aspekte der jeweils
anderen Diskurse verzichten können. Dies erscheint mir allein schon deshalb unabwendbar
so zu sein, weil in jeder Aussage, wie ich durch die fünfstufige Inversion von
Prädikationen zu zeigen versucht habe, Werterlebnisse, physische Erlebnisse,
Begriffserlebnisse, also praktische ästhetische und theoretische Erlebnisse stets ineinander
verschlungen sind. Oder wie Hent de Vries es formuliert: „Denn die theoretischen,
praktischen und ästhetisch-expressiven Äusserungen sind in den kontingenten Situationen,
in denen sie vorgebracht werden, immer schon unaustilgbar miteinander verfilzt.“352 Dies
führt dazu, dass wir uns auch im ästhetischen und theoretischen Diskurs immer wieder auf
die Normen ihres Vollzuges einigen müssen. Auch im ästhetischen und praktischen
Diskurs kommen wir nicht um bestimmte Objektivitätsannahmen herum. Schließlich sind
auch der theoretische und der praktische Diskurs nicht ohne ästhetische Vorstellungen und
352
de Vries (1989), Seite 42.
154
Darstellungen zu haben. Die nicht vorhandene Plausibilität einer völligen inhaltlichen
Trennung der drei Diskurse offenbart sich aber auch in der Frage nach ihrer Vermittlung.
Was gewährleistet denn die Rationalität ihres Zusammenspiels, die ja nun nicht mehr
erneut über einen der drei Rationalitätsaspekte gefasst werden könnte?
„Gerade dieser Sachverhalt“, so schreibt Hent de Vries in Theologie im Pianissimo &
Zwischen Rationalität und Dekonstruktion, „macht die Frage nach einer interdiskursiven
‚Urteilskraft‘ so wichtig.“353 Dem stimme ich völlig zu. De Vries bezieht sich in seinen
sehr aufschlussreichen kritischen Ausführungen zu Habermas’ Rationalitätstheorie in
diesem Zusammenhang unter anderem auf Martin Seel. „Laut Martin Seel ist Vernunft
nicht gleichbedeutend mit Argumentierbarkeit, wie es Habermas’ Konzept vortäuscht.
Vernunft steckt vielmehr in dem ‚Vermögen einer interrationalen Urteilskraft, die nicht
selbst wieder als Form einer ausschreitenden Logik der Argumentation expliziert werden
kann‘. Der vernünftige und kritische Charakter dieses Urteilsvermögens stehe und falle mit
der Möglichkeit sich einen ‚überschreitenden Umgang mit dem immanenten anderen einer
jeden Form der Rationalität‘ anzueignen.“354
An anderer Stelle hält er mit Verweis auf Herbert Schnädelbach zusammenfassend fest:
„Die meisten der bis jetzt erörterten Überlegungen und Bedenken bestätigen die von
Schnädelbach festgestellte ‚Unmöglichkeit, Rationalität vollständig in Prinzipien, Regeln
oder Normen zu repräsentieren‘. Aus der Tatsache, dass Rationalität prinzipiell ein
‚offenes Konzept‘ ist, ergeben sich nach ihm unumgänglich die Einsicht in die Historizität
der Vernunft und ein nicht entrinnbarer Restdezisionismus in der Ethik. Die Vernunft kann
nie ausreichend expliziert werden, weil es eben ‚niemals zu einer in dem Sinne
totalisierenden Rationalitätstheorie kommen (kann), dass es ihr möglich wäre, ihre
externen Bedingungen vollständig zu internen zu machen.‘“ 355 Um dennoch der
Rationalität im Diskurs nicht verlustig zu gehen, ergibt sich für de Vries daraus bereits die
Konsequenz, nach einer „postklassische[n] metaphysische[n] Dimension der Exteriorität
[Hervorhebung im Original; T. W.]“ zu suchen, worunter er ein negativ-metaphysisches
ganz Anderes der endlichen Vernunft versteht, ein „Ab-solutes“, das sich uns entzieht und
doch irgendwie auch nicht; etwas, das gedacht und doch wieder nicht gedacht werden
kann; das gedacht wird im Sinne eines „sich jedem festen oder definitiven
Bedeutungskontext Entringenden“; etwas, das nicht existiert, doch aber irgendwie auch
nicht nicht existiert, ein „Tertium Datur“, das den onto-logischen Satz vom
ausgeschlossenen oder zu vermeidenden Widerspruch hinter sich zu lassen vermag.356
353
Ebd., Seite 32.
Ebd., Seite 46.
355
Ebd., Seite 52f.
356
Ebd., Seite 46.; vgl. ebd., Seite 1ff.
354
155
Ganz so schnell gehe ich nicht voran. Vor dem Hintergrund meiner vorangehenden
Erörterungen folge ich vielmehr einer anderen Spur, die de Vries in seinem Text selbst
ausgelegt, ohne ihr jedoch weiter nachzugehen. Wiederum in einem Verweis, dieses Mal
auf den Religionsphilosophen Klaus-M. Kodalle, schreibt de Vries im Hinblick auf den
moralischen Diskurs: „Kodalle knüpft an seine kritischen Bemerkungen den Vorwurf einer
‚Gleichschaltung symbolisch vermittelter nicht-identischer Gehalte‘. Habermas verkenne
die (Bedingungen der) Möglichkeit von aus der Ordnung fallenden Diskurse, die einer
‚unbestimmte(n) Freiheit‘ zum Ausdruck verhelfen. Man sollte, so Kodalle, im Hinblick
auf vor-reflexive, aber unabdingbar gültige Lebensformen die ‚Grenzen der
Begründungsforderung des Universalisierungsimperativs der Moral‘ bedenken. Denn
sowohl der Antrieb zu und das Verlangen nach Interaktion, als auch deren Qualität
stammen nicht aus der universalistischen Vernunft selber. Sie sind auch zu fragil und zu
einfach pervertierbar, als dass sie mit dem Mass des kommunikativen Handelns gemessen
werden könnten.“357
Hierin sehe ich nun einen Verweis, der von der diskursiven Ebene letztlich bis auf das von
mir oben dargestellte vor-diskursive, vor-reflexive, vor-kognitive und vor-evaluative
zweckfreie individuelle Interesse am Erleben durchreicht. Denn genau in diesem sehe ich
jene, wenn auch historisch bedingte, so doch unbestimmt bleibende Freiheit begründet,
von der Kodalle spricht. Dieses zweckfreie individuelle Interesse am Erleben ist der grundlose Grund allen reflexhaften und kognitiven Werterlebens, aller reflexiven Bewertungen
und Urteile sowie der aus diesen hervorgehenden Diskurse, auch der Grund unseres
Antriebs und Verlangens nach Interaktion. Wenn Seel von dem „Vermögen einer
interrationalen Urteilskraft“ spricht, bei dem es darum ginge, einen „überschreitenden
Umgang mit dem immanenten anderen einer jeden Form der Rationalität [Hervorhebungen
im Original; T. W.]“ zu entwickeln, so lohnt es sich meines Erachtens, in der Suche nach
einem solchen Umgang dem zweckfreien individuellen Interesse am Erleben weiter
nachzuspüren. Dann besteht das immanent andere der drei diskursiven Rationalitätsformen
nicht allein in den jeweils anderen Rationalitätsformen, auch nicht allein in dem abstrakten
Begriff einer zwischen diesen vermittelnden Urteilskraft. Denn diese Urteilskraft lässt sich
dann weiter spezifizieren als eine aus dem vor-diskursiven, vor-reflexiven, vor-kognitiven
und vor-evaluativen zweckfreien individuellen Interesse am Erleben entspringende,
individuelle Fähigkeit zu einem adäquaten kreativem, adaptivem und kooperativem
Verhalten. Das zweckfreie individuelle Interesse am Erleben ist zu seiner Verwirklichung
in der Umwelt auf alle drei Verhaltensaspekte angewiesen und soweit es im Zentrum allen
Verhaltens gehalten wird, auch dazu fähig, ein sich reflexhaft nach „oben“ bis zur
reflexiven und diskursiven Ebene hin übersetzendes adäquates Zusammenspiel derselben
in Richtung auf ein befriedigendes Leben zu bewirken.
357
Ebd., Seite 38.
156
Diese Fundierung der interrationalen Urteilskraft im zweckfreien individuellen Interesse
am Erleben bedeutet mitnichten eine von Schnädelbach völlig zu Recht in Abrede gestellte
„totalisierende Rationalitätstheorie“, die es vermag, ihre „externen Bedingungen
vollständig zu internen zu machen“. Denn, wie gesagt, der Wirklichkeit nach ist das hier
vorgeschlagene Verständnis von Vernunft als ein vernünftiges Verhalten interessierter,
erlebender und freier Subjekte weder evaluativ noch kognitiv, noch reflexiv und damit
auch diskursiv nicht einzuholen. Aber ich halte es auch in diesem Zusammenhang mit dem
zu Beginn dieses Abschnitts gegebenen, bescheideneren adaequatio-Begriff, der darin
liegt, dass eine für uns hinreichende Erkenntnis nicht in einer totalen Erkenntnis der
Gegenstände liegen muss, in diesem Falle der Vernunft. Ich kann mich sehr gut mit dem
Gedanken anfreunden, dass ein begründbarer Erkenntnisgehalt in einem Meer von
Unerkanntem schwimmt. Und vielleicht kann er es gerade aus diesem Grund, weil er das
Meer das Meer sein lässt, in dem er schwimmt. Und es scheint mir in diesem Sinne
durchaus eine Möglichkeit zu bestehen, grundsätzliche Aspekte und Bedingungen
vernünftigen Verhaltens zu benennen, die in gewissem Sinne nicht historisch aufzulösen
sind und die These von der Historizität der Vernunft nur teilweise stützen.
Diese These trifft zu, insofern Vernunft, d.h. vernünftiges Verhalten, die historische
Existenz sich potentiell vernünftig verhaltender Subjekte voraussetzt. Diese These trifft
ebenfalls insofern zu, dass die historischen Bedingungen, unter denen sich vernünftig
verhaltende Subjekte um ein befriedigendes Erleben bemühen, stets einem evolutionärem
Wandel unterliegen und dementsprechend ganz unterschiedliche Herausforderungen
bereithalten und mitentscheidend dafür sind, was ein vernünftiges individuelles Verhalten
konkret bedeutet. Wie auch der Begriff der Vernunft selbst historisch an die Bedingung
der Entstehung von zu reflexivem und diskursivem Verhalten fähigen Subjekten geknüpft
ist. Insofern bleibt auch der hier vorgeschlagene Vernunftbegriff ein „offenes Konzept“.
Die These von der Historizität der Vernunft trifft jedoch, wenn man sich auf dieses „offene
Konzept“ einlassen kann, nicht zu im Hinblick auf den Gehalt, der unter diesen
Bedingungen begrifflich erfasst werden kann: Vernunft ist ein kreatives, adaptives und
kooperatives Bemühen um ein nicht völlig beherrschbares, nicht abschließend zu
erreichendes adäquates Zusammenspiel zwischen Subjekt und Umwelt, das mit einem
befriedigenden Erleben einhergeht und sein Kraftzentrum in jedem individuellen
zweckfreien Interesse am Erleben findet. Auch besteht so, zumindest an dieser Stelle der
Diskussion, noch keine Notwendigkeit nach einer „postklassische[n] metaphysische[n]
Dimension der Exteriorität [Hervorhebung im Original; T. W.]“ zu suchen. Denn das
exterritoriale Andere der Vernunft, des individuellen vernünftigen Verhaltens, das ist
zunächst einmal die physische und soziale Umwelt. Dadurch allein ist bereits jeder blanke
Subjektivismus von vorn herein vereitelt.
157
Ich will mit all dem nicht sagen, dass ästhetischer, theoretischer und praktischer Diskurs
ineinander aufzulösen seien, doch aber, dass sie, anders als Habermas es zumindest
explizit zulassen will, sich nicht nur berühren und bereichern können, sondern, wenn sie
auch unterschieden werden können, in ihrem Grunde nicht voneinander zu trennen sind; so
wie auch die drei vor-reflexiven und vor-diskursiven Aspekte der Vernunft es nicht sind.
Vielleicht kann man es so ausdrücken: Der ästhetische, der theoretische und der
moralische Diskurs sind Bereiche einer allgemeinen Diskursivität, die jeweils einen
Hauptakzent auf einen der drei Vernunftaspekte legen, mag man sie nun Authentizität,
Objektivität und Moral nennen oder, in der Betonung ihrer vor-reflexiven und vordiskursiven Grundlage, den kreativen Aspekt, den adaptiven Aspekt und den kooperativen
Aspekt. Die Philosophie wäre dann jener Bereich der allgemeinen Diskursivität, in dessen
Zentrum alle drei Vernunftaspekte zumindest annähernd gleich stark akzentuiert sein
können, ohne dass sie deshalb zur Leitfigur der allgemeinen Diskusivität stilisiert werden
sollte. Die Akzentuierungen in den drei Diskursen führt, wenn man so will, zu den drei
intersubjektiv sich explizierenden Dialekten einer jeden individuellen Vernunft, ohne dass
damit ein doppeldeutiger Verweis auf ein dialektisches Verhältnis derselben verbunden
wäre. Sie können sich in ihrem Zusammenspiel durchaus nicht-dialektisch ergänzen. Und
sie spielen nur dann nicht mehr zusammen, wenn aus der Akzentuierung ideologische
Vereinseitigungen in Richtung eines Ästhetizismus, Objektivismus oder Moralismus
werden.
Die Philosophie wiederum spricht dann, um im Bild zu bleiben und sich nicht allzu weit
von Habermas zu entfernen, weder einen ganz eigenen Dialekt noch schwingt sie sich zu
einer Hochsprache auf, sondern kann in der gleichberechtigten Akzentuierung das
Gemeinsame, die Verbindungen der Dialekte herausarbeiten, die wie in jeder
Sprachverwandtschaft so auch in der „dreistrahligen“ Sprachverwandtschaft der
vernünftigen Diskursivität zu finden sind. Die Philosophie ist in diesem Zusammenhang
keine Meisterdisziplin und kein Metadiskurs, sondern eine Mittlerdisziplin und ein
Mesodiskurs, auch wenn sie dabei durchaus von sich aus Themen zur Sprache und zum
Vorschein bringen kann, die im Zuge auch nicht-ideologischer Vereinseitigungen aus dem
Blickfeld der Diskurse geraten. So vermag sie der ideologischen Abkapselung der drei
reflexiv-diskursiven Rationalitätsformen zumindest angebotsweise und immer wieder nur
partiell entgegenzuarbeiten, damit das labile „Mobile“ des vernünftigen Verhaltens
endlicher, natürlicher, geschichtlicher sowie interessierter, erlebender und freier, zur
Reflexion und Diskursivität fähiger Subjekte sich nicht ineinander verhakt, sondern
schwingen kann.358
358
Hier beziehe ich mich auf Habermas, der in Bezug auf die drei Rationalitätsformen von einem „Mobile,
das sich hartnäckig verhakt hat“ spricht. Der Philosophie sollte es nach seinem Verständnis darum gehen,
dieser Verhakung zu einem neuen Zusammenspiel zu verhelfen, vgl. Habermas (1983), Seite 26; vgl. de
Vries (1989), Seite 30.
158
Die Übergänge zwischen Philosophie und den drei anderen Diskursbereichen sowie
zwischen diesen selbst sind fließend und die Vermittlung ist nicht an professionelle
Berufsbezeichnungen gebunden. Zudem bringt es das alltägliche Arbeiten, die
Konzentration auf bestimmte Fragen mit sich, dass man nicht immer alle drei Aspekte
gleich stark betonen kann, manchmal auch nur einen. Unsere Vernunft ist endlich. Und
dennoch kann auch in der reflexiven Konzentration auf einen der drei Vernunftaspekte die
Gleichberechtigung der beiden anderen implizit thematisch bleiben. Philosophieren heißt
also nicht, sich im Zentrum der Philosophie zu wähnen, auch nicht die Abhängigkeit von
den drei Aspekten zu leugnen, sondern nicht nur von einem und auch nicht bloß von
zweien, sondern sich von allen drei Aspekten zugleich abhängig zu sehen, weil sie zu
unserer je individuellen Natur gehören. Darin sehe ich, was man mit Karl Jaspers Worten
als die „Unabhängigkeit des philosophierenden Menschen“ bezeichnen könnte. 359 Im
Vollzug vernünftiger Reflexion können wir hier und dort, oder dort drüben, da vorn oder
hier hinten einen Akzent legen, in einem Gedanken, in einer Diskussion, einem Brief, in
einem Aufsatz, einem Buch oder einem gesamten beruflichen Leben. Egal wie kurz oder
wie lang und an welchem genauen Ort unserer intersubjektiven Diskursivität, wer sich in
Reflexion und Diskussion stets allen drei Aspekten verpflichtet weiß, der philosophiert
und macht sich von einer starren Positionierung im Hinblick auf die drei Diskurse
unabhängig. Und dies ist nicht so sehr ein Wissen, als vielmehr ein Tun. Vernunft ist ein
Verhalten, hier stimme ich mit Habermas völlig überein, ist prozedural und an natürliche
und geschichtliche Bedingungen geknüpft, ist ein Verhalten natürlicher Lebewesen.
Befriedigung und moralische Norm
Nachdem ich nun deutlich gemacht habe, was ich darunter verstehe, „daß wir endliche,
zugleich natürliche und geschichtliche und im übrigen vernunftbegabte Wesen sind“, um
es erneut mit Schnädelbachs Worten zu sagen, möchte ich nun wie angekündigt versuchen,
aufzuzeigen, worin ich das angesprochene in unserer bedingten Natur liegende normative
Faktum sehe, das es ermöglicht, über den Relativismus und jene negative Deontologie
hinauszugelangen: Wolle niemals etwas, das zu verwirklichen dir unmöglich ist.360 Bernard
Williams schreibt, „any ethical determinate outlook is going to represent some kind of
specialization of human possibilities. That idea is deeply entrenched in any naturalistic, or,
again, historical conception of human nature – that is, in any adequate conception of it –
and I find it hard to believe it will be overcome by an objective inquiry, or that human
beings could turn out to have a much more determinate nature than this suggested by what
we already know, one that timelessly demanded a life of a particular kind.“361 Ich habe
bereits darauf hingewiesen, dass ich Williams darin Recht gebe, dass das „project of giving
359
Jaspers, Karl: Die Unabhängigkeit des philosophierenden Menschen, München: dtv, 1980.
Schnädelbach (1993), Seite 23; vgl. Seite 121 dieser Arbeit.
361
Williams (1985), Seite 153.
360
159
to ethical life an objective and determinate grounding in considerations about human
nature“ 362 nicht zu völlig neuartig erscheinenden Konsequenzen führen wird. Denn wenn
das gesuchte normative Faktum in unserer Natur begründet liegt, dann ist zu erwarten, dass
wir in irgendeiner Weise immer schon mit diesem zu tun haben und zumindest teilweise
nach diesem unser Leben gestalten. Auch bin ich mit Williams der Meinung, dass mit dem
gesuchten normativen Faktum nicht eine festgelegte Art eines Lebens verbunden ist, doch,
so erscheint es mir, vielleicht eine Lebensart, wenn man darunter eine bestimmte Haltung
versteht, mit der ein Leben geführt werden kann, aber nicht muss. Ich nenne dieses
normative Faktum die moralische Norm. Hiermit komme ich schließlich auch zu meiner
obigen Andeutung zurück, dass Kant mit der Suche nach einem „moralischen Gesetz“
vielleicht doch nicht grundsätzlich falsch lag. Es ist nur die Frage, was man anders
darunter verstehen kann, damit es wirklich als ein „wahres Vernunftgebot“ verstanden
werden kann.363 Ich verdanke für die folgenden Überlegungen Leonard Nelson wichtige
Anregungen. Da ich mich jedoch in entscheidenden Aspekten von dem in seiner Kritik der
praktischen Vernunft entwickelten Begriff des „Sittengesetzes“ entfernt habe, und ich hier
keinen Vergleich desselben mit dem von mir vorgeschlagenen Begriff der moralischen
Norm anstrebe, will ich es vornehmlich bei dieser Erwähnung belassen, halte ihn aber nach
wie vor für einen sehr wichtigen, leider etwas in Vergessenheit geratenen
„Gesprächspartner“.364
Schon in der Definition des für die moralische Diskussion so entscheidenden
Pflichtbegriffes gehe ich einen anderen Weg als Nelson, der ähnlich wie auch Kant unter
Pflicht eine „Handlung, sofern sie schlechthin geboten ist“, versteht.365 Ich möchte unter
dem Pflichtbegriff keine moralische Pflicht verstehen, sondern eine natürliche Pflicht.
Was das heißt, werde ich sogleich verdeutlichen. Die natürliche Pflicht leite ich ab aus der
Konsequenzhaftigkeit natürlicher Existenz. Diese Konsequenzhaftigkeit, die nicht mit
einem vollkommenen Determinismus verwechselt werden sollte, ist selber keine
Konsequenz, sondern eine natürliche Bedingung unter der alles Geschehen in der Natur
sich vollzieht. Und so haben auch wir für alles, was wir tun, die sich daraus ergebenden
Konsequenzen zu tragen. Ob wir wollen oder nicht, wir sind den Konsequenzen unseres
Tuns stets verpflichtet. Und das auch dann, wenn nicht im Vorhinein völlig determiniert
und geklärt ist, was die Konsequenzen im Einzelnen sein werden, was unsere
Verpflichtung im Einzelnen bedeuten wird. Jede Handlung birgt ein Wagnis in sich, eben
eine „Pflicht“ der etymologischen Wurzel nach.366 Ohne Konsequenz kein Wagnis. Diese
362
Ebd.
Vgl. Seite 98f. dieser Arbeit.
364
Nelson, Leonard: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften in neun Bänden,
Vierter Band, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1972, Seite 126ff.
365
Ebd., Seite 82.
366
Vgl. Kluge, Friedrich: „Pflicht“, in: ders.: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin:
Walter de Gruyter, 2002, Seite 696.
363
160
Verpflichtung wird besonders in Konfliktfällen deutlich, wenn wir für das, was wir getan
haben, von anderen verantwortlich gemacht werden oder uns selbst verantwortlich
machen. Wir antworten, wägen Gründe für und gegen unser Tun ab. Dieses muss aber
nicht erst im Nachhinein geschehen. Auch im Vorhinein einer bestimmten
Handlungsmöglichkeit können wir abwägen, können nach Gründen für oder gegen eine
Handlung suchen. Darin liegt Sorgfalt um unser Tun und das, was daraus erwächst – auch
das eine etymologische Bedeutung von „Pflicht“.367 Ohne Konsequenz gäbe es nichts,
worauf sich Sorgfalt beziehen könnte. Die Sorgfalt holt den möglichen Konflikt vor eine
Handlung, versucht zu klären, was es zu tun oder zu unterlassen gilt. Die Frage ist: Was
soll ich tun? – jene Frage, die mit Bernard Williams als Ausgangspunkt aller ethischen
Auseinandersetzungen verstanden werden kann.368 Die im Abwägen liegende Sorgfalt ist
selbst ein Tun, ein sorgfältiges Tun. Im Vorhinein handeln wir aus, was mögliche
Konsequenzen eines Tuns sein könnten, im Nachhinein, was die Konsequenzen sind. Die
Konsequenzhaftigkeit unseres Handelns macht uns haftbar, begründet unsere
Verpflichtung.
Dies gilt auch für die epistemische Praxis. Darauf hat unter anderem Robert Brandom in
Making it explicit eindringlich hingewiesen.369 Wenn wir etwas „wahrnehmen“, bedeutet
es genau das. Wir beziehen Stellung, sind haftbar für die mit unseren Wahrnehmungen
verbundenen Konsequenzen. „Wahrnehmung“ darf dabei nicht allein im Sinne von
Perzeption verstanden werden. Auf einer allgemeineren Ebene liegt die Bedeutung den
etymologischen Wurzeln folgend in den Begriffen „wahren“ und „bewahren“, die über das
Wort „wahr“ wiederum im semantischen Kontext von „Treue“, „Zustimmung“,
„Verpflichtung“ und „Glaube“ stehen.370 Eine „Wahrnehmung“ bedeutet das Eingehen
einer Verbindlichkeit, das sich über den Bereich der sinnlich akzentuierten Perzeption
hinaus auch in logischen, mathematischen und metaphysischen Zusammenhängen einstellt.
Diese „Wahrnehmung“ teile ich und teile sie hier mit. Dies führt zu der entscheidenden
und nicht oft genug zu betonenden Konsequenz: Wenn Wahrnehmung nicht auf rein
passive Rezeption reduziert werden kann, sondern bedeutet, dass wir Stellung beziehen
und dass sie also zu einem nicht unerheblichen Anteil als ein (konstruktives) Tun zu
verstehen ist, dann steht jede Wahrnehmung unter Vorbehalt. Dieser Vorbehalt gilt auch
für begründete Wahrnehmungen. Denn begründen können wir wiederum nur durch
Wahrnehmung von etwas, das wir in dieser Wahrnehmung als einen Grund annehmen.
Diese Wahrnehmung kann aber wie jede andere auch willkürlich oder unwillkürlich in
Frage gestellt werden. In der Begründung von Wahrnehmungen können wir stets nur auf
Wahrnehmungen zurückgreifen, die zu begründen wir uns wiederum bemühen können,
367
Vgl. ebd.
Vgl. Williams (1985), Seite 18.
369
Brandom, Robert B.: Making It Explicit, Cambridge, MA/London, England: Harvard University Press,
1994.
370
Vgl. Kluge (2002), „wahren“, Seite 968; sowie „wahr“, ebd.
368
161
wobei wir erneut auf Wahrnehmungen zurückgreifen müssen. Begründungen bleiben
deshalb potentiell problematisch, und so auch begründetes Handeln ein Wagnis. Das sollte
uns nicht hindern, dieses Wagnis einzugehen. Denn, dass jegliche Wahrnehmung in Frage
gestellt werden kann, heißt nicht auch schon, dass Wahrnehmungen grundsätzlich falsch
sein müssen. Ob falsch oder nicht, unsere Wahrnehmungen von Gründen, die für oder
gegen bestimmte Handlungen sprechen, beeinflussen unser Tun. Wenn ich etwas als eine
Gefahr wahrnehme, so ist diese Wahrnehmung ein Grund für mich, mich so zu verhalten,
dass ich mich vor dieser Gefahr schütze. Und dies gilt völlig unabhängig davon, ob das,
was ich als Gefahr wahrnehme, tatsächlich auch eine Gefahr für mich ist.
Für Subjekte, die diesen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Tun reflektieren
können, ja die sogar reflektieren können, dass Wahrnehmung selbst eine Form von Tun ist,
bedeutet dies: Wenn meine subjektiven Wahrnehmungen mein Tun beeinflussen, meine
Wahrnehmungen aber selbst ein Tun sind, dann scheint es auf die aus der sorgfältigen
Pflicht erwachsende Frage, was ich tun soll, auf die Frage, was ich in einer Situation
erstreben sollte, keine endgültige Antwort zu geben. Zum einen kann nicht endgültig
geklärt werden, was denn überhaupt die Situation ist. Denn auch „die Situation“ ist ja stets
eine subjektive Wahrnehmung einer Situation und also ein Tun, nichts, das einfach
gegeben wäre. Auch wenn die Wahrnehmung einer Situation mit objektiven Sachverhalten
zusammenhängen mag, so ist die Situation doch stets durch das die objektiven
Sachverhalte wahrnehmende und modifizierende Subjekt mitbestimmt. Zum anderen wäre
auch, eine so bestimmte Wahrnehmung einer Situation vorausgesetzt, die Vorstellung
davon, was es in einer solchen Situation zu tun gilt, selbst wiederum eine Wahrnehmung.
Als Wahrnehmung steht diese Vorstellung so selbst im Bann der Frage, auf die sie eine
Antwort geben soll. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, was es zu tun gilt, kann
in ihrer umfassenden, auch unser epistemisches Tun einschließenden Reflexion keiner
Antwort näher gebracht werden.
An diesem Punkt schlägt die Frage in eine Wahrnehmung um. Aus der Frage „Was soll ich
tun?“ wird die Feststellung „Ich setze, was ich tun soll.“. Insofern in der umfassenden
Reflexion das Sein des Subjektes selbst als Tätigkeit deutlich wird, kann man sogar sagen,
dass das Subjekt sich als ein Subjekt wahrnimmt, das sich selbst sein „Gesetz“ ist, das sich
selbst in seinem Handeln setzt. Diese Selbstwahrnehmung ist keine Wahrnehmung von
etwas Gegebenen, es ist eine Selbstsetzung des Subjektes, das sich in dieser Wahrnehmung
als ein Setzendes setzt. Es differenziert sich als Wahrgenommenes von sich selbst als
Wahrnehmendem. Auch wenn dieser subjektiven Differenzierung keine objektive
Differenz entspricht, dem Subjekt also kein Objekt gegenübersteht, das in irgendeiner
Weise, als „truth-maker“ die Wahrheit dieses Gedankens begründen könnte, so scheint der
Gedanke doch wahr zu sein. Denn Gedanke und gedanklicher Inhalt entsprechen sich. In
dieser Entsprechung liegt die Evidenz des Gedankens. Es denkt und setzt sich in diesem
162
Denken als sich selbst durch das Denken setzend. Es denkt, was es tut, und tut, was es
denkt. Das Denken denkt sich selbst. Es ist die in das Subjekt zurückgeholte aristotelische
Gottheit.371
Aber im Unterschied zu jener ist dieses Sich-selbst-Denken des Denkens alles andere als
selbstgenügsam und vollkommen. Es bleibt existentiell auf anderes und andere
angewiesen. Es gibt keine Reflexion ohne ihre Körperlichkeit oder, um an die
phänomenologische Begrifflichkeit anzuschließen, ohne ihre Leiblichkeit samt der mit
dieser verbundenen Bedürfnisse. Das Sich-selbst-Denken des Denkens ist „bloß“ ein Pars
pro Toto des denkenden Organismus, einer erlebenden körperlich-geistigen Individualität.
Es gibt kein Denken, das in seinem Sich-selbst-Denken nicht jäh aus dem Gedanken
gerissen würde, um sich auf Bedürfnisbefriedigungen zu konzentrieren. Bedürfnisse gibt
es verschiedene, die Wege zu ihrer Befriedigung sind mannigfaltig, die mit diesen
verbundenen Konsequenzen unabsehbar. Diese Unabsehbarkeit ist wiederum der
Hintergrund, vor dem das Bedürfnis nach Orientierung immer wieder neu entfacht wird,
die Frage „Was soll ich tun?“ stets virulent ist. Nun wurde aber deutlich, dass in der
subjektiven Reflexion dieser Frage keine definitive Antwort gefunden werden kann, da
jede Reflexion zum einen selbst ein Tun ist, zum anderen auf Wahrnehmungen
zurückgreifen muss, für die eben das gleiche gilt. Die Reflexion führt an einen Punkt, an
dem Wahrnehmungen und die auf diese fußenden Reflexionen als ein Tun des Subjektes,
das Subjekt selbst als ein Tun erscheint, als ein sich durch sein Tun Setzendes. Insofern
das Subjekt ein Tun ist, kann es aus sich selbst keine Antwort auf die Frage schöpfen, was
es tun soll. Es kann dieses und jenes tun. Aber es kann sich selbst nicht reflexiv
beantworten, ob es dieses und jenes tun soll. Das Subjekt kann das Bedürfnis nach der
Orientierung seines Tuns, wie andere Bedürfnisse auch, nicht aus sich selbst befriedigen
bzw. es kann dies nur insoweit, als es sich selbst dazu entscheidet, etwas Bestimmtes zu
tun, und damit ein auch durch Sorgfalt nicht aufzulösendes Wagnis eingeht. Es wird sich
zeigen, was die Konsequenzen sein werden, was seine Pflicht bedeuten wird.
Was in dieser Reflexion wiederum aufscheint, ist der ethische Restdezisionismus, von dem
im vorhergehenden Abschnitt mit Schnädelbach die Rede war, jene unbestimmte Freiheit
von der Kodalle geredet hat, die sich in all unserem Tun stets ihre Bahn brechen muss,
weil wir diese Freiheit jeweils selbst sind, jenes zweckfreie individuelle Interesse am
Erleben.372 Es gibt keinen Zweck, den wir reflexiv erfassen könnten und der uns eindeutig
bestimmen ließe, was wir tun sollen. Wir können unsere Natur als zweckfrei interessierte,
erlebende und freie Subjekte in der Reflexion nicht hinter uns lassen, sondern sie in einer
solchen immer nur wieder aufs Neue erkennen. Wir kommen in der Reflexion zu keinem
Punkt, an dem wir unserer Zweckfreiheit plötzlich beraubt wären und durch unser Denken
371
372
Vgl. Seite 63f. dieser Arbeit.
Vgl. Seite 148f. dieser Arbeit.
163
ein vorgegebener Zweck uns bloß noch dazwischen entscheiden ließe, ob wir diesem
entsprechen wollen oder nicht. Der einzige „Zweck“, so habe ich deutlich gemacht, liegt in
dem Wert unseres Daseins und Erlebens, den dieses für uns durch uns hat und den es zu
leben und zu erleben gilt. Dieser „Zweck“ aber gibt uns nicht vor, wie er zu leben sei, denn
wir sind dieser „Zweck“, dieser Wert jeweils selbst. Wir können noch so viele Gründe
haben, etwas Bestimmtes zu tun oder zu behaupten, dem so zu Tuenden oder zu
Behauptenden einen Wert beizumessen, indem wir es tun und behaupten. Doch dadurch
wird uns nicht die Freiheit genommen, dieses wiederum in Frage zu stellen oder einfach
etwas anderes zu tun oder zu behaupten. Dass diese Freiheit durchaus in ein
unbefriedigendes Leben führen kann, weil unsere zweckfreie Natur nicht bedingungslos
ist, ist eine andere Sache. Dem Subjekt jedenfalls bleibt in seiner Freiheit nichts anderes,
als diejenigen Interessen und Ziele zu verfolgen, die im Hinblick auf ein befriedigendes
Leben in Adäquanz mit der physischen und sozialen Umwelt am meisten Erfolg zu
versprechen scheinen.
Damit aber zeigt sich, dass die Reflexion uns diesbezüglich nicht klüger macht, als andere
Lebewesen auch. Ein Sollen in diesem Sinne lässt sich aus Reflexion allein nicht
gewinnen, damit aber auch keine Moral oder so etwas wie eine Pflicht gegen sich selbst –
es wäre auch die Frage, ob so etwas überhaupt „klug“ genannt werden könnte. Mit Blick
auf Kant könnte man sagen, es gibt keine reine praktische Vernunft. An Kants
Überzeugung hingegen, dass am Ende alles vernünftige Verhalten praktisch ist, kann man
sehr wohl festhalten.373 Moral wird erst in intersubjektiver Reziprozität thematisch. Hier
bin ich wiederum sehr nah bei Nelson und auch bei Williams, auch wenn letzterer es
vorziehen würde, allein von Ethik zu sprechen.374 Und nur insoweit wir in Gesellschaft
leben, haben wir immer schon notwendigerweise mit moralischen Fragen zu tun. Aber es
ist ja durchaus denkbar, dass sich ein Mensch dazu entschließt, sich aus der Gesellschaft
zurückzuziehen und ein einsames Leben in der Natur zu führen. Daran ist erstens nichts
moralisch Verwerfliches zu finden und zweitens haben in dem Moment, in dem er für sich
alleine lebt, zumindest Fragen zwischenmenschlicher Moral für ihn keine Relevanz
mehr. 375 Er wird sich nach wie vor ethische Fragen stellen können und darüber
nachdenken, was für ihn zu einem befriedigenden Leben gehört, kann dementsprechend
sein Leben versuchen einzurichten. Und vielleicht kommt er in diesem Nachdenken ja
irgendeines Tages zu dem Entschluss, wieder in Gesellschaft zurückkehren zu wollen.
Dann aber wird aus seinem ethischen Interesse notwendig ein moralisches werden. Was
verstehe ich nun genauer unter diesem moralischen Interesse und worin liegt es begründet?
373
Vgl. Kant, KpV, Seite 249ff.
Vgl. Nelson (1972), Seite 137; vgl. Williams (1985), Seite 182. Williams behält den Ausdruck „Moral“
allein für die Pflichtenethik. Vgl. ebd., Seite 174ff.
375
Auch gegenüber nicht-menschlichen Lebewesen ist moralisches Verhalten möglich. Ich will mich im
Folgenden aber auf die zwischenmenschliche Moral konzentrieren. Vgl. Nelson (1972), Seite 166ff.
374
164
Beginnen wir mit der letzten Frage. Die vorhergehenden Reflexionen haben uns erneut an
einen Punkt geführt, an dem wir uns in unserer Natur als zweckfreies Interesse am Erleben
erkennen können. In diesem messen wir unserem Tun, welcher Art auch immer, einen
Wert bei. Dies allein dadurch, dass wir als der Wert, der wir für uns selbst jeweils sind,
tun, was wir tun. Wir legen in unserem Tun unseren Wert unausweichlich in dieses Tun.
Diese individuelle Wertsetzung, die unser Leben bedeutet, gilt für alle interessierten,
erlebenden und freien Subjekte. Nun kann man aus diesem Zusammenhang Schlüsse
ziehen, die sich zu etwas verdichten lassen, was ich als Ethik der Natur oder natürliche
Ethik bezeichnen will. Das individuelle Leben und Erleben ist nicht einfach gegeben,
sondern muss durch eine Gestaltung der Umwelt stets neu errungen werden. Schon die
Homöostase des Organismus bedeutet ein Gefügig-Machen der Umwelt, indem die Stoffe
der Umwelt dem Existenzinteresse des Subjektes entsprechend aufbereitet, genutzt und
ausgeschieden werden. Jedes individuelle Tun bedeutet ein interessiertes Gefügig-Machen
der Umwelt, das zugleich mit einer Wertsetzung verbunden ist. Natürlich wird ein so
tätiges Subjekt da, wo es auf unabänderliche Bedingungen stößt, nicht umhinkommen, sich
selbst diesen Bedingungen anzupassen, wenn es darum geht, ein befriedigendes Leben zu
verwirklichen. Aber in allen anderen Zusammenhängen ist mit seinem Interesse zunächst
unauflöslich das Interesse verbunden, sich die Umwelt gefügig, seinem Interesse adäquat
zu machen.
Das gilt auch im Zusammenspiel mit anderen interessierten Subjekten, auf die es in seiner
Umwelt trifft. Soweit sich die Interessen nicht widersprechen, liegt hierin kein Problem.
Erst angesichts eines gegebenenfalls auftretenden Widerspruches lässt sich wiederum ein
immanentes Interesse ausmachen, sich diese anderen Subjekte gefügig zu machen und nur,
wo dies nicht möglich ist, ist andersherum das Subjekt selbst gezwungen, sein eigenes
Interesse anzupassen. Was sich hier als Bild der natürlichen Ethik auftut, scheint eines des
bloßen Spieles der Macht zu sein. Wer die Macht hat, der regiert, wenn auch lokal und
bedingt, das Geschehen. Man könnte dieses Spiel mit den naturphilosophischen
Überlegungen aus Friedrich Nietzsches Nachlass vergleichen: „Ich hüte mich, von
chemischen ‚Gesetzen‘ zu sprechen: das hat einen moralischen Beigeschmack. Es handelt
sich vielmehr um eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen: das Stärkere wird
über das Schwächere Herr, so weit dies eben seinen Grad Selbstständigkeit nicht
durchsetzen kann, – hier giebt es kein Erbarmen, keine Schonung, noch weniger eine
Achtung vor ,Gesetzen‘! [...] Es gibt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick
ihre letzte Consequenz [Hervorhebung im Original; T. W.].“376
Dies ist meines Erachtens aber nur die halbe Wahrheit. Und auch Nietzsche bleibt dabei
376
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente – Herbst 1884 bis Herbst 1885, in: ders.: Nietzsche
Werke, VII3, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1974, 36[18], Seite 283; ders.: Nachgelassene
Fragmente – Anfang 1888 bis Frühjahr 1889, in: ders.: Nietzsche Werke, VIII3, Berlin/New York: Walter
de Gruyter, 1972, 14[79], Seite 50.
165
nicht stehen. Im Folgenden will ich mich nun über Nietzsche allmählich der Formulierung
des moralischen Interesses und schließlich auch der moralischen Norm annähern.
Evolutionstheoretische Gedanken, wie sie auch in dieser Arbeit vorgebracht wurden,
parodierend schrieb er in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben: „So weit
flog die Geschichtsbetrachtung noch nie, selbst nicht, wenn sie träumte; denn jetzt ist die
Menschengeschichte nur die Fortsetzung der Tier- und Pflanzengeschichte; ja in den
untersten Tiefen des Meeres findet der historische Universalist noch die Spuren seiner
selbst, als lebenden Schleim; den ungeheuren Weg, den der Mensch bereits durchlaufen
hat, wie ein Wunder anstaunend, schwindelt dem Blicke vor dem noch erstaunlicheren
Wunder, vor dem modernen Menschen selbst, der diesen Weg zu übersehen vermag. Er
steht hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses; indem er oben darauf den
Schlußstein seiner Erkenntnis legt, scheint er der horchenden Natur rings umher
zuzurufen: ‚wir sind am Ziele, wir sind das Ziel, wir sind die vollendete Natur.‘
Überstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet
nicht die Natur, sondern tötet nur deine eigne. Miß nur einmal deine Höhe als Wissender
an deiner Tiefe als Könnender. Freilich kletterst du an den Sonnenstrahlen des Wissens
aufwärts zum Himmel, aber auch abwärts zum Chaos. Deine Art zu gehen, nämlich als
Wissender zu klettern, ist dein Verhängnis; Grund und Boden weicht ins Ungewisse für
dich zurück; für dein Leben gibt es keine Stützen mehr, nur noch Spinnefäden, die jeder
neue Griff deiner Erkenntnis auseinanderreißt. – Doch darüber kein ernstes Wort mehr, da
es möglich ist, ein heiteres zu sagen.“377
Nietzsche wendet sich mit diesen Sätzen gegen jenen, wie er sagt, Zynismus seiner Zeit,
der die „Jugendhoffnungen und Jugendkräfte“ der Menschen erstickt, die der „Grund und
Boden“ sind, aus dem überhaupt so etwas wie Kultur entstehen und, sich erneuernd,
lebendig bleiben kann. Die Moderne wähnt sich in ihrem Wissen auf dem Gipfelpunkt
aller kulturellen Leistungen und merkt nicht, wie sie sich dabei selbst zerstört, in dem sich
der Mensch in seinem vermeintlichen Wissen in einem „Weltprozeß“ selbst untergehen
lässt. Die Kritik gilt zum einen der hegelschen Metaphysik, aber auch, wie im Zitat
deutlich geworden, dem metaphysisch-antimetaphysischen Dogma des Darwinismus; den
Marxismus kann man hier ebenfalls einreihen. „In das Wohlgefühl eines derartigen
Zynismus flüchtet sich der, welcher es nicht in der Ironie aushalten kann; ihm bietet
überdies das letzte Jahrzehnt eine seiner schönsten Erfindungen zum Geschenke an, eine
gerundete und volle Phrase für jenen Zynismus: sie nennt seine Art, zeitgemäß und ganz
und gar unbedenklich zu leben, ‚die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß‘.
Die Persönlichkeit und der Weltprozeß! Der Weltprozeß und die Persönlichkeit des
Erdflohs! Wenn man nur nicht ewig die Hyperbel aller Hyperbeln, das Wort: Welt, Welt,
Welt hören müßte, da doch jeder, ehrlicherweise, nur von Mensch, Mensch, Mensch reden
377
Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders.: Unzeitgemässe
Betrachtungen, Zweites Stück, in: ders.: Nietzsche Werke, III1, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1972,
Seite 308f.
166
sollte! Erben der Griechen und Römer? des Christentums? Das scheint alles jenen
Zynikern nichts; aber Erben des Weltprozesses! Spitzen und Zielscheiben des
Weltprozesses! Sinn und Lösung aller Werde-Rätsel überhaupt, ausgedrückt im modernen
Menschen, der reifsten Frucht am Baume der Erkenntnis! – das nenne ich ein schwellendes
Hochgefühl; an diesem Wahrzeichen sind die Erstlinge aller Zeiten zu erkennen, ob sie
auch gleich zuletzt gekommen sind.“378
In seiner Anspielung auf die Griechen, Römer und Christen steckt zum einen der Hinweis
und die Warnung, dass auch schon andere Kulturen, die sich als Spitze aller kulturellen
Entwicklung verstanden, von der Geschichte eines Besseren belehrt wurden; zum anderen
aber auch Nietzsches latentes Festhalten an der Metaphysik, der es ihm zufolge aber,
anders als dies die antiken sowie christlichen Denker und auch Hegel wahrhaben wollten,
nur mit einem ironischen Wissen zu begegnen gilt.379 Das ironische Wissen kann man
vielleicht beschreiben als aus einem notwendigen metaphysischen Denkbezug quellende
Reflexionen, die, sobald sie in gesichertes „Wissen“ zu gerinnen beginnen, durch Ironie
wieder verflüssigt werden müssen, weil sie sonst dem, was aus ihnen wiederum quellen
soll, nicht mehr gerecht werden können: dem menschlichen Leben. Ironie aber ist keine
Kultur, kein System, kein Wissen, kein Sein, sondern eine individuelle Tätigkeit und ein
Umgang des reflektierenden Menschen mit sich selbst.
Der wirkliche Mensch ist für Nietzsche diejenige individuelle Kraft, die sich nicht nur
gegen das Ist der Natur, sondern auch das Ist der Kultur stemmt, und gegen das Ist seines
eigenen Charakters, um die Lebendigkeit nicht zu verlieren. Das ist Nietzsches „Wille zur
Macht, – der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille.“ 380 „Denn rede man von welcher
Tugend man wolle, von der Gerechtigkeit, Großmut, Tapferkeit, von der Weisheit und
dem Mitleid des Menschen – überall ist er dadurch tugendhaft, daß er sich gegen jene
blinde Macht der Fakta, gegen die Tyrannei des Wirklichen empört und sich Gesetzen
unterwirft, die nicht die Gesetze jener Geschichtsfluktuationen sind. Er schwimmt immer
gegen die geschichtlichen Wellen, sei es, daß er seine Leidenschaften als die nächste
dumme Tatsächlichkeit seiner Existenz bekämpft oder daß er sich zur Ehrlichkeit
verpflichtet, während die Lüge rings um ihn herum ihre glitzernden Netze spinnt. Wäre die
Geschichte überhaupt nichts weiter als ‚das Weltsystem von Leidenschaft und Irrtum‘, so
würde der Mensch so in ihr lesen müssen, wie Goethe den Werther zu lesen riet: gleich als
ob sie riefe, ‚sei ein Mann und folge mir nicht nach!‘ Glücklicherweise bewahrt sie aber
auch das Gedächtnis an die großen Kämpfer gegen die Geschichte, das heißt gegen die
blinde Macht des Wirklichen, und stellt sich dadurch selbst an den Pranger, daß sie jene
378
Ebd., Seite 308.
Vgl. Zachriat (2001), Seite 144ff.
380
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Nietzsche Werke, VI1, Berlin/New York:
Walter de Gruyter, 1968, Seite 143.
379
167
gerade als die eigentlich historischen Naturen heraushebt, die sich um das ‚so ist es‘ wenig
kümmerten, um vielmehr mit heiterem Stolze einem ‚so soll es sein‘ zu folgen. Nicht ihr
Geschlecht zu Grabe zu tragen, sondern ein neues Geschlecht zu begründen – das treibt sie
unablässig vorwärts: und wenn sie selbst als Spätlinge geboren werden – es gibt eine Art
zu leben, dies vergessen zu machen – die kommenden Geschlechter werden sie nur als
Erstlinge kennen.“381
Um was es Nietzsche hier geht, ist das Gegenteil eines Sich-Überlassens an ein bloß
schicksalhaftes Spiel der Mächte. Wolf Gorch Zachriat hat dies in seiner Arbeit
Ambivalenz des Fortschritts – Friedrich Nietzsches Kulturkritik nachvollziehbar
herausgearbeitet. 382 In der Betonung individueller „Selbstüberwindung“ in einem
„experimentell-geistigen Fortschreiten“ sieht Nietzsche „die Morgenröthe eines kulturellen
Fortschritts“ aufgehen, in dem nicht mehr blinder Machtwille vorherrscht, sondern eine
moderne Aristokratie von freien Geistern.383 „Selbstständige und vorsichtige Haltung der
Erkenntnis schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf
gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre
Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel
der Wissenschaft bannen möchten: während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat,
von einem einsamen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und
gelehrten Menschen zu befehlen und ihnen die Wege und Ziele der Kultur zu zeigen.“384
Was Nietzsche hier vorschwebt, ist eine freigeistige Elite, deren Mitglieder „im
Zwiegespräch“ untereinander jeweils immer wieder neu „ermitteln“ und „bestimmen“,
welchen Weg die Kultur einzuschlagen habe, die „den Gang der Kultur maßgeblich
bestimmen, d.h. das vielfältige Machtstreben auf zumindest temporär sinnvolle Ziele
ausrichten.“ 385 Dabei wird das Machtstreben der Freigeister untereinander durch die
„Beachtung der Rangordnung des Machtstrebens [...], die nach dem Vermögen der Mächte
bemessen wird, das Widerstrebende sinnvoll zu interpretieren und zu einigen“
entschieden.386
Die Kultur, die Gesellschaft, brauche diese interpretierende Tätigkeit der Freigeister. Sie
geben der Kultur den historischen Horizont vor, „eine Linie“, ohne die sie sich im
„Unaufhellbaren Dunkeln“ des geschichtlichen Prozesses verlieren würde. „Und dies ist
ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund,
stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen und zu
381
Nietzsche Nutzen und Nachteil der Historie (1972), Seite 307.
Zachriat (2001).
383
Die zitierten Ausdrücke habe ich den Überschriften der Kapitel III.4.2, IV.4.3, IV.4.4 entnommen; vgl.
Zachriat (2001), ebd., Inhaltverzeichnis, Seite 8f.
384
Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches – Erster Band, in: ders.: Nietzsche Werke, IV2,
Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1967, Seite 235.
385
Vgl. Zachriat (2001), Seite 188.
386
Ebd., Seite 188.
382
168
selbstisch wiederum, innerhalb eines fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht
es matt und überhastet zu zeitigem Untergange dahin. Die Heiterkeit, das gute Gewissen,
die frohe That, das Vertrauen auf das Kommende – alles das hängt, bei dem Einzelnen wie
bei dem Volke, davon ab, dass es eine Linie gibt, die das Uebersehbare, Helle von dem
Unaufhellbaren Dunkeln scheidet [...]“387 So wäre für Nietzsche ein Fortschritt zumindest
denkbar. „Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen
Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie
können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung,
Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte
der Menschen überhaupt gegeneinander abwägen und einsetzen. Diese neue bewusste
Cultur tödtet die alte [...]; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, – er ist
möglich.“388 Wie Zachriat betont, geht es Nietzsche bei der freigeistigen Aristokratie und
ihrem „Willen zur Macht“ nicht um tyrannische Machtgier. Sondern es „soll sich das
Machtstreben der künftigen Aristokraten durch das Vermögen des geistreichen
Interpretierens auszeichnen, daß die eigene Position und die widerstrebenden Mächte
hinsichtlich der Realisierungschancen vorsichtig abtastet und sich bemüht, ihnen jeweils
gerecht zu werden. Dank dieses Vermögens soll es den vornehmen Individuen der Zukunft
möglich sein, die fremden und die eigenen Grenzen zu erkennen und ihresgleichen zu
respektieren. In einem Kurztext mit der Überschrift Meine Utopie wird zudem die
Leidensfähigkeit der Individuen als das Maß einer besseren gesellschaftlichen Ordnung
bestimmt. Entgegen den bisher bekannten Aristokratien soll sich demnach der Rang in der
künftigen Gesellschaft auch nach der feinfühligen Empfindsamkeit des Einzelnen
richten.“389
Und genau hier, hinsichtlich des Vermögens des vorsichtigen Abtastens, des GerechtWerdens, des Erkennens der eigenen und fremden Grenzen, des gegenseitigen
Respektierens, hinsichtlich der Leidensfähigkeit, der Feinfühligkeit und der
Empfindsamkeit lohnt es sich, noch einmal genauer hinzuhören und nachzufragen. Denn
diese Vermögen und Fähigkeiten sind bei dem sonst so wortgewaltigen Nietzsche offenbar
das leise, fast unmerklich pochende Herz eines möglichen Fortschritts, das sich gegen
„eine absolute Feststellung von Machtverhältnissen“ stemmt, dagegen, dass „jede Macht
[...] in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz“ zieht.390 Das sind ganz andere Töne als
der Ruf nach seinem Übermenschen: „Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch.
Mann muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können,
ohne unrein zu werden. Seht, ich lehre Euch den Übermenschen: der ist dieses Meer, in
ihm kann Eure große Verachtung untergehen.“ 391 In dem peitschenden Wellenschlag
387
Nietzsche Vom Nutzen und Nachteil der Historie (1972), Seite 247f.
Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches – Erster Band (1967), Seite 41.
389
Zachriat (2001), Seite 190.
390
Nietzsche Nachgelassene Fragmente – Anfang 1888 bis Frühjahr 1889 (1972), Seite 50.
391
Nietzsche Zarathustra (1968), Seite 9.
388
169
seiner Polemik hätte es Nietzsche sicher nicht geschadet, in seinem Übermenschen dem
von ihm verachteten „historische[n] Universalist[en]“ einmal bis zu der Stille in die
„untersten Tiefen des Meeres“ zu folgen, bis zu jenem am Grunde „lebenden Schleim“,
und sich zu wundern, dass auch dort unten, in den für den Menschen unwirtlichen Tiefen
Leben herrscht und nicht nur lebloser Stoff. Mit etwas Feinfühligkeit hätte er dann
vielleicht erkennen und zugestehen können, dass es nicht abwegig ist, anzunehmen, dass
auch die Organismen in diesem Schleim „einen tanzenden Stern gebären“ können.392 Es
geht nicht darum, in diesen die Spuren unserer selbst erblicken zu wollen, dennoch aber
können sie uns etwas bedeuten. Denn was bedeutet es, wenn auch diese einfachen
Lebewesen ein zweckfreies Interesse am individuellen Erleben haben, sie sich, wenn auch
unreflektiert, ein Wert sind?
Wenn wir uns „der Natur“ auf diese Weise nähern, dann kann in dem Bild der natürlichen
Ethik etwas anderes sichtbar werden als bloß „eine absolute Feststellung von
Machtverhältnissen“. Denn dann kann schon in diesem einfachen Leben das als grundlegend angelegt gesehen werden, was uns Menschen als aus unserer diskursiven
Reflexivität erwachsend in der Geschichte von Religion, Kunst und Moral und auch der
Wissenschaft begegnet. In dieser drückt sich die aus einem vorgängigen Leben
selbsttranszendierender, zweckfrei am eigenen Erleben interessierter Individuen, drückt
sich die aus zweckfreier Werthaftigkeit hervorgehende kreative, adaptive und kooperative
Suche nach einem befriedigenden Leben aus. Sicherlich ist diese Geschichte durchdrungen
von grausamen Machtspielen, von Leidenschaft und Irrtum. Aber dies ist eben nicht alles.
Es gibt auch noch eine andere Seite, die sich merklich Gehör verschaffen will. Auch die
einfachsten Lebewesen unterliegen nicht einer „blinde[n] Macht der Fakta“, sind
Tatsachen auch in dem Sinne, dass sie ihrem eigenen zweckfreien Interesse, das sie selbst
je sind, in der Wirklichkeit tätig Ausdruck verleihen; die, wie bedingt und eingeschränkt
auch immer, die Wirklichkeit dem Gesetz ihres eigenen zweckfreien Interesses
unterwerfen. Dieser Wille, wohnt schon dem noch so Kleinen inne, der „Wille zur Macht,
– der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille.“393
Kein Leben, kein interessiertes Verhalten ist absolut festgestellt, sondern bedeutet stets
auch Selbstbestimmung. Wie wäre die Evolution, gerade auch in ihrer menschlichkulturellen Verlängerung, sonst überhaupt denkbar? Und so erscheint es alles andere als
unnatürlich, dass in der evolutionären Weitergabe und -entwicklung der Lebensformen aus
dem grund-legenden zweckfreien individuellen Interesse am Erleben, das sich seiner
eigenen lebendigen Macht und der anderer zunächst reflexhaft, dann reflexiv bewusst
wird, ein Interesse entsteht, dass im Falle intersubjektiver Widersprüche die anderen, so sie
aufgrund ihrer Natur und Existenz dazu fähig sind, ihre Macht dazu nutzen, sich dem
392
393
Ebd., Seite 13.
Ebd., Seite 143.
170
individuellen Interesse aus sich heraus anzupassen; es entsteht das Interesse, dass diese
anderen aus der in ihrer natürlichen Existenz gründenden Freiheit heraus sich dem
individuellen Interesse zuwenden. Dieses Interesse ist letztlich aber nicht in Reflexionen
oder in vorreflexiver Reflexhaftigkeit fundiert. Vielmehr wird es sich anders herum im
Zuge der Entwicklung reflexhaft in Reflexionen seinen Ausdruck verliehen haben und
weiterhin verleihen. Es gründet allein in der grund-legenden Natur eines um
Verwirklichung seiner Interessen bemühten je individuellen Erlebens. Eher noch, als die
Kraft darein zu investieren, andere dem eigenen Interesse gefügig zu machen, und dadurch
vom primären Interesse zunächst oder potentiell ganz abgehalten zu werden, entsteht im
Falle eines Widerspruchs das Interesse, dass die anderen, so sie in der Lage dazu sind, sich
aus sich selbst heraus anpassen mögen. Sie sollen, wenn möglich, in ihrer Freiheit dem
ihrem eigenen Interesse widersprechenden Interesse entsprechen. Genau ein solches
Verhalten aber, ein freies Anpassen an ein dem eigenen Interesse widersprechendes
anderes Interesse, verstehe ich als moralisches Verhalten.
Für diesen Begriff moralischen Verhaltens braucht es kein Gesetz der reinen Vernunft,
keinen kategorischen Imperativ. Es braucht allein zwei aufeinander treffende interessierte,
erlebende und freie Subjekte, von denen mindestens eines seiner Existenz nach in der Lage
ist, sich dem seinem eigenen Interesse widersprechenden Interesse anzupassen, was auch
immer die Interessen im Konkreten sein mögen. Wohin uns dieser Gedankengang führt, ist
eine Wirklichkeit, in der interessierte, erlebende und freie Subjekte aus ihrer natürlichen
Existenz heraus ein immanentes Interesse daran entwickeln, dass die jeweils anderen
Subjekte, auf die sie in ihrer Umwelt treffen und so deren natürliche Existenz dies zulässt,
ihrerseits ein Interesse entwickeln, aus ihrer Freiheit heraus sich im Falle eines
Widerspruches dem anderen individuellen Interesse anzupassen. Das aber heißt nichts
anderes, als dass jedes einzelne dieser Subjekte ein Interesse daran hat, dass die jeweils
anderen Subjekte ein moralisches Interesse entwickeln. So eröffnet sich uns der Blick auf
eine Wirklichkeit, in der jedes dieser individuellen Subjekte zum einen ein immanentes
Interesse daran hat, dass alle anderen dazu fähigen Subjekte ein moralisches Interesse
ausbilden, und zum anderen jedes individuelle Subjekt dem jeweiligen Interesse der
jeweils anderen Subjekte ausgesetzt ist, selbst ein solches hervorzubringen.
Das Bild der natürlichen Ethik als das eines reinen Spiels der Mächte wird in dieser Weise
ergänzt und durchsetzt von einer Konstellation reziproker moralischer Ansprüche. Diese
moralischen Ansprüche sind nicht unbedingt, insofern sie an die Bedingung der Existenz
interessierter, erlebender und freier Subjekte und in diesen an die Fähigkeit gebunden sind,
diesem Anspruch prinzipiell Genüge zu leisten. Aber sie sind universal in einem
konzeptualistischem Sinne, da mit diesen Bedingungen auch die jeweils individuellen
moralischen Ansprüche entstehen. Ich stimme Kodalle zu, wenn er unter Hinweis auf vorreflexive Lebensformen – darin für mich inbegriffen auch das vorgängige vor-reflexive
171
Verhalten eines jeden zur Reflexion fähigen Organismus – von den „Grenzen der
Begründungsforderung des Universalisierungsimperativs der Moral [Hervorhebung im
Original; T. W.]“ spricht.394 Und ich denke, dass wir diese Grenzen begründend gerade
dadurch erreichen können, indem wir uns darauf besinnen, was unsere Natur uns als
interessierte, erlebende und freie Subjekte in dieser Hinsicht bedeutet. Der
Universalisierungsimperativ der Moral ist dann nichts anderes als Ausdruck eines
faktischen Interesses und Anspruches, den natürliche Subjekte unter bestimmten
Bedingungen zumindest latent an jeweils andere Subjekte stellen sowie andersherum von
diesen erfahren. Jedes einzelne dieser Subjekte hat dieses Interesse und stellt diesen
Anspruch und, soweit es dies reflektiert, weiß es darum, dass auch die anderen dies tun.
Das „moralische Gesetz“ liegt nicht in einer reinen Vernunft, sondern in unserer
bedingten, reziproken Natur als interessierte, erlebende und freie Subjekte begründet. Das
„moralische Gesetz“, das sind die moralischen Ansprüche, denen wir uns unserer Natur
nach gegenseitig aussetzen.
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob es bei diesem je individuellen Interesse am
moralischen Verhalten anderer bleibt oder ob auch ein natürliches Interesse am eigenen
moralischen Verhalten plausibel zu machen ist. Denn nur wenn die Subjekte in ihrer
Freiheit je ein Interesse am eigenen moralischen Verhalten entwickeln, vermag das reine
Spiel der Macht zumindest potentiell durchbrochen zu werden. Meines Erachtens hat Kant
diese entscheidende Frage dadurch zugunsten der Moral auflösen wollen, dass er es zum
einen als reinen Willen oder reines Interesse des Subjektes konzipierte und zum anderen
das moralische Verhalten an ein mit diesem in genauer Proportion einhergehendes
Zuteilwerden von Glückseligkeit knüpfte. Wer will nicht seinem reinsten Interesse
entsprechen und wer seiner eigenen Glückseligkeit nicht entgegenarbeiten? – So könnte
man sagen, war sein Kalkül. Den Widerspruch, in den er dadurch geriet, habe ich oben
deutlich gemacht.395
Wenn wir aber den Begriff der Befriedigung, wie er hier in Anlehnung an Pinkards HegelInterpretation als ein stetiges und spannungsreiches Bemühen um ein in Adäquanz zur
physischen und sozialen Umwelt zu suchendes befriedigendes Leben und Erleben
verwendet wird, ins Zentrum vernünftigen Verhaltens stellen, dann sehe ich tatsächlich die
Möglichkeit, ein natürliches individuelles Interesse am eigenen moralischen Verhalten
plausibel zu machen. Es ist dann nicht so sehr die Frage eines Sollens, sondern die, ob wir
in Gesellschaft ein befriedigendes Leben führen wollen. Denn mir scheint es
unausweichlich der Fall zu sein, dass mit einem Interesse an einem für den Einzelnen
befriedigenden sozialen Zusammenleben das individuelle Interesse am eigenen
moralischen Verhalten geradezu erwachsen muss. Dies bedeutet nicht, dass in jeder
394
395
Vgl. Seite 156 dieser Arbeit.
Vgl. Seite 83ff. dieser Arbeit.
172
sozialen Interaktion ein diesem Interesse entsprechendes Verhalten auch schon
verwirklicht wird. In sozialen Interaktionen ohne Interessenswidersprüche ist dies ohnehin
nicht akut von Bedeutung. Allerdings sind Situationen, in denen sich die Interessen
verschiedener Individuen widersprechen, mit Sicherheit nicht von geringerer Häufigkeit.
Und in diesen kann man auf ein moralisches Verhalten allein dann verzichten, wenn man
die physische und psychische Macht hat, andere seinen Interessen gefügig zu machen. In
allen anderen Fällen wird sich das Interesse am eigenen moralischen Verhalten nicht
unbedingt ausschließlich, aber allein schon deshalb durchsetzen, um anderen zumindest
keinen Grund zu geben, einen selbst anders und entgegen dem eigenen moralischen
Anspruch zu behandeln.
Es ist dies die aus der Konsequenzhaftigkeit natürlicher Existenz erwachsende Pflicht, die
Sorgfalt um das eigene Tun auf der Suche nach einem befriedigenden Leben. Und auch
„die Mächtigen“ werden, umso mehr sie ihre Macht über ihren kleinsten Kreis hinaus
ausweiten wollen, nicht ohne ein freiwilliges Anpassen ihrer Interessen an
widersprechende Interessen anderer, ohne ein moralisches Verhalten überhaupt
auskommen; und werden mit Sicherheit auch nicht ohne ein Interesse an der freiwilligen
Anpassung derjenigen leben, über die sie zu herrschen gedenken, werden deren
moralisches Verhalten, ungeachtet ihres eigenen konträren Verhaltens, uneingeschränkt
weiterhin einfordern. Denn individuelle Macht ist endlich, endlicher als es oft den
Anschein haben mag. Dieses „Müssen“ zum moralischen Interesse ist dennoch nicht als
ein unbedingtes zu verstehen. Es bleibt an die individuelle Beantwortung der Frage
gebunden, ob ein befriedigendes Leben in einem gesellschaftlichen Zusammenhang
gewollt wird. Und hier gibt es, das haben die Überlegungen zu Beginn dieses Abschnittes
deutlich gemacht, kein unbedingtes Sollen. Die Frage ist allein, wofür wir uns in unserer
zwar bedingten, doch aber unbestimmten Freiheit entscheiden wollen. Bei positiver
Beantwortung aber scheint mir die Entwicklung des individuellen moralischen Interesses
unausweichlich und insofern, diese Bedingung vorausgesetzt, wie der moralische
Anspruch ebenfalls in einem konzeptualistischem Sinne universal zu sein.
Das moralische Interesse ist prinzipiell nicht an bestimmte positive Normsetzungen
gebunden. Denn die Zweckfreiheit eines jeden individuellen Interesses bedeutet, dass es
keinen vorgegebenen Zweck gibt, der es unmöglich machen würde, unter den
unterschiedlichsten und noch so absurd erscheinenden Normen und den mit diesen
verbundenen Selbstverständnissen sich immer wieder aufs Neue auf ein stets mit
Widerwillen verbundenes moralisches Verhalten in freiwilliger Beachtung der Interessen
anderer einzulassen und diese Vorstellungen damit zu replizieren. Diese Normkulturen,
oder, um an das hegelsche Vokabular anzuschließen, Lebensformen ermöglichen dem
Individuum ja gerade ein gesellschaftliches Zusammenleben, von dem es profitiert und in
dem es ein befriedigendes Leben führen kann. Solange es auch die Beachtung seiner nach
173
der jeweiligen von ihm affirmierten Normkultur ihm zustehenden Interessen erfährt, kann
sich ein Individuum als Teil derselben verstehen und wird diese als moralisch gerecht
wahrnehmen. Die Freiheit eines zweckfreien individuellen Interesses, sich in seiner
normativen Unbestimmtheit unterschiedlichsten Normvorstellungen anzuschließen, ist
aber zugleich auch der normative Stachel, der sich jederzeit wider dieselben wenden kann.
Denn die positiven Normvorstellungen, so sehr ihre objektive Geltung in intersubjektiver
Reziprozität auch erfahren werden kann, bleiben an die je individuelle Einstimmung und
die individuellen Vorstellungskräfte zurückgebunden. Auch in Hinsicht darauf, was diese
Normen in einer konkreten Situation für eine Handlung gebieten. Hier wird es notwendig,
zu Interpretationsdifferenzen kommen, weil ein Individuum auch in seiner
Vorstellungskraft seine Individualität und unbestimmte Freiheit, die es ist, nicht wird
hinter sich lassen können.
Selbst in den harmlosesten Interpretationsdifferenzen steckt der Hinweis darauf, dass
positive Normvorstellungen nicht unabhängig von den Subjekten existieren, welche diese
hervorbringen und sich mit diesen verbinden. Diese Vorstellungen aber sind und bleiben
am Ende, trotz ihrer unweigerlichen soziokulturellen Prägung, ebenso unweigerlich je
individuell. Es ist also keinesfalls immer Widerwilligkeit, die zu Widersprüchen in
sozialen Interaktionen führt. Positiv können wir das als alltägliche Erinnerung verstehen,
dass nicht die Normen uns, sondern wir die Normen bestimmen, wenn auch nur im
bedingten Sinne. Mit den Interpretationsdifferenzen ist zugleich jene Konsequenzhaftigkeit
verbunden, in der darüber verhandelt wird, welche Schlüsse aus den
Interpretationsdifferenzen zu ziehen sind, was die Konsequenzen für die beteiligten
Individuen sein werden. In gegenseitigem Geben von Gründen für und gegen die
jeweiligen Interpretationen und die zu ziehenden Konsequenzen wird nach einer Lösung
des Interessenstreites gesucht. Das gegenseitige Begründen und die zu ziehenden
Konsequenzen sind ihrerseits geprägt durch die Normkultur und das mit dieser verbundene
Verständnis seiner selbst und der anderen. Aber auch das Verständnis seiner selbst und der
anderen, es mag gesellschaftlich und biographisch noch so geprägt sein, ist ein in der
individuellen Unbestimmtheit aktualisiertes und bleibt offen für Veränderungen, bleibt
aber auch vor allem zurückgebunden an die je individuellen Bedürfnisse und die je
individuelle Suche nach einem befriedigenden Leben. Das gegenseitige Begründen wird so
schließlich auch die Normen und das jeweilige Selbstverständnis und Verständnis der
anderen nicht unangetastet lassen, die am Ende allein an ihrem Beitrag für das individuelle
befriedigende Leben gemessen werden.
Und wenn die in einer Gesellschaft gültigen Normen und Vorstellungen eines „guten
Lebens“ dem Selbstverständnis der Individuen und den mit diesem verbundenen Interessen
im steigenden Maße nicht mehr Genüge leisten, dann beginnt der gesellschaftliche
Zusammenhalt den Boden zu verlieren, auf dem allein er gründen kann. Individuelle
174
Interessen werden nun nicht mehr freiwillig angepasst, sondern gesellschaftlich
unterdrückt, was zu der Wahrnehmung moralischer Ungerechtigkeit führt. Die Bindung
des moralischen Interesses an die Normvorstellungen schwindet und damit ihre freiwillige
Befolgung. Eine Zeit lang mögen die durch die Normen nicht mehr gebundenen Kräfte
durch Zwang unter Kontrolle gehalten werden. Aber Zwang kann das moralische Interesse
nicht ersetzen. Es muss zu friedlichen oder unfriedlichen, sich dem Zwang widersetzenden
Anpassungen der Interessenswidersprüche und damit einhergehend der Selbstverständnisse
und Normen kommen, wenn der gesellschaftliche Zusammenhang auf Dauer nicht ganz
zerstört werden soll – diese Dynamik wurde weiter oben in der Thematisierung des
politischen Interesses bereits angesprochen.
Ich denke, dass Nietzsche irrte, wenn er schreibt: „Der Moralität geht der Zwang voraus, ja
sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich zur Vermeidung der Unlust, fügt.
Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instict: dann ist sie wie
alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft – und heisst nun Tugend.“396
Nietzsche verwechselt hier Moralität mit Normativität. Was Nietzsche schreibt, kann für
bestimmte Normen gelten, nicht aber für moralisches Verhalten. Moralisches Verhalten
meint ja gerade die freie Berücksichtigung der zunächst eigenem Interesse
widersprechenden Interessen anderer, völlig unabhängig von der konkreten Normkultur, in
der dies geschieht. Man kann unter Umständen jemanden zu Einhaltung von Normen
zwingen, nicht aber zu moralischem Verhalten – in dieser Hinsicht hatte Kant meiner
Ansicht nach völlig Recht. Aus dem Zwang zur Einhaltung einer Norm kann freier
Gehorsam nur werden, wenn diese Norm dem individuellen befriedigenden Leben nicht
grundsätzlich abträglich ist und sie schließlich individuell auch tatsächlich in freier
Anpassung und Anerkennung befolgt wird. Nietzsche unterschlägt in seiner Betonung des
Zwangs und der zu vermeidenden Unlust meines Erachtens auch, dass es anders herum
und von Anfang an ein positives Interesse sein kann, sich auf die Befolgung von Normen
freiwillig einzulassen, nämlich dann, wenn ein befriedigendes Leben in einer Gesellschaft
gesucht wird. Und schließlich ist es gerade die Freiwilligkeit moralischen Verhaltens, die
den gesellschaftlichen Zusammenhalt stets als ein labiles Geschehen erweist. Wäre es so
einfach, wie Nietzsche es hier behauptet, dann könnte man sich fragen, warum all die
Potentate der Geschichte in ständiger Sorge um ihre Macht und die Einhaltung der von
ihnen gesetzten Normen lebten und leben, sich immer wieder gezwungen sahen und sehen,
ihre Macht in „ihrem“ Volk stets aufs Neue zu exemplifizieren.
Moralisches Verhalten, d.h. das mit Widerwillen verbundene freiwillige Berücksichtigen
der Interessen anderer, kann nicht erzwungen werden. Vielmehr fordert das moralische
Interesse da, wo es nicht schon freiwillig mit bestimmten Normvorstellungen immer wider
neu sich verbindet, dennoch aber von anderen zu deren Einhaltung aufgefordert wird,
396
Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches – Erster Band (1967), Seite 94.
175
Gründe für seine mögliche Einwilligung. Diese Begründungsversuche, da sie nach über
das Individuum hinausgehenden allgemeinen Rechtfertigungen suchen, greifen schnell ins
Grundsätzliche und Umfassende, greifen schließlich auf das Verständnis des Lebens
überhaupt aus. Genau in diesem Sinne können auch sämtliche Versuche verstanden
werden, Normen eine unbedingte Begründung zu geben. Sie können gelesen werden als
die Suche nach zwingenden Argumenten für oder auch gegen bestimmte Normen. An
dieser Stelle kommen wir wiederum zu der zu Beginn dieses Abschnitts deutlich
gemachten Unmöglichkeit einer zwingenden Begründung eines Sollens zurück. Gerade die
verbissensten und stets erfolglosen Versuche, andere durch unbedingte Gründe von der
Gültigkeit bestimmter Normvorstellungen zu überzeugen, bezeugen diesen
Zusammenhang. Normen lassen sich nicht unbedingt begründen, eben weil sie durch die
Subjekte, für die sie gelten, bedingt sind.
Genau das gilt auch für das moralische Interesse. Wie der moralische Anspruch ist es an
die Bedingung der Existenz interessierter, erlebender und freier Subjekte, dann aber auch
an deren Interesse gebunden, ein befriedigendes Leben in einer Gesellschaft zu führen.
Das moralische Interesse ist aber keine Norm, sondern eben ein Interesse, das sich mit den
unterschiedlichsten Normkulturen verbinden kann. Nietzsche hatte vor diesem Hintergrund
völlig Recht mit seiner Kritik, wenn man sie als Kritik gegen die Identifizierung von Moral
und von bestimmten historischen Normvorstellungen versteht. Moralität liegt nicht in
Konventionen, nicht in Reflexionen und ebenfalls nicht – im religiösen Zusammenhang –
in sogenannten Offenbarungen begründet. Moral, Moralität bzw. moralisches Verhalten
heißt im hier vorgeschlagenen Sinne nichts weiter als die freiwillige Berücksichtigung dem
eigenen Interesse widersprechender Interessen anderer. In diesem Verständnis ist der
Moralbegriff in seinem Grunde von jeglichen Normvorstellungen unabhängig. Um das zu
verdeutlichen, kann man sich zwei individuelle Subjekte vorstellen, die mit
widersprechenden Interessen aufeinander treffen und sich in freiwilliger, gegenseitiger
Berücksichtigung der Interessen des jeweils anderen zu einer wie auch immer gearteten
Auflösung des Widerspruchs durchringen. Die so gefundene Lösung ist eine moralische,
völlig unabhängig von ihrem konkreten Inhalt, sie ist in moralischer Hinsicht perfekt.
Nun kann man, und ich halte dies auch für sinnvoll, in diesem Kontext ebenfalls vom
Einhalten einer aus moralischem Anspruch und moralischem Interesse erwachsenden
Norm sprechen. Man könnte diese etwa als moralische Norm oder die Norm moralischen
Verhaltens bezeichnen. Aber es ist für meine Begriffe ganz entscheidend, sich dabei
darüber im Klaren zu sein, dass erstens dieser Norm zwei von ihrer Formulierung
unabhängige natürliche Interessen der Subjekte, der moralischer Anspruch und das
moralisches Interesse, vorausgehen, die sich unter bestimmten Bedingungen aus der Natur
interessierter, erlebender und freier Subjekte notwendig entwickeln; und, dass diese Norm
sich zweitens völlig neutral gegenüber dem konkreten Inhalt der sich widersprechenden
176
Interessen sowie gegenüber dem Inhalt der auf moralischem Wege gefundenen Lösung
verhält. Für die Moralität ist allein zentral, dass die physische und psychische Macht der
sich in ihren Interessen zunächst widersprechenden Subjekte allein in einer freiwilligen
Annäherung und Modifikation der jeweiligen individuellen Interessen ihren Ausdruck
findet.
Dass eine solche, wenn auch nicht machtfreie, so doch aber die Macht nicht zur
Unterdrückung anderer gebrauchende Annäherung individueller Interessen im Rahmen
unserer Natur prinzipiell möglich ist, wird nicht zuletzt dann plausibel, wenn wir uns
wiederum die schon den einfachsten Lebewesen zukommende Zweckfreiheit des je
individuellen Interesses am Erleben vor Augen führen. Denn dann gilt, dass die in den
Möglichkeitsraum eines individuellen Subjekts fallenden konkreten Interessensoptionen,
die im Laufe der Evolution über das für all diese Interessen notwendige Interesse am
Erleben und die mit diesem einhergehende Selbstbestimmung hinausgehend entwickelt
wurden und sich weiter entwickeln werden, in gewisser Weise stets zweitrangig bleiben. In
seiner Zweckfreiheit ist das individuelle Interesse am Erleben über die Selbsterhaltung und
Selbstbestimmung hinaus prinzipiell nicht an eine bestimmte Form seiner Verwirklichung
gebunden. Und es erscheint aus diesem Grund alles andere als abwegig, von der
grundsätzlichen Möglichkeit einer moralischen Lösung von Interessenswidersprüchen
auszugehen.
Dass gegen eine solche Lösung vor allem auch im Hinblick auf diskursiv vermittelte, in
intersubjektiver Reflexivität sich stabilisierende und von Nietzsche mit Vorliebe
attackierte Wertvorstellungen und Normen, wie sie den menschlichen Kulturen zugrunde
liegen und intergenerational weitergegeben werden, erheblicher Widerstand erwachsen
kann, soll damit nicht geleugnet werden. Aber ist es auch unmöglich, die historischen
Bedingungen, unter denen ein individuelles Leben sich und seine soziokulturell geprägte
„zweite Natur“ entwickelt, außer Acht zu lassen, so besteht doch die Möglichkeit eines
unbestimmten oder kreativen Umgangs mit diesen, so klein dieser Freiheitsgrad unter
Umständen, und für ein einzelnes Individuum ohnehin, auch manchmal sein mag. Dieser
Freiheitsgrad, der letztlich die unbestimmte Freiheit des individuellen Subjekts selbst
bezeichnet, sollte jedoch nicht unterschätzt werden und ist vielleicht oft und anders herum
sogar größer als wahrgenommen.
In dieser Hinsicht kann man von Nietzsches Ablehnung einer wissenden Einstellung und
seiner Betonung einer experimentell-forschenden Haltung in stetiger Überwindung einer
vermeintlich feststehenden Wirklichkeit meines Erachtens einiges lernen – Pflicht ist ein
Wagnis. 397 Auch kommen wir hier zurück zu Nietzsches vorsichtigem Abtasten, GerechtWerden und dem Erkennen der eigenen und fremden Grenzen, dem gegenseitigen
397
Vgl. Zachriat (2001), Seite 119ff., 181ff.
177
Respektieren, der Feinfühligkeit sowie der Empfindsamkeit; aber auch der
Leidensfähigkeit, weil es unter Umständen auch darauf ankommt, tiefliegende, das
bisherige Leben bestimmende Gewohnheiten und Wertvorstellungen zu hinterfragen und
hinter sich zu lassen – Pflicht ist Sorgfalt. Aber in vielen Situationen wird es auch in
moralischer Hinsicht nicht um ein solches bis an die Grenzen des Realisierbaren
reichendes Hinterfragen des eigenen Selbstverständnisses gehen, geschweige denn um eine
Totalrevision oder, wie Bernard Williams sagt, „conversion“ desselben.398
Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen verstehe ich auch folgendes Zitat von
Nietzsche: „Der Fortschritt in der Moral bestünde in dem Überwiegen altruistischer Triebe
über egoistische und ebenso der allgemeinen Urteile über die individuellen? Ist jetzt der
locus communis. Ich sehe dagegen das Individuum wachsen, welches seine
wohlverstandenen Interessen gegen andere Individuen vertritt (Gerechtigkeit unter
Gleichen, insofern es das andere Individuum als solches anerkennt und fördert); ich sehe
die Urtheile individueller werden und die allgemeinen Urtheile flacher und
schablonenhafter werden.“399 Auch wenn Nietzsche selbst immer wieder mit dem Titel des
„Immoralisten“ kokettiert hat, so stimme ich Zachriat zu, dass eine ausgewogene
Interpretation seines moralischen Denkens nicht bei den „grellen, starken Worten, die
dessen eigentliche, vielschichtige Philosophie verbergen“, verweilen sollte. 400 Und
vielleicht findet man den Kern seiner Moral ja gerade in den leiseren Tönen, in denen er
nicht polemisiert. Und selbst wenn dieses Verständnis nicht im Sinne Nietzsches selbst
gewesen sein sollte, so steht es uns doch frei, aus seiner Philosophie das mitzunehmen,
was uns richtig und wichtig erscheint; und das hinter uns zu lassen, was uns weniger
sinnvoll erscheint, so zum Beispiel seinen intellektuellen Aristokratismus. Was ist dagegen
zu sagen, dass Nietzsche Gleichheit in der Anerkennung des Individuums als solchem sieht
und Gerechtigkeit darin, das ihm Mögliche zu dessen Förderung beizutragen, ohne dass
dies heißen muss, die eigenen Interessen selbstlos aufzugeben? Um Annäherung und
Kompromissbereitschaft wird auch Nietzsche dabei nicht herumgekommen sein. Es kann
keine Förderung eines anderen Individuums geben, ohne auf ein egoistisches Durchsetzen
eigener Interessen zu verzichten.
Und erneut kommen wir hier zum vorsichtigen Abtasten, zum Gerecht-Werden und dem
Erkennen der eigenen und fremden Grenzen, dem gegenseitigen Respektieren, der
Feinfühligkeit, der Empfindsamkeit und der Leidensfähigkeit zurück. Ein solches
Verhalten in sozialer Interaktion ist, das habe ich deutlich gemacht, unter Umständen keine
leichte Angelegenheit; man sollte hier nichts romantisieren. Sie bedarf bisweilen der
Selbstüberwindung, des Ablegens von Gewohnheiten, Vorurteilen und tief verwurzelten
398
Williams (1985), Seite 39.
Nietzsche zitiert nach Zachriat (2001), Seite 159.
400
Vgl. Zachriat (2001), Seite 169, n.416.
399
178
Wertvorstellungen, manchmal auch von Lebensträumen. Dies kann mitunter äußerst
anstrengend sein, sodass es nicht selten als Nötigung erscheinen mag, sich überhaupt auf
ein solches Verhalten einzulassen. Es braucht sogar so viel Kraft, dass ein Einzelner nur
wenige Beziehungen in wirklicher Nähe führen kann. Ich halte von Kants Betonung des
Anstrengenden und des Nötigenden in moralischen Zusammenhängen nach wie vor sehr
viel, ohne dass dies bedeuten soll, dass es darum ginge, den Bogen zu überspannen. Max
Weber kannte seinen Nietzsche, wenn er sagt: „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der
ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt,
daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit,
entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit
unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander. Es ist weder zufällig, daß unsere
höchste Kunst eine intime und keine monumentale ist, noch daß heute nur innerhalb der
kleinsten Gemeinschaftskreise, von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes etwas
pulsiert, das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer
durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.“401
Dennoch, auch bei all dieser „Individualitas“ und bei all diesem „Intimissimo“ – für ein
Pianissimo haben beide, sowohl Nietzsche als auch Weber, zu lautstark argumentiert –
sehe ich nicht, warum man aus dieser moralischen Einsicht und Überzeugung kein
allgemeines moralisches Prinzip oder eine allgemeine Norm formulieren kann. Weiter
oben habe ich bereits von der moralischen Norm oder der Norm moralischen Verhaltens
gesprochen. Man kann ein solches Verhalten nach dem Gesagten aber auch noch einmal
anders greifen als über den Begriff der Moral. Denn das moralische Verhalten, zumindest
wie es hier verstanden wird, bedeutet letztlich nichts anderes, als dass in der
interindividuellen Annäherung das zweckfreie und selbstbestimmte interessierte Erleben
und damit der Wert und die Würde seiner selbst und des anderen ins Zentrum des
Verhaltens gestellt wird. „Würde“ heißt in diesem Zusammenhang, dass die Anerkennung
des Wertes mit der Anerkennung der Selbstbestimmung über diesen und seine
Verwirklichung einhergeht. Selbstbestimmung, das sollte deutlich geworden sein, wird
hier nicht in dem Sinne verstanden, tun und lassen zu können, was immer man will,
sondern eine aktive Rolle in der Bestimmung seiner Interessen in Adäquanz zur
physischen und, in moralischer Hinsicht, zur sozialen Umwelt zu übernehmen. Es bedeutet
auch nicht, den Versuch zu unternehmen, eine unparteiische Position zu beziehen, in der
man alle seine Bedürfnisse und Interessen grundsätzlich hinter sich zu lassen gedenkt und
sich dazu aufschwingen will, gewissermaßen von nirgendwo auf sich und den anderen zu
blicken – dies ist, was Nietzsche meinte, wenn er sagt: „Ich sehe dagegen das Individuum
wachsen, welches seine wohlverstandenen Interessen gegen andere Individuen vertritt.“
Darüber hinaus ist damit den Begriffen der Gleichheit und Gerechtigkeit eine Richtung
gegeben. Gleichheit bedeutet nicht „Gleichmacherei“, sondern die gleiche Berechtigung,
401
Weber (1995), Seite 44.
179
seine Interessen zu entwickeln und zu vertreten, zur Not Unterstützung dabei zu
bekommen, wenn man dies selbst nicht kann; auch das heißt fördern. Gerechtigkeit
bedeutet, nicht nur von anderen moralisches Verhalten einzufordern, sondern auch selbst
ein solches so weit wie nur möglich hervorzubringen.
Weiter oben habe ich argumentiert, dass es mit dem hier vorgeschlagenen
Moralverständnis und damit auch mit dem individuellen Wert und der Würde vereinbar ist,
sich in die unterschiedlichsten Normkulturen einzubinden. Solange ein individuelles
Subjekt sich als Teil einer wie auch immer gearteten Normkultur verstehen kann, wird es
sein normkonformes Verhalten, auch in moralisch relevanten Situationen, nicht als Zwang
erleben. Ist Moral in normativer Hinsicht demnach relativistisch? Man kann diese Frage
meines Erachtens mit ja, aber auch, und das wird für die folgenden Überlegungen
entscheidend sein, mit nein beantworten. Denn wenn man sich vor Augen führt, dass das
moralische Verhalten, die freiwillige Beachtung von dem eigenen Interesse
widersprechenden Interessen anderer, in allen Normkulturen stets von zentraler Bedeutung
war und ist, weil diese ohne dasselbe gar nicht erst zustande kommen oder aber
auseinanderbrechen würden, scheint Moral in gewisser Weise ein ahistorischer Aspekt
gesellschaftlichen Zusammenlebens zu sein. Keine Normkultur kann auf das moralische
Verhalten der in ihr lebenden Subjekte verzichten.
Darin steckt meines Erachtens ein gewichtiger Hinweis: Letztlich sind es nicht die jeweils
spezifischen Normen, sondern ist es das moralische Verhalten, das zu allen Zeiten und an
allen Orten die Basis gesellschaftlichen Zusammenhalts ausmachte und ausmacht.
Gesellschaftliches Zusammenleben erscheint damit von einem Verhalten bedingt, das, um
an Nietzsches Wortlaut anzuknüpfen, nicht in jenen normativen „Geschichtsfluktuationen“
gründet. Dieser Schluss steht wiederum in völligem Einklang mit der aus unserer Natur
erwachsenden konzeptualistischen Universalität von moralischem Anspruch und
moralischem Interesse. Damit drängt sich eine weitere Überlegung auf. Für interessierte,
erlebende und freie Subjekte, die in ihrer reflexiven und diskursiven Vernunft über die
Bedingungen eines befriedigenden Zusammenlebens in Anbetracht ihrer natürlichen
Bedingtheit nachdenken, bleibt damit am Ende als einzige sinnvolle Möglichkeit, das
moralische Verhalten und damit den Wert und die Würde eines jeden Individuums selbst
als oberste Norm ihres Zusammenlebens zu setzen.
Es sollte nach den bisherigen Ausführungen klar sein, dass mit einer solchen Normsetzung
nicht die Vorstellung der Verwirklichung eines glückseligen Lebens verbunden ist, einem
Leben, in dem es im Ganzen, wie Kant sagt, „alles nach Wunsch und Willen geht“.402
Genau das ist nicht der Fall. Denn moralisches Verhalten ist nur dort gefragt, wo
Interessenswidersprüche zwischen Individuen bestehen, deren friedliche und insofern
402
Kant KpV (1956), Seite 255.
180
befriedigende Auflösung gerade und unter Umständen eine immense Anstrengung
bedeutet. Es bedeutet eine Welt, in der es alles in allem eben nicht nach Wunsch, doch
aber nach Willen gehen kann, wenn man das moralische Verhalten als dem individuellen
Interesse entsprechendes Verhalten auf der Suche nach einem befriedigenden Leben in
Gesellschaft versteht. Dabei sind die Interessenswidersprüche und das Ausbleiben der
Glückseligkeit, anders als bei Kant, nicht auf eine grundsätzliche Unangemessenheit des je
individuellen Willens zum „moralischen Gesetze“ zurückzuführen, sondern entsprechen
den natürlichen Bedingungen unseres Lebens als in Gesellschaft lebende interessierte,
erlebende und freie Subjekte. Noch und ebenfalls anders als bei Kant besteht, mit Blick auf
die Zweckfreiheit des individuellen Interesses am Erleben, eine generelle Unfähigkeit, der
Norm moralischen Verhaltens gerecht zu werden. 403 Es ist ein Vollzugsziel, dem situativ
und durchgehend im modus meliorativus oder, im optimalen Falle, im modus sufficiens
entsprochen werden kann. Moralische Perfektion im universalen Sinne bedeutet kein
glückseliges, sondern ein spannungsreiches, dennoch aber unterdrückungsfreies
befriedigendes Leben in Frieden über Kulturen und Generationen hinweg; bedeutet, sich
gegenseitig immer wieder in die Pflicht zu nehmen, ist Wagnis und Sorgfalt zugleich.
Zur moralischen Sorgfalt gehört es meiner Ansicht aber auch, in der Anerkennung der
Freiwilligkeit moralischen Verhaltens Folgendes zu bedenken. Sobald mindestens ein
Subjekt in einem interindividuellen Interessenwiderstreit seine Freiheit nicht dazu nutzt,
nach einer moralischen Lösung zu suchen, bedeutet dies unweigerlich die Rückkehr zu
einem Machtkampf, dem sich das oder die anderen Subjekte nur entziehen können,
solange sie bereit sind, auf ihr Interesse und eine Entsprechung ihres moralischen
Anspruches ganz zu verzichten. Es gibt keine andere Alternative. Diese mag in einigen
Situationen durchaus vertretbar sein, sicherlich ist sie es aber in vielen Situationen auch
nicht. Die Machtproblematik wird stets akut bleiben. Vor diesem Hintergrund wird der
moralische Anspruch in ein moralisch-politisches Interesse an eine dritte Macht oder
Gewalt übergehen, welche die durch moralisches Verhalten nicht aufgelösten
Interessenwidersprüche durch Machtspruch beizulegen fähig ist. Auf ein solches
moralisch-politisches Interesse kann wiederum nur derjenige verzichten, der die physische
und psychische Macht besitzt, sich über die Interessen anderer hinwegzusetzen. Wird im
Hinblick auf das moralisch-politische Interesse konsequenterweise weiterhin an der
moralischen Norm, die den Wert und die Würde jedes individuellen Subjektes sowie damit
einhergehend Gleichheit und Gerechtigkeit ins Zentrum allen moralischen Handelns stellt,
als durch unsere Natur bedingte Bedingung eines gesellschaftlichen Zusammenlebens
festgehalten, dann kann diese dritte Gewalt nur als eine gedacht werden, die diesen
Prinzipien selbst gerecht wird. Das kann sie am Ende jedoch nur, wenn sie nicht nach einer
ihr eigenen Willkür verfährt und dabei die individuelle Würde, d.h. die individuelle
Selbstbestimmung im politisch-normativen Zusammenhang übergeht, sondern die
403
Vgl. ebd., Seite 252.
181
Subjekte, die unter ihrem Machtspruch stehen, in irgendeiner Weise an der Setzung und
Fortentwicklung der Normen, nach denen ein konkreter Interessenstreit politisch gelöst
werden kann, gleichberechtigt beteiligt werden.
Ich werde hier auf weitere detaillierte Ausführungen verzichten, da die Richtung, in die
dieser Gedankengang führt, klar sein sollte. Er deutet in die Richtung eines politischen
Prozesses, der als sein Prinzip die moralische Norm und damit den individuellen Wert und
die Würde eines jeden sowie Gleichheit und Gerechtigkeit fortwährend umkreist. Dieses
Prinzip bildet auf diese Weise ein aus unserer bedingten Natur erwachsendes quasiungeschichtliches Zentrum, um das herum die dieses Prinzip hervorbringenden
moralischen Ansprüche und moralischen Interessen der Subjekte in Abhängigkeit zu den
raumzeitlich bedingten natürlichen und sozialen Anforderungen in den unterschiedlichsten
Bereichen des Lebens in positiven Normen immer wieder neu sich konkretisieren und
aktualisieren können. Normen, die wiederum nur deshalb vonnöten sind und zum Einsatz
kommen, weil eine moralische Lösung von Interessenswidersprüchen in je einzelnen
Fällen nicht erreicht wird, und eine moralisch-politische Lösung unausweichlich bleibt;
zumindest dann, wenn es dabei bleiben soll, dass das reine Spiel der Macht durchbrochen
wird.
Ein solches Durchbrechen des Machtspiels ist kein Automatismus und kein zu
erreichender Zustand, sondern ein stetiger Prozess, der vom je individuellen Verhalten in
sämtlichen Bereichen des Lebens abhängig ist und bleibt; damit aber auch von jener
nietzscheanischen „Individualitas“ und jenem weberschen „Intimissimo“. Auch die aus
dem moralisch-politischen Interesse erwachsende „dritte Gewalt“, der moralische Staat,
kann das moralische Verhalten der in ihm lebenden Subjekte nicht ersetzen, ist allein eine
moralisch-politische Rückversicherung; aber dies auch nur dann, wenn die individuellen
Subjekte, in welcher konkreten Form und wie direkt oder indirekt auch immer, tatsächlich
an der Setzung der positiven Normen, d.h. an der Rechtssetzung, der Setzung des
objektiven Rechts, sei es in latenter Bestätigung oder Weiterentwicklung desselben,
beteiligt werden und sich beteiligen. Sowohl moralisches Verhalten als auch moralischpolitische Normen können nur und immer wieder neu aus einer gelebten Praxis heraus
entwickelt, nicht aber rein theoretisch bestimmt und vorweggenommen werden.
Moralisches Verhalten und moralisch-politische Normativität ist kein Selbstverständnis,
sondern ein vom Selbstverständnis, von den Interessen und dem alltäglichen Verhalten der
individuellen Subjekte in moralischen und moralisch-politischen Zusammenhängen
abhängiges Geschehen.
Mit der Thematisierung des Selbstverständnisses kommen wir an dieser Stelle nun
schließlich zu jenem in der Auseinandersetzung mit Pinkards Hegel-Interpretation sichtbar
gewordenen Problem zurück, von dem her die Überlegungen dieses und des vorigen
182
Kapitels ihren Ausgang genommen haben.404 Im Folgenden werde ich Pinkards an Hegel
angelehnte Argumentation noch einmal genauer nachvollziehen und auf sein Verständnis
der Moralität hin zuspitzen, um im Anschluss daran den hier von mir in
Auseinandersetzung mit Nietzsche entwickelten Moralbegriff zu diesem ins Verhältnis zu
setzen. Pinkard beschreibt das moderne Selbstverständnis als eines, das sich seiner
Endlichkeit („finitude“) und Partialität („partiality“) bewusst ist und in normativer
Hinsicht mit dem Eingeständnis unserer Unfähigkeit, unbedingte Gründe für oder gegen
ein bestimmtes Verhalten zu geben, einhergeht. Er schließt daraus auf unsere radikale
Fehlbarkeit („radical fallibility“) auch in normativen Zusammenhängen. So wie ich
Pinkard verstehe, ist dieses Selbstverständnis gerade als Folge der Orientierung unserer
begrifflich-diskursiven oder reflexiv-diskursiven Tätigkeit an Wahrheit zu verstehen: „[...]
each acknowledges his own radical fallibility and the temptation to claim a knowledge of
the unconditional that oustrips the ressources of the individual agent. The ,true infinity’ the
agents seek is to be found within the ongoing interchange itself, insofar as that interchange
is oriented to truth. [...] The finite world is the world in which we live, where our
metaphysical speculations inevitably contradict each other and the infinite exists, as it
were, as our own reflective consciousness of this finitude.“
Meine Kritik lag nun darin, dass diese Konsequenz des Wahrheitsbezuges, anders als
Pinkard dies geltend macht, weder dazu hinreicht, eine radikale normative Fehlbarkeit zu
begründen, noch dazu, Ordnung in das relativistische Durcheinander historischer
Normativität zu bringen. Das Hauptproblem in seiner Argumentation liegt meines
Erachtens darin, dass er von der Annahme ausgeht, dass wir in unserer selbst-reflexiven
Natur allein über die Setzung einer unbedingten Norm in der Lage sind, Orientierung zu
gewinnen. Da jedoch jede Setzung als Setzung bedingter Subjekte eben nur bedingt sein
kann, müsse dies zu unauflöslichen Widersprüchen zwischen dieser reflexiven Setzung
und unserer bedingten Welt und Praxis führen. Diese Widersprüchlichkeit könne
theoretisch befriedigend nur über das Eingeständnis der Bedingtheit unserer Reflexionen
in den Griff bekommen werden und damit in die Erkenntnis übergehen, dass unsere so
gesetzten Normen bloße Konventionen oder, um mit Habermas zu sprechen,
gesellschaftliche Konsense seien. An diesen müssten wir, um die Orientierung nicht zu
verlieren, dennoch als quasi-unbedingte Normen solange festhalten, bis sie durch neue,
wiederum quasi-unbedingte Normen ersetzt werden. Der aus diesem Grunde unaufhebbare
Widerspruch zwischen dieser reflexiven Normierung und unserer bedingten Praxis könne
nur mit einer nicht formalisierbaren praktischen Fähigkeit („practical skill that resists
formal codification“) überbrückt werden, welche als Moralität zu verstehen sei.405 Allein
vor diesem Hintergrund sei es auch für unsere moderne Zeit möglich, zumindest zeitweise
eine Ordnung in unser Zusammenleben zu bringen.
404
405
Vgl. Seite 125ff. dieser Arbeit.
Pinkard (2012), Seite 138, Seite 186.
183
Dieser theoretische Hintergrund wird in Pinkards Hegel-Interpretation insbesondere in der
Thematisierung des modernen Individualismus seit der Aufklärung deutlich.406 Die von
Nietzsche so unermüdlich betonte Individualität erscheint hier nicht als eine natürliche
Bedingung oder Eigenschaft unserer subjektiven Existenz, sondern als ein konsensuell
anerkannter Status, den wir uns in intersubjektiver Reziprozität zuschreiben. Dazu Pinkard
ausführlich: „On the basis of the kind of philosophical history that he developed at length
in his 1807 Phenomenology, Hegel took himself to have shown that the unargued premise
of modern life has to be that of freedom, and the basic questions about it – including the
crucial philosophical issue of what exactly freedom is and whether it is even intelligible to
speak of human freedom – have to do with whether it can indeed be actualized. This turned
on the Socratic invention of morality – in effect, the invention of ,the individual.‘ Now,
although, the ,individual‘ had proven to be the element of corruption in the ancient Greek
social order, in the modern social order, the ,individual‘ seems to be the core unit, its most
important achievement. To be an ,individual‘ is to be taken by oneself and others to be a
self-originating source of claims against others and against the political order as a whole.
This self-orgiginating status of ,individual‘ is a social status sustained in a structure in
which agents recognize each other as entitled to that status and in which agents take this
entitlement to be an unargued premise of the social order. How, then, can agents sustain a
kind of mutual recognition of a status that looks as if it asserts itself as not being dependent
on any kind of recognition as a status at all? Taken merely as a self-originating source of
claims, ,the individual‘ is (in Hegel’s sense) only ,abstract‘. As a bedrock status of ,the
right‘ in general, such individuals are said to have rights, and thinking about which rights
they might have quickly falls out into something like the basic Lockean triad of rights to
life, liberty, and property (as the kind of claims an individual can typically make against
the characteristic types of injuries that can be visited on him by something like royal
authority). This is so not because such agents already are in a metaphysical sense Lockean
individuals, but because historically they have come to occupy the social status of
something like Lockean individuals. As general statements of the unconditional claims
,individuals‘ can make against each other and against state authority, such inalienable
rights are ,abstract‘ – their actualization is not given in the mere statement of what such
unconditional claims are.“407
Pinkard schließt nun mit Hegel daraus auf eine tiefliegende Problematik des modernen
Selbstverständnisses, weil die Annahme unbedingter Rechte im Verhältnis zur sonstigen
Lebenspraxis schnell zu unauflöslichen Widersprüchen führt, in der diese Rechte so
unbedingt offenbar nicht gelten. 408 Sie werden vielmehr stets unbeabsichtigt oder
beabsichtigt eingeschränkt, kommen also nur zu bedingter Geltung. Dies führe zu den
406
Vgl. ebd., Seite 135ff.
Ebd., Seite 136f.
408
Vgl. ebd., Seite 137.
407
184
bekannten rechtsphilosophischen Fragen, ob diese individuellen Rechte tatsächlich
unbedingt sind oder in Abhängigkeit zu einer kontingenten gesellschaftlichen Absicht oder
den Befehlen eines wie auch immer gearteten Souveräns stehen oder bloß als historischkonventionell akzeptierte allgemeine Regeln zu verstehen seien. Es sei auch völlig unklar,
wie diese unbedingten individuellen Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum in Balance
miteinander zu halten sind, da sie sich in konkreten Situationen durchaus widersprechen
können. In diesen Widerspruchssituationen müssten die Gründe, nach denen wir uns für
die Bevorzugung des einen oder des anderen Rechts entscheiden, logischerweise wie die
Rechte selbst einen unbedingten oder universalen Status besitzen, damit die Bevorzugung
des einen oder des anderen Rechts nicht als Verletzung ihrer unbedingten Geltung, als ein
individueller oder gesellschaftlicher Dezisionismus erscheint. „Thus, we are required by
the logic of the classical Lockean rights themselves as they are to be put into practice to
seek, in Hegel’s words, ,a justice [...] freed from subjective interest and subjective shape
and from contingency of power.‘“409 Eine kontraktualistische Lösung dieses Problems sei
ausgeschlossen, weil in einer solchen nicht nur die Rechte, sondern auch die
Entscheidungen über ihre Aktualisierung ihrerseits nicht unabhängig von der vertraglichen
Rechtssetzung und den Entscheidungen über ihre Aktualisierung gerechtfertigt werden
könnten und in diesem Sinne kontingent und auf subjektive bzw. intersubjektivverkomplizierte Weise relativistisch bleiben müssten.
Pinkard zieht den Schluss: „If there can be no a priori (i.e., traditional philosophical)
resolution of these disputes, then the solution to some of the various antinomies of
,abstract right‘ must be practical, not theoretical. There must be an institutional setup that
makes these unavoidable tensions livable and rational to hold. A balance between
competing unconditional rights must be struck, even though there can be no a priori reason
to strike it one way as opposed to another. Rights require recognition both of their
unconditional status and of their relative status within a distinct way of life. That makes
them necessary and deeply problematic. Only the ,moral point of view‘ – the standpoint
Socrates invented – can promise to carry out such an adjudication since it commits us both
to doing the right thing because it is the right thing, even in those cases where it goes
against our own interests, and doing the right thing from a standpoint that transcends any
particular point of view. ,Morality‘ is required if abstract right is to be actual and not
remain merely ,abstract.‘“410 Weiter führt Pinkard aus: „While the turn to ,morality‘ is (for
us moderns) to be justified by its being necessary for the actualization of ,abstract rights‘,
morality itself, of course, emerged long before any such conception of rights had been
developed. However, the Socratic invention of morality also brought in its wake what
Hegel calls ,the inward turn‘ in individual life – an in-sich-gehen, in Hegel’s invented
terminology. Although neither Socrates nor anybody else invented inwardness, the
409
410
Ebd., Seite 137.
Ebd., Seite 138.
185
Socratic insistence on the individual’s distancing himself from all of his socially given
requirements and, most important, on appealing only to his own insight into the rationality
of things bestowed a new authority to this inwardness.“411
Zwar kommt auch Pinkard schließlich zu dem Punkt, dass Individualität weder etwas ist,
das in jenem modernen politischen Status und in der mit diesem verbunden
Rechtsbegrifflichkeit begründet liegt, noch sonst auf eine menschliche „Erfindung“
zurückzuführen sei. Dennoch hält er daran fest, dass es ein entscheidender Schritt in der
Geschichte war, dieser Individualität bzw. Innerlichkeit dadurch eine neue Autorität zu
verleihen, dass sie zur letzten Instanz eines vernünftigen Verhaltens in Abhängigkeit ihres
begrifflichen Vermögens erhoben wurde. Durch das reflexive Begreifen wurde es möglich,
sich von der Eingebundenheit in die Umwelt und damit auch von den sozialen Normen des
Lebensumfeldes individuell zu distanzieren, sie in Frage und zur Disposition zu stellen.
Durch diese reflexive Distanzierung von allen kontingenten Verhaltensnormen und anforderungen, so der Gedanke, wurde jene Instanz des „Selbst“ geschaffen, die sich mit
der Kontingenz dieser Welt nicht mehr zufrieden geben kann und nach einer unbedingten
Orientierung zu suchen beginnt. Nur ein Unbedingtes könnte dieser praktischen Reflexion
in einer kontingenten Welt zur Orientierung und Begründung von Verhalten dienen, auch
in moralischen Zusammenhängen; ja die Orientierung am Unbedingten, Universalen oder
Absoluten wurde geradezu zur Bedingung und zum Inbegriff moralischen Verhaltens. Der
moderne Begriff unbedingten Rechts wäre demnach nur eine besondere Auskristallisierung
dieser Bewegung hin zum Unbedingten. Da aber Moralität bzw. das moralische Verhalten
stets das Verhalten eines endlichen Individuums im Hinblick auf die bedingte Setzung
eines nur quasi-unbedingten Normbegriffes sei, müsse der Versuch scheitern, Moralität
unabhängig von solchen normativen Setzungen zu begreifen; und soweit er in Bezug auf
die nur quasi-unbedingten Normbegriffe definiert wird, notwendig zu Widersprüchen
führen.
„,Morality‘ is an actualization of ,the individual‘. It supposes that the ,individual rational
agent‘ has within himself or herself the necessary resources to make moral judgments and
put them into practice. Such individuals may depend on each other in a variety of
empirical ways, and some of these dependencies may go as deeply as any organic fact can
go. Nonetheless, the ,moral point of view‘ is that of something at least like, if not identical
with, Kant’s ,kingdom of ends‘, in which each agent is both sovereign as lawmaker and
subject to the commands of a moral law whose validity and binding power transcend his
own individuality. In Kantian terms, the moral agent becomes an actual moral agent in the
process of thinking himself as belonging to such an idealized community of moral agents.
As a limited (finite) expression of the unconditional demands of practical reason – and
thus as a finite expression of the absolute – ,morality‘ generates conflicting conceptions of
411
Ebd.
186
itself. Detached from being embedded in a larger practical life, it runs into the same kind
of regresses and conflicts that all such purely conceptual dilemmas about the unconditional
encounter.“ 412 Vor dem Hintergrund der beschriebenen reflexiven Distanzierung von
sämtlichen konkreten Verhaltensanforderungen und der damit unweigerlich verbundenen
Verhaltensproblematik des sich von sich selbst distanzierenden und in quasi-unbedingten
Normbegriffen nach einer Begründung und Orientierung seines Verhaltens suchenden
individuellen „Selbst“ ist auch Pinkards folgende Aussage zu verstehen: „The meaning
that we are to find in the world has to do with the facts of our being the primates we are,
and also we can sublate some of those facts – we can circumscribe their authority – we
cannot ignore them. We are the creatures for whom our existence is a problem, and in
becoming self-conscious, we institute a space of reasons that we ourselves do not then
control.“413
Doch es bleibt meines Erachtens genau in Pinkards Sinne weiter danach zu fragen, was
genau die fehlende Kontrolle über den „Raum der Gründe“ bedeutet; oder, um sich seinem
Wortlaut anzunähern: „to circumscribe the authority of the fact that we are not able to
control the space of reasons we institute.“ Die Unfähigkeit, den „Raum der Gründe“
kontrollieren zu können, besteht nach Pinkard in der Unmöglichkeit, in diesem eine
unbedingte Orientierung finden zu können, gerade auch in normativen Zusammenhängen.
Er schließt daraus, dass wir den Unbedingtheitsanforderungen unserer eigenen praktischen
Vernunft („unconditional demands of practical reason“) nicht gerecht werden können.
Aber dieser Schluss führt nicht zu einer „Einschränkung der Autorität“ dieser
problematischen Eigenschaft unserer reflexiven Natur bzw. einem positiven Verständnis
derselben, sondern bedeutet allein deren Konstatierung. Ich denke, dass man auch anders
mit diesem Sachverhalt umgehen kann. Zum einen kann unsere Unfähigkeit, den „Raum
der Gründe“ kontrollieren zu können, in dem Sinne verstanden werden, dass intersubjektiv
gültige Gründe unserer individuellen Willkür und damit auch unserer individuellen
Kontrolle entzogen sind; ohne dass damit eine thematische Beschränkung auf
konventionelle oder konsensuelle Sachverhalte verbunden wäre. Zum anderen kann diese
Unfähigkeit zugleich dahingehend interpretiert werden, dass die subjektive Einsicht in
intersubjektiv gültige Gründe intersubjektiv nicht erzwungen werden kann und der „Raum
der Gründe“ auch in diesem Sinne unserer Kontrolle entzogen ist. Zu jeder begründeten
Einsicht braucht es die individuelle Willkür eines Subjektes, das begründet einsehen kann
und will. Die Suche nach intersubjektiv begründbaren Aussagen ist keine
Zwangsveranstaltung, sondern steht unter der Bedingung der Freiheit. Für den
theoretischen Diskurs heißt das mit Benard Williams: „if it were not uncoerced, we could
not explain it as a process that arrives at truth.“414
412
Ebd., Seite 138f.
Ebd., Seite 191.
414
Williams (1985), Seite 171.
413
187
Die Suche nach einem unbedingten Grund, das habe ich bereits weiter oben deutlich
gemacht, sehe ich als den Versuch an, ein zwingendes Argument für eine bestimmte
Aussage oder anderweitiges Verhalten zu finden, sei es intra- oder intersubjektiv. Folgt
man der wiederum nicht erzwingbaren Einsicht, dass Wahrheit und Freiheit keine
gegensätzlichen, sondern komplementäre Charakteristiken unseres reflexiven Verhaltens
sind, dann erscheint allein schon die Suche nach einem zwingenden, unbedingten Grund
als ein wahrheitswidriges Unternehmen, geschweige denn die Behauptung eines solchen.
Versteht man die fehlende Kontrolle des „Raums der Gründe“ in diesem Sinne, so kann
derselbe in einem viel unproblematischerem, wenn auch nicht unproblematischen Licht
erscheinen als er dies bei Pinkard tut. Seine Problematik kann dann vielmehr mit der
Möglichkeit wahrer oder objektiver Erkenntnisse überhaupt gleichgesetzt werden. Ich
unterstelle Pinkard nicht, selbst der Versuchung unbedingter Begründungen erlegen zu
sein. Aber in seiner Absage an die Möglichkeit, aus dem „Raum der Gründe“ eine nichtkonventionelle oder nicht-konsensuelle normative Orientierung zu gewinnen, weil eine
solche einen unbedingten Grund voraussetzen würde, den wir, wie er zu Recht meint, zu
geben natürlich nicht fähig sind, hält er meines Erachtens negativ an jener Suche nach
unbedingten Begründungen fest. Deutlich wird dieses negative Festhalten an unbedingten
Begründungen schließlich auch in seinem Verständnis des Moralbegriffes. Diesen
konzipiert er in Abhängigkeit von den ihrer Unbedingtheit entkleideten quasi-unbedingten
Normgründen; hält also auch hier negativ an der Orientierung des Moralbegriffes an
unbedingten Gründen fest. Damit scheint eine begriffliche Unabhängigkeit der Moralität
von jenen negativ-unbedingten Gründen unmöglich zu sein.
Noch einmal und auf unser modernes Politikverständnis hin zusammengefasst: Pinkard
begründet den modernen Moralbegriff durch die mit dem modernen Selbstverständnis
verbundene Annahme unbedingter individueller Rechte und der aus dieser erwachsenden
Widersprüchlichkeit zwischen der angenommenen Unbedingtheit derselben und der
alltäglichen Praxis, in der diese Rechte offenbar nicht unbedingt gelten. Nur insofern wir
an dieser Unbedingtheit festhalten und damit in jenen Widerspruch geraten, gibt es
überhaupt einen Grund, nach einem moralischen Verhalten zu fragen. „Rights require
recognition both of their unconditional status and of their relative status within a distinct
way of life. That makes them necessary and deeply problematic. Only the ,moral point of
view‘ – the standpoint Socrates invented – can promise to carry out such an adjudication
[...]. [...] ,morality‘ is (for us moderns) to be justified by its being necessary for the
actualization of ,abstract rights.“
Die Unbedingtheit der individuellen Rechte wird bei Pinkard, wie deutlich gemacht, zu
einer speziellen Ausprägung jener in den philosophiegeschichtlichen Anfängen von
Sokrates, Platon und Aristoteles vorangetriebenen individuellen Distanzierung von allen
kontingenten
Verhaltensanforderungen
und
der
damit
einhergehenden
188
Orientierungsproblematik, die diese über die Annahme eines Guten, Wahren und Schönen
bzw. des unbewegten Bewegers auflösen wollten. Mit Hegel führt Pinakrd aus, dass für die
moderne Lebensform oder Kultur eine solche Auflösung der Orientierungsproblematik
zwar nicht mehr gangbar sei, dennoch aber auch sie in jener nicht mehr aus der Welt zu
schaffenden reflexiven Distanzierung des individuellen „Selbst“ der Aufgabe einer
Setzung eines unbedingten Bezugspunktes nicht entgehen könne, um die reflexive Suche
nicht in einem unendlichen Regress ins Nirgendwo laufen zu lassen und damit jegliche
subjektive sowie intersubjektive Orientierung und Ordnung unmöglich zu machen.
„Hegel [...] thought that this task was always in the process of being accomplished and that
it is our reflective consciousness of this ongoing process of understanding the world and
ourselves as the kinds of creatures who must ask those questions that is the permanent
element in the story.“415 Es sei nun als eine historisch gewachsene Tatsache zu betrachten,
dass man sich in der Moderne darauf geeinigt hat, diese Unbedingtheit in die individuellen
Rechte und damit verbunden in den politischen Status des Individuums zu setzen. „This
self-orgiginating status of ,individual‘ is a social status sustained in a structure in which
agents recognize each other as entitled to that status and in which agents take this
entitlement to be an unargued premise of the social order.“ Die sich aus den individuellen
Rechten ergebenden Widersprüche und die darin liegende Notwendigkeit eines
moralischen Verhaltens machen eine institutionelle Organisation notwendig, „that makes
these unavoidable tensions livable and rational to hold.“416 „[...] it [...] requires a form of
life of rights-bearing, moral individuals, who acquire a sense of egalitarian right from
childhood onward, whose participation in civil society is coupled with a feel for what is
practical and workable, and whose political temperament is shaped by a shared
commitment to political and social justice. It requires a ,second nature‘ that can live
without enchanted illusions but not without ideals and that, like all other human strivings,
succeeds only when it also aims at truth.“417
Es bleibt dabei; es scheint mir eine Wahrheit zu sein, dass Pinkard mit seiner
Argumentation dem normativen Relativismus nichts entgegenzusetzen hat, als die
Beschreibung einer historischen gewachsenen Lebensform, in der man sich auf bestimmte
als unbedingt geltende Normen geeinigt hat, die jedoch gerade in der theoretischen Kritik
ihrer Relativität überführt werden. Der Moralbegriff erscheint überhaupt nicht erst als
Möglichkeit, dem Relativismus reflexiven Widerstand leisten zu können, weil er selbst in
Abhängigkeit zu jenen relativen Normsetzungen konzipiert wird.
415
Pinkard (2012), Seite 188.
Ebd., Seite 138.
417
Ebd., Seite 187.
416
189
Der zentrale Dreh- und Angelpunkt in Pinkards an Hegel angelehnter Argumentation ist
dabei die Annahme, dass aus den Bedingungen unserer Reflexivität in normativen
Zusammenhängen unausweichlich die Behauptung eines unbedingten Grundes erwachse
und aus dieser jene Widersprüche, die Moralität erst erforderlich machen. In der
Thematisierung des Begriffes eines „unbedingten Grundes“ gilt es nun meiner Ansicht
nach Folgendes zu beachten, um mit der beschriebenen Problematik umzugehen – nicht
um sie zu kontrollieren. Erstens sind Gründe immer bedingt, weil ein Grund ein
wahrnehmendes Subjekt voraussetzt, das einen Sachverhalt als einen Grund überhaupt
wahrnehmen kann und will. Zweitens kann ein Grund insofern als „unbedingt“ angesehen
werden, insofern der als Grund wahrgenommene Sachverhalt als unabhängig von seiner
Wahrnehmung durch das Subjekt bestehend gelten kann. Und drittens kann einem solchen
von der Wahrnehmung des Subjektes als unabhängig geltenden Sachverhalt eventuell
Unbedingtheit zugesprochen werden. Aber weder durch eine solche UnbedingtheitsZuschreibung noch durch Unabhängigkeit von der Wahrnehmung eines Subjektes wird ein
Sachverhalt auch schon zu einem Grund für ein solches. Es kann einen unbedingten
Sachverhalt geben, niemals aber einen unbedingten Grund dafür, einen solchen oder
sonstige von der subjektiven Wahrnehmung unabhängige Sachverhalte anzunehmen bzw.
als Grund anzuerkennen. Anders herum heißt dies jedoch nicht, dass es nicht bedingte
Gründe für die Annahme wahrnehmungsunabhängiger bedingter Sachverhalte oder eines
wahrnehmungsunabhängigen unbedingten Sachverhaltes geben kann.
Mit diesen Anmerkungen im Hinterkopf kann man sich nun fragen, welchen bedingten
Grund wir haben, der es uns plausibel erscheinen lässt, dass wir im Sinne der
„unconditional demands of practical reason“ normative Sachverhalte, im Kontext der
Moderne individuelle Rechte, notwendig mit der Eigenschaft unbedingter Geltung
verbinden müssen. Mir fällt kein Grund ein. Pinkard führt mit Hegel die Bedingung
unserer selbst-bezüglichen Reflexion an. Aber auch in dieser, das habe ich zu Beginn
dieses Kapitels deutlich gemacht, kann ich keinen solchen Grund finden. Im Gegenteil, die
selbst-bezügliche Reflexion führte an einen Punkt, an dem das Eingeständnis der
Unmöglichkeit der Erkenntnis einer unbedingten Normgeltung und nicht die Behauptung
einer solchen erfolgte. Es bleibt zu überlegen, ob die Bedingungen unserer intersubjektiven
Praxis für uns einen Grund darstellen können, die unbedingte Geltung von Normen
behaupten zu müssen. Aber auch hier scheint mir die Antwort negativ auszufallen. Erstens
wird, so auch laut Pinkard, gerade in der intersubjektiven Praxis die angenommene
Unbedingtheit der Normgeltung in Frage gestellt; und zweitens gibt es eine schier
unübersehbare Anzahl von Normen, die in unserer Praxis Geltung haben, ohne dass wir
dafür die Unbedingtheit ihrer Geltung annehmen müssten.
Der einzig plausible mir ersichtliche Grund, warum versucht wird, bestimmten Normen
eine unbedingte Geltung zuzuschreiben, ist der, dass diese Normen denjenigen, die ihnen
190
unbedingte Geltung zuschreiben, von herausragender Bedeutung sind, und die deshalb in
der intersubjektiven Reflexion diesen Normen durch die Behauptung ihrer unbedingten
Geltung ein unhintergehbares, zwingendes Antlitz verschaffen wollen. Dieser bedingte
Grund ist aber kein Grund, der es plausibel machen könnte, warum wir Normen eine
unbedingte Geltung zuschreiben müssen, sondern einer, der es plausibel macht, warum
allein wir dies tun. Eine solche Zuschreibung von Unbedingtheit wird dann aber alles
andere als der „Forderung einer vom subjektiven Interesse und Gestalt sowie von der
Zufälligkeit der Macht befreiten“ Norm gerecht, sondern ist vielmehr die Vortäuschung
einer solchen Eigenschaft.418 Es gibt meines Erachtens nicht nur keinen bedingten Grund,
der dafür spricht, Normen eine unbedingte Geltung zuzuschreiben, sondern es spricht
meines Erachtens sogar vieles dafür, eine solche Zuschreibung zu unterlassen, weil sie uns
von einem wirklichen Verständnis unserer Normsetzungen und der Gründe, die für oder
gegen bestimmte Normen sprechen, abhalten und unter Umständen der „Zufälligkeit der
Macht“ gerade in die Hände spielen können. Normativität ist immer an subjektive
Interessen zurückgebunden und daran kann auch die Behauptung ihrer Unbedingtheit
nichts ändern – warum hat sich Kant wohl so sehr darauf konzentriert, das „moralische
Gesetze“ nicht nur als reinen individuellen Willen, also als reines Interesse eines jeden
vernünftigen Individuums, sondern auch mit der Aussicht auf die Glückseligkeit zu
konzipieren? Auf diesen Zusammenhang habe ich bereits hingewiesen.419 Ich spreche mich
hier entschieden gegen die Annahme unbedingter Geltung von Normen aus.
Schließlich kommt alles auf die Frage an, ob wir bedingte Gründe für einen von
subjektiver Wahrnehmung unabhängigen, intersubjektiv gültigen und bedingten
Sachverhalt angeben können, der nicht vorgibt, subjektive Interessen überhaupt aus dem
Spiel lassen zu können, dennoch aber dem Objektivitätsanspruch gerecht werden und so
sowohl dem Relativismus als auch der Machtproblematik reflexiv etwas entgegenhalten
kann. Die Frage habe ich in diesem Kapitel in der Thematisierung von moralischen
Ansprüchen und moralischen Interessen interessierter, erlebender und freier Subjekte
positiv zu beantworten versucht. Nach Pinkards Argumentation müsste mit der Absage an
Unbedingtheitsannahmen auch der Begriff der Moral bzw. Moralität in normativen
Zusammenhängen seine Anwendbarkeit verlieren, weil er an die Bedingung der Setzung
unbedingter Normen und die mit dieser einhergehenden Widersprüche gebunden sei, ja
überhaupt durch diese gerechtfertigt würde: „,morality‘ is (for us moderns) to be justified
by its being necessary for the actualization of ,abstract rights‘.“ Ohne diese würde
Moralität jeglichen Inhalts bar, wenn man so will ein Wortklang bzw. -bild ohne
Bedeutung.
418
419
Hegel (1986), § 103, Seite 197.
Vgl. Seite 172 dieser Arbeit.
191
In dem in diesem Kapitel entwickelten und von bestimmter Normativität unabhängigen
Verständnis von Moralität als einem freiwilligen Anpassen an die dem eigenen Interesse
widersprechenden Interessen anderer erscheint dieser Schluss als unbegründet. Und
Pinkard selbst nennt diese Bedeutung versteckt, wenn er schreibt: „Only the ,moral point
of view‘ – the standpoint Socrates invented – can promise to carry out such an adjudication
since it commits us both to doing the right thing because it is the right thing, even in those
cases where it goes against our own interests, and doing the right thing from a standpoint
that transcends any particular point of view [Hervorhebung T. W.].“ Nur würde ich, anders
als Pinkard, eben weder sagen, dass Moralität „even in those cases where it goes against
our own interests“ eine Rolle spielt, sondern allein in diesen Fällen; noch, dass der „moral
point of view“ ein Standpunkt ist, „that transcends any particular point of view“, weil
moralisches Verhalten sich gerade in der Annäherung konkreter sich widersprechender
Interessen vollzieht. Und da Interessenswidersprüche die potentiellen Bruchstellen aller
sozialen Zusammenhänge sind, ist Moralität, wenn auch keine unbedingte, so sie an die
Existenz interessierter, erlebender und freier Subjekte und deren Interessen gebunden ist,
doch aber eine für ein befriedigendes Zusammenleben derselben notwendige
Voraussetzung. Und unter der Bedingung, dass wir einen solchen sozialen Zusammenhalt
suchen wollen, sprechen alle Gründe dafür, moralisches Verhalten als die oberste Norm
gesellschaftlichen Lebens zu setzen; damit aber auch dafür, den Wert und die Würde eines
jeden Individuums sowie Gleichheit und Gerechtigkeit als die zentralen Prinzipien unseres
Verhaltens anzuerkennen.
Diese Behauptung ist nicht als Widerspruch gegen die historische Tatsache zu verstehen,
dass sich maßgeblich erst in der Moderne diese Prinzipien als Prinzipien in politischen
Prozessen zu explizieren beginnen. Aber es ist ein Widerspruch gegen die These, dass
„die“ moderne Lebensform „of rights-bearing, moral individuals, who acquire a sense of
egalitarian right from childhood onward, [...] and whose political temperament is shaped
by a shared commitment to political and social justice“ [Hervorhebungen T. W.] am Ende
durch die aus normativen Unbedingtheitsannahmen entstehenden Widersprüche zu
rechtfertigen sei: „There must be an institutional setup that makes these unavoidable
tensions livable and rational to hold.“ Ich halte es für ein Faktum unserer natürlichen
Vernunft, dass das moralische Verhalten und damit Wert und Würde eines jeden
Individuums sowie Gleichheit und Gerechtigkeit als oberste Prinzipien gesellschaftlichen
Zusammenlebens aus unserer bedingten Natur allein begründbar sind – und dieses Faktum,
um Pinkards Worte auf das für all dies vorauszusetzende, einem jedem Organismus
zugrunde liegende, zweckfreie individuelle Interesse am Erleben zu wenden, „goe(s) as
deeply as any organic fact can go“; nicht aus einem Widerspruch zwischen unserer
Reflexion und unserer Praxis, sondern aus den Widersprüchen konkreter individueller
Interessen und der mit diesen einhergehenden individuellen moralischen Ansprüchen
192
sowie moralischen Interessen kann moralisches Verhalten als das einzige vernünftige
Prinzip gesellschaftlichen Verhaltens gerechtfertigt werden.
Auch vor diesem Hintergrund gilt in gewisser Weise, was Pinkard mit Bezug auf Kant
festhält: „each agent is both sovereign as lawmaker and subject to the commands of a
moral law whose validity and binding power transcend his own individuality.“ Nur ist
diese moralische Transzendenz der Individualität dann nicht als Bezug zu einem abstrakten
Gesetz oder Sollen zu verstehen, sondern als Transzendenz zu anderen konkreten
Individuen. Das moralische Sollen gründet in konkreten Beziehungen interessierter,
erlebender und freier Subjekte. Sein konkreter Inhalt ist immer wieder neu das konkrete
Ergebnis der Auflösung eines konkreten Interessenwiderspruches individueller Subjekte in
gegenseitiger moralischer Zuwendung. In dem hier vorgeschlagenen Verständnis erscheint
Pinkards Frage in Bezug auf den scheinbar paradoxen politisch-rechtlichen Status der
Individualität, „How, then, can agents sustain a kind of mutual recognition of a status that
looks as if it asserts itself as not being dependent on any kind of recognition as a status at
all?“ einer „einfachen“ Beantwortung zugänglich. Der Status der Individualität und der mit
diesem verbundenen moralischen Ansprüchen und Interessen ist primär kein politischrechtlicher, sondern ein natürlicher, den wir, soweit wir uns für ein befriedigendes Leben
in Gesellschaft entscheiden wollen, konsequenterweise auch sekundär in politischem
Kontext anerkennen, in unserer Rechtsetzung als oberstes Prinzip berücksichtigen und in
der Rechtsprechung bis hin zum Strafrecht und -vollzug Ausdruck verleihen sollten – das
bedeutet unsere moralische Sorgfalt. Die politisch-rechtliche Anerkennung des natürlichen
Status ist keine Selbstverständlichkeit, sondern bleibt an die Bedingung ihres tagtäglichen
Vollzuges, an das moralisch-politische sowie das moralische Verhalten eines jeden
Individuums einer Gesellschaft gebunden, ist allein praktisch zu konkretisieren und kann
nicht theoretisch vorweggenommen und abgesichert werden. Hier stimme ich Pinkard zu,
Moralität ist am Ende eine nicht formalisierbare praktische Fähigkeit, ein „practical skill
that resists formal codification“, oder anders, eine praktische Haltung – das bedeutet unser
moralisches Wagnis. Diese Sorgfalt und dieses Wagnis sind eine Möglichkeit unserer
bedingten natürlichen Pflicht.420
„[...] any ethical determinate outlook is going to represent some kind of specialization of
human possibilities. That idea is deeply entranched in any naturalistic, or, again, historical
conception of human nature – that is, in any adequate conception of it – and I find it hard
420
An dieser Stelle stellt sich spätestens die Frage nach dem Verhältnis des vorgeschlagenen Moralbegriffs
zu dem Begriff des Naturrechts. Ich kann hier keine Diskussion dieses Verhältnisses leisten, sondern allein
meiner Position kurz Ausdruck verleihen, dass ich davon ausgehe, dass alles Recht vom Menschen gesetzt
wird und ich insofern den Begriff des Naturrechts ablehne, soweit er die unbedingte Geltung von Rechten
vertritt. Das heißt aber nicht und sollte deutlich geworden sein, dass ich der Meinung wäre, dass die
theoretische Betrachtung der menschlichen Natur nicht hinlangen würde, plausible Gründe für eine nicht
bloß relativistische Normsetzungs- und Vollzugspraxis zur Verfügung zu stellen.
193
to believe it will be overcome by an objective inquiry, or that human beings could turn out
to have a much more determinate nature than this suggested by what we already know, one
that timelessly demanded a life of a particular kind. The project of giving to ethical life an
objective and determinate grounding in considerations about human nature is not, in my
view, very likely to succeed. But it is at any rate a comprehensible project, and I believe it
represents the only intelligible form of ethical objectivity at the reflective level.“421 Wie
ich schon mehrfach deutlich gemacht habe, stimme ich diesen Anmerkungen von Bernard
Williams zu, teile jedoch nicht seine Skepsis, insofern wir meines Erachtens aus der
theoretischen Betrachtung der menschlichen Natur hinreichende Gründe zu finden in der
Lage sind, welche die Annahme des moralischen Verhaltens als der obersten, quasiahistorischen Norm gesellschaftlichen Zusammenlebens rechtfertigen.
Dass diese Norm in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keineswegs sämtliche
Lebensformen bzw. Kulturen in diesem Sinne geprägt hat, prägt und möglicherweise auch
nicht prägen wird, ist eine damit völlig in Einklang stehende Feststellung. Es liegt an uns
und unserer Bereitschaft, das moralische Verhalten als oberste Norm zu setzen und dieser
nachzuleben. Es liegt an uns, tagtäglich neu herauszufinden, was unser moralisches und
moralisch-politisches Verhalten im Konkreten für uns individuell und gesellschaftlich
bedeuten kann. Moralisches Verhalten beruht auf Freiwilligkeit. Auch ist es nicht der Fall,
dass diese Norm eine Forderung nach einer zeitlosen Lebensform oder Lebensart bedeutet
(„timelessly demanded a life of a particular kind“), doch aber nach einer bestimmten, wenn
eben auch nicht weiter formalisierbaren Haltung, in der nach einem lebendigen
Zusammenleben stets neu zu suchen ist. Dies ist kein Widerspruch zum normativen
Festhalten am moralischen Verhalten sowie damit einhergehend an den Prinzipen des
Wertes und der Würde aller Individuen sowie an Gleichheit und Gerechtigkeit. Denn diese
Prinzipien sind die Bedingungen unter denen ein solches Suchen allein gelingen kann.
Auch Williams Denken scheint mir, ähnlich wie das Pinkards, in gewisser Hinsicht von
einem negativen Festhalten an unbedingten Begründungen im Kontext normativer
Objektivitätsannahmen geprägt. Denn auch er versteht Moralität als einen an
Unbedingtheit gebundenen Begriff, sieht ihn geknüpft an die Bedingung eines unbedingten
unparteiischen Standpunktes. „How can I that has taken on the perspective of impartiality
be left with enough identity to live a life that respects its own interests? If morality is
possible at all, does it leave anyone in particular for me to be? These are important
questions about both morality and life: about morality because, as a particular view of the
ethical, it raises that question in a particularly acute form, and about life because there are,
on any view of ethical questions, real issues about the relations between impartiality and
personal satisfactions and aims – or, indeed, personal commitments that are not necessarily
egoistic but are narrower than those imposed by a universal concern or respect for
421
Williams (1985), Seite 153.
194
rights.“422 Hätte sich Williams von der Bindung des Moralbegriffes an einen unbedingten
unparteiischen Standpunkt gelöst und wie in dieser Arbeit für eine Rückbindung der
Moralität an individuelle Interessen argumentiert, dann wäre sein Urteil über einen
möglichen positiven Ausgang des Projektes „of giving to ethical life an objective and
determinate grounding in considerations about human nature“ vielleicht weniger skeptisch
ausgefallen.
So aber kommt er zu dem Ergebnis: „Many philosophical mistakes are woven into
morality. It misunderstands obligations, not seeing how they form just one type of ethical
consideration. It misunderstands practical necessity, thinking it peculiar to the ethical. It
misunderstands ethical practical necessity, thinking it peculiar to obligations. Beyond all
this, morality makes people think that, without its special obligation, there is only
inclination; without its utter voluntariness, there is only force; without its ultimately pure
justice, there is no justice. Its philosophical errors are only the most abstract expressions of
a deeply rooted and still powerful misconception of life.“423 Die Kritik richtet sich in
philosophischer Hinsicht hauptsächlich gegen Kant. Man kann mit Recht in Frage stellen,
ob diese Vorwürfe in Gänze der kantischen Philosophie gegenüber gerechtfertigt sind. Mit
Sicherheit sind sie es aber nicht gegenüber einem Moralbegriff der mit Nietzsche „das
Individuum [...], welches seine wohlverstandenen Interessen gegen andere Individuen
vertritt (Gerechtigkeit unter Gleichen, insofern es das andere Individuum als solches
anerkennt und fördert) [Hervorhebung im Original; T. W.]“ und die Suche desselben nach
einem befriedigenden Leben zum Ausgangspunkt nimmt.
Bei dieser Suche, darauf hat Williams selbst hingewiesen, „It is not enough, though, [...]
merely that we should not be frustrated in doing whatever it is we want to do. We might be
able to do everything we wanted, simply because we wanted too little. We might have
unnaturally straitened or impoverished wants. This consideration shows that we have
another general want, if an indeterminate one: we want (to put it vaguely) an adequate
range of wants.“424 Im Zusammenhang des Fortschrittsbegriffes und des vorgeschlagenen
Begriffes moralischen Verhaltens können wir nun etwas genauer konkretisieren, worin
außer dem Interesse an einem befriedigenden Leben ein adäquater Umfang an Interessen
liegen kann. Neben unseren sonstigen Interessen sollte uns daran gelegen sein, ein
moralisches Interesse und ein moralisch-politisches Interesse zu entwickeln; unter der
Bedingung, dass uns an einem befriedigenden Leben in Gesellschaft gelegen ist.
Es ist also kein unbedingtes Sollen, sondern eines, das von der individuellen Entscheidung,
ein solches Leben zu suchen, und einer daran sich anschließenden Konsequenzhaftigkeit
422
Ebd., Seite 69f.
Ebd., Seite 196.
424
Ebd., Seite 57.
423
195
im Denken und Verhalten abhängig bleibt. Diese moralische Bedingtheit ist wiederum
Ausdruck des ethischen Restdezisionismus, von dem mit Schnädelbach schon mehrmals
die Rede war. Und ich selber sehe diesen in genauer Kongruenz zu der von Pinkard
beschriebenen fehlenden Kontrolle über den „Raum der Gründe“ oder, positiv formuliert,
zu der auch in diesem sich ausdrückenden bedingten, oder mit Kodalle, unbestimmten
Freiheit, ohne die wir zu wahren Erkenntnissen überhaupt nicht erst gelangen könnten – da
bin ich mit Williams einer Meinung. In die Freiheit des Lesers ist es nun gestellt, die
Argumentationen und Begründungen, die hier für die Annahme des moralischen
Verhaltens als vernünftigerweise oberster Norm gesellschaftlichen Zusammenlebens
gegeben wurden, nachzuvollziehen, zu kritisieren oder weiterzuentwickeln; und sich im
für den Autor positiven Falle vielleicht dabei das eine oder andere Mal zu fragen: Wissen
wir das alles nicht irgendwie immer schon?
Befriedigung und die Bedingungen moralischen Verhaltens
Setzt man das moralische Verhalten im hier entwickelten Sinne als oberste Norm
intersubjektiver Interaktion, so stellt sich in der theoretischen Erörterung ein
entscheidendes Problem. Dieses Problem wird sichtbar, wenn man sich noch einmal
deutlich vor Augen führt, was mit dem moralischen Verhalten gefordert wird. Ich habe
herausgearbeitet, dass es für Moralität allein entscheidend ist, dass im Falle eines
Interessenwiderspruches die physische und psychische Macht der beteiligten Subjekte
allein in einer freiwilligen Annäherung und Modifikation der jeweiligen individuellen
Interessen ihren Ausdruck findet. Es gibt weder eine allgemeingültige inhaltliche Vorgabe,
welche Interessen in einer moralischen Verhandlung zur Disposition stehen, noch in
welches Ergebnis eine solche Verhandlung in moralischer Perfektion inhaltlich zu münden
hätte. Entscheidend ist allein die Haltung, in der nach einer Lösung gesucht und eine
solche gefunden wird. Diese Haltung ist von der gegenseitigen Anerkennung des Wertes
und der Würde sowie in dieser Anerkennung von den Prinzipen der Gleichheit und
Gerechtigkeit bestimmt. Die in ihren Interessen sich widerstreitenden Subjekte sollen in
gleicher Weise den Wert und die Würde des jeweils anderen anerkennen, dem
gegenseitigen Anspruch auf moralisches Verhalten in der Anpassung ihrer jeweiligen
individuellen Interessen in gleicher Weise gerecht werden. Wie aber ist ein solches
moralisches Verhalten nicht seinem Begriffe nach, sondern praktisch bzw. seiner
Wirklichkeit nach möglich?
Leonard Nelson hat im Rahmen seiner Formulierung des „Sittengesetzes“ die Forderung
aufgestellt, „daß wir unsere Interessen so weit einschränken, wie wir sie einschränken
würden, wenn die fremden Interessen auch unsere eigenen wären [...].“425 Doch wie sollten
425
Nelson (1972), Seite 134.
196
wir als Individuen jemals dazu in der Lage sein, den widerspruchsvollen fremden
Interessen in gewisser Weise den gleichen Status wie den unsrigen einzuräumen?
Interindividuelle Interessenskonflikte sind ja zum einen und zunächst gerade dadurch
bestimmt, dass die konkreten zum Widerspruch führenden Interessen eben nicht jeweils in
gleicher Weise individuelle Berücksichtigung finden. Zum anderen halte ich es für
ausgeschlossen, dass durch eine reflexive Integration der widersprüchlichen Interessen
anderer diese Asymmetrie tatsächlich aufgehoben werden könnte. Die Reflexion der
Interessen anderer macht diese nicht schon zu unseren Interessen.
Wir sind interessierte, erlebende und freie individuelle Subjekte und können diese Natur
auch in der Reflexion nicht hinter uns lassen. Wir können uns nicht in einer Weise von
unseren individuellen Interessen distanzieren, die es ermöglichen würde, die Interessen
anderer so zu unseren zu machen, als ob sie unsere eigenen wären, oder wie Nelson sagt,
als ob „die Interessen der anderen mit den unsrigen in einer Person vereinigt wären.“426
Für eine solche Fähigkeit müssten wir uns unserer Individualität, unseres individuellen
Interessiert-Seins, unserer individuellen interessierten Natur entheben und uns zu einem
von dieser unbedingten unparteiischen Standpunkt aufschwingen können. Nur so könnte
diese Asymmetrie in der reflexiven Berücksichtigung der Interessen anderer nicht nur
relativiert, sondern zumindest theoretisch entschärft werden. Und gerade die Zuschreibung
einer solchen Fähigkeit kann man etwa mit Williams zu Recht bezweifeln: „How can I that
has taken on the perspective of impartiality be left with enough identity to live a life that
respects its own interests? If morality is possible at all, does it leave anyone in particular
for me to be?“427
Ich denke, dass es für ein Subjekt unmöglich ist, einen interesselosen oder unparteiischen
Standpunkt in der Welt einzunehmen, von dem aus es über seine Interessen entscheiden
könnte. Ein über den grammatikalischen oder den logischen Sinn hinausgehendes Subjekt
zu sein, bedeutet immer schon, mindestens ein Interesse zu haben. Ein Interesse kann also
immer nur durch andere Interessen relativiert werden. Über ein Interesse abzuwägen
bedeutet nicht, einen unparteiischen Standpunkt gegenüber diesem einzunehmen, sondern
sich von ihm zu distanzieren, indem man reflexiv Partei für andere Interessen ergreift. Und
in diesem Sinne beschreibt auch Pinkard das Selbstbewusstsein eines Subjektes nicht als
ein Bewusstsein über sich selbst als einem von allen Interessen losgelösten Ich, sondern als
das Residuum der reflexiven Distanzierung von sämtlichen Interessen im Sinne der
Erkenntnis, dass jedes Interesse durch jeweils andere Interessen in Frage gestellt werden
kann. „Self-consciousness establishes a potential distinction of itself from each and every
426
427
Ebd.
Williams (1985), Seite 69f.
197
end an agent may elect in that each can entertain the possibility of throwing any of those
ends into question in the light of other ends.“428
Um genau zu bleiben, müsste man meiner Ansicht nach jedoch noch einen Schritt weiter
gehen. Die Distanzierung von sämtlichen Interessen, von der Pinkard schreibt, ist in
Wahrheit keine Distanzierung von sämtlichen Interessen, sondern entspringt selbst einem
Interesse, von dem man sich in dieser Distanzierung gerade nicht distanziert. Ähnlich hat
Bernard Williams mit Bezug auf John Rawls’ „Schleier des Nichtwissens“ darauf
aufmerksam gemacht, dass das Bemühen um einen möglichst unparteiischen Standpunkt
selbst als ein Interesse, oder wie er sagt, eine Disposition zu verstehen sei: „Unless you are
already disposed to take an impartial or moral point of view, you will see as highly
unreasonable the proposal that the way to decide what to do is to ask what rules you would
make if you had none of your actual advantages, or did not know what they were.“429
Anders als Williams und im Hinblick auf den oben vorgeschlagenen Moralbegriff würde
ich solche reflexiven Versuche der Unparteilichkeit in Bezug auf die Setzung allgemeiner
normativer Konventionen, Regeln und Gesetze nicht primär als moralisches Verhalten
verstehen, sondern nur sekundär als Ausdruck eines aus moralischem Anspruch und
moralischem Interesse erwachsenden moralisch-politischen Interesses. Man muss solche
Gedankenexperimente der Unparteilichkeit nicht ablehnen und ihre sinnvolle heuristische
Funktion in normativen Zusammenhängen negieren, um zugestehen zu können, dass ein
unparteiischer Standpunkt für ein Individuum erstens keine real einzunehmende
Perspektive darstellt und zweitens solche Gedanken selbst einem bestimmten Interesse
folgen. Meines Erachtens gilt es festzuhalten, dass man über ein Interesse nur insofern
abwägen kann, als man es durch reflexives Parteiergreifen für andere Interessen in
Relation zu diesen in Frage stellt. Über Interessen abzuwägen bedeutet also nicht, wie
bereits erwähnt, einen unparteiischen Standpunkt gegenüber diesen einzunehmen, sondern
sich von diesen zu distanzieren, indem man reflexiv Partei für andere Interessen ergreift.
Ein Interesse in Frage zu stellen, bedeutet also immer, mindestens für ein anderes Interesse
Partei zu ergreifen. Bei solchen Reflexionen handelt es sich also eher um
Unentschiedenheit als um Unparteilichkeit.
Nun kommt im Rahmen des moralischen Verhaltens, wie gesagt, alles darauf an, dass die
Annäherung der Interessen ohne physische oder psychische Unterdrückung des jeweils
Anderen vollzogen wird. Diese Bedingung lässt die Auflösung des Widerspruches nicht
nur inhaltlich völlig offen, sondern auch bezüglich der Frage, ob die Lösung dadurch
erreicht wird, dass sich einer dem Interesse des anderen völlig anpasst, d.h. freiwillig auf
sein Interesse verzichtet, oder ob das Ergebnis in einem wie auch immer gearteten
Kompromiss besteht. Für die moralische Qualität ist allein entscheidend, dass die
428
429
Pinkard (2012), Seite 105.
Williams (1985), Seite 64.
198
jeweiligen Subjekte ihre Macht im Sinne einer freiwilligen Annäherung ihrer Interessen
nutzen. Für das moralische Verhalten gibt es über die Anerkennung des Wertes und der
Würde und die Beachtung von Gleichheit und Gerechtigkeit hinaus keine allgemeinen
Regeln, die darüber bestimmen könnten, wie ein Interessenswiderspruch gelöst werden
soll. Und genau genommen handelt es sich bei diesen Regeln nur um die allgemeine
Charakterisierung eines praktischen Verhaltens, das seiner Wirklichkeit nach keine Regel,
sondern eine jeweils individuell und wirklich einzunehmende praktische Haltung bedeutet.
Eine Haltung, deren Vollzug mit Nietzsche vielmehr als ein vorsichtiges Abtasten, ein
Gerecht-Werden und ein Erkennen der eigenen und fremden Grenzen, ein gegenseitiges
Respektieren, als Feinfühligkeit, Empfindsamkeit und Leidensfähigkeit beschrieben
werden kann, denn als Einhalten bestimmter, konventioneller Vorstellungen, Regeln oder
Gesetze; vielmehr beschrieben werden kann als ein experimentelles Erforschen der
Möglichkeiten, als ein technisch-instrumentelles Wissen; oder wie Pinkard sagt, als
„practical skill that resists formal codification“. 430 Wie aber ist eine solche Haltung
wirklich möglich?
Das Problem, auf das ich hier hinaus will, kann man mit Mark Johnston und in Anlehnung
an Augustinus und Martin Luther als Eigenschaft interessierter, erlebender und freier
Subjekte beschreiben, in sich selbst „gebogen“ oder „gekrümmt“ zu sein. Was Augustinus
und Martin Luther mit dem Ausdruck „incurvatus in se“ bezeichnet haben, kann man
genau in dem hier problematisierten Zusammenhang als die Eigenschaft verstehen, sein
individuelles interessiertes Dasein nicht hinter sich lassen zu können.431 Auch Johnston
unterscheidet zwischen konventionellen Vorstellungen, Regeln und Gesetzen – deren
Einhaltung er, anders als ich dies tue, mit dem Begriff der Moral engführt – und der
Möglichkeit zu einem wirklich guten Verhalten anderen gegenüber. Erstere könnten
Letzterem entschieden entgegenstehen: „And there is considerable evidence that the
triumph of moral effort over self-will [...] is far from costless when it comes to the virtues
of flexibility, openness, self-directed irony, and an appreciation of the festive character of
life.“432 Jedoch, so fragt er weiter: „What of the no doubt attractive, and even to some
degree excellent, life of a person who has the ordinary virtues of self-confidence,
flexibility, openness, self-directed irony, perseverance, fair-dealing, moderation, and good
judgment? [...] we are still left with two things that speak against the claims of the life of
ordinary virtue to be the ethical life. One is the reminder that the apparent selfsustainability of the ordinary virtuous life is merely apparent, given the large-scale
structural defects of human life. Those defects present themselves either as destructive
fates that will obliterate much of the significance of virtue, or as intimations that there is
something more than ordinary virtue. The second thing, and this testifies to great dignity of
430
Pinkard (2012), Seite 186.
Johnston, Mark: Saving God, Princeton, NJ: Princeton University Press, 2009, Seite 84, 88.
432
Ebd., Seite 88f.
431
199
philosophy, is the description here and there within the philosophical tradition of a form of
life distinct from and arguably higher than the virtuous life. Thus philosophy keeps to the
old promise of ex veritate vita. The truly ethical life is a life in which you encounter
yourself as one person among others, all equally real. This means that the legitimate
interests of others, insofar as you can anticipate them, will figure on a par with your own
legitimate interests in your practical reasoning – that is, in your reasoning as to what you
should do and what you should prefer to happen. Inevitably, given that each one of the
others counts the same as you in your practical reasoning, the interests of others often will
swamp your interests in your own practical reasoning as to what you should do and prefer.
For you will find yourself to be only one of the others, the one you happen to know so
much about, thanks to being him or her. Here I follow Thomas Nagel in identifying the
ethical life with a life whose guiding principle is radical altruism or agape.“433
Johnston führt weiter aus, dass diese Vorstellung eines ethischen Lebens zugleich deutlich
mache, dass uns die Verwirklichung eines solchen aufgrund unserer Natur entzogen sei.
Denn unsere praktischen Reflexionen würden auch insoweit sie sich auf die Interessen
anderer beziehen und mit dem Ziel verbunden sind, diese zu berücksichtigen, am Ende
abhängig bleiben von unseren impliziten oder expliziten individuellen Vorstellungen von
einem bedeutungsvollen Leben („meaningful life“). Dieses beschreibt Johnston als
„delicate cross-time construction, put together with some care by the agent whose life it is.
It requires a systematic implementation of the agent’s distinctive conception of what is
valuable; and this in its turn involves a certain blindness to, and even obtuseness about, the
radical needs, and hence the legitimate interests, of all those others.“434 Ich stimme dem zu.
Wir können selbst in der reflexiven Berücksichtigung der Interessen anderer unser
individuelles Interessiert-Sein nicht hinter uns lassen; wir sind und bleiben in unserer
interessierten Natur in uns selbst „gebogen“ oder „gekrümmt“, sind Individuen „incurvatus
in se“.
Johnston zieht daraus nun mit Kant den Schluss, dass wir in dem Sinne „radikal böse“
seien, insoweit wir unserer Natur nach gar nicht anders können, als die Interessen anderer
und damit diese selbst zu verletzen. „Kant himself would have been among the last to deny
the condition that Augustine and Luther describe as ,Homo incurvatus in se‘, the condition
of man being turned in upon himself. Kant has a vivid sense of the overwhelming
centripetal force of illegitimate self-love. Famously, he asserts that we are radically evil.
By this Kant does not mean that we are bad to the bone and, hence, irredeemably evil. He
means that by nature each one of us demands premium treatment for himself; each sets his
own interests up as an overriding principle of his will, so that each is really an enemy of
433
434
Ebd., Seite 90.
Ebd., Seite 90f.
200
the others and of the ethical itself.“435 Jedoch merkt Johnston kritisch an: „But what is the
source of redemption from natural evil in Kant? Given that we are radically evil, then, if
we have no source of redemption, do we not have a proof from Kantian premises that our
sense of the demands of the moral ought are simply illusory. For ought implies can, and
we can’t, at least not left to our own devices. To be sure, Kant thought that there were
proofs of the immortality of the soul, of the freedom of the will, and of a just God who will
come to judge us, proofs from the preconditions of moral action and the rational hope that
there should be a situation in which just desert and happiness are correlated. Still, the
conclusions of these proofs are propositions that we would be required to believe if Kant’s
arguments are good. But belief in a proposition cannot redeem us from the condition of
being incurvatus in se.“436
In Johnstons Ausführungen wird dabei eine Kritik an Kant deutlich, die im Grunde der von
mir in dieser Arbeit geäußerten Kritik entspricht. Denn die von Kant in die Unendlichkeit
verlängerte Unmöglichkeit der völligen Angemessenheit des Willens zum moralischen
Gesetz bedeutet ja letztlich nichts anderes als der von Johnston herausgestellte
Sachverhalt, dass Kants Argumentation das Problem nicht löst, wie wir unsere „radikal
böse“ Natur hinter uns lassen könnten und wie damit das moralische Sollen als ein
moralisches Können jemals für uns Relevanz besitzen sollte. Allerdings nähert sich
Johnston der Kritik hier aus einer anderen Richtung. Während die Kritik in dieser Arbeit
ihr Augenmerk auf Kants Argumentation richtete und in den Schluss überging, dass dessen
Argumente, um Johnstons Wortwahl zu gebrauchen, in diesem Zusammenhang „nicht gut“
sind, konzentriert Johnston seine Kritik auf den Widerspruch in Kants Definition der
menschlichen Natur als solcher. Wie können wir unsere „radikal böse“ Natur, insofern
„radikal“ hier gerade meint: zu unserer Natur gehörig, in eben dieser Natur jemals
überwinden? Kant hätte an dieser Stelle und im Zuge seiner Postulierung der
Unsterblichkeit der Seele viel weiter ausholen und ausführen müssen, wie sich unsere
Natur nach dem Tode verändert, dass eine solche Überwindung möglich wird, und wie
diese Veränderung mit unserer diesseitigen Natur in Zusammenhang steht, damit die
Relevanz des moralischen Gesetzes schon für unser diesseitiges Leben einsichtig werden
kann. Dass Kant sich solche Spekulationen selbst versagt hat, davon kann man meines
Erachtens ausgehen.
Johnston fasst seine Kritik zusammen: „We are left with the anti-Kantian argument, the
argument that Kant perhaps should have given: the moral ought, the felt demand that our
wills should be good or be made good, and so be moved by the interests of all considered
equally, is a complete illusion. For ought implies can, and because we are radically evil,
we actually can’t make our wills good. The conclusion of that argument provokes moral
435
436
Ebd., Seite 91.
Ebd., Seite 92.
201
despair, but we cannot back out of it by denying that we are radically evil, at least when
this is properly understood. Could we try to become less evil, less turned in upon
ourselves? Well, not simply by our own intentional act or acts. For those acts would have
maxims, and those maxims would inevitably be rendered crooked by the centripetal force
of self-love. Being radically evil, that is, natural opponents of the ethical life, we naturally
can will only evil; that is, we can act only on maxims conditioned by our self-interest. So
left to our own devices, willing our own improvement is just another cunning form the evil
can take. [...] Here Kant’s moral theory presents as a philosophical appropriation of
Christianity, an appropriation that is inconsistent because it is incomplete. We are in a
condition of natural or original sin, but the ethical demand is something like the demand of
agape, on its face an impossible demand given the centripetal force. Kant has sin and
agape, but no redeemer. Is it not the case that the existence of a redeemer, a source of
grace – that is, something transformative entering from outside our fallen natures – is also
in need of being deduced as another ,postulate of practical reason‘, a belief required if we
are to avoid moral despair? Kant’s problem is our problem, at least if we allow that
something like agape constitutes ethical life, and admit that human beings are naturally
turned in upon themselves in sin. We need a redeemer, an external source of grace that
could overcome the centripetal force of self-will.“437
Johnston eröffnet aus der Problemstellung des „incurvatus in se“ nun also die Frage nach
Gott und diese in Richtung der kantischen Philosophie dahingehend, ob Kant sein Postulat
von der Existenz Gottes nicht im Sinne eines Erlösers, Retters oder Heilands hätte
konzipieren müssen und nicht allein als ein Distributor der Glückseligkeit, der in
Anbetracht der Angemessenheit des jeweiligen individuellen Willens zum moralischen
Gesetz peinlich genau darauf achtet, dass auch niemand ein Quäntchen zu viel oder zu
wenig von jener erhält. Johnston zielt in seiner Thematisierung des Gottesgedankens als
einer Gnadenquelle, die gewissermaßen von außen transformativ auf unsere „radikal böse“
Natur einwirkt, nun nicht auf eine Wiederbelebung eines Schöpfergottes, der in die
Geschichte und das Leben von Individuen eingreift. Sondern er identifiziert unser
individuelles Leben, die Geschichte, die natürliche, ja sogar die kosmische Entwicklung
mit Gott selbst, „The Highest One = the outpouring of Existence Itself by way of its
exemplifications in ordinary existents for the purpose of self-disclosure of Existence
Itself“.438
Dabei sei diese, wie er sagt, panentheistische Identifizierung nicht zu verwechseln mit der
pantheistischen Identifikation von Gott und Natur. „Against such a pantheistic
identification, the panentheist will assert that God is partly constituted by the natural
realm, in the sense that his activity is manifest in and through natural processes alone. But
437
438
Ebd., Seite 92f.
Ebd., Seite 120.
202
his reality goes beyond what is captured by the purely scientific description of all events
that make up the natural realm. Nothing in the natural realm lies outside God, and God
reveals himself in the natural realm by disclosing in religious experience an ultimate form
of the world, one that is in no way at odds with the form of the natural realm disclosed by
science: that is, a causal realm closed under natural law. The identification [...]
characterizes that ultimate form of reality, and thereby expresses a type of panentheism. It
identifies God with a universal process understood as outpouring and self-disclosure. Here,
God is no longer in the category of substance, as in traditional theology, but in the
category of activity.“439 Johnston versteht diesen Process Panentheism in der Tradition
von Whiteheads Prozessontologie. Ich werde hier keine umfängliche Diskussion und
Kritik seiner Position vornehmen können, sondern werde dies nur insoweit leisten, als sie
uns einer theoretischen Einsicht in die praktische Möglichkeit eines befriedigenden
Umgangs mit der Problematik des „incurvatus in se“ näher bringt.
Wenn Johnston in der zitierten Textstelle davon spricht, dass Gott sich in der religiösen
Erfahrung als der Enthüllung einer höchsten Form der Welt offenbart, die nicht im
geringsten Widerspruch steht mit dem, was sich uns in Form naturwissenschaftlicher
Beschreibungen der Welt enthüllt, dann kann diese religiöse Erfahrung auch verstanden
werden als etwas, das Johnston an anderer Stelle seiner Untersuchung als tieferes
Verständnis des göttlichen Geistes als der Totalität aller völlig adäquaten und vollzähligen
Modi der Realitätspräsentation beschreibt („the totality of fully adequate and complete
modes of presentation of reality“).440 „Of course, this is an ideal limit, and who can tell
what transformations of individual minds and bodily structures would be required to better
approximate to it. Nevertheless, part of the self-disclosure of the Highest One involves the
disclosure of his mind, by way of our movement in the direction of deepening
understanding. A comparison with the evolutionary significance of increasing cooperation
may be helpful here. It is not that the normative principles of cooperation and kin altruism
could have any causal influence on evolution and natural selection. It is just that, as a
matter of fact, animals that are prepared to cooperate with their kin, and to some extent
sacrifice their interests for those kin, confer a collective advantage on their kin and clan.
To that extent, cooperative and kin-altruistic animals are likely to become more numerous
in evolutionary history. The same holds for animals with mental capacities that enable
them to grasp more adequate and complete modes of presentation. Here, then, is a variant
on Hegel’s theme of the cunning of history; you might call it cunning of nature. There is a
natural selective pressure to develop more adequate ideas, to deepen understanding, and
this takes us in the direction of gradually confirming our minds to the Mind of God,
understood as the totality of fully adequate modes of presentation.“441
439
Ebd., Seite 119f.
Ebd., Seite 155.
441
Ebd., Seite 155f.
440
203
Durch die natürliche evolutionäre Selektion, so seine These, entstehen Lebewesen mit
einem immer tieferen Verständnis der Realität, d.h. mit einem immer tieferen Verständnis
Gottes selbst. „Reality is Being-making-itself-present-to-beings [...]. The beings, that is,
each and every creaturely thing that exists, are themselves exemplifications of Being. Each
is, as it were, precipitated or individuated out of Being, and is thus none other than a finite
expression of Being, distinctive thanks to its distinctive finite essence or principle of
individuation. So the general form of reality is at least the outpouring of Being itself by
way of its exemplification in ordinary beings and its self-disclosure to some of those
beings. Seeing reality in that way, holding that frame in place as the basic frame in which
one experiences the world, supports a profound background feeling of gratitude in
response to the ,double donatory‘ character of reality. First, I am an expression of Being
Itself, as are all the things present to me [...]. Second, all of THIS is made available to me,
gratis. Whatever happens then, I have already been endowed with great gifts; I have
already won the cosmic lottery. Seeing all this, perhaps I can then begin to overcome the
centripetal force of the self, the condition of being incurvatus in se, and instead turn
toward reality and the real needs of others [Hervorhebungen im Original; T. W. ].“442
So wird deutlich, worin Johnston das transformative Einwirken Gottes sieht, durch das
unsere „radikal böse“ Natur überwunden werden kann. Er versteht das individuelle Leben
als eine pure und bedingungslose Entäußerung der Existenz selbst, die er letztlich in
Analogie zur selbstlosen und überfließenden Liebe des christlichen Gottes versteht, als
agape. Je mehr wir uns im Laufe der Evolution, d.h. im Prozess der Realität, in unseren
Begriffen diesem Verständnis der Realität und damit der Existenz selbst und somit auch
unserer eigenen als Entäußerungen derselben nähern, wird sich dieses Verständnis
wiederum in unserem Verhalten äußern, ja wir selbst werden uns mehr und mehr selbstlos
an die Welt und vor allem an unsere menschliche Mitwelt entäußern und unser „incurvatus
in se“ hinter uns lassen. Dieses Selbstlos-Werden interpretiert Johnston als ein
Überwinden der „Ur-Sünde“, die darin läge, ein Wissen davon vorzugeben, worin ein
gutes Leben bestünde. Den Mythos vom Biss in den am Baum der Erkenntnis hängenden
Apfel versteht Johnston als eine dramatische Stilisierung der menschlichen Neigung
„driven by [...] anxious hope that ,wisdom‘, a correct conception of good and evil, and
hence the knowledge of how to live, could be got from a tree, off the shelf as it were – as if
it were something fixed and complete like an ideal commodity, as if it were something that
could be possessed by human beings. Our original sin thus consists in self-will combined
with the aspiration to possess the knowledge of how to live, a false grasping after ready-towear righteousness, something that is inherently compromised. [...] That combination
produces self-will as a constant deliberative motif, along with a need for a guiding
conception of the good to silence the emergent voice that demands that we live our life.
Unfortunately, the guiding conception of the good can initially come only from a tree,
442
Ebd., Seite 156f.
204
from off the shelf, from what the others expect of us. And this means that our actual life is
parceled out between two bad masters: our own self-will and a compromised conception of
the good. How is it compromised? It is averaged out because commonly available, it is
held to with the sense of false necessity, and it needs to be defended beyond its merits
because otherwise we sense that we would have no idea of how we are to live. Indeed it
must be defended, even with violence, for otherwise we would have to face the terror of
discovering that we have no satisfactory way of being distinctively human, no good
response to the voice that commands us to live our lives. In fact our own self-will, our
various defections form the otherregarding demands presented by our internalized
conception of the good, already testifies to the intrinsic weakness of the conception; we
know that it cannot fully command our own assent, so we know it must be policed in order
that we may fend off the terror below.“443
In gewisser Weise liegt Johnston hier nicht weit von Pinkards Position entfernt. Dieser hat
mit Hegel, wie deutlich gemacht, vor dem Hintergrund der reflexiven Selbst-Distanzierung
von allen konkreten Verhaltensanforderungen und der aus dieser entstehenden
Orientierungsproblematik auf die Notwendigkeit geschlossen, nach einem Begriff des
Unbedingten zu suchen, der in der Kontingenz des Lebens eine Richtung vorzugeben in
der Lage ist. Doch sämtliche Begriffe eines Unbedingten, die als solche stets bedingt sind,
müssten sich notwendig widersprechen und könnten im gesellschaftlichen Zusammenhang
nur insoweit bestehen, als sich ein intersubjektiver Konsens oder, wie Johnston es hier
ausdrückt, ein Kompromiss darüber herauskristallisiert, wie das unserem Leben eine
Richtung gebende Unbedingte zu begreifen sei. Doch auch in diesem konsensuellen
Verständnis bleibt es dabei, dass diese Begriffe notwendigerweise zu Widersprüchen
zwischen ihrer gedachten Unbedingtheit und unserer bedingten Praxis führen müssen. In
„der“ modernen Welt manifestiere sich diese Widersprüchlichkeit zwischen der Annahme
unbedingter individueller Rechte und ihrer bedingten praktischen Geltung.
Wie Pinkard ist nun auch Johnston der Meinung, dass diese von ihm als „Ur-Sünde“ und
Grund unserer „radikal bösen“ Natur bezeichnete Problematik nur dadurch gelöst werden
kann, dass wir uns die Bedingtheit und damit auch Falschheit dieser Begriffe von einem
guten oder richtigen Leben eingestehen. Die Möglichkeit dazu liege, laut Johnston, in dem
Gewahr-Werden der doppelt schenkenden Qualität der Realität bzw. Existenz („,double
donatory‘ character of reality“) und dem damit verbundenen grundlegenden Gefühl der
Dankbarkeit („profound background feeling of gratitude)“ für all das, was uns mit diesem
Leben immer schon und bedingungslos geschenkt sei. Dieses in der religiösen Erfahrung
als höchste Form existenzieller Selbstenthüllung sich manifestierende tiefe Verständnis der
Existenz sei der Ausgangspunkt, das „incurvatus in se“ zu überwinden und sich der
Realität und den wirklichen Bedürfnissen bzw. Interessen der anderen zuzuwenden. Die
443
Ebd., Seite 168f.
205
Gnade der Dankbarkeit erlaube es, von vermeintlichen Verletzungen „des Guten“
abzusehen und sich von all seinen individuellen Vorstellungen über ein gutes Leben zu
lösen, die man in der „Ur-Sünde“ zwischen einen selbst und die anderen zu setzen geneigt
ist. Johnston versteht die Geschichte Christi als ästhetische Darstellung des Ideals dieser
Befreiung. „After all, what does [...] Christ offer in place of righteous legitimacy? Not a
way to live, certainly not in the sense of something that would allow a new form of readyto-wear righteousness to be passed, so as to make for a stable settlement with things. All
that is offered instead are impossible commandments from out of the blue: Thou shalt love
the Lord thy God with all thy heart, and with all thy soul, and with all thy mind, and with
all thy strength: this is the first commandment. And the second is like it, namely this, thou
shalt love thy neighbor as thyself. [...] This is the sense in which Christ destroys the
Kingdom of self-love and false righteousness. Of course, it is not that the psychological
power of self-love and false righteousness is actually diminished by the Passion and
Crucifixion. Instead, self-love and false righteousness – that is to say, the central elements
of the characteristically human form of life – no longer make up a defensible realm.“444
Die im Gebot der Gottes- und Nächstenliebe doppelt geforderte Überwindung des „Selbst“
ist in Johnstons Interpretation die der doppelt schenkenden Qualität der Existenz
entsprechende Antwort endlicher Existenz. Zum einen ist jede bedingte Existenz
Entäußerung der Existenz überhaupt und somit Teil Gottes. Zum anderen ist diese
Entäußerung bedingungslos und geschenkter Überfluss, ist agape. Die Zuwendung zu
Gott, d.h. zur Existenz überhaupt, bedeutet so zugleich die Zuwendung zu all ihren
Entäußerungen, so auch zum Nächsten, und dies in der Qualität eines selbstlosen
Schenkens, in der Qualität der agape. Und die Überwindung des „Selbst“ hin zur
Selbstlosigkeit bestehe eben in Richtung der durch die religiöse Erfahrung und die Kraft
der Dankbarkeit möglich werdende Abkehr vom wissenden Besitz des Lebens und den
Vorstellungen darüber, wie dieses richtig zu führen sei.
In diesem Verständnis endlicher Antwort auf die göttliche agape liegt Johnston wiederum
unweit von Pinkard, der im Hinblick auf die aus unseren Versuchen, das richtige oder gute
Leben in metaphysischen Spekulationen zu begreifen, erwachsenden Spannungen schreibt:
„Those tensions are ineradicable but necessary components of modern life. Something like
practical wisdom, and not a final metaphysical solution, is the proper response. [...] Each
acknowledges his own finitude and partiality, and in doing so, in the give-and-take of their
encounter, each forgives the other for having claimed such an absolute status for himself.
In religious terms, each acknowledges that he is not without sin, [...] each acknowledges
his own radical fallibility and the temptation to claim a knowledge of the unconditional
that outstrips the resources of the individual agent. The ,true infinity‘ the agents seek is to
be found within the ongoing interchange itself, insofar as that interchange is oriented to
444
Ebd., Seite 172f.
206
truth.“ 445 Und genau in diesem Sinne, so denke ich, kann man auch Johnstons
philosophisches Anliegen verstehen: „Thus philosophy keeps to the old promise of ex
veritate vita. The truly ethical life is a life in which you encounter yourself as one person
among others, all equally real.“446 Das Eingeständnis unserer in der Anmaßung eines
unbedingten Wissens vom richtigen Leben liegenden „Ur-Sünde“, das Eingeständnis
unserer „radikalen Fallibilität“ ist die notwendige Bedingung der mit dem Biss in den
Apfel verbundenen Vertreibung aus dem „Paradies“, dieser in der reflexiven
Selbstanmaßung und Verabsolutierung unserer bedingten Begriffe liegenden Fallibilität
immer wieder neu zu begegnen, um auf diese Weise unserer bedingten Natur, unserer
selbst und den anderen annähernd gerecht zu werden und ein befriedigendes Leben in
Gesellschaft zu führen. So gesehen gibt uns Johnston eine theologisch kontextualisierte
Vorstellung des pinkardschen Verständnisses moralischen Verhaltens als „practical skill
that resists formal codification“.447
Doch mein Eindruck ist der, dass Johnston seiner an Kant in Bezug auf die Definition der
menschlichen Natur als einer „radikal bösen“ geäußerten Kritik selbst nicht gerecht wird
und uns damit theoretisch genauso wenig wie jener die Möglichkeit einer tatsächlichen
Überwindung des „incurvatus in se“ plausibel macht. Selber bezeichnet er die im Rahmen
seiner Vorstellung der agape diskutierten Gebote der Gottes- und Nächstenliebe als
„impossible commandments from out of the blue.“ Auch besteht er weiterhin auf die
„psychological power of self-love and false righteousness“, so wie etwa auch Pinkard
bezüglich der mit den metaphysischen Spekulationen verbundenen Spannungen ausführt:
„Those tensions are ineradicable but necessary components of modern life.“ Das in der
Geschichte Christi vorgestellte Ideal einer Antwort endlicher Existenz auf die göttliche
agape wird bei Johnston zu einer Vision eines vielleicht irgendwann einmal möglichen
vollkommenen Verständnisses der Existenz und eines damit einhergehenden
vollkommenen, von agape erfüllten Lebens. Aber, so schränkt Johnston selbst ein: „Of
course, this is an ideal limit, and who can tell what transformations of individual minds
and bodily structures would be required to better approximate to it.“ Was Kant bezüglich
einer möglichen Veränderung unserer nachtodlichen Natur zur Plausibilisierung seines
„moralischen Gesetzes“ unterließ und schuldig blieb, bleibt auch Johnston letztlich
schuldig und setzt es vielmehr in die providenzielle Schuld eines evolutorischen Vielleicht.
Damit aber re-messianisiert er in seiner evolutorischen Theologie den in der
Auseinandersetzung mit Kant von ihm hervorgehobenen Heilsgedanken im Sinne eines
Noch-nicht und ist, wenn auch nur in eingeschränktem Sinne, der jüdischen Religion viel
näher als der christlichen; damit aber auch einer Wirklichkeit unseres natürlichen Lebens,
445
Pinkard (2012), Seite 181, 186.
Johnston (2009), Seite 90.
447
Pinkard (2012), Seite 186.
446
207
die metaphorisch nicht durch die Geschichte Christi und die darin sich ausdrückende
agape zu erfassen ist, sondern durch eine Beschreibung, die Johnston selbst in seiner
Deutung von Yahweh gibt: „Now the strange character of Yahweh, the loving, jealous, and
genocidal god, is no longer a mystery. He appears as the Lawgiver to ,a stiffnecked
people‘. He commands and sanctifies another compromised conception of how to live. For
this work, for it to prevent self-will from exposing the unsatisfactory nature of what is
commanded, the Lawgiver has to make it known that he is not to be messed with, that he
himself has an enormous capacity for retributive violence. Yahweh exactly fits the bill;
this is why it would be utterly naive to bowdlerize the Hebrew scriptures, to omit or
neglect Yahweh’s immense cruelty, and emphasize only his justice, mercy, and love. That
is to fail to understand the religious function of Yahweh. Yahweh needs to be an
unpredictable threat if he is to successfully resolve the real crisis produced by original
sinfulness, and so be a god for men [Hervorhebung im Original; T. W,].“448 Insofern Gott,
„The Highest One“, für Johnson die Existenz selbst ist, verstanden als „the outporing of
Existence Itself by way of its exemplifications in ordinary existents for the purpose of selfdisclosure of Existence Itself“, hätte er meines Erachtens konsequenterweise zu dem
Schluss kommen müssen, dass diese sich uns offenbar als der in seinem Sinne verstandene
Yahweh erweist und nicht als agape. Bis auf Weiteres scheinen wir in unserer Existenz in
der „Ur-Sünde“ gefangen zu sein, damit aber auch in der laut Johnston damit verbundenen
natürlichen Gegnerschaft zu einem ethischen Leben; wir müssten uns als „natural
opponents of the ethical life“ verstehen.
Johnston kann dem allein einen evolutions-theologisch-messianischen Glauben
entgegenhalten, nach dem sich irgendwann einmal die Qualität unserer Existenz ändern
wird – etwa analog zu Teilhard der Chardins evolutionstheoretischen Überlegungen oder
deren Aufnahme und in Auseinandersetzung mit Heidegger vorangetriebenen
Weiterentwicklung von Bernard Delfgaauw. 449 Aber selbst wenn man, was zu Recht
bezweifelt werden kann, die Möglichkeit einer solchen evolutionär-providenziellen
Potentialität in Betracht zieht, so bleibt deren Wirklichkeit offenbar noch aus; mit dieser
aber auch unsere Möglichkeit im Sinne der von Johnston entwickelten Vorstellung der
agape, unser „Selbst“ in einem „radical altrusim“ zu überwinden. Sein Glaube, dass sich
irgendwann einmal die Dinge ändern, ist nicht weniger ein Glaube an eine Proposition als
der Kants. Und so gelten Johnstons eigene Worten für ihn selbst: „But belief in a
proposition cannot redeem us from the condition of being incurvatus in se [Hervorhebung
im Original; T. W.].“
448
Johnston (2009), Seite 169f.
Teilhard de Chardin (2006); Delgaauw, Bernard: Geschichte als Fortschritt, Band I - III, Köln: Verlag J.
P. Bachem, 1962-1966.
449
208
Pragmatischer geht Philip Kitcher unsere altruistische Fehlbarkeit in The Ethical Project
an. Ebenfalls vor evolutionstheoretischem Hintergrund beschreibt er es als ein
permanentes ethisches Projekt der menschlichen Natur, unsere altruistische Fehlbarkeit
durch die Hervorbringung gesellschaftlicher Normen immer wieder neu und,
möglicherweise, immer besser in den Griff zu bekommen. Die von ihm vertretene Position
nennt er einen „pragmatic naturalism“. „As the name suggests, pragmatic naturalism has
affinities with both pragmatism and naturalism. In focusing on ethical practice and its
history, it attempts to honor John Dewey’s call for philosophy to be reconnected with
human life. Further, it articulates a Deweyan picture of ethics growing out of the human
social situation; its conception of ethical correctness is guided by Williams James’s
approach to truth. The naturalism consists in refusing to introduce mysterious entities –
,spooks‘ – to explain the origin, evolution, and progress of ethical practice. Naturalists
intend that no more things be dreamt of in their philosophies than there are in heaven and
earth. They start from the inventory of the world allowed by the totality of bodies of wellgrounded knowledge (the gamut of scholarly endeavors running from anthropology and art
history to zoology), and, aware of the certain incompleteness of the list, allow only such
novel entities as can be justified through accepted methods of rigorous inquiry. Appeals to
divine will, to a realm of values, to faculties of ethical perception and ,pure practical
reason‘, have to go. Pragmatic Naturalism engages with the religious entanglement of
ethics more extensively than is usual in secular philosophical discussion – for the
pragmatist reason that the entanglement pervades almost all versions of ethical life. Yet, in
accordance with its naturalist scruples, it cannot maintain the image favored by those who
would ground ethics in the divine will. [...], there are powerful reasons to suppose, even if
there were any deity, ethics could not be fixed by its (his? her?) tastes. More
fundamentally, pragmatic naturalism maintains that, when religion is understood as a
historically evolving practice, it is overwhelmingly probable that all the conceptions of a
transcendent being ever proposed in any of the world’s religions are false. For the
conceptions introduced in the various religions are massively inconsistent with one
another. [...] If there are beings of hitherto unrecognized sort, approximating some idea of
the ,transcendent‘, we have every reason to think we have absolutely no clues, or
categories, for describing them.“450
Auch Kitcher reiht sich also ein in die Absage an die Möglichkeit begrifflichen Wissens
bezüglich unbedingter Sachverhalte, nicht nur, aber vor allem in normativen
Zusammenhängen, und betont wie Pinkard und Johnston die notwendige
Widersprüchlichkeit, in die wir uns mit solchen begrifflichen Annäherungen bringen
müssten. Anders als diese begreift Kitcher solche Bezugnahmen, vor allem religiöse, nicht
als eine „ursprüngliche Sünde“, sondern spricht ihnen in ihrer Entstehung im
450
Kitcher, Philip: The Ethical Project, Cambridge, MA/London England: Harvard University Press, 2011,
Seite 3.
209
funktionalistischen Sinne primär eine positive Wirkung zu. Allein es sei der Fall, dass im
Fortschreiten des ethischen Projektes diese Unbedingtheitsannahmen ihre positive
Wirkung verloren haben, nicht zuletzt deshalb etwa, weil sie in einer Welt, in der nun auf
globaler Ebene, d.h. interkulturell, nach gemeinsamen Regeln zur Fortführung des
ethischen Projektes gesucht werden muss, Normen nicht mehr in widersprüchlichen und
Uneinigkeit hervorbringenden Unbedingtheitskonzeptionen begründet werden können.
„Religious entanglement in ethical practice is no accident. [...], appealing to gods as
,guardians of morality‘ can bring social benefits. Nevertheless, the appeal has distorted the
ethical project. Undoing the distortions is not simply a matter of eradicating religion,
hacking out the places where false belief has intruded. A secular renewal of the ethical
project requires constructive work, positive steps going beyond brusque denial.“451
Ob und wie erfolgreich Kitcher in seinem Versuch und seiner Argumentation dieser von
ihm wahrgenommenen Aufgabe im Detail gerecht wird, steht hier nicht zur Debatte.452
Vielmehr will ich im Kontext des von mir vorgeschlagenen Moralbegriffes anmerken, dass
auch Kitchers als permanenter Prozess verstandenes ethisches Projekt stets von einer
praktischen Haltung der an ihm teilnehmenden Subjekte abhängig bleibt, in der sie gewillt
sind, die ethischen Regeln zur Überwindung altruistischer Fehlbarkeit immer wieder neu
hervorzubringen, zu kritisieren und weiterzuentwickeln. Dies wird bei Kitcher selbst
explizit deutlich, wenn er die ethische Methode und die diskursiven Regeln beschreibt,
durch deren Einhalten seiner Ansicht nach die Möglichkeit einer erfolgreichen Verfolgung
des Projektes überhaupt besteht.453 Als Inbegriff der seiner ethischen Methodik und den in
dieser anzuwendenden Regeln zugrunde liegenden Haltung benutzt er den Ausdruck
„mutual engagement“.454 Bereits für die Anerkennung des methodischen Verfahrens muss
die Bereitschaft und die Fähigkeit der Diskusteilnehmer vorausgesetzt werden, das
„incurvatus in se“ im Sinne des „mutual engagement“ zu überwinden. Diese Bereitschaft
kann aber nicht selbst wiederum in einer ethischen Methodik, ethisch-diskursiven Regeln
oder sonstigen Reflexionen begründet liegen, sondern muss diesen immer schon
vorausgehen. Genau in diesem Sinne hat auch de Vries in seiner Kritik an der von Kitchers
methodologischen Vorstellungen nicht allzu weit entfernt liegenden habermasschen
Diskursethik und mit Verweis auf Kodalle deutlich gemacht: „Denn sowohl der Antrieb zu
und das Verlangen nach Interaktion, als auch deren Qualität stammen nicht aus der
universalistischen Vernunft selber [Hervorhebungen im Original; T. W.].“455 Oder, noch
einmal in anderen Worten: „Man hat überdies mit Recht darauf hingewiesen, dass die von
451
Ebd., Seite 4f.
Dazu Baurmann, Michael/Leist, Anton (Hrsg.): Analyse und Kritik, 2012 (34) Heft 1, Symposium on
Philip Kitcher, The Ethical Project; sowie Derpmann, Simon/Düber, Dominik/ Rojek, Tim/ Schnieder,
Konstantin: “Can Kitcher Avoid the Naturalistic Fallacy?”, in: Marie I. Kaiser/Ansgar Seide (Hrsg.): Philip
Kitcher – Pragmatic Naturalism, Heusenstamm: ontos verlag, 2013, Seite 61.
453
Vgl. Kitcher (2011), Seite 330ff.
454
Ebd., Seite 342.
455
de Vries (1989), Seite 38.
452
210
Habermas betonte ‚zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftender Kraft
argumentativer Rede‘ nicht selber theoretisch explizierbar ist. Innerhalb des theoretischen,
aber auch innerhalb des praktischen Diskurses sowie innerhalb der ästhetischen und
therapeutischen Kritik kann der Trieb oder die Bereitschaft zur Argumentation nicht selber
aufs neue argumentativ plausibel gemacht werden [Hervorhebungen im Original; T.
W.].“456
Dass diese Bereitschaft meines Erachtens sehr wohl argumentativ plausibel gemacht
werden kann, wenn sie auch nicht erst durch diese Plausibilisierung hervorgebracht wird,
habe ich bereits herausgestellt. Sie ist argumentativ zu plausibilisieren, wenn wir sie als
Folge unserer Natur als interessierte, erlebende und freie sowie nach einem befriedigenden
Leben in Adäquanz zur natürlichen und sozialen Umwelt suchende Subjekte voraussetzen;
wozu wir allen Grund haben. Ich habe diese Bereitschaft als individuelles moralisches
Interesse bezeichnet. Die Frage ist hier, inwiefern wir auch über diese Bereitschaft hinaus,
zu der angesprochenen praktischen bzw. moralischen Haltung wirklich fähig sind. Ich will
den Wert von Kitchers Auseinandersetzung mit der menschlichen normativen Praxis und
ihren Ursprüngen hier nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern nur deutlich machen,
dass die ethische Problematik unseres Lebens nicht allein über die Diskussion, Setzung
und Weiterentwicklung von normativen Regeln zu lösen ist, sondern, wie es meines
Erachtens auch in den Überlegungen von Pinkard und Johnston klar wird, von einer nichtdiskursiven und vor-diskursiven, folgt man der in dieser Arbeit entwickelten Vorstellung,
sogar vor-reflexiven, vor-kognitiven und vor-evaluativen Ebene individuellen Verhaltens
abhängig bleibt. Und diese Ebene ist nicht im Mindesten von geringerer praktischer
Bedeutung als das, was wir aus den in dieser gründenden Antrieben heraus in unserem
diskursiven Verhalten normativ machen. Und ich halte es durchaus im pragmatischen
Sinne für angezeigt, theoretisch zu thematisieren, wie die hier in Frage stehende praktische
Haltung als eine ihrer Wirklichkeit nach mögliche gedacht werden kann; d.h., nach den
Bedingungen ihrer Möglichkeit und deren Objektivität zu fragen.
Denn moralisches Verhalten kann nur dann sinnvoll als oberste Norm gesellschaftlichen
Zusammenlebens verstanden, d.h. reflexiv vermittelt werden, wenn auch die Bedingungen
seiner möglichen Wirklichkeit einsichtig gemacht werden können und damit der
teleologischen Suffizienz-Bedingung theoretisch Genüge getan wird. Kitcher setzt diese
Problematik als gelöst voraus. In der Auseinandersetzung mit Johnston wurde aber
deutlich, dass dies keineswegs der Fall ist und auch Johnstons Lösungsversuch, soweit ich
sehe, fehlgeschlagen ist. Aber Kitcher kann sich dieser Problematik in seinem aus
antireligiöser in eine antimetaphysische Haltung übergehenden Naturalismus auch gar
nicht wirklich stellen, weil sie, wie bei Johnston deutlich geworden, reflexive
Bezugnahmen metaphysischer Art notwendig werden lässt, die Kitcher in seiner
456
Ebd., Seite 44.
211
naturalistischen Programmatik aus dem theoretischen Diskurs gerade verbannen möchte.
Damit ist er weiß Gott nicht allein. Der mit Habermas’ Worten als „nachmetaphysisches
Denken“ bezeichenbare Zeitgeist der Philosophie hat die Ablehnung der Metaphysik in
einem Maße um sich greifen lassen, von dem ich mit de Vries einer Meinung bin, dass es
sprichwörtlich das Kind mit dem Bade ausschüttet.457
Ich stelle nicht völlig gerechtfertigte Kritiken an unhaltbaren metaphysischen Theorien in
Frage, doch aber eine meines Erachtens oberflächliche und vorurteilsbeladene Ablehnung
einer Ebene menschlicher Reflexion, um die selbst die Naturwissenschaft nicht
herumkommt. Leonard Nelson hat in seinem Aufsatz Ist metaphysikfreie Wissenschaft
möglich? zu Recht bemerkt: „Wer die Metaphysik aus der Wissenschaft eliminieren will,
der liefert, da ohne Metaphysik überhaupt nicht geurteilt werden kann, die Wissenschaft
an irgendeine Metaphysik außerhalb der Wissenschaft aus, d.h. der spielt, ohne es zu
wissen und zu wollen, die Wissenschaft dem Mystizismus in die Hände. Das sollten
diejenigen beizeiten bedenken, denen die Sache der Wissenschaft und der Aufklärung
am Herzen liegt.“458 In diesem Sinne setzt auch Kitcher praktisch etwas voraus, das
er theoretisch nicht thematisieren will. Natürlich ist keiner zu einer solchen
Thematisierung gezwungen, aber es schadet der Wissenschaft auch nicht; mit Nelson
würde ich sogar das Gegenteil behaupten. Von daher halte ich, nicht nur im inhaltlichen
Zusammenhang dieser Arbeit – und dieses Abschnittes insbesondere –, Johnstons
metaphysische Problematisierung des „incurvatus in se“ für eine wichtige Öffnung des
theoretischen Diskurses.
Ein Problem in der Argumentation Johnstons besteht jedoch im Festhalten an dem auch
von Kitcher zentral gesetzten Begriff des Altruismus. Johnstons „radical altruism“ setzt zu
seiner Verwirklichung die Vorstellung eines selbstlosen Individuums voraus, eine
Vorstellung, die meines Erachtens unserer Natur objektiv widerspricht. Hat Kant das
individuelle Selbst unsterblich machen wollen, um es der Erfüllung seines „moralischen
Gesetzes“ mächtig werden zu lassen, so versucht Johnston in gewisser Weise anders
herum, die Möglichkeit der Erfüllung des „radical altruism“, der agape, durch die
Negation dieses individuellen Selbst theoretisch einsichtig zu machen. Dies wird im
Rahmen seiner Diskussion der Unsterblichkeit deutlich: „Indeed, legitimate naturalism
itself opens up an intriguing theological possibility. Most surprisingly, the way beyond
death can be found in naturalism’s denial of the soul, that is, in the empirical discovery
that at the core of our mental lives there are no separately existing entities, distinct from
our brains and bodies, whose persistence constitutes our personal identity over time. The
realization that there is no separately existing entity distinct from our brains and bodies can
457
Vgl. ebd., Seite 14.
Nelson, Leonard: Ist metaphysikfreie Wissenschaft möglich?, in: ders.: Gesammelte Schriften in neun
Bänden, Dritter Band, 1974, Seite 281.
458
212
be seen to lead to the discovery that our personal identity over time is actually secured by
certain patterns of personal identification with what then become our future selves. [...]
The demise of the soul, and hence of the self, means that the extent and focus of one’s
special concern is not antecedently justified by an independently persisting entity that itself
determines the temporal and spatial extent of who we are. Rather, our temporal and spatial
extent is determined by our pattern of special concern. This is the new ,Copernican
Revolution‘ induced by naturalism’s (re)discovery that there is no self behind our mental
functioning.“ 459 In dieser Negation des Selbst sieht Johnston eine Bestätigung der
Möglichkeit einer irgendwann einmal von agape erfüllten Wirklichkeit. Diese
Selbstlosigkeit wird ihm zur natürlichen Möglichkeit einer Identifizierung mit allen
anderen, auch zukünftigen Individuen, in der das Individuum sein „incurvatus in se“ hinter
sich lassen und sich schließlich sogar als unsterblich verstehen könne. „In any case, we can
now see how it could be that Christ is resurrected as ,the first fruit‘ of the collective victory
over death of those who are truly good. Christ conquers death on our behalf by ideally
exemplifying agape, and stimulating it in us.“460
Johnston scheint mir, wie zum Beispiel auch Thomas Metzinger in Being No One und
viele andere mehr, fälschlicherweise davon auszugehen, dass die Frage nach dem
individuellen Selbst mit der Negation eines identischen Kernes im Prinzip geklärt ist, und
zwar negativ. Ich halte einen solchen Schluss mindestens für eine Ungenauigkeit in der
reflexiven Betrachtung von Individualität und eine unbegründete Reduzierung des Selbst
auf ein aus reflexiver Tätigkeit hervorgehendes Konstrukt. An anderer Stelle dieser Arbeit
habe ich bereits meiner eigenen Position Ausdruck verliehen, dass ich ebenfalls nicht von
der Annahme einer identischen individuellen Seele ausgehe. Ich sehe darin jedoch keinen
Grund, einem Individuum damit auch schon ein Selbst abzusprechen. Vielmehr verstehe
ich, letztlich nicht viel anders als Aristoteles, das Selbst gerade als das jeweilige
Individuum, als der jeweilige raumzeitlich sich ausdehnende individuelle Lebensprozess,
mag er sich selbst reflektieren oder nicht. Individualität setzt keine Identität voraus, reicht
aber völlig dazu hin, einen meines Erachtens durch Reflexionen nicht aus der Welt zu
schaffenden Begriff eines natürlichen Selbst deutlich werden zu lassen.
Jeder Organismus ist ein solches individuelles Selbst, im Falle des Menschen eines, das
sich darüber hinaus als ein solches individuell reflektieren kann. Dass mein individuelles
Dasein als interessiertes, erlebendes und freies Subjekt nicht durch den Begriff der
Identität treffend zu erfassen ist, sondern einen individuellen Prozess und Veränderung
bedeutet, hindert mich, d.h. diesen individuellen Prozess, der ich bin, in keiner Weise
daran, sich selbst als diesen individuellen Prozess und damit als ein individuelles Selbst zu
reflektieren, das nicht niemand, sondern jemand werdend ist; und das auch dann, wenn es
459
460
Johnston (2009), Seite 184f.
Ebd., Seite 186.
213
sich in Zuständen befindet, in denen es sich nicht selbst reflektiert. Solange dieser
Organismus, der ich auch bin, lebt, lebt auch mein Selbst, lebe und existiere ich. Auch
Johnston kommt in der Vorstellung der Selbstüberwindung nicht ohne dieses Selbst aus,
sondern muss es als dasjenige, das sich mit anderen identifiziert, stets voraussetzen. Weil
es meines Erachtens dieses individuelle Selbst jeweils objektiv und wirklich gibt, noch
dazu, wie ich argumentiert habe, in seinem Kern als ein zweckfreies Interesse am
individuellen Erleben, halte ich seine Negation und die Behauptung einer Selbstlosigkeit
letztlich für ein an unserer Natur vorbeigehendes Gedankenspiel; damit aber auch das
durch dieses für Johnston scheinbar ermöglichte Festhalten an der wie auch immer
bewirkten Verwirklichung der agape als „radical altruism“ und die dadurch anvisierte
Überwindung des „incurvatus in se“. Ein solcher „radical alturism“ ist für unsere Natur
nicht weniger illusorisch als Kants Konzeption der Moral.
Es müsste schon ein wahrlich messianisches Wunder geschehen, damit sich daran etwas
ändert. In seiner Argumentation verpasst Johnston auch eine, meiner Ansicht nach überaus
zentrale Pointe der Geschichte Christi. Und diese besteht in nichts anderem als der
Vorstellung der Erfüllung der teleologischen Suffizenzbedingung. Denn gegenüber der
jüdischen Erwartung des erst noch kommenden Messias, bedeutet die Geburt Christi, dass
dieser bereits erschienen ist. Christi Geburt kann verstanden werden als der Hinweis, dass
uns alles Notwendige offenbart ist, oder weniger religiös gesprochen, alles nötige Wissen
und vor allem alle Fähigkeit zur Verfügung steht, um ein „sündloses“ Leben zu führen.
Wir können erfüllen. Dennoch gilt es, so denke ich, beide Momente, das jüdische „Nochnicht“ und das christliche „Schon“ zu bewahren: Christus bedeutet die Fähigkeit, erfüllen
zu können, der Messias, dass sich immer erst noch zeigen wird, in welchen konkreten
Anforderungen diese Fähigkeit je immer wieder neu zu verwirklichen ist; die situative
Angemessenheit bedeutet nicht auch schon die völlige Angemessenheit. Bei alldem ist
jedoch entscheidend, die Begriffe von dem, was es zu erfüllen gilt, nicht in etwas bestehen
zu lassen, was unserer bedingten Natur wegen unerreichbar sein muss. In Hinsicht auf das
„incurvatus in se“ heißt dies, dass dessen Überwindung nicht in einer gottgleichen,
unbedingten Liebe, der agape, gesucht werden kann, sondern vielmehr nach einem
Verständnis dieses Problems Ausschau zu halten wäre, das unserer bedingten Liebe
gerecht zu werden vermag. Die Kritik an Johnstons Auflösung des „incurvatus in se“
bedeutet jedoch nicht, dass ich von meiner anfänglichen Zustimmung abrücke, dass wir
dieses im Rahmen des moralischen Verhaltens nicht aus uns selbst heraus auf
befriedigende Weise in den Griff bekommen können.
Um zu einer theoretisch gangbaren Lösung zu gelangen, scheint mir die
Auseinandersetzung mit Nietzsche und sein unablässiges Festhalten am Individuum ein
fruchtbarer Ausgangspunkt zu sein; auch wenn ich den Eindruck habe, dass Nietzsche am
Ende zu sehr selbstisch geblieben ist. „Der Fortschritt in der Moral bestünde in dem
Überwiegen altruistischer Triebe über egoistische und ebenso der allgemeinen Urtheile
214
über die individuellen? Ist jetzt der locus communis. Ich sehe dagegen das Individuum
wachsen, welches seine wohlverstandenen Interessen gegen andere Individuen vertritt
(Gerechtigkeit unter Gleichen, insofern es das andere Individuum als solches anerkennt
und fördert); ich sehe die Urtheile individueller werden und die allgemeinen Urtheile
flacher und schablonenhafter werden.“461 Johnston hat die Allgemeinheit der Urteile fallen
gelassen, nicht aber das Primat des Altruismus. Ich hingegen verstehe mit Nietzsche das
moralische Verhalten, das den Wert und die Würde sowie Gleichheit und Gerechtigkeit als
Prinzipien in jeweilig konkreten Situationen zu verwirklichen sucht, nicht primär als ein
altruistisches, sondern, wenn man so will, als ein ausgewogenes Verhältnis egoistischer
und altruistischer Tendenzen. Um mit Nietzsche einem unserer individuellen interessierten
Natur gerecht werdenden Verständnis dieses Verhaltens näher zu kommen, gilt es
zunächst, dieses als ein dem jeweiligen individuellen Interesse entsprechendes Verhalten
zu begreifen, und nicht als ein Verhalten selbstloser Subjekte. Der entwickelte Begriff des
individuellen moralischen Interesses bedeutet genau dies.
Doch wie uns etwa ein mögliches Interesse an der individuellen Unsterblichkeit nicht auch
schon unsterblich macht, ist mit dem individuellen Interesse am eigenen moralischen
Verhalten nicht auch schon seine Wirklichkeit gegeben. Noch einmal: Für Moralität bzw.
moralisches Verhalten im hier verstandenen Sinne ist es entscheidend, dass im Falle eines
Interessenwiderspruches die physische und psychische Macht der beteiligten Subjekte
allein in einer freiwilligen Annäherung und Modifikation der jeweiligen individuellen
Interessen ihren Ausdruck findet. Wie aber kann vor diesem begrifflichen Hintergrund die
Möglichkeit einsichtig gemacht werden, dass wir die problematisierte Asymmetrie unseres
Interessiert-Seins, wenn nicht verlassen, so doch aber uns in einer wirklichen Haltung
begegnen können, die nicht darauf hinausläuft, dass es am Ende die kontingente
Verteilung physischer und psychischer Macht ist, die darüber entscheidet, wie
Interessenskonflikte aufgelöst werden. Wir müssen uns dazu der Wirklichkeit nach in eine
Haltung bringen können, in der wir die kontingente Asymmetrie individueller Macht im
Sinne des moralischen Verhaltens zu wenden in der Lage sind. Wir müssen der
Wirklichkeit nach unseren eigenen Wert und unsere eigene Würde weder über noch unter
die des anderen stellen. Diese Wirklichkeit kann jedoch nicht die unseres jeweiligen
individuellen Interessiert-Seins allein sein. Denn in diesem sind wir jeweils immer nur der
Wert und die Würde unserer selbst. Aus bloßer Individualität heraus mögen wir dazu fähig
sein, unsere Interessen anderen gegenüber über- oder unterzuordnen, auch fähig sein,
Kompromisse zu finden. Aber es wird nicht ersichtlich, wie wir in dieser interindividuellen
Interessenanpassung dem Spiel der Macht aus uns selbst heraus entgehen können und in
intersubjektiver Reziprozität wirklich den Wert und die Würde unserer selbst und des
jeweils konkreten Anderen gleichwertig ins Zentrum unseres Verhaltens stellen und eine
moralische Auflösung des Interessenwiderspruches hervorbringen können; außer vielleicht
461
Nietzsche zitiert nach Zachriat (2001), Seite 159.
215
dem Ergebnis nach durch einen unwahrscheinlichen Zufall. Aber es soll hier ja gerade
nicht um einen Zufallsprozess gehen, sondern um ein Verhalten, das in unserer Macht
steht, das wir als eine konkrete Option unserer Freiheit verstehen können; wenn auch nicht
um eines, das wir aus uns alleine heraus erfüllen könnten.
Eine Lösung dieses Problems scheint sich mir theoretisch dann zu eröffnen, wenn wir zu
jenem, in dieser Arbeit immer wieder betonten zweckfreien individuellen Interesse am
Erleben, jenem innersten Interesse überhaupt zurückkehren, das ich auch als das zwar
grund-lose, doch aber grund-legende Interesse jedes individuellen interessierten Daseins
bezeichnet habe.462 Die Grund-losigkeit bedeutet, dass es weder aus einer äußeren Ursache
noch aus einem inneren Grund auf befriedigende Weise erklärt werden kann, aber als je
individuelles Ergreifen der Möglichkeit interessierten Daseins überhaupt an diese als eine
Wirklichkeit zurückverwiesen bleibt. Die Potentialität interessierten Daseins ist nicht die
eines bestimmten individuellen interessierten Daseins, sondern die aller jemals diese
Möglichkeit wirklich ergreifenden Individuen. Diese Potentialität kann dabei offenbar in
den unterschiedlichsten, evolutionär bedingten Formen ergriffen werden, ist somit die
Potentialität eines Dass interessierten Daseins, nicht aber die eines bestimmten Was. Sie
lässt es unbestimmt, wie sich ihr jeweils individuelles Ergreifen manifestiert und
entwickelt, lässt Raum und Zeit zur Evolution. Die Potentialität interessierten Daseins
macht keinen Unterschied zwischen den Formen ihres Ergriffen-Werdens, sie sind in ihr
gleichwertig, so aber auch ein jedes interessiertes Individuum. Ich halte es in diesem
Zusammenhang durchaus für gerechtfertigt, den Wertbegriff zu gebrauchen, wenn man
sich auch vor einer Anthropomorphisierung desselben hüten sollte. Denn die Potentialität
interessierten Daseins ist keine diesem gegenüber indifferente Wirklichkeit, sondern
bedeutet ja gerade positiv seine Möglichkeit. Sie ist jedoch neutral gegenüber den Formen,
in denen sie ergriffen wird.
Wenn das zweckfreie individuelle Interesse am Erleben nun aber nichts anderes heißt, als
ein wirkliches Ergreifen und wirkliches Interesse an der Möglichkeit interessierten Daseins
überhaupt, diese aber zugleich die Möglichkeit jedes konkreten interessierten Individuums
ist, das in dieser seinem Dasein nach den gleichen Wert wie je alle anderen besitzt, dann
bedeutet eine Konzentration auf unser innerstes Interesse eine Konzentration auf die
Potentialität interessierten Daseins überhaupt – damit aber die Konzentration auf eine
Wirklichkeit, in der es keine Wertunterschiede zwischen interessierten Individuen gibt. So
wird unsere Haltung in dieser Konzentration von dieser Qualität maßgeblich geprägt.
Zugleich bedeutet diese Konzentration offensichtlich kein interesseloses, sondern ein
interessiertes Verhalten, noch dazu eines, welches das allen anderen, jeweils individuellen
Interessen zugrunde liegende Interesse ins Zentrum stellt. In dieser Konzentration wird
also nicht von allen Interessen überhaupt Abstand genommen, sondern gerade Partei für
462
Vgl. Seite 112ff. dieser Arbeit.
216
das grund-legende Interesse unseres individuellen Daseins selbst ergriffen. Es handelt sich
hier also nicht um eine unparteiische Haltung, aber um eine, in der wir unseren
ursprünglichen Wert nicht über, aber auch nicht unter den Wert unseres Gegenübers
stellen. Auch handelt es sich weder um Egoismus noch um Altruismus, sondern um
Moralität, verstanden in eben diesem Sinne. Alle sonstigen Interessen werden in der
beschriebenen Konzentration prinzipiell relativiert, disponibel gemacht und somit im Falle
intersubjektiver Interessenswidersprüche zu einer Anpassung freigegeben.
Zwei Individuen, die in einer so konzentrierten Haltung je ihr eigenes Dasein und das des
anderen gegenseitig und gleichwertig ins Zentrum ihres Verhaltens stellen, haben alle nur
denkbaren Möglichkeiten, zu einer moralischen Auflösung ihres Interessenstreites zu
gelangen. Zwar können sie ihre sonstigen Interessen nicht einfach hinter sich lassen, aber
es ist der Wirklichkeit nach alle Freiheit gegeben, im Sinne Nietzsches mit vorsichtigem
Abtasten, Gerecht-Werden und Erkennen der eigenen und fremden Grenzen,
gegenseitigem Respektieren, mit Feinfühligkeit, Empfindsamkeit und Leidensfähigkeit
nach einer Lösung des Interessenwiderspruches zu suchen, ohne den jeweils anderen zu
unterdrücken. Die je individuelle Konzentration auf das grund-legende und zweckfreie
Interesse am Erleben bedeutet nicht, die Interessen des anderen zu den eigenen zu machen,
sondern sie ins Spiel und zu einem Ausgleich mit den eigenen Interessen zu bringen; ein
Spiel, das nicht durch Macht, sondern durch gegenseitige und ebenbürtige Wertschätzung
geprägt ist. Der Ausdruck Konzentration bekommt in diesem Zusammenhang eine
tiefergehende Bedeutung. Er bedeutet dann eine Konzentration. Unserem jeweiligen
grund-legenden Interesse nach sind wir alle immer schon konzentriert.
In dieser Konzentration aber sind und bleiben wir auf die Potentialität interessierten
Daseins überhaupt verwiesen. Aus uns allein heraus könnten wir weder existieren noch uns
moralisch verhalten. Die Potentialität interessierten Daseins ist dabei aber nicht, wie etwa
Johnstons Gott, als Retter, Erlöser oder Heiland zu verstehen, sondern eben als eine
Potentialität. Wir bleiben in unserer Existenz als interessierte, erlebende und freie Subjekte
darin frei, die in dieser liegende Möglichkeit moralischen Verhaltens zu ergreifen, wann
immer wir in Interessenswidersprüche mit anderen geraten. Auch ist die Potentialität
interessierten Daseins, wiederum anders als bei Johnston, nicht als etwas zu verstehen, das
„outside our fallen natures“ liegt; also auch nicht als eine „metaphysische Dimension der
Exteriorität“, nach der de Vries Ausschau gehalten hat. 463 Die Potentialität
interessierten Daseins ist weder außerhalb noch innerhalb unserer individuellen Natur,
ist weder Exteriorität noch Interiorität, sondern eine Ateriorität. Sie hat keine
Raumzeit, sondern ist ein raumzeitloser Punkt, ist eine absolute oder unbedingte
Wirklichkeit. Als eine raumzeitlose Wirklichkeit aber ist die absolute Potentialität
463
Vgl. Seite 155 dieser Arbeit.
217
dimensional unermesslich und kann am Ende nur gedacht werden als die unbedingte
Möglichkeit bedingter Existenz überhaupt.
Würde sie als bedingte Möglichkeit gedacht, so wäre dieser eine unbedingte Möglichkeit
ihrer selbst vorauszusetzen, in der das der bedingten Möglichkeit nach Mögliche selbst
enthalten sein müsste. Es macht in existenzieller Hinsicht deshalb keinen Sinn, der
unbedingten Möglichkeit im Verhältnis zu bedingter Existenz eine bedingte Möglichkeit
sozusagen zwischenzuschalten. Die Möglichkeit des Dass bedingter Existenz ist stets als
unbedingt und selbst als eine Wirklichkeit zu denken. Das Was oder Wie bedingter
Existenz kann hingegen sehr wohl bedingt gedacht werden, es kann durch äußere
Bedingungen geprägt oder bestimmt sein. Für interessierte, erlebende und freie Subjekte
aber gilt, wie ich weiter oben deutlich gemacht habe, dass sie, wenn auch ihrer
evolutorischen Form nach, nicht aber als solche aus äußeren Bedingungen heraus erklärt
werden können. Sie sind in direkter Weise auf die absolute Potentialität bezogen. Die
Potentialität interessierten Daseins aber wäre damit als die absolute Potentialität bedingter
Existenz überhaupt zu denken. Das Verhältnis der absoluten Potentialität zur bedingten
Existenz interessierter, erlebender und freier Subjekte kann, auch das habe ich weiter oben
bereits ausgeführt, nicht als eines zwischen einem Schöpfer und einem Geschöpf gedacht
werden. Denn als ein Schöpfer bleibt dieser seinem Geschöpf eine äußerliche Ursache und
kann den inneren Grund, das grund-legende zweckfreie individuelle Interesse am Erleben
nicht erklären; würde es meines Erachtens im Gegenteil vielmehr verklären.
Gunnar Hindrichs hat in Das Absolute und das Subjekt in ähnlicher Weise auf diesen
Zusammenhang aufmerksam gemacht. Das individuelle Subjekt könne sich nicht selbst
begründen und müsse daher am Ende sein Sein als ein „Sein in einem anderen
verstehen“.464 Doch dieses Verhältnis sei durch eine Merkwürdigkeit geprägt. „Das Sein in
einem anderen entzieht sich seiner gewohnten Bestimmung, obgleich es dem
Bestimmbaren verwandt ist. Denn einerseits stimmt das Verhältnis von Begründetem und
Grund nur insofern überein, als auch das Begründete seinen Stand erst durch seinen Grund
gewinnt; andererseits aber ist das Verhältnis des Subjekts zu dem, in dem es ist, gerade
kein Verhältnis zwischen Begründetem und Grund. Auch hier benötigen wir eine
vorläufige Bezeichnung dieses abnormen Verhältnisses. Der Begriff eines unbegründeten
Verhältnisses des letzten Grundes aller Begründungen [das ist das individuelle Subjekt; T.
W.] zu einem Ungrund kann uns zu dieser vorläufigen Bezeichnung dienen.“465 An anderer
Stelle beschreibt Hindrichs diesen „Ungrund“ als einen Bezugspunkt, an dem das Subjekt
hängt und an dem allein es seinen Stand gewinnt.466 „Das Subjekt ist – positiv – bezogen
464
Hindrichs, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2008, Seite
290.
465
Ebd., Seite 291f.
466
Vgl. ebd., Seite 318ff.
218
auf das, in dem es ist, und es bleibt – negativ – von ihm geschieden, da das, in dem es ist,
seine grundlegende Andersheit behält.“467 Diese Andersheit versteht Hindrichs auch als
Entzogenheit. „Das Positive der Beziehung – das „in“ – birgt so das Negative der
Entzogenheit [...] in sich.“468 Weiter schreibt Hindrichs: „Die Beziehung gegenseitigen
Andersseins [...] entfaltet somit die anwesende Abwesenheit. Die anwesende Abwesenheit
aber ist das Geheimnis. Die Beziehung gegenseitigen Andersseins muß demnach als die
Beziehung des Subjektes auf ein Geheimnis verstanden werden.“469
Hier scheint mir Hindrichs letztlich nicht weit von der Position von Hent de Vries entfernt
zu liegen, der in Theologie im Pianissimo & Zwischen Rationalität und Dekonstruktion
ebenfalls von einem Absoluten schreibt, das sich uns entzieht und doch irgendwie auch
nicht; etwas, das gedacht und doch wieder nicht gedacht werden kann.470 Beide wehren
sich in diesem Verständnis dagegen, ihre Bezugnahmen auf ein Absolutes mit positiven
Prädikationen zu verbinden. De Vries sieht diese Absage mit Habermas als integrativen
Aspekt der kulturellen Moderne und sagt: „Wer auf religiöse und metaphysische
Wahrheiten zurückfallen möchte, verlässt ipso facto den philosophischen Diskurs, der die
Moderne begleitet.“471 Soweit ich sehe, fallen für de Vries sowie für Hindrichs auch
Existenzaussagen unter dieses Prädikationsverbot. Und auf genau eine solche habe ich hier
nicht verzichtet, sondern von der Wirklichkeit der absoluten Potentialität gesprochen, man
könnte aber auch sagen von ihrer Existenz. Ich kann hier erst einmal nur offen zugestehen,
dass mir kein Grund für das Verbot einer diesbezüglichen Existenzaussage ersichtlich
wird. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um beliebige metaphysische Existenzaussagen,
sondern um eine ganz bestimmte, nämlich die bezüglich einer absoluten Potentialität. Bei
de Vries fällt es mir schwer, eine wirkliche Begründung für ein Verbot dieser speziellen
Aussage ausfindig zu machen. Er konstatiert vielmehr bloß, als dass er begründet: „Ein
Absolutes aber, das nicht länger dem höchsten Sein ähneln oder es repräsentieren kann und
darf, sondern in gewisser Weise eben nicht ‚ist‘, werden wir wohl als Ab-solutes benennen
müssen. In einem etymologischen Sinne wäre es das sich jedem festen oder definitiven
Bedeutungskontext Entringenden.“ 472 Das Verbot bezieht er auf einen Begriff des
Absoluten als „dem höchsten Sein“.
Ich spreche im Gegensatz dazu nicht von einem „höchsten Sein“, sondern von einer
absoluten Potentialität. Sie ist absolut, insofern sie unbedingt ist. Ich verstehe sie als die
Bedingung bedingter Existenz überhaupt. Das steht für mich in keinem Kontext mit
„Höhe“ oder ähnlichen Begriffen. So sehe ich etwa auch nicht, inwiefern mit der absoluten
467
Ebd., Seite 319.
Ebd., Seite 317.
469
Ebd., Seite 321.
470
Vgl. de Vries (1989), Seite 1ff.
471
Ebd., Seite 38f.
472
Ebd., Seite 2.
468
219
Potentialität in irgendeinem nachvollziehbaren Sinne, wie etwa in der Scholastik, im
Bezug auf ein höchstes Sein die Vorstellung verbunden sein sollte, dass dieses mehr oder
eigentlicher existiere als bedingt Existierendes. Anders herum sehe ich ebenso nicht, wieso
letzteres weniger existieren sollte als erstere. Der Unterschied liegt meiner Ansicht nach
primär darin, dass die absolute Potentialität in ihrer Existenz unabhängig von bedingter
Existenz ist, während dies anders herum nicht gilt; was dem Sachverhalt nicht
entgegensteht, dass die absolute Potentialität bedingter Existenz trotz ihrer Unabhängigkeit
als deren Potentialität stets auf bedingte Existenz bezogen ist. Wenn man aus dieser
Unabhängigkeit nun ein „Höher“ oder, wie Hindrichs dies tut, ein „Über“ machen möchte,
so kann man dies tun. Der Klarheit zuliebe will ich es lieber vermeiden.473 Welchen Grund
aber kann es geben, etwas, von dem ich mich in meiner Existenz als abhängig denken
muss, nicht ebenso wie mir selbst Existenz zuzusprechen?
Mir will auch nach reiflicher Überlegung kein Grund ersichtlich werden. Ich gehe in
diesem Gedankengang den gleichen Weg wie Hindrichs und versuche nicht, zur absoluten
Potentialität über den Gedanken eines notwendigen Seins, über den ontologischen
Gottesbeweis zu gelangen. Ich beschränke mich wie er darauf, „daß das Subjekt seine
eigene Verfasstheit zu Ende denkt“, das aber heißt die seiner Existenz.474 In diesem ZuEnde-Denken kann das Subjekt am Ende, wenn es den ganzen Weg gegangen ist, nicht
anders, als sich in „die abnorme Beziehung zu seinem Ungrund“ zu setzen.475 Dem stimme
ich zu. Was ist nun aber für Hindrichs der Grund dafür, diesem Ungrund nicht auch
Existenz zuzusprechen? Ich kann dies hier nur kurz skizzieren. Der Grund, soweit ich das
sehe, liegt für ihn in dem Abnormen der Beziehung zwischen dem Subjekt und seinem
Ungrund sowie im Abnormen des Ungrundes selbst. Das Normale ist für Hindrichs die
bestimmend tätige Existenz des Subjektes als ein Ordnen, Begründen und Machen. Aber
die Beziehung zwischen Subjekt und Ungrund sowie der Ungrund selbst seien eben nicht
durch diese normalen Bestimmungen zu erfassen, sind kein Ordnen, Begründen und
Machen. „Wir verfehlten also geradewegs das, was sich uns als der Kern jener Abnormität
erwiesen hatte: den grundsätzlichen Durchbruch durch die normalen Bestimmungen.“476
Deswegen seien Analogieschlüsse von der Existenz des Normalen auf die Existenz des
Ungrundes nicht zulässig.
Nun hält sich Hindrichs in diesem Schluss meines Erachtens nicht ganz an die
Zwischenergebnisse seiner eigenen Untersuchung.477 Denn in diesen macht er deutlich,
dass das ordnende Sein des Subjektes selbst nicht innerhalb seiner Ordnungen steht,
sondern ein außerordentliches ist; dass das begründende Sein des Subjektes nicht innerhalb
473
Vgl. Hindrichs (2008), Seite 320.
Ebd., Seite 325.
475
Ebd.
476
Ebd., Seite 315.
477
Vgl. ebd., Achtes bis Elftes Kapitel.
474
220
seiner Begründungen steht, sondern ein unbegründetes ist; dass das machende Sein des
Subjektes nicht innerhalb des von ihm Gemachten steht, sondern ein ungemachtes ist. Die
Existenz des Subjektes als ein Ordnen, Begründen und Machen ist somit eine
außerordentliche, unbegründete und ungemachte und gehört so selber nicht zu den
normalen Bestimmungen, die sie hervorbringt. Die Existenz des Subjektes ist bereits selbst
ein Durchbruch durch die normalen Bestimmungen. Wäre sie dies nicht, so würde der Weg
über das Subjekt wohl auch kaum zur Frage nach dem Absoluten bzw. dem Ungrund
führen. Was aber spricht dagegen, diese abnorme Existenz des Subjektes auch seinem
Ungrund zuzusprechen? – Hindrichs’ Argument kann nun kein Einwand mehr sein. Wieso
sollte man etwas, von dem man sich in seiner abnormen Existenz als abhängig denken
muss, nicht ebenso diese abnorme Existenz zusprechen?
Es müsste schon der Ungrund selber sein, der dagegen spricht. Jedoch stellt Hindrichs zum
einen selbst fest, dass nicht nur die Beziehung des Subjektes zu diesem, sondern der
Ungrund selbst abnorm ist. Und zum anderen kann dieser, wenn er, wie hier geschehen, als
Potentialität gedacht wird, nur als eine wirkliche oder existierende gedacht werden. Denn
sonst wäre er keine Potentialität. Eine Potentialität, die nicht wirklich ist, ist keine
Potentialität. Auch aus Hindrichs’ Argumentation wird kein Grund ersichtlich, diesem
Ungrund, dieser absoluten Potentialität nicht auch Existenz zuzuschreiben. Dass der
Ungrund als absolute Potentialität gedacht werden kann, scheint sich mir indessen auch
aus Hindrichs’ Ausführungen zu ergeben. Denn er beschreibt das Subjekt als ein
kontingentes.478 Die Möglichkeit des Subjektes aber ist die absolute Potentialität bedingter
Existenz. Und so kann die absolute Potentialität als der Ungrund verstanden werden, aus
dem das Subjekt grundlos entsteht und seinen Stand, seinen Halt und seine Haltung
gewinnt. Hindrichs’ Absolutes, sein Ungrund, kann also auch mit Hindrichs selbst als
absolute Potentialität interpretiert werden.
Wenn nicht die Absage an die Existenz der absoluten Potentialität, so drängt sich mir aus
der Abnormität dieses existentiellen Sachverhaltes jedoch ein anderer Gesichtspunkt auf,
der sich im Zusammenhang mit der Frage nach moralischem Verhalten als entscheidend
herausgestellt hat. Die Beziehung zwischen Subjekt und absoluter Potentialität ist, da sie
nicht durch ein Ordnen, Begründen und Machen bestimmt ist, eine, die in beide
Richtungen durch den Begriff der Herrschaftslosigkeit beschrieben werden kann. Die
absolute Potentialität ist keine Macht, sondern eine herrschaftsfreie Kraft. Damit aber
scheint ihr genau jene Qualität zuzukommen, die es im moralischen Verhalten beim
konkreten Aufeinandertreffen individueller Subjekte zwischen diesen durch die
Konzentration auf das zweckfreie individuelle Interesse am Erleben und damit in der
Konzentration auf die absolute Potentialität zu verwirklichen gilt. Die Konzentration ist
dabei nicht so sehr eine reflexive Konzentration auf die absolute Potentialität oder das
478
Vgl. ebd., Seite 249.
221
zweckfreie individuelle Interesse am Erleben. Sondern sie bedeutet das Einnehmen einer
diesem Interesse folgenden Haltung, in der die Reflexion zur Anpassung der Interessen
gerade freigehalten und für die Suche nach einer für alle Beteiligten befriedigenden
Lösung von Interessenswidersprüchen flexibilisiert wird.
So ist es auch möglich, diese Haltung einzunehmen, ohne überhaupt jene Bezogenheit auf
die absolute Potentialität reflektiert und expliziert zu haben. Moralisches Verhalten wird
nicht erst durch die Reflexion und Explikation seiner Bedingungen möglich, sondern
entspricht einer davon unabhängigen Fähigkeit interessierter, erlebender und freier
Subjekte – der Fähigkeit zu einem Verhalten, das aus einer Haltung entspringt, die sich
nicht an bestimmte Vorstellungen eines richtigen oder guten Lebens unabänderlich bindet,
sondern, wenn die Widerspruchssituationen es erfordern, sich zu einem flexiblen Umgang
mit diesen bereitet. In dieser Flexibilität aber hält sie stets fest am Wert und der Würde
ihrer selbst und des anderen, damit aber auch an Gleichheit und Gerechtigkeit. Im
wirklichen Bezug auf die absolute Potentialität, in der wirklichen moralischen Haltung
wird so der Blick auf sich selbst und den anderen geöffnet, wird das Subjekt so frei für ein
vorsichtiges Abtasten, Gerecht-Werden und Erkennen der eigenen und fremden Grenzen,
ein gegenseitiges Respektieren, für Feinfühligkeit, Empfindsamkeit und Leidensfähigkeit.
Die Zuwendung zur absoluten Potentialität bedeutet eine offene Zuwendung zum anderen.
Wenn ich die absolute Potentialität als Bedingung moralischen Verhaltens in ihrer
Existenz als einen raumzeitlosen Punkt beschrieben habe, so liegt darin auch eine Kritik an
der von Johnston aufgegriffenen Philosophie Whiteheads, nach der allein raumzeitlich
Ausgedehntes existieren könne. Einen Punkt versteht Whitehead als einen Nexus, eine
Verbindung zweier oder mehrerer wirklicher Einzelwesen.479 Dabei schreibt Whitehead
einem solchen Nexus keine ihm eigene Wirklichkeit zu, sondern leitet ihn bloß sekundär
aus der Differenz wirklicher Ereignisse ab. „Wirkliche Einzelwesen – auch wirkliche
Ereignisse genannt – sind die letzten realen Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt
ist.“ Wenn diese Betonung der Wirklichkeit des Einzelnen keine begriffliche Chimäre sein
soll, dann hätte Whitehead meiner Ansicht nach jedoch gerade die Wirklichkeit eines
raumzeitlosen Punktes voraussetzen müssen. Denn wie ist es zu denken, dass etwas
wirklich voneinander Verschiedenes aufeinander bezogen sein kann, wenn nicht durch
einen wirklichen Punkt, der dieses Bezogen-Sein und damit den Gesamtzusammenhang
aller Beziehungen in ihrer Totalität überhaupt erst ermöglicht?
Der Gesamtzusammenhang kann das Bezogen-Sein einzelner Wirklichkeiten aufeinander
nicht begründen, weil dieser deren Bezogen-Sein bereits voraussetzt. Auch die einzelnen
Wirklichkeiten können ihre Bezogenheit nicht begründen, weil ihre Verschiedenheit sie
479
„Ein Punkt ist ein Nexus von wirklichen Einzelwesen mit einer bestimmten ›Form‹“, Whitehead (1979),
Seite 545.
222
gerade voneinander differenziert. Wollen wir einen solchen Zusammenhang von
Verschiedenheit ohne einen absoluten Bezugspunkt verstehen, so könnte es sich nur um
eine begriffliche, nicht aber eine wirkliche Verschiedenheit handeln. Whiteheads Negation
der Existenz eines raumzeitlosen, d.h. absoluten Punktes negiert, wenn man zu Ende denkt,
die Wirklichkeit der Vielheit von Einzelwesen bzw. Ereignissen. Der Punkt oder Nexus,
durch den wirklich voneinander Verschiedenes aufeinander bezogen ist, kann nicht
weniger wirklich sein als das, was durch ihn miteinander in Bezug steht. Seiner
Wirklichkeit nach kann der Punkt aber nicht in, außer bzw. zwischen einzelnen
Ereignissen liegen, muss also eine raumzeitlose Wirklichkeit sein; und da seine Beziehung
zu den durch ihn aufeinander bezogenen raumzeitlichen Ereignissen nicht ihrerseits
raumzeitlich bestimmt werden kann, bleibt schließlich allein die Möglichkeit, ihn als
absolute Potentialität der Vielheit der Ereignisse, d.h. raumzeitlicher Existenzen zu
verstehen. Die absolute Potentialität bedingter Existenz als ein raumzeitloser Punkt lässt
die Vielheit bedingter Existenzen in ihrem Zusammenhang als eine wirkliche Vielheit
denken.
Whitehead hat meiner Meinung nach also Recht damit, dass ein Punkt nicht in Raum und
Zeit existiert. Und genau das ist der Hintergrund der Rede von der absoluten Potentialität
als einem raumzeitlosen Punkt. Der Unterschied zu Whitehead liegt jedoch darin, den
Begriff der Existenz nicht grundsätzlich auf raumzeitliche Ereignisse zu beschränken. Des
Weiteren scheint mir auch seine Beschreibung eines Punktes als „ein Nexus von
wirklichen Einzelwesen“ durchaus treffend zu sein. Denn genau das heißt es ja, wenn hier
gesagt wird, dass die wirklichen Ereignisse in dem Punkt der absoluten Potentialität als der
ihnen gemeinsamen Bedingung aufeinander bezogen sind. Unrichtig scheint mir
dahingegen zu sein, diesen Nexus aus der Bezogenheit wirklicher Ereignisse allein
abzuleiten, anstatt ihm eine eigene Wirklichkeit bzw. Existenz zuzusprechen. Und
schließlich hat Whitehead meines Erachtens auch Recht damit, dass uns in der Reflexion
der Bezogenheit von verschiedenen Ereignissen dieser Nexus begrifflich ersichtlich wird;
nämlich genau dann, wenn wir uns klar machen, dass diese Ereignisse durch einen Punkt
aufeinander bezogen sein müssen. Dieser aber muss eine von seiner Reflexion
unabhängige und unbedingte Wirklichkeit sein; zumindest dann, wenn die Wirklichkeit
bedingter Einzelwesen bzw. Ereignisse nicht als Illusion erscheinen soll. In der Annahme
der Wirklichkeit einer Vielheit aufeinander bezogener Einzelwesen hätte Whitehead
meines Erachtens von der Existenz oder Wirklichkeit eines absoluten raumzeitlosen
Punktes ausgehen müssen.
Im Gegensatz dazu ist das Absolute bei Whitehead und so auch bei Johnston kein Punkt,
sondern der totale Zusammenhang eines raumzeitlichen, zweipoligen Prozesses. Die zwei
komplementären Pole sind zum einen der physische Pol eines jeden wirklichen
Einzelwesens, eines jeden wirklichen Ereignisses der endlichen Vielheit, zum anderen der
223
begriffliche Pol als allumfassende, die endliche Vielheit in sich aufnehmende Einheit. Den
begrifflichen Pol versteht Whitehead als ein Streben, als stets mit einer begrifflichen
Wertung verbundenen Drang zur Realisierung des begrifflich Erfassten. 480 Der
allgemeinste Begriff kann mit Whitehead verstanden werden als Gott, als der strebende
Inbegriff „des absoluten Reichtums an Potentialitäten. Unter diesem Aspekt ist er nicht
vor, sondern mit aller Schöpfung.“481 Denn als nach Verwirklichung aller Potentialitäten
strebender Begriff sei er zwar „uranfänglich“, doch „so weit von ‚höchster Realität‘
entfernt, daß es ihm in dieser Abstraktion ‚an Wirklichkeit mangelt‘ – und das in zweierlei
Hinsicht. Seine Empfindungen sind nur begrifflich, so daß es ihnen an der Fülle der
Wirklichkeit fehlt. Zweitens kommt es in den subjektiven Formen begrifflicher
Empfindungen nur dann zu Bewußtsein, wenn eine komplexe Integration mit physischen
Empfindungen stattfindet.“482
Der allgemeinste Begriff, Gott, verweise so auf den anderen Pol als Bedingung der
Verwirklichung seines Strebens. Vor diesem Hintergrund spricht Whitehead von den
beiden Polen auch als „Urnatur“ und „Folgenatur“ Gottes.483 Diese zwei Pole, das sind die
endliche Vielheit der Welt und Gott, die im Prozess „immerwährend“ aufeinander bezogen
sind. „Immerwährend“, das ist bei Whitehead „die Eigenschaft, kreatives Fortschreiten mit
der Beibehaltung wechselseitiger Unmittelbarkeit zu verbinden [...].“484 „Gott und die Welt
stehen einander gegenüber und bringen die letzte metaphysische Wahrheit zum Ausdruck,
daß strebende Einheit und physisches Erleben gleichermaßen Anspruch auf Priorität in der
Schöpfung haben. Es können aber noch nicht einmal zwei Wirklichkeiten
auseinandergerissen werden: jede ist alles in allem. Daher verkörpert jedes zeitliche
Ereignis Gott und wird in Gott verkörpert. [...] Daher muß das Universum so gedacht
werden, daß es seine eigene Vielheit von Gegensätzen selbst aktiv zum Ausdruck bringt –
seine eigene Freiheit und seine eigene Notwendigkeit, seine eigene Vielheit und seine
eigene Einheit, seine eigene Unvollkommenheit und seine eigene Vollkommenheit. All die
‚Gegensätze‘ sind Elemente in der Natur der Dinge und lassen sich nicht wegdenken. Der
Begriff ‚Gottes‘ ist die Weise, in der wir diese unglaubliche Tatsache verstehen – daß doch
ist, was nicht sein kann.“485
„Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, wieder zu der Totalität zu finden, die in der
Selektion verlorenging. Sie ersetzt in der rationalen Erfahrung, was in der höheren
sinnlichen Erfahrung unterdrückt und durch die anfänglichen Operationen des
Bewußtseins selbst noch tiefer versenkt wurde. Der selektive Charakter der individuellen
480
Vgl. ebd., Seite 80.
Ebd., Seite 614.
482
Ebd.
483
Ebd., Seite 616.
484
Ebd., Seite 617.
485
Ebd., Seite 322ff.
481
224
Erfahrung ist insofern moralisch, als er mit den Prioritäten übereinstimmt, die in der
rationalen Anschauungsweise sichtbar werden; und umgekehrt berichtigt die Umwandlung
der intellektuellen Einsicht in eine emotionale Kraft die sinnliche Erfahrung in Richtung
auf die Moral. Die Stärke der Korrektur steht im Verhältnis zur Rationalität der Einsicht.
Die Moralität einer Weltanschauung ist untrennbar mit ihrer Allgemeingültigkeit
verbunden. Der Widerspruch zwischen dem allgemein Guten und dem individuellen
Interesse kann nur aufgehoben werden, wenn das Individuum so beschaffen ist, daß seine
Interessen dem allgemeinen Guten entsprechen; auf diese Weise dient es als Beispiel für
den Verlust der geringeren Intensitäten, um sie mit feinerer Zusammensetzung in einem
erweiterten Interessenhorizont wiederzufinden.“ 486 Das allgemeine Gute erscheint bei
Whitehead wie bei Johnstons agape nicht als eine bestimmte Vorstellung, sondern als
Überwindung der Individualität, des „incurvatus in se“ durch eine aus dem allgemeinen
Begriff der Existenz erwachsende zur Moralität befähigende emotionale Kraft. Je totaler
die rationale Einsicht umso stärker das moralische Verhalten.
Zwar distanziert sich Whitehead in seinem Begriff des Absoluten ausdrücklich von Hegel,
der sich, soweit ich Whiteheads Interpretation hier verstehe, in seinem „evolutionären
Monismus“ vornehmlich auf das „stetige Vergehen“ der Formen, den „Übergang von
einem besonderen Seienden zum anderen [Hervorhebung im Original; T. W.]“ konzentriert
und damit den Begriff des Prozesses vom Besonderen weg allein in Richtung auf die
allgemeine Begrifflichkeit reduziert habe; die andere „Art des Fließens“ aber vom
begrifflich Allgemeinen hin zum konkreten wirklichen Ereignis, „die Konkretisierung“
dabei aus dem Blick verloren habe.487 In Abgrenzung zu solchen Vereinseitigungen zum
Allgemeinen hin will Whitehead in seiner organistischen Philosophie den absoluten
Prozess als „ein ausgewogeneres Verhältnis“ der zwei Arten des Fließens denken.488 Ob
Whiteheads Kritik an Hegel so berechtigt ist, kann man in Frage stellen. Doch auch
unabhängig von der Frage nach der Berechtigung dieser Kritik versteht auch Whitehead
wie Hegel das Absolute als eine Totalität. Die „letzte metaphysische Wahrheit“ liegt bei
ihm, wie bei Hegel, in der absoluten Einheit der Widersprüche – „All die ‚Gegensätze‘
sind Elemente in der Natur der Dinge und lassen sich nicht wegdenken. Der Begriff
‚Gottes‘ ist die Weise, in der wir diese unglaubliche Tatsache verstehen – daß doch ist,
was nicht sein kann.“ Damit aber gilt gegenüber Whitehead die gleiche Kritik, die ich mit
Schnädelbach bezüglich der hegelschen Wahrheitslehre deutlich gemacht habe.489 Wir
können den Begriff eines Absoluten als eines Ganzen von Gegensätzen nicht verstehen.
Wenn Whitehead von der Unglaublichkeit der Tatsache spricht, die wir durch den Begriff
der zweipoligen Natur Gottes verstehen würden – „daß doch ist, was nicht sein kann“ – so
486
Ebd., Seite 52f.
Vgl. ebd., Seite 388f.
488
Ebd., Seite 60.
489
Vgl. Seite 125ff. dieser Arbeit.
487
225
verstehe ich diese Unglaublichkeit als Reaktion auf einen in sich widersprüchlichen
„Begriff“. Einen solchen können wir aber gerade, anders als Whitehead es behauptet, nicht
verstehen. Schließlich müsste man ihm aus diesem Grund entgegenhalten: Je totaler die
Einsicht, umso unverständlicher wird sie, desto weniger ist sie rational; desto weniger
dürfte sie uns dann aber auch in Whiteheads Verständnis zur Moralität befähigen.
In diesem Zusammenhang könnte man wiederum de Vries’ und Hindrichs’ Votum gegen
Existenzzuschreibungen hinsichtlich eines mit dem Ganzen identifizierten Absoluten und
der damit verbundenen Widersprüchlichkeit nachvollziehen. Denn wir sollten einem
widersprüchlichen „Begriff“ von etwas, das wir durch einen solchen eben gar nicht
begreifen können, keine Existenz zusprechen. Denn wir verstehen letztlich gar nicht, was
wir da sagen. Vor dem Hintergrund dieser Kritik scheinen de Vries und Hindrichs also nur
konsequent zu sein, wenn sie von einem als Totalität verstandenen Absoluten, das sich uns
begrifflich entzieht, nicht sagen wollen, dass es existiere, sondern angesichts solcher
Widersprüche stattdessen, wie de Vries, von einem „Tertium Datur“ oder, wie Hindrichs,
von einem „Geheimnis“ sprechen. Ob de Vries und Hindrichs das Absolute latent als eine
Totalität verstehen, wird mir aus ihren Texten jedoch nicht ersichtlich. Man müsste es
ihnen unterstellen. Wie dem auch sei, die hier angesprochene Nachvollziehbarkeit des
Verbotes von Existenzaussagen über das Absolute erübrigt sich, wenn man das Absolute
nicht als das Ganze, sondern vielmehr als eine unbedingte raumzeitlose Wirklichkeit, eben
als einen Punkt versteht. Die Vielheit der wirklichen bedingten Einzelwesen bzw.
Ereignisse hängt durch diesen absoluten Punkt miteinander zusammen. Das Unbedingte
wird hier nicht als das Ganze, nicht als Totalität, sondern allein als die Potentialität alles
Bedingten verstanden; und so auch als die Potentialität der durch den Zusammenhang
bedingter Existenzen bedingten totalen Wirklichkeit. Totalität ist der Begriff eines
bedingten Zusammenhanges.
Auch ist die absolute Potentialität anders als bei Hegel nicht „die Wahrheit“. Wahrheit ist
ein Anspruch, den wir mit Aussagen verbinden, so hier mit der Aussage, dass die absolute
Potentialität existiert; mit anderen Worten, dass der Begriff der absoluten Potentialität ein
objektiver ist. Wahrheitsansprüche sollten nachvollziehbar begründet werden können. Dass
mir kein Grund ersichtlich wird, der absoluten Potentialität keine Existenz zuzuschreiben,
habe ich bereits verdeutlicht. Darin liegt aber nicht auch schon anders herum eine
Begründung dafür, dieses zu tun. Ist eine solche Begründung einer Existenzaussage
hinsichtlich der absoluten Potentialität als eines raumzeitlosen Punktes möglich? Ich denke
schon. Denn im Hinblick auf meine Kritik der whiteheadschen Absage an die Existenz
eines raumzeitlosen, d.h. absoluten, Punktes lässt sich Folgendes sagen: Jeder Gedanke,
der eine wirkliche Differenz zwischen einem Subjekt und einer von ihm unterschiedenen
Wirklichkeit beinhaltet, setzt die Wirklichkeit eines absoluten Punktes voraus, durch den
das diesen Gedanken denkende Subjekt und die von ihm unterschiedene Wirklichkeit
226
aufeinander bezogen sind. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass jede Aussage über
eine von einem wirklichen Subjekt unterschiedene Wirklichkeit ebenso die Wirklichkeit
eines absoluten Punktes voraussetzt. Daraus wiederum ergibt sich: Jede in irgendeinem
nachvollziehbaren Sinne Objektivität für sich beanspruchende Aussage über eine vom
Subjekt unterschiedene Wirklichkeit – wie auch immer genau das Verhältnis zwischen den
dieser Aussage zugrunde liegenden Begriffen und der vom Subjekt unterschiedenen
Wirklichkeit gedacht wird – setzt die Wirklichkeit eines absoluten Punktes voraus.
Solchermaßen Objektivität beanspruchende Aussagen tragen in sich implizit die
Voraussetzung eines absoluten Bezugspunktes. In ihrer Explikation kann diese Bedingung
nicht als weniger objektiv gedacht werden, als das, was unter ihrer impliziten oder
expliziten Voraussetzung als objektiv ausgesagt und begründet wird. Solange wir auch nur
ansatzweise an dem Gedanken objektiver Aussagen über eine extraindividuelle
Wirklichkeit festhalten wollen, müssen wir, zumindest implizit, von der Objektivität eines
absoluten Bezugspunktes ausgehen.
Sage ich, dass die Sonne als von mir unterschieden wirklich existiert, so kann der absolute
Punkt durch den ich auf die Sonne bezogen bin, nicht weniger wirklich sein, als die Sonne
und ich selbst. Jedes Elementarteilchen, das als ein wirkliches Teilchen in einer
Wechselwirkung zu einem anderen wirklichen Teilchen steht, setzt die Wirklichkeit eines
absoluten Punktes voraus, durch den beide Teilchen aufeinander bezogen sind. Würden
wir die Wirklichkeit eines absoluten Punktes verneinen, so müssten wir konsequenterweise
behaupten, dass alles Eins ist, alle Vielheit und Differenz letztlich Halluzination und
Illusion – die unio mystica der Moderne. Nelson hat Recht: „Wer die Metaphysik aus der
Wissenschaft eliminieren will, der liefert, da ohne Metaphysik überhaupt nicht geurteilt
werden kann, die Wissenschaft an irgendeine Metaphysik außerhalb der Wissenschaft aus,
d.h. der spielt, ohne es zu wissen und zu wollen, die Wissenschaft dem Mystizismus in die
Hände.“490 Aber man kann es noch stärker formulieren: Die Wissenschaft selbst gerät zu
einem Mystizismus. In der begrifflichen Entdifferenzierung würde alle Differenz im
begreifenden Subjekt als halluziniert und illusioniert zusammenschnurren; und es müsste
schließlich entweder der von ihm unterschiedenen Wirklichkeit eine von ihm unabhängige
Existenz abstreiten und sich damit selbst zum absoluten Punkt gerieren; oder das Subjekt
müsste seine eigene Existenz verneinen. Wer die Wirklichkeit bzw. Existenz eines
absoluten Punktes bestreitet, durch den alles bedingt Wirkliche direkt oder indirekt
aufeinander bezogen ist, beginnt sich entweder selbst zu verabsolutieren oder sich selbst zu
negieren. Beide Konsequenzen sind meiner Meinung nach und wie ich weiter oben
ausgeführt habe praktisch und praktisch-theoretisch unhaltbar.491
490
491
Nelson (1974), Seite 281.
Vgl. Seite 139f. dieser Arbeit.
227
Die Beziehung zwischen dem absoluten Punkt und der Vielheit der durch ihn aufeinander
bezogenen raumzeitlichen Existenzen kann, auch das habe ich bereits in meiner Kritik an
Whitehead deutlich gemacht, selbst nicht raumzeitlich bestimmt werden. Diese Beziehung
kann am Ende nur als die zwischen unbedingter Potentialität und bedingter Existenz
gedacht werden. Der Gedanke einer Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf ist
deshalb auszuschließen, weil er der in der intra- und extraindividuellen Wirklichkeit
erfahrbaren bedingten Freiheit, dem individuellen Interesse und dem individuellen Erleben
derselben nicht gerecht wird.492 Wir leben in einer Wirklichkeit, die in all ihrer Regularität
dennoch nicht ohne kausale Wunder, statistischen Zufall und praktische Freiheit
beschreibbar ist. Ich gehe davon aus, dass in dieser Feststellung kein grundsätzlicher
Widerspruch zur Naturwissenschaft – zumindest der zeitgenössischen – besteht, wenn
auch wahrscheinlich zu den naturalistischen Weltbildern einzelner Wissenschaftler. Denn
in den Naturwissenschaften ist man seit längerem davon abgekommen, die Wirklichkeit
insgesamt ohne die Integration des nicht-epistemischen Zufallsgedankens beschreiben zu
können. Der Einfluss des Zufalls auf den Gang der Entwicklung ist in kausaler Hinsicht
jedoch völlig unerklärlich, und insofern wunderlich. Und auch die Negation individueller
Freiheit hält einer eingehenden Prüfung der naturwissenschaftlichen Theorien keinesfalls
stand. Das hat Brigitte Falkenburg zuletzt in Mythos Determinismus eindringlich
herausgearbeitet.493
Es scheint mir aus diesen Gründen mit Nelson ratsam, angebracht und möglich, im
theoretischen Diskurs eine über das Anliegen der Kategorien-Analyse, also eine über
deskriptive Metaphysik hinausgehende Metaphysik mit aller Vorsicht und rigoroser Kritik
wieder ernster zu nehmen. Auch bin ich der Meinung, dass eine solche philosophische
Auseinandersetzung keine theoretische Abkapselung zur Folge haben muss. So kann man
in Bezug auf die absolute Potentialität, die in dieser Arbeit vor allem im Rahmen
praktisch-philosophischer Erörterungen thematisch wurde, danach fragen, was die
Annahme derselben etwa für die physikalische Theorie bedeuten kann. Um es konkret zu
machen, zwei kurz skizzierte Beispiele. Dennis Lehmkuhl schreibt über das physikalische
Existenzproblem: „Was existiert? Raum, Zeit, Materie. Aber was ist fundamental. [...] In
der modernen Debatte werden meist zwei Möglichkeiten angeboten: Entweder sind
Raumzeit und Materie gleichermaßen fundamental (Substanzialismus), oder aber
materielle Körper sind das einzige Fundamentale, und Raum und Zeit sind nur
Abstraktionen von oder ergeben sich nur durch Beziehungen, in denen materielle Körper
zu einander stehen (Relationalismus). [...] Aber es gibt eine dritte Möglichkeit [...]. Sklar
[...] hat dieser Position den Namen ‚Super-Substanzialismus‘ gegeben. Die Idee ist
einfach: Alles, was wir wahrnehmen, sind nur Aspekte und Eigenschaften der
492
493
Vgl. Seite 112ff. dieser Arbeit.
Falkenburg, Brigitte: Mythos Determinismus, Berlin/Heidelberg: Springer, 2012.
228
Raumzeit.“494 Unter der Annahme einer absoluten Potentialität aber gibt es eine vierte
Möglichkeit, der ich hier jedoch keinen Namen geben will. Fundamentale Existenz, d.h.
unbedingte Existenz käme dann allein der absoluten Potentialität zu. Dahingegen wären
Raumzeit und Materie gleichermaßen bedingt und ihrer Wirklichkeit nach überhaupt nicht
voneinander zu trennen; Raumzeit gibt es nicht ohne materielle Körper, materielle Körper
nicht ohne Raumzeit.
Ein zweites Beispiel. Die absolute Potentialität könnte etwa auch im Zusammenhang des
Casimir-Effektes diskutiert werden. Sie könnte dann als absolutes Vakuum bezeichnet
werden, das alles andere als nichts ist, sondern eben absolute Potentialität. Was in der
Versuchsanordnung zum Nachweis des Casimir-Effektes getan wird, könnte verstanden
werden als eine experimentelle Präparation, in der in einem Teilbereich der materiellen
Raumzeit die absolute Potentialität in gewisser Weise freigelegt wird. In diesem so
präparierten Bereich käme es aus der absoluten Potentialität heraus zum Entstehen
einfachster als Quantenfluktuationen bezeichneter Teilchen-Ereignisse, die zu dem
beobachteten Effekt führen. Die angedeuteten Überlegungen gehen natürlich noch viel
weiter, als ich dies hier darstellen kann. Es kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht
tiefer in die Diskussion dieser Beispiele eingestiegen werden. Es sollte nur kurz deutlich
gemacht werden, dass es sich bei dem vorgeschlagenen Begriff einer raumzeitlosen und
damit dimensional unermesslichen absoluten Potentialität um keinen Begriff handelt, der
die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Theorien
scheuen muss. Und ich halte eine solche Annäherung an naturwissenschaftliche
Phänomene und Theorien nicht zuletzt auch zur kritischen Kontrolle metaphysischer
Vorstellungen für sehr ratsam. Wenn etwa die Vorstellung einer absoluten Potentialität
wohl auch nicht direkt experimentell überprüft werden kann, so kann doch getestet
werden, inwiefern diese mit naturwissenschaftlichen Phänomenen zumindest nicht im
Widerspruch steht, vielleicht aber sogar auch inwiefern sie positiv zur Plausibilisierung
bestimmter Phänomene beitragen kann.
Wenn ich die Annahme der Wirklichkeit der absoluten Potentialität nicht nur behaupte,
sondern darüber hinaus auch mit Argumenten zu begründen versuche, so kann ich
wahrscheinlich mit Hindrichs’ kritischer Nachfrage rechnen, ob hier nicht die Grenze des
in metaphysischer Hinsicht Erlaubten überschritten werde. Denn mache ich die absolute
Potentialität auf diese Weise nicht zu einer von mir begründeten und ziehe sie damit in den
Bereich der normalen Bestimmungen, der von mir gemachten gedanklichen Ordnungen,
die ihrer Abnormität jedoch nicht gerecht werden? Hierzu sei Folgendes gesagt: Es wird
hier nicht die absolute Potentialität, sondern es werden Gedanken begründet; auch wird
hier nicht die absolute Potentialität, sondern es werden Gedanken geordnet; schließlich
494
Lehmkuhl, Dennis: „Super-Substanzialismus in der Philosophie der Raumzeit“, in: Michael Esfeld
(Hrsg.): Philosophie der Physik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2012, Seite 50.
229
wird hier nicht die absolute Potentialität, sondern es werden sich Gedanken gemacht. Dies
ist der nicht nur für die Metaphysik entscheidende Unterschied zwischen der Begründung
einer Objektivität beanspruchenden Aussage und der Begründung des durch diese Aussage
bezeichneten Sachverhaltes. Letzteres wurde hier nicht auch nur ansatzweise versucht. Es
wurden hier Gründe dafür gegeben, die dafür sprechen, von der objektiven Wirklichkeit
einer absoluten Potentialität auszugehen.
Eine mögliche Begründung liegt darin, um es noch einmal zu sagen, dass wir eine absolute
Potentialität voraussetzen müssen, um die wirkliche Differenz zwischen intra- und
extrasubjektiver Wirklichkeit theoretisch aufrecht zu erhalten, damit aber auch für jegliche
sich auf eine extrasubjektive Welt beziehenden Aussagen. Solange wir an solchen
Aussagen festhalten wollen, und wir haben allen Grund, dieses zu tun, liegt in diesen
Gründen und dem Festhalten an der metaphysischen Differenz zwischen Subjekt und
Umwelt auch eine Begründung für die Annahme einer absoluten Potentialität; so aber auch
eine Begründung für die Annahme der objektiven Wirklichkeit desjenigen Sachverhaltes,
der hier als die Bedingung der Möglichkeit moralischen Verhaltens und damit für ein
befriedigendes Leben in Frieden vorausgesetzt wurde. Wenn Schnädelbach sagt: „In der
praktisch-politischen Verlängerung des Gedankens der kommunikativen Einheit der
Vernunft wird das sichtbar, was auch real solche Einheit allein ermöglicht: der Frieden
[Hervorhebung im Original, T. W.]“, dann würde ich hier ergänzen wollen, dass darin
auch ein Verweis auf die absolute Potentialität liegt.495 Denn diese ist der raumzeitlose
Punkt, durch den „endliche, zugleich natürliche und geschichtliche und im übrigen
vernunftbegabte Wesen“ überhaupt existieren und sich kommunikativ und in einer Haltung
aufeinander beziehen können, die ein friedliches Zusammenleben erst ermöglicht.496
Aber ein solches Leben bleibt stets „nur“ eine Möglichkeit, deren Ergreifen von unserer
durch kein unbedingtes Sollen verargumentierbaren freien Entscheidung und stetigen
Suche nach einer Verwirklichung moralischen Verhaltens in der Widerspruchshaftigkeit
alltäglicher und konkreter Begegnungen mit anderen und unserem moralisch-politischen
Verhalten abhängig bleibt. Dass wir dazu frei sind, davon kann man, denke ich, ausgehen.
Denn nach einem solchen Leben zu suchen, bedeutet, sich jeweils auf das innerste
individuelle Interesse zu konzentrieren und sich dadurch in eine Haltung zu bringen, die es
zumindest prinzipiell ermöglicht, in einer mitunter sehr anstrengenden gegenseitigen
Anpassung der Interessen zu einer Auflösung des Interessenwiderspruches ohne
gegenseitige Unterdrückung zu gelangen. Und stets erst hinterher wird man wissen, was
das eigene moralische und moralisch-politische Verhalten für das eigene Leben jeweils
immer wieder neu konkret bedeutet. Sich in diesem Sinne mit Nietzsche als experimentellforschend zu verstehen, ist ein zentraler Aspekt einer Moralität, die keine moralische
495
496
Schnädelbach (1993), Seite 23.
Ebd., Seite 23.
230
Idolatrie betreibt, sondern den Wert und die Würde seiner selbst und des anderen sowie
Gleichheit und Gerechtigkeit zu ihrer Norm erhebt. Pinkard sagt: „Self-comprehension as
equally free does not require the oppression of others.“497 Zu diesem Selbstverständnis
sollte es meiner Ansicht gehören, in der Reflexion der Bedingungen eines solchen
Verhaltens zu erkennen, dass wir dieses nicht allein aus uns selber schöpfen können.
Nietzsche scheint mir in seiner Betonung des Übermenschen vor diesem Schritt
zurückgewichen zu sein. Aber es sollte deutlich geworden sein, dass moralisches
Verhalten nicht erst durch die Reflexion seiner Bedingungen möglich wird, sondern eine
Fähigkeit ist, zu deren Ergreifen wir auch ohne eine solche Reflexion frei sind.
Die Möglichkeit moralischen Verhaltens bedeutet einen Aspekt unserer bedingten Freiheit.
Einer Freiheit, die einige einseitig argumentierende Wissenschaftler meinen, uns generell
absprechen zu können. Dazu eine letzte Anmerkung. Könnte der Gedanke der Freiheit
falsifiziert werden, so wäre dies für die Freiheit eine schlechte Nachricht. Tatsache ist,
dass eine solche Falsifizierung unserer bedingten Freiheit bis heute nicht gelungen ist.498
Aber auch ein positiver Nachweis, der über die Bedingung des individuellen Erlebens der
Freiheit hinausginge, angenommen ein solcher sei wie auch immer möglich, wäre keine
gute Nachricht für die Freiheit. Begriffliches Denken ist eine Tätigkeit, die, wenn der
Gedanke der Freiheit wahr ist, selbst unter der Bedingung dieser Freiheit steht. Wie aber
könnte der Gedanke der Freiheit wahr sein, wenn man zu seiner Anerkennung durch
Argumente gewissermaßen genötigt werden könnte? Freiheit ist in ihrem Begriff allein in
einem freien Ergreifen desselben zu verstehen. Wir könnten unsere Freiheit nicht als
Freiheit verstehen, könnten wir zu ihrer Anerkennung argumentativ überredet oder gar
gezwungen werden. In einer Wirklichkeit, in der Freiheit nachweisbar wäre, wäre Freiheit
genauso wenig wahr, wie in einer Wirklichkeit, in der sie falsifiziert werden könnte. Dass
wir in einer Wirklichkeit leben, in der beides bisher nicht gelungen ist, kann einen da nur
beruhigen. Freiheit, wenn sicherlich auch nicht bloße Willkür, ist darüber hinaus eine
Bedingung wahren Erkennens. Wären wir gezwungen, etwas anzunehmen, so würden wir
es nicht anerkennen, weil es wahr ist. Das freie Anerkennen ist Bedingung dafür, etwas
überhaupt als wahr zu erkennen. Eine Wirklichkeit, in der Freiheit falsifizierbar oder
nachweisbar wäre, würde eine Wirklichkeit sein, in der wahres Erkennen unmöglich wäre,
damit aber auch die Falsifikation oder der Nachweis von Freiheit; eine solche Wirklichkeit
kann es nicht geben, oder etwas zurückhaltender, ist nicht konsequent denkbar. Wer die
Freiheit grundsätzlich negiert und in welchen Erkenntniszusammenhängen auch immer
mehr will als plausible, intersubjektiv überprüfbare Gründe, begibt sich, genau genommen,
automatisch aus dem wissenschaftlichen Diskurs heraus.
497
Pinkard (2012), Seite 173.
Vgl. Falkenburg (2012); sowie Mele, Alfred R: Effective Intentions – The Power of Conscious Will,
Oxford/New York: Oxford University Press, 2009.
498
231
Philosophie ohne Fortschritt?
Diese Arbeit soll ihren Schluss in derjenigen Frage finden, die titelgebend jenen
Gedankengängen voransteht, die uns bis hin zu der Thematisierung eines unbedingten,
raumzeitlosen Bezugspunktes, der absoluten Potentialität geführt haben. Die absolute
Potentialität erscheint dabei nicht nur als die Bedingung bedingter Existenzen überhaupt
und ihrer Bezogenheit, sondern auch als eine Voraussetzung der Möglichkeit moralischen
Verhaltens. Denn sie erweist sich als eine Wirklichkeit, in der keine Wertunterschiede
zwischen in ihrer Existenz bedingten Subjekten bestehen. Die absolute Potentialität steht
als solche in einer positiven Beziehung zu sämtlichen bedingten Existenzen, nicht aber
begründet sie evaluative Differenzen zwischen diesen. Damit aber bedeutet sie eine
Wirklichkeit, in der moralisches Verhalten am Ende allein möglich erscheint. Denn soweit
wir unser Verhalten wirklich an dieser orientieren, orientieren wir uns damit an einer
Wirklichkeit, in der bedingte Existenzen eine gleiche Wertschätzung erfahren. Diese
Orientierung, so wurde argumentiert, drückt sich in einer Haltung aus, in der im Falle
kollidierender Interessen nach einer moralischen Auflösung des Widerstreits gesucht wird.
Diese Haltung kann in der Konzentration auf das auf die absolute Potentialität bezogene je
individuelle zweckfreie Interesse am Erleben gewonnen werden. Das in dieser Haltung
ermöglichte moralische Verhalten wurde als dasjenige Verhalten identifiziert, durch
welches das kontingente Spiel reiner Machtverhältnisse in der gegenseitigen Anerkennung
des individuellen Wertes und der individuellen Würde durchbrochen werden und das
zugleich dem normativen Relativismus Einhalt gebieten kann. Keine Gesellschaft, mit
welchen konkreten Normen auch immer, kann ohne das individuelle moralische Verhalten
ihrer Mitglieder auskommen, d.h. die freiwillige Berücksichtigung der den eigenen
widersprechenden Interessen anderer. Damit erscheint das moralische Verhalten als aus
unserer Natur als interessierte, erlebende und freie Subjekte entspringende oberste
Bedingung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dieser Sachverhalt liegt in unseren
moralischen Ansprüchen begründet, denen wir uns gegenseitig aussetzen. Und so wir ein
befriedigendes Leben in Gesellschaft suchen wollen, kommen wir um die Entwicklung
eines moralischen Interesses nicht umher. Insoweit das individuelle moralische Interesse
an Freiwilligkeit gebunden bleibt, einem solchen Leben überhaupt nachzugehen, damit
aber auch gebunden bleibt an die stets latente Machtproblematik, erwächst aus den
moralischen Ansprüchen ein Interesse an der politischen Bewältigung dieser Kontingenz;
ein politisches Interesse an einer dritten Gewalt, an einem Staat, der, um selbst nicht
wiederum Ausdruck kontingenter Machtverhältnisse zu sein, konsequenterweise das
moralische Verhalten und damit den Wert und die Würde eines jeden sowie Gleichheit und
Gerechtigkeit als seine zentralen Prinzipien setzt und diese in der sozialen Praxis stetig
umkreist. Die Verwirklichung solcher politischen Verhältnisse ist daran geknüpft, dass die
individuellen Subjekte in irgendeiner Form an der Formulierung und Reformulierung der
Normen, nach denen moralisch nicht aufgelöste Interessenswidersprüche beigelegt werden
232
sollen, beteiligt werden. Das beinhaltet aber auch ein für eine solche Beteiligung
vorauszusetzendes moralisch-politisches Interesse und Engagement der Subjekte selbst.
Moralisches und moralisch-politisches Interesse werden als diejenigen Interessen
herausgestellt, durch welche die je individuelle Suche nach einem befriedigenden Leben
eine objektive Richtung bekommen kann, als eine Suche nach einem befriedigenden Leben
in Frieden. Ein individuelles Leben, das in dieser Weise seine sonstigen Interessen
kontextualisiert, kann als ein sich um Fortschritt, um eine objektiv gute Entwicklung
bemühendes Leben verstanden werden; als ein Leben, das nach seinem Beitrag zu einer
solchen Entwicklung sucht.
Philosophie ohne Fortschritt? – Diese Frage kann auf zwei Weisen gelesen werden. Zum
einen dahingehend, wie es um den Fortschrittsbegriff in der philosophischen Diskussion
bestellt ist bzw. bestellt sein sollte; zum anderen dahingehend, ob in der Philosophie selbst
ein Fortschritt Statt hat. In Bezug auf die erste Lesart bedeutet die vorliegende
Untersuchung eine Verneinung. Ich denke nicht, dass die Philosophie darauf verzichten
sollte, den Fortschrittsbegriff erneut zu ergreifen und an einem Begriff desselben zu
arbeiten, zu dem wir uns subjektiv in ein praktisches Verhältnis setzen können, der aber
zugleich auch die universale Offenheit bewahrt, in der nach einer objektiv guten
Entwicklung gesucht werden kann. Dies bedeutet die Suche nach einer begrifflichen
Brücke, die uns den Übergang ermöglicht von einem recht abstrakten Verständnis unserer
Selbst und unseres Eingebunden-Seins in subjektiv nicht zu überblickende
Wirkungszusammenhänge zu einer Alltagspraxis, in der wir in konkreten Situationen uns
auf diese konzentrierend dennoch darüber bewusst sein können, dass gerade auch in diesen
Alltagssituationen unausweichlich an jenem größeren Zusammenhange mitgewirkt wird.
Die vorliegende Arbeit ist ein Beitrag zu einer in diesem Sinne erneuerten
Fortschrittsdiskussion.
In Anbetracht des hier vorgelegten Entwurfes eines möglichen Fortschrittsbegriffes scheint
sodann aber auch eine Verneinung der zweiten Lesart der Titelfrage zu liegen, also der
Frage, ob in der Philosophie selbst sich Fortschritt vollzieht. Denn zum einen kann die
theoretische Diskussion des Fortschrittsbegriffes selbst als Teil- und Anteilnahme an
einem solchen verstanden werden. Zum anderen gibt es in einer weiteren Hinsicht einen
Zusammenhang
zwischen
Philosophie
und
dem
hier
vorgeschlagenen
Fortschrittsverständnis: In dieser Arbeit wird der Philosophie eine Mittlerrolle zwischen
ästhetischem, theoretischem und praktischem Diskurs zugesprochen. Diese drei Diskurse
werden verstanden als ein den drei natürlichen Vernunftaspekten entsprechendes kreatives,
adaptives und kooperatives, reflexiv-diskursives Verhalten. Die Vermittlung zwischen
diesen Vernunftaspekten, auch auf einer reflexiv-diskursiven Ebene, wird ihrerseits als in
der Konzentration auf das zweckfreie individuelle Interesse am Erleben gründend
verstanden. Das heißt, dass eine Philosophie in diesem Sinne dem gleichen Interesse folgt
233
wie das hier im Rahmen des Fortschrittsbegriffes entwickelte moralische Verhalten. Man
könnte also sagen, dass Philosophie in gewisser Weise selbst ein moralisches Verhalten ist.
Oder man könnte anders herum sagen, dass moralisches Verhalten in gewissem Sinne
immer auch ein philosophisches ist.
Als ein solches aber verweist das moralische Verhalten auch auf die anderen Aspekte
natürlicher Vernunft und ist letztlich nicht von diesen zu trennen. Moralisches Verhalten
bedeutet nicht weniger als das künstlerische Schaffen, dem zweckfreien individuellen
Interesse am Erleben einen Ausdruck zu verleihen, wenn auch vor dem speziellen
Hintergrund
einer
moralischen
Auflösung
konkreter
interindividueller
Interessenswidersprüche. Genauso bedeutet es ein Anpassen der Reflexionen und in diesen
der Begriffe über das, um was es je individuell und konkret geht, und worin eine jeweilige
konkrete Auflösung der Widersprüchlichkeit bestehen könnte. Moralisches Verhalten ist
also nicht allein praktisch, sondern beinhaltet auch theoretische und ästhetische Aspekte.
Moralisches Verhalten erscheint somit auch als ein philosophisches genauso wie
philosophisches Verhalten auch als ein moralisches erscheint. Und vor dem Hintergrund
dieses Zusammenhanges und des hier vorgeschlagenen Fortschrittsbegriffes könnte man
auch die philosophische Tätigkeit als einen Bereich unseres diskursiven Verhaltens
verstehen, in dem sich ein Fortschritt tatsächlich vollziehen kann. Nur sollte dieser primär
nicht als Steigerungs- oder Verbesserungsgeschehen verstanden werden, sondern als ein in
der Vermittlung der Aspekte unseres vernünftigen Verhaltens liegender Beitrag zu einer
sich in ihrem Optimum im modus sufficiens vollziehenden, anhaltenden Suche nach einem
befriedigenden Leben in Frieden. Ein solcher Fortschritt ist ein beständiges Projekt und
bleibt ein beständiges Problem und so auch eine beständige Frage.
234
Literatur
Adorno, Theodor W.: „Fortschritt“, in: Helmut Kuhn/Franz Wiedmann: Die Philosophie
und die Frage nach dem Fortschritt, München: Verlag Anton Pustet, 1964.
Alff, Wilhelm: „Condorcet und die bewußt gewordene Geschichte“, in: ders. (Hrsg.):
Condorcet – Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen
Geistes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976.
Arendt, Hannah: Besuch in Deutschland, Berlin: Rotbuch Verlag, 1993.
Aristoteles: Nikomachische Ethik (Übers. Olof Gigon), Düsseldorf/Zürich: Artemis &
Winkler, 2001.
Aristoteles: Metaphysik (Übers. Hermann Bonitz), Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1991.
Aristoteles: Über die Seele (Übers. nach W. Theiler), Hamburg, Felix Meiner Verlag,
1995.
Bacon, Francis: Novum Organum, Cambridge: Cambridge University Press, 2000.
Baron, Marcia: „Handeln aus Pflicht“, in: Karl Ameriks/Dieter Sturma (Hrsg.): Kants
Ethik, Münster: mentis, 2004.
Baumgartner, Hans Michael: „Die Idee des Fortschritts – Versuch einer Grundlegung“, in:
Max Müller/Michael Schmaus (Hrsg.): Philosophisches Jahrbuch, 70. Jahrgang, 1.
Halbband, München: Verlag Karl Alber, 1962, Seite 157-168.
Baurmann, Michael/Leist, Anton (Hrsg.): Analyse und Kritik, 2012 (34) Heft 1,
Symposium on Philip Kitcher, The Ethical Project.
Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders.: Erzählen – Schriften zur
Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007.
Bernard, Larry u.a.: „A Evolutionary Theory of Human Motivation“, in: Genetic, Social,
and General Psychology Monographs, 131(2), 2005, 129-184.
Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996.
Brandom, Robert B.: Making It Explicit, Cambridge, MA/London, England: Harvard
University Press, 1994.
Bury, John B.: The Idea of Progress - An inquiry into its origin and growth (1960),
Toronto: General Publishing Company, 1987.
Cassirer, Ernst: Vom Mythus des Staates, Zürich: Artemis, 1949.
Chalmers, David: „Facing Up to the Problem of Consciousness“, in: Journal of
Consciousness Studies, 2(3), 1995, Seite 200-219.
Craemer-Ruegenberg, Ingrid: Die Naturphilosophie des Aristoteles, Freiburg/München:
Verlag Karl Alber, 1980.
Delgaauw, Bernard: Geschichte als Fortschritt, Band I - III, Köln: Verlag J. P. Bachem,
1962-1966.
Dennett, Daniel C.: Ellbow Room, Cambridge, MA/London, England: The MIT Press,
1984.
235
Derpmann, Simon/Düber, Dominik/ Rojek, Tim/ Schnieder, Konstantin: „Can Kitcher
Avoid the Naturalistic Fallacy?“, in: Marie I. Kaiser/Ansgar Seide (Hrsg.): Philip
Kitcher – Pragmatic Naturalism, Heusenstamm: ontos verlag, 2013.
de Vries, Hent: Theologie im pianissimo & Zwichen Rationalität und Dekonstruktion,
Kampen: Uitgeversmaatschappij J.H. Kok, 1989.
El-Ghazali, Abdel Hamid: „Man ist the Basis of the Islamic Strategy for Economic
Development“, in: Islamic Research and Training Institute/Islamic Development Bank
(Hg.): Islamic Economics Translation, Series No. 1, 1994.
Eucken, Walter: Die Grundlagen der Nationalökonomie, Jena: Gustav Fischer, 1944.
Falkenburg, Brigitte: Mythos Determinismus, Berlin/Heidelberg: Springer, 2012.
Fetscher, Iring (Hrsg.): Auguste Comte – Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg:
Felix Meiner, 1956.
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974.
Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung?“, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth
(Hrsg.): Ethos der Moderne Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M./New
York: Campus Verlag, 1990.
Habermas, Jürgen: „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“, in: ders.: Kleine politische
Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981.
Habermas, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, 1983.
Habermas, Jürgen: „Ein Interview mit der New Left Review“, in: ders.: Die neue
Unübersichtlichkeit, Kleine politische Schriften V, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985,
Seite 213-257,
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1 und 2, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, 1995.
Habermas, Jürgen: „Entgegnung“, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hrsg.): Kommunikatives
Handeln, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, Seite 327-405.
Hampe, Michael: Erkenntnis und Praxis: Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006.
Hampe, Michael: Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp, 2007.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke, Band 3,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.:
Werke, Band 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in
ders.: Werke 9, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in:
ders.: Werke, Band 18, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979.
Hindrichs, Gunnar: Das Absolute und das Subjekt, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann,
2008.
236
Horn, Christoph: „Die Menschheit als objektiver Zweck – Kants Selbstzweckformel des
kategorischen Imperativs“, in: Karl Ameriks/Dieter Sturma (Hrsg.): Kants Ethik,
Münster: mentis, 2004.
Horn, Christoph: „Glück bei Aristoteles“, in: Dieter Thomä/Christoph Henning/Olivia
Mitscherlich-Schönherr (Hrsg.): Glück – Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.
B. Metzler, 2011.
Horn, Christoph/Mieth, Corinna/Scarano, Nico: „Kommentar“ in: Immanuel Kant:
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007.
Iser, Mattias: Empörung und Fortschritt – Grundlagen einer kritischen Theorie der
Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag, 2008.
Johnston, Mark: Saving God, Princeton, NJ: Princeton University Press, 2009.
Jonas, Hans: Organismus und Freiheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1973.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: ders: Werke in zwölf Bänden, Band III
und IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956.
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metapyhsik der Sitten, in: ders.: Werke in zwölf
Bänden, Band VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956.
Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Band
VII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956.
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, in: ders.; Werke in zwölf Bänden, Band VIII,
Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1956.
Kitcher, Philip: The Ethical Project, Cambridge, MA/London, England: Harvard
University Press, 2011.
Kleingeld, Pauline: Fortschritt und Vernunft: Zur Geschichtsphilosophie Kants,
Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995.
Kleingeld, Pauline: „Zwischen kopernikanischer Wende und großer Erzählung. Die
Relevanz von Kants Geschichtsphilosophie“, in: Herta Nagl-Docekal (Hrsg.): Der
Sinn des Historischen, Frankfurt a.M.: Fischer, 1996.
Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin: Walter de
Gruyter, 2002.
Koselleck, Reinhart: „›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zur Geschichte zweier
Begriffe“, in ders.: Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006.
Koselleck, Reinhart: „Fortschritt“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck
(Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart: Ernst Klett Verlag. 1975, Seite 351423.
Lehmkuhl, Dennis: „Super-Substanzialismus in der Philosophie der Raumzeit“, in:
Michael Esfeld (Hrsg.): Philosophie der Physik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2012.
Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978.
Lowe, E. Jonathan: The Posibility of Metaphysics – Substance, Identity, and Time,
Oxford/New York: Oxford University Press, 2001.
Löwith, Karl: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart: Kohlhammer, 1973.
237
Löwith, Karl: „Das Verhängnis des Fortschritts“, in: Helmut Kuhn/Franz Wiedmann: Die
Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München: Verlag Anton Pustet,
1964.
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen, Wien: Passagen Verlag, 2009.
Marquard, Odo: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
1982.
Mäder, Denis: Fortschritt bei Marx, Berlin: Akademie Verlag, 2010.
Meier, Christian: „‘Fortschritt’ in der Antike“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart
Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2, Stuttgart: Ernst Klett
Verlag, 1975, Seite 353-363.
Mele, Alfred R: Effective Intentions – The Power of Concious Will, Oxford/New York:
Oxford University Press, 2009.
Metzinger, Thomas: Being No One, Cambridge, MA/London: The MIT Press, 2004.
Nagl-Docekal, Herta: „Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich?“, in: dies. (Hrsg.):
Der Sinn des Historischen, Frankfurt a.M.: Fischer, 1996.
Nelson, Leonard: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders.: Gesammelte Schriften in neun
Bänden, Vierter Band, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1972.
Nelson, Leonard: Ist metaphysikfreie Wissenschaft möglich?, in: ders.: Gesammelte
Schriften in neun Bänden, Dritter Band, 1974.
Neuser,
Wolfgang:
„Fortschritt“,
in:
Hermann
Krings/Hans
Michael
Baumgartner/Christoph Wild (Hrsg.): Neues Handbuch philosophischer
Grundbegriffe, Band 1, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2011, Seite 787-798.
Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches – Erster Band, in: ders.: Nietzsche
Werke, IV2, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1967.
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Nietzsche Werke, VI1,
Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1968.
Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders.:
Unzeitgemässe Betrachtungen, Zweites Stück, in: ders.: Nietzsche Werke, III1,
Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1972.
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente – Anfang 1888 bis Frühjahr 1889, in:
ders.: Nietzsche Werke, VIII3, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1972.
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente – Herbst 1884 bis Herbst 1885, in: ders.:
Nietzsche Werke, VII3, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1974.
Nisbet, Robert: History of the Idea of Progress, New York: Basic Books, 1980.
O´Neill, Onora: „Kantische Gerechtigkeit und kantianische Gerechtigkeit“, in: Karl
Ameriks/Dieter Sturma (Hrsg.): Kants Ethik, Münster: mentis, 2004.
Owen, David S.: Between Reason and History – Habermas and the idea of Progress, New
York: State University of New York Press, 2002.
Pinkard, Terry: Hegel´s Naturalism – Mind, Nature, and the Final Ends of Life, New
York: Oxford University Press, 2012.
238
Platon: Siebenter Brief, in: ders.: Werke, Band 5, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1990.
Platon: Theaitetos, in: ders.: Werke, Band 6, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1990.
Rapp, Friedrich: Fortschritt – Entwicklung und Sinn einer Philosophischen Idee,
Darmstadt: Wissenscahftliche Buchgesellschaft, 1992.
Ritter, Joachim: „Fortschritt“, in: ders. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie,
Band 2, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co Verlag, 1972, Seite 1032-1059.
Rohbeck, Johannes: „Turgot als Geschichtsphilosoph“, in: ders. (Hrsg.): Turgot – Über die
Fortschritte des menschlichen Geistes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990.
Rohbeck, Johannes: Aufklärung und Geschichte – Über eine praktische
Geschichtsphilosophie der Zukunft, Berlin: Akademie Verlag, 2010.
Rorty, Richard: „The End of Leninism, Havel and Social Hope“, in: ders.: Truth and
Progress, Cambridge: Cambridge University Press, 1998.
Rosen, Michael: „Fortschritt“, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie
Philosophie, Hamburg: Felix Meiner, 2010, Seite 218-239.
Ruse, Michael: „Evolution and Progress“, in: Trends in Ecology and Evolution, 8 (2),1993,
Seite 55-59.
Ruse, Michael: Monad to Man – the concept of progress in evolutionary biology,
Cambridge, MA/London, England: Harvard University Press, 2009.
Salvadori, Massimo L.: Fortschritt – die Zukunft einer Idee, Berlin: Verlag Klaus
Wagenbach, 2008.
Schnädelbach, Herbert: Hegels Lehre von der Wahrheit, Berlin: Humboldt-Universität,
1993.
Seele, Peter/Wagner, Till: „Eine kleine Geschichte des Neuen“, in: Peter Seele (Hrsg.):
Philosophie des Neuen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschft, 2008, Seite 3863.
Smith, Adam: The Theory of Moral Sentiments, in: ders.: The Works of Adam Smith, Vol.
I.., Aalen: Otto Zeller, 1963.
Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, in: ders.:
The Works of Adam Smith, Vol. II.-IV., Aalen: Otto Zeller, 1963.
Spaemann, Robert: „Unter welchen Umständen kann man noch von Fortschritt sprechen?“,
in: ders.: Philosophische Essays, Stuttgart: Reclam, 1994.
Taguieff, Pierre-André: Le Sens du Progrès – Une approche historique et philosophique,
Paris: Éditions Flammarion, 2004.
Teilhard de Chardin, Pierre: Die Entstehung des Menschen, München: C. H. Beck, 2006.
Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003.
Voland, Eckart: „Die Fortschrittsillusion“, in: Spektrum der Wissenschaft, 04/07: 108-113,
2007.
239
Voltaire, François Marie Arouet: Essai sur le Mœurs et l’Esprit des Nations, in: ders.:
Œuvres Complètes, 11-13, Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint Limited, 1967.
Voltaire, François Marie Arouet: Le sièle de Louis XIV. et de Louis XV., in: ders.: Œuvres
Complètes, 14, Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint Limited, 1967.
Voltaire, François Marie Arouet: Traité de Métaphysique, in: ders.: Œuvres Complètes, 22,
Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint Limited, 1967.
Weber, Max: Wissenschaft als Beruf, Stuttgart: Recalm, 1995.
Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 1971.
Welsch, Wolfgang: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, München: Wilhelm
Fink Verlag, 2012.
Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979.
Williams, Bernard: Ethics and the Limits of Philosophy, London: William Collins, 1985.
Wittgenstein, Ludwig: „Vortrag über Ethik“, in: ders.: Vortrag über Ethik und andere
kleine Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989.
Zachriat, Wolf Gorch: Die Ambivalenz des Fortschritts – Friedrich Nietzsches
Kulturkritik, Berlin: Akademie Verlag, 2001.
Webseiten
The Second Charter (1663)
http://www.royalsociety.org/about-us/history/royal-charters/
Europa 2020 – Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum
http://www.esf.de/portal/generator/15418/prooerty=data/2011_01_04_europa_2020strategie.pdf
Beyond GDP
http://www.beyond-gdp.eu/
OECD: The Global Project of Measuring the Progress of Societies
http://www.wikiprogress.org/index.php/Definition_of_progress#A_brief_history_of.C
2.A0Progress.C2.A0
Papst Benedikt XVI.: Enzykliken
http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/encyclicals/index_ge.htm
240
Lebenslauf
Studium
Universität Witten/Herdecke, Witten, Oktober 2000 - September 2007
Studium der Wirtschaftswissenschaften und Philosophie,
Diplom an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät
mit der Arbeit: Zum Wachstum als politischem Ziel
Promotion
Universität St. Gallen, St. Gallen, Schweiz, Februar 2009 - Mai 2014
Promotion im Fachbereich Philosophie der Kulturwissenschaftlichen Abteilung,
Titel: Philosophie ohne Fortschritt? - Zur kritischen Erneuerung eines problematischen
Begriffes, Gutachter: Prof. Dr. Dieter Thomä (1. Gutachter), Prof. Dr. Michael Hampe (2.
Gutachter)
Universitäre Arbeitsverhältnisse
- Studentische Hilfskraft, Witten, Februar 2002 - Oktober 2006
Lehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke
- Wissenschaftlicher Assistent, St. Gallen, Mai 2009 - Juni 2014
Fachbereich Philosophie der Universität St. Gallen
- Lehrauftrag an der Universität Witten/Herdecke, Witten, April 2011 - Juli 2011
- Lehrauftrag an der Universität St. Gallen, St. Gallen, September 2011 - Dezember 2011
Stipendium
Stiftung der Deutschen Wirtschaft, Berlin, November 2009 - Oktober 2013
Promotionsstipendium
Publikation
„Eine kleine Geschichte des Neuen“ (zus. mit Peter Seele), in: Peter Seele (Hrsg.):
Philosophie des Neuen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008, Seite 3863.
241
Herunterladen