AKSB-Werkstattheft Nr. 4 "Am Puls der Zeit"

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Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland
AKSB (Hg.)
Am Puls der Zeit
Beiträge zur AKSB-Konventionsdebatte
4
2
©
2008, Verein zur Förderung katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e.V., Bonn
www.aksb.de
Am Puls der Zeit. Beiträge zur AKSB-Konventionsdebatte.
AKSB (Hrsg.) 2008
Diese Veröffentlichung wurde aus Mitteln des Kinder- und Jugendplanes
des Bundes durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend (BMFSFJ) gefördert.
Grundlayout und Umschlaggestaltung: Gipfelgold Werbeagentur GmbH
Seiten- und Textlayout: Markus Schuck, Susanne Klabunde
Fotonachweis: Titelbild, Gipfelgold; S. 2, 3, 5, AKSB-Geschäftsstelle;
S. 6, Dr. Alexander Filipović; S. 27, Dr. Hermann-Josef Große Kracht;
S. 36, Prof. Dr. Günter Wilhelms; S. 48, Prof. Dr. Joachim Wiemeyer;
S. 60, Prof. Dr. Peter Massing.
Druck: Das Druckhaus Bernd Brümmer
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AKSB-Werkstatt
Nummer 4
AKSB (Hrsg.)
Am Puls der Zeit
Beiträge zur
AKSB-Konventionsdebatte
4
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Editorial
5
Teil I: AKSB-Konvention - Wissenschaftliche Anschlussfähigkeit
6
Stellungnahmen der Fachwissenschaft zu zentralen Aspekten der AKSB-Konvention
Dr. Alexander Filipović
Das Personalitätsprinzip: Zum Zusammenhang von Anthropologie
und christlicher Sozialethik
6
Dr. Hermann-Josef Große Kracht
Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
Eine Warnung vor voreiligen Verabschiedungen.
27
Prof. Dr. Günther Wilhelms
Subsidiarität
36
Prof. Dr. Joachim Wiemeyer
Die Bedeutung außerschulischer politischer Bildung
in der christlichen Sozialethik
48
Prof. Dr. Peter Massing
Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
aus Sicht der Politikdidaktik
60
Teil II: AKSB-Konvention - Relevanz für die Bildungspraxis
Stellungnahmen zu einzelnen Aspekten der Konvention
74
75
1 Stellungnahmen der Fachgruppen zu Art. 19 „Gesellschaftliche und politische Ziele“ der AKSB-Konvention
Stellungnahme der Fachgruppe I - „Das Politische“
von Marica Zelenika
75
Stellungnahme der Fachgruppe II - „Das Soziale“
von Ekke Seifert
77
Stellungnahme der Fachgruppe III - „Das Gesellschaftliche“
von Bernhard Eder
80
2 Stellungnahmen der Fachgruppen zu den Art. 18 „Lernziele“ und Art. 31 „Das personale Angebot“ der AKSB-Konvention
82
Stellungnahme der Fachgruppe I - „Das Politische“
von Marica Zelenika
82
Stellungnahme der Fachgruppe II - „Das Soziale“
von Ekke Seifert
84
Stellungnahme der Fachgruppe III - „Das Gesellschaftliche“
von Bernhard Eder
85
Editorial
10 Jahre AKSB-Konvention –
Einladung zur Reflexion
Am 26. November 1998 beschloss die Mitgliederversammlung
der AKSB in Trier die „Konvention über katholisch-sozial orientierte politische Jugend- und Erwachsenenbildung“. In ihr wurde das
Selbstverständnis der in der AKSB zusammengeschlossenen Träger formuliert hinsichtlich der sozialethischen, didaktischen und bildungspolitischen Grundzüge ihrer Arbeit. Seither bildet die Konvention die gemeinsame Arbeitsgrundlage der Arbeitsgemeinschaft.
Sie stellt damit einen wichtigen Baustein im Prozess der sich weiterentwickelnden Professionalisierung politischer Bildung katholischer
Träger dar.
Zehn Jahre nach Verabschiedung der Konvention scheint die Zeit
gekommen, sich der aktuellen Gültigkeit des Grundlagentextes zu
vergewissern. Vieles ist seit 1998 geschehen in Kirche und Gesellschaft, Fachdidaktik und Bildungspolitik. Neue Themen wie der weltweite Kampf gegen den Terrorismus oder die drängenden Fragen
von Migration und Integration haben Politik und Gesellschaft verändert; finanzielle Engpässe der Diözesen und die Umgestaltung der
Rahmenbedingungen staatlicher Förderung wirkten sich auf die Situation vieler Träger aus; die Evaluation der politischen Jugend- und
Erwachsenenbildung und der fachliche Diskurs um die Profession
der politischen Bildung haben neue Akzente in der bundesweiten
Fachdebatte gesetzt.
Aus diesem Grunde wurde Anfang 2008 ein zweijähriger Reflexionsprozess begonnen mit dem Ziel, die Konvention auf ihre Aktualität mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen in der Bildungspraxis
und den Referenzwissenschaften zu überprüfen. Eine Wiederveröffentlichung der Konvention im Taschenbuchformat sollte dazu
dienen, den Text erneut zugänglich zu machen im Hinblick auf die
anstehende Debatte. In den Konferenzen der AKSB-Fachgruppen
wurden einzelne Abschnitte der Konvention unter der Fragestellung
diskutiert, inwieweit der Konventionstext auch zehn Jahre nach seiner Entstehung noch die Praxis katholisch-sozial orientierter politischer Bildung widerspiegelt. Die Ergebnisse dieser Debatten wurden in dieses Werkstattheft aufgenommen.
Eine besondere Funktion im Rahmen dieses Reflexionsprozesses
kommt der AKSB-Jahrestagung vom 24. bis 25. November 2008 in
Schwerte zu. Gemeinsam mit renommierten Wissenschaftlern aus
der Sozialethik und der politischen Fachdidaktik soll die Konvention
auf ihre wissenschaftliche Anschlussfähigkeit und ihre Relevanz für
die Bildungspraxis diskutiert werden. In diesem Werkstattheft veröffentlichen wir die Untersuchungen der beteiligten Wissenschaftler
vorab, um allen, die an der Jahrestagung teilnehmen, die Möglichkeit zu gründlicher Vorbereitung zu geben, und um alle, denen eine
Teilnahme nicht möglich ist, diese wichtigen Akzente in unserem
Reflexionsprozess zukommen zu lassen.
Der Diskurs über die Aktualität der Konvention versteht sich als offener Prozess. Die Diskussionen auf der Jahrestagung werden zeigen, welche weiteren Schritte erforderlich sind, um eine zeitgemäße
Arbeitsgrundlage innerhalb der AKSB zu sichern.
Dr. Alois Becker
Lothar Harles
Dr. Alois Becker
Vorsitzender der AKSB
Lothar Harles
Geschäftsführer der AKSB
5
6
Filipović, Das Personalitätsprinzip
Teil I:
AKSB-Konvention – Wissenschaftliche Anschlussfähigkeit
Stellungnahmen der Fachwissenschaft zu zentralen Aspekten
der AKSB-Konvention
Dr. Alexander Filipović
Das Personalitätsprinzip: Zum Zusammenhang
von Anthropologie und christlicher Sozialethik
Dr.
Alexander
Filipović,
1975 in Bremen geboren,
seit 2006 Akademischer Rat
mit der Funktion eines wissenschaftlichen Mitarbeiters
am Lehrstuhl Christliche
Soziallehre der Universität
Bamberg.
Es gibt in der christlichen Sozialethik, verstanden als der wissenschaftliche Betrieb, der
das soziale Lehren der Kirche reflektiert, kritisch begleitet und voranbringen möchte,
keine aktuelle und spannende Diskussion des sozialethischen Personalitätsprinzips. Im
Gegensatz zu den anderen beiden klassischen Sozialprinzipien Solidarität und Subsidiarität, zu dem neueren der Retinität/Nachhaltigkeit und zu Fragen sozialer Gerechtigkeit
gibt es keine Konferenzen und aktuellen Sammelbände oder sozialethische Monographien zum Thema Personalitätsprinzip. Wird über Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit als heuristische Prinzipien christlicher Soziallehre debattiert, so gilt dies nicht in
gleicher Weise für das Personalitätsprinzip. Nimmt man, und das kommt hinzu, die sozialethische Fachdiskussion und analysiert die grundlegende systematische Diskussion,
so spielt die ausdrückliche Diskussion der Sozialprinzipien keine oder eine untergeordnete Rolle (vgl. die Beiträge des 43. Bandes des Jahrbuches für Christliche Sozialwissenschaften 2002).
Einigermaßen aktuelle Aussagen zum Personalitätsprinzip findet man daher ausdrücklich vor allem in der Einleitungs-, Lexikon und Handbuchliteratur. Diese Fehlanzeige aktueller sozialethischer Debatten, gar streitbarer Debatten um das Personalitätsprinzip,
mag darin begründet sein, dass (a) die Prinzipiensystematik christlicher Sozialethik mit
ihrem ihr zu Grunde liegenden Personbegriff in kirchlichen Texten spätestens seit dem
zweiten Vaticanum im Grunde konstant blieb und höchstens behutsam weiterentwickelt
wurde und (b) die Darstellung des Prinzipientraktats in sozialethischen Lehrbüchern und
Lexikonartikeln weniger dem Zweck folgt, diese Prinzipien zu problematisieren als den
gewissen erreichten Stand darzustellen. Beides trifft vor allem auf das Personprinzip zu,
da wir es hier mit einem gleichzeitig so grundlegenden, abstrakten und theologisch wie
philosophisch hoch voraussetzungsvollen Zusammenhang zu tun haben, so dass schon
eine Darstellung eine Herausforderung darstellt und, noch wichtiger, wir im Personbegriff
offenbar genug Elemente finden, über die gar kein Streit oder wenigstens eine kritische
Debatte notwendig oder möglich ist.
Dieser letzte Gedanke führt direkt zur Frage, ob Prinzipien sich überhaupt ändern oder
kritisch diskutiert werden können: Die ohne Zweifel naturrechtliche Heimat christlicher
Sozialethik und Soziallehre fördert nicht aus sich heraus eine dynamische Diskussion
und Infragestellung ihres grundlegenden Prinzips. Das Personprinzip scheint sich im Gegenteil (und vielleicht im Gegensatz zu den anderen heuristischen Prinzipien) dadurch
auszuzeichnen, dass es sich inhaltlich nicht verändert, Neuansätze abblockt und eine
Filipović, Das Personalitätsprinzip
Relektüre kaum zu neuen Erkenntnissen kommen kann. Die z. B. neuscholastische Weigerung, der Wirklichkeit als solcher bzw. dem wahren Sein eine zeitliche/geschichtliche
Qualität und Veränderung zuzusprechen, betrifft vor allem die im Personbegriff sich verdichtende Anthropologie1. Das Überzeitliche als notwendiges Element christlicher Sozialethik wird in der (theologischen) Anthropologie lokalisiert und im Ausdruck Person auf
den Begriff gebracht.
Im Stichwort „Person“ als Sozialprinzip versammelt sich in christlich-sozialethischen
Kontexten daher nicht selten dasjenige, was sich durch ruhige Lagerung der sozialethischen Erbmasse die Jahre hindurch abgesetzt hat.2 Dann markiert der Gebrauch des
Begriffs eine mehr oder weniger reflektierte Bezugnahme auf einen letzten Grund oder
Bezugsrahmen, der aber nicht selten seltsam unbestimmt bleibt, aber über den synonym
verwendeten (Menschen-)Würdebegriff auf allgemeine Akzeptanz hoffen kann. Die Frage bleibt, wie wir uns zu dieser Erbmasse und in unserem Fall zu diesem Bodensatz
verhalten, wenn wir darüber nachdenken, wie wir Bildungsarbeit christlich gestalten und
verantworten wollen und dabei auf den Personbegriff rekurrieren.
Aufgabe jeder Wissenschaft, also auch der christlichen Sozialethik als Wissenschaft, ist
die Darstellung, Systematisierung und vor allem Problematisierung von Sachverhalten.
Dieser Text stellt sich der Aufgabe, das Personalitätsprinzip der christlichen Sozialethik
zu problematisieren mit dem Ziel, Material bereitzustellen, mit dem die entsprechenden
Aussagen der AKSB-Konvention geprüft werden können. Die grundlegende sozialethische Orientierung, dass das Soziale, die Institutionen und die gesellschaftlichen Strukturen persongerecht gestaltet werden müssen, werde ich nicht erschüttern, sondern
höchstens variieren und ergänzen. Vielmehr suche ich im Umkreis des sozialethischen
Personprinzips nach Anlässen, erneut über die Bedeutung des Personprinzips für eine
christliche Sozialethik nachzudenken, die ihrer Aufgabe einer „verantworteten Zeitgenossenschaft“ (Auer 1986) immer besser nachkommen will.
Ausgegangen werden soll dabei vom Text der Konvention, dessen Argumentation mit dem
Personbegriff in einem ersten Schritt dargestellt werden soll. In einem zweiten Abschnitt
werden jüngere Aussagen zum Personprinzip gesammelt und auf ihre Stellung und Bedeutung in und für sozialethische Ansätze dargestellt. Dieser Schritt ergibt, dass das Personprinzip an drei entscheidenden Stellen auftaucht, die für eine christliche Sozialethik zentral
sind. Von grundlegender Bedeutung ist der Kontext von (theologischer) Anthropologie und
Ethik/Moral (ethische und moralische Personen), der im Abschnitt drei beleuchtet wird. Im
Abschnitt vier kehre ich damit zum Text der AKSB-Konvention zurück.
I.
Der Gebrauch des Personprinzips in der AKSB-Konvention
Der Text der AKSB-Konvention geht in den Absätzen 3, 4, 6, 9, 14 und 15 direkt auf den
Personbegriff ein. Die Textpassagen lassen sich gemäß der Gliederung der Konvention
in zwei Abschnitte (I = 3, 4, 6, 9 und 10; II = 14 und 15) unterteilen, wobei der erste Abschnitt nochmal unterteilt werden kann (Ia = 3, 4, 6; Ib = 9, 10).
1 Diese beschriebene Weigerung ist kein Alleinstellungsmerkmal der Neuscholastik, sondern betrifft grundsätzlich im weitesten Sinne den Platonismus, die traditionelle Naturphilosophie und überhaupt die traditionelle
Metaphysik. Zum verfehlten neuscholastischen Ansatz: „Das neuscholastische Naturrecht war bestrebt, diese
freiheitsrelevante Offenheit der Frage nach dem Menschen so weit wie möglich durch material-naturrechtliche
Wahrheitsansprüche zu schließen bzw. einzuschränken“. Sein „Selbstverständnis ignoriert die eigene hermeneutische Bedingtheit durch den christlichen Glauben, aber auch jene durch den faktischen kirchlich-lehramtlichen Kontext.“ Und: „In seinem eigentümlichen Rationalismus konnte das neuscholastische Naturrecht nicht
sehen, dass die diversen Positionen [...] aus diversen Grundüberzeugungen resultieren, und dass darum unter
den Bedingungen der Freiheit notwendigerweise ein legitimer Pluralismus entsteht, der sich nicht glatt auf den
Nenner von Wahrheit und Irrtum bringen lässt.“ (Anzenbacher 2002, S. 31)
2 Das mag schärfer klingen als es gemeint ist; insofern die Sozialprinzipien erst im Verlauf einer kontinuierlichen Verwendungsweise zu solchen werden, handelt es sich bei ihnen immer um ein Korrelat. Das Verständnis von Solidarität und Subsidiarität als heuristische Prinzipien, die das Personprinzip politisch-praktisch
verwendbar machen, verweist aber darauf, dass das Personprinzip als Grund-Satz einen anderen, stabileren
Status hat.
7
8
Filipović, Das Personalitätsprinzip
Der Abschnitt I formuliert grundlegende Werte für die katholisch-sozial orientierte politische Bildungsarbeit. Ia formuliert dies im Hinblick auf anthropologische und ethische
Vorentscheidungen. Das „durch den christlichen Glauben geprägte[n] Verständnis des
Menschen als Person“ stellt die „feste Begründung“ der Bildungsarbeit dar. Als erstes
Attribut dieses Verständnisses wird sogleich die doppelte Verfassung des Menschen als
Individuum und als soziales Wesen angeführt, wofür keine Begründung und kein Verweis
auf eine Quelle dieser Ansicht angeführt werden. Danach erwähnt der Text als zweites Attribut der Personalität des Menschen die „unantastbare Würde“, die ihren Grund
in der Glaubensüberzeugung findet, „dass jeder Mensch ein Geschöpf Gottes ist“ und
diese daher durch eine Gottebenbildlichkeit ausgewiesen sind. Dies sei der Grund für
die Transzendenzfähigkeit (Fähigkeit zur Selbstüberschreitung) des Menschen, die als
drittes Attribut gezählt werden kann. Weitere Attribute werden im Folgenden zusammen
genannt: Vernunft, Gewissen und freier Wille; mit diesen Fähigkeiten sei er „angelegt“
und diese „leiten“ ihn. Hinzu tritt eine damit in Verbindung stehende „Anlage“, nach der
eine solche Person „sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft und die Schöpfung bewusst sein und diese wahrnehmen soll“. Neben die Ausstattungs- bzw. Fähigkeitsattribute (Individualität, Sozialität, Würde, Vernunft, Gewissen, freier Wille) der Personalität des
Menschen tritt hier ein abgeleitetes Sollensattribut (Verantwortung), das die einzelnen
Personen betrifft. Gebündelt wird dieses Verständnis der Personalität mit dem Ausdruck
der „Mensch ist ein [...] moralisches Subjekt“. Den Abschluss dieser Personbestimmung
bildet die Überzeugung, dass Freiheit und Selbstbestimmung als personale Eigenschaften der Menschen zu bewahren und zu fördern sind, was eine „verantwortliche Teilnahme am Politischen“ einschließe (Nr. 3).
Absatz 4 schließt an diese letzte Aussage an und formuliert als normative Grundorientierung aus dem Personsein des Menschen die „Entfaltung des Menschen als Person“.
Diese normative Grundkategorie der personalen Entfaltung und Identitätsbildung (in Absatz 9 auch „Verwirklichung“) wird als Herausforderung verstanden, der gesellschaftliche
Trends entgegenstehen bzw. sie erschweren. „Identitätsbildung und die Entfaltung des
Menschen“ werden schwieriger und gleichzeitig freier zu gestalten, was eine „wachsende eigenständige Verantwortung“ bedeute. Zuletzt wird die Aufgabe katholisch-sozial
orientierter politischer Bildungsarbeit darin gesehen, Möglichkeiten freier menschlicher
Identitätsentwicklung „als eine auf die Gesellschaft verwiesene Person“ anzustoßen. In
Abschnitt 6 werden die personalen Attribute und die daraus abgeleitete normative Grundkategorie als christliche Wertebasis sozialethisch formuliert: „freie Entfaltung als Person“
wird hier als Selbstverwirklichung charakterisiert, der „jede gesellschaftliche Ordnung
[...] zu dienen hat“. Eine so verfasste persongerechte Ordnung habe sich an der gleichen
Personwürde und daraus entstehenden Freiheitsrechten aller zu orientieren. Gerechtigkeit sei aber nicht nur „eine Forderung an Gesellschaft und Staat“, sondern sei auch als
individuelle menschliche Tugend zu verstehen.
Ib: Diese Grundlage wird in Form sozialethischer Prinzipien neu formuliert und (im Falle von Solidarität und Subsidiarität) ausgedeutet. Aus dem Personverständnis ergebe
sich das Personalitätsprinzip und das Gemeinwohlprinzip. Ersteres besage, „dass alles
menschliche und gesellschaftliche Handeln immer die Würde des Menschen zu beachten und letztlich seiner Verwirklichung als Person zu dienen hat“ (Nr. 9). Das Verhältnis
dieses Prinzips mit den Menschenrechten wird erwähnt, wobei nur knapp dargestellt
wird, dass die Menschenrechte vom Personprinzip inspiriert seien. Das Gemeinwohlprinzip „stellt den eigentlichen Sinn der staatlichen Ordnung dar“ und die „gesellschaftliche
Ordnung soll möglichst so beschaffen sein, dass alle Menschen sich als Person in ihrem
Leben verwirklichen können“ (Nr. 10)3.
3 Diese nahezu gleichlautende Formulierung in Bezug auf die normative Grundkategorie der personalen
Verwirklichung in Nr. 9 und 10 weist darauf hin, dass eine Ableitung von Person- und Gemeinwohlprinzip aus
dem Personbegriff schwierig ist. Diese Systematik ist vermutlich von FURGERS Sozialethik beeinflusst (vgl.
Furger 1991, S. 134–137) und kann natürlich einige Plausibilität beanspruchen, erscheint aber nicht unbedingt
als beste Möglichkeit der sozialethischen Prinzipiensystematik: ANZENBACHER verortet das Gemeinwohl in
der Nähe der Solidarität (vgl. Anzenbacher 1998, S. 200–204), HEIMBACH-STEINS spricht nicht von einem
Gemeinwohlprinzip, sondern lokalisiert „Gemeinwohl“ als Element des Personprinzips (vgl. Heimbach-Steins
2008, S. 183) und findet dies dann konsequenterweise auch impliziert bei Solidarität und Subsidiarität; BAUM-
Filipović, Das Personalitätsprinzip
Die Absätze 14 und 15 in Abschnitt II konkretisieren die Wertgrundlage auf die politische
Bildungsarbeit. Nr. 14 leitet ein mit der Formulierung: „Der Prozess der Personwerdung
des Menschen wird durch Erziehung und Bildung gefördert.“ Neben die bisherigen Formulierungen der „Identitätsbildung und Entfaltung des Menschen als Person“ (Nr. 4 und
6), der „Selbstverwirklichung des Menschen [...] als Person“ (Nr. 6) und der „Verwirklichung als Person“ (Nr. 9) tritt damit eine weitere Formulierung der sozialethischen Grundnorm hinzu, für die hier die Relevanz von Erziehung und Bildung allgemein behauptet
wird. Die in der Personalität des Menschen inhärente bzw. die aus der Personalität des
Menschen abgeleitete Verantwortung für das Politische wird hier wiederholt und erneut
als moralischer Anspruch, als moralische Verpflichtung an den Menschen formuliert: Die
Person hat eine Verantwortung für das Politische und soll diese damit wahrnehmen,
auch und gerade in Zeiten des „raschen gesellschaftlichen und technischen Wandels“.
Politische Bildung fördert diese Verantwortung und hilft so, menschenwürdiges Leben in
der Gesellschaft zu verwirklichen.
Deutlich erkennt man in der Art und Weise, wie die Konvention den Personbegriff fasst
und mit ihm sozialethisch argumentiert, dass genuin sozialethische Quellen dafür herangezogen wurden. Natürlich liegt mit der Konvention kein ausführlich argumentierender
sozialethischer Text vor, sondern Ziel der Konvention ist es ja, kurz und prägnant die
Werte- und Normgrundlage der Bildungsträger zu artikulieren. Ganz klar aber ist die
Referenz auf christliche Sozialethik in ihrer wissenschaftlichen und kirchlichen Gestalt.
Für eine problemorientierte Auseinandersetzung mit dem Personbegriff, auf den die Konvention Bezug nimmt, bietet sich daher zunächst ein Blick auf die sozialethische Fassung
des Personbegriffs als Person- bzw. Personalitätsprinzip an.
II.
Zum christlich-sozialethischen Verständnis des
Personprinzips
1.
Definitionen des Personalitätsprinzips
Einige Bestimmungsversuche des Personprinzips als Sozialprinzip der letzten Jahre geben einen Einblick in die Kontinuität der Begriffsverwendung und der grundlegenden
Denkrichtung:
•
„Ziel jeder christlichen Ethik ist es [...], durch klärende Überlegung Grundsätze
und Leitlinien herauszuarbeiten, welche die volle Entfaltung jeder menschlichen
Persönlichkeit in mitmenschlicher Gemeinschaft bestmöglich verwirklichen helfen. [...] Die Achtung der menschlichen Person [...] muß daher als sog. ‚Person
prinzip‘ Ausgangspunkt jeder Sozialethik sein.“ (Furger 1991, S. 135)
•
„Communities exist for the persons who are their members, and their purpose is
the protection and promotion of human dignity.“ (Dwyer 1994, S. 733)
•
„Die sozialethisch-legitimatorische Frage, ob die betreffenden Regelungen (In
stitutionen, Strukturen, Verhältnisse) gerecht sind, rekurriert auf [...] den [...] Status des Menschen als Person, denn ‚die gesellschaftliche Ordnung und ihre Entwicklung müssen sich dauernd am Wohl der Personen orientieren‘.“ (Anzenba
cher 1998, S. 188 mit Rekurs auf Gaudium et spes, 26).4 Ein soziales Gebilde ist
dann gerecht, wenn darin Menschen ihre „Bestimmung als Person“ (Anzenbacher 1998, S. 184, vgl. auch S. 189) verwirklichen können.
•
Das „Personalitätsprinzip kennzeichnet in der katholischen Soziallehre einen
GARTNER/KORFF vermeiden den Begriff (vgl. Baumgartner, Korff 1999). Es ist meines Erachtens möglich, die
individuell-substanzielle Seite des Personbegriffs dem Gemeinwohlbegriff zur Seite oder entgegen zu stellen.
Das Personprinzip dagegen bietet eine normative Orientierung an, die diese Entgegensetzung gerade vermeidet, da das Prinzip neben der substanziellen Seite die relationalen Elemente betont.
4 Die lehr- und kirchenamtlichen Texte werden zitiert nach Bundesverband der Katholischen ArbeitnehmerBewegung Deutschlands 1992.
9
10
Filipović, Das Personalitätsprinzip
analytischen und normativen Maßstab zur ethischen Auszeichnung der Strukturen und Institutionen einer Gesellschaft. [...] Mit der Bestimmung des Personalitätsprinzips als eines ‚Sozialprinzips‘ [...] wird der politisch-ökonomischen Verfassung einer Gesellschaft und ihrer Organisation in funktionalen Teilsystemen
(z. B. Wirtschaft, Recht, Bildung) eine instrumentale Funktion zugewiesen. Sie
sind ebenso Bedingung wie Resultat menschlicher Interaktion und stehen als
solche im Dienst des Menschen, dessen ontologische Signatur als ‚Individualitätin-Sozialität‘ zu bestimmen ist.“ (Höhn 1999, Sp. 61, Abkürzungen aufgelöst)
•
„Gesellschaftliche Einrichtungen sind der menschlichen Person wegen da und
nicht umgekehrt. Sie gewinnen ihre ethische Rechtfertigung also erst daraus,
dass sie sich als funktionale Vollzugs- und Entfaltungsbedingungen menschlichen
Personseins erweisen.“ (Baumgartner 2004, S. 265f.)5
•
„Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind [...] so einzurichten und auszugestalten, dass dem Personsein des Menschen Rechnung getragen, seine personale
Selbstentfaltung ermöglicht und gefördert wird.“ (Heimbach-Steins 2008, S. 183)
Das christlich-sozialethische Personprinzip erhebt den „Anspruch der Persongerechtigkeit an die gesellschaftlichen Institutionen“ (Heimbach-Steins 2008,
S. 187).
Diese Aussagen entsprechen sich zum Teil wörtlich. Der Grund dafür liegt in der gemeinsamen Bezugnahme auf einschlägige Texte kirchlicher Soziallehre. Zu nennen
ist hier zunächst die bekannte Formel der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen
Konzils (1965): „Wurzelgrund nämlich, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen ist und muß auch sein die menschliche Person, die ja von ihrem Wesen selbst
her des gesellschaftlichen Lebens durchaus bedarf“ (Gaudium et spes 25, vgl. auch
26). Eine ähnliche, frühere Formulierung findet sich in der Enzyklika Mater et magistra
219: Es „muß der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen
Einrichtungen sein. Und zwar der Mensch, sofern er von Natur aus auf Mit-Sein angelegt und sofern er zu einer höheren Ordnung berufen ist, die über die Natur ganz und
gar hinausgeht“.
2.
Personkonzept und sozialethische Argumentationsstrategien
Diese definitorischen Aussagen bleiben für sich genommen natürlich nur aussagekräftig, wenn man an der grundlegenden Argumentationsweise bezüglich des Personprinzips interessiert ist. Diese Aussagen geben also noch keine Antworten auf die Frage,
woran sich denn die Gestaltung einer persongerechten Gesellschaft näherhin orientieren soll. Auch wenn Sozialprinzipien nicht dazu geeignet sind, aus ihnen direkt Normen
für die Gestaltung der Gesellschaft ableiten zu wollen, so geben sie einen Rahmen
vor, in dem diese Normfindung zu geschehen hat. Zu fragen ist also nach dem das
Personprinzip jeweils fundierenden Personkonzept (das das Prinzip inhaltlich prägt)
und nach dem Status dieses Konzepts im (sozial-)ethischen Argumentationsgang. Untersucht man die Entwürfe von KERBER, ANZENBACHER, BAUMGARTNER/KORFF
und HEIMBACH-STEINS6 daraufhin, so können doch deutliche Unterschiede in der
Systematik ausgemacht werden. Freilich konvergieren diese Entwürfe in wesentlichen
Punkten, so dass eine politische Konkretion anhand dieser Entwürfe in praktischen
5 Vgl. auch die gleich lautenden Stellen in Baumgartner, Korff 1999, S. 227 und Baumgartner, Korff 2000.
6 Bei der Auswahl dieser Entwürfe in diesem Abschnitt war neben einer gewissen Aktualität maßgeblich
entscheidend, dass diese Entwürfe eine Bandbreite im gängigen sozialethischen Diskurs präsentieren, aber
einen eigenen Charakter aufweisen (auf den sie freilich nicht reduziert werden dürfen): KERBER steht einer traditionellen Naturrechtsethik nahe, ANZENBACHER kombiniert diese mit moderner Vernunftethik und aktueller
politischer Philosophie, BAUMGARTNER/KORFF fokussieren das spezifisch Neuzeitliche der Sozialethik und
HEIMBACH-STEINS legt Wert auf theologische und kontextuelle Hermeneutik. Andere, hier nicht zu leistende,
aber, das sei ausdrücklich betont, prinzipiell nicht weniger legitime oder erkenntnisversprechende Ansätze
könnten sich z. B. auf die Entwürfe konzentrieren, die weiter „am Rand“ des Diskurses zu lokalisieren wären,
oder z. B. auf die Entwürfe, die sozialethische Nachwuchswissenschaftler vorgelegt haben.
Filipović, Das Personalitätsprinzip
Fragen nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen muss. Die Frage nach den sozialethischen Konsequenzen der im Folgenden ausgemachten Differenzen muss aber
noch auf einen späteren Zeitpunkt aufgeschoben werden.
2.1
„Überzeitlich Gültiges“ (Walter Kerber)
Für WALTER KERBER handelt es sich beim Personbegriff nicht um ein Prinzip christlicher Sozialethik. Für KERBER gibt der Personbegriff im Grunde eine Antwort auf
die Frage, was eine menschliche Gesellschaft bzw. Gemeinschaft ist und was man
unter dem Menschen als Sozialwesen verstehen kann. Dazu hat die Sozialethik „etwas ebenso Grundsätzliches und überzeitlich Gültiges wie Griffiges über den Menschen als Sozialwesen auszusagen“ (Kerber 1998, S. 28). Jede Sozialethik (also
auch eine christliche) „muss von einer philosophischen Anthropologie ihren Ausgang
nehmen“ (Kerber 1998, S. 29). In der Definition des Menschen als Person bündelt
sich eine solche Anthropologie, die keine konkreten, sondern abstrakte Aussagen
über den Menschen treffen möchte und daher aufmerksam ist für „Elemente, die
allen Menschen als Menschen gemeinsam sind“ (Kerber 1998, S. 29). Als Kriterien
für die Personalität des Menschen bzw. als Merkmale der Personalität werden genannt: „Der Mensch ist wesentlich konstituiert durch das Mit-Sein, durch Gemeinschaft mit anderen.“ (Kerber 1998, S. 38) Dieses Mit-Sein wird weniger existenzial im
Sinne einer im menschlichen Wesen verankerten Bezogenheit auf andere, sondern
als formales Element im Sinne eines Seins, „das einer konkret existierenden Gesellschaft oder Gemeinschaft als solcher zukommt“ (Kerber 1998, S. 38). Wie wird mit
dem Personbegriff sozialethisch argumentiert bzw. wie wird daraus ein Sozialprinzip
entwickelt? „Gesellschaft“ wird als „Ordnung“ gedacht, die in der Personwürde ankert und deren Kriterium im gemeinsamen Ziel selbstständiger Personen gefunden
wird. Insofern Menschen Geistwesen sind, können sie dieses Ziel jede/jeder für sich
und zusammen erkennen und leisten damit die gesellschaftliche Integration (Kerber
1998, S. 39). Gesellschaft als Beziehungsform „reicht als etwas Nicht-Personhaftes
nicht an die Würde der Person heran, hat reinen Dienstwert, der von der Würde
der Person abgeleitet wird“ (Kerber 1998, S. 37). Formaler Ausgangspunkt dieser
Argumentation ist die Ansicht, dass jedes „Sozialgebilde [...] eine Vielheit [ist], eine
Einheit bestehend aus vielen Menschen“ (Kerber 1998, S. 28), also in dem Schema Ganzes/Teile denkt. Wird der Person ein nicht-personaler Wert vorgeordnet (wie
„Nation“), so verstößt dies gegen die Personwürde. Gründe für eine Bringschuld des
Einzelnen für die Gemeinschaft, etwa im Falle von Katastrophen, können daher nicht
in der „Höherwertigkeit der abstrakten Gemeinschaft als Gemeinschaft“ gefunden
werden, sondern nur „in der Sozialnatur der sittlichen Persönlichkeit des einzelnen,
in deren Ausrichtung auf das soziale Zusammenleben mit anderen und auf solche
gesellschaftlichen Werte“ (Kerber 1998, S. 38). Die damit angesprochene „wesentlich soziale Ausrichtung des Menschen“ betont die jeweils konkreten Menschen in
konkreter Gesellschaft und nicht bloß das Abstraktum Gesellschaft.
2.2
„Weltanschaulicher Standpunkt“ (Anzenbacher)
ARNO ANZENBACHER steht in einer ähnlichen naturrechtlichen Tradition; Sozialethik ist Naturrechtsethik (vgl. Anzenbacher 2002). Sein Grundansatz ist die Vermittlung einer klassischen naturrechtlichen Tradition mit dem modernen freiheitlichen
Vernunftrecht, für die er Grundlagen in den beiden Ansätzen selbst entdeckt. Das
Prinzip der Personalität leistet eine Formulierung des „Begriff[s] vom Mensch und
seiner Bestimmung“ (Anzenbacher 1998, S. 178), die jede ethische Reflexion des
Sozialen voraussetzen muss, da es „im Raum des Sozialen [...] immer um Interaktionen von Menschen“ (Anzenbacher 1998, S. 178) geht. Christliche Sozialethik geht
11
12
Filipović, Das Personalitätsprinzip
also von einem weltanschaulichen Standpunkt aus, der im Begriff des Menschen als
Person zusammengefasst ist. So beginnt die Bestimmung des Personbegriffs mit
einem Verweis auf die biblisch-theologische Sicht des Menschen, die
„von der Erschaffung des Menschen als Gottes Abbild über die Stellung des sündig gewordenen Menschen in den heilsgeschichtlichen Bundeskontexten des Volkes Israel bis
zu der in Jesus Christus eröffneten Berufung ‚zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder
Gottes‘ (Röm 8,21)“ (Anzenbacher 2002, S. 179f.)
reicht. Daraus entwirft ANZENBACHER fünf „Aspekte“ des christlichen Menschenbildes
(Anzenbacher 2002, S. 180–183). Diese sind Geist in Leib (Einheit von materieller Naturhaftigkeit und „Selbstbewußtsein vernunfthafter Subjektivität“ als Bei-sich-sein), MitSein (Mensch als „wesentlich“ sozial bezogene individuelle Person), moralisches Subjekt (Fähigkeit zur Autonomie), Transzendenz (existenzielle Religiosität des Menschen)
und Sünde (moralisches Subjekt in der Spannung von Schuld und Erlösung). In diesen
Aspekten, so legt ANZENBACHER nahe, besteht die „Würde der menschlichen Person“ (Anzenbacher 2002, S. 183). Die für die Sozialethik entscheidende Personalitätsbewandtnis bestehe „in der Verschränkung von Bei-sich-Sein und Mit-Sein innerhalb des
Begriffs der Person“ (Anzenbacher 2002, S. 183). Die Ausfaltung dieser sozialethischen
Anthropologie im Rückgriff auf das christliche Menschenbild zu einem Personalitätsprinzip läuft bei ANZENBACHER auf eine anspruchsvolle und umfassende Explikation der
christlich-sozialethischen Fragestellung hinaus. Ausgegangen wird vom System existenzieller Zwecke (Selbsterhaltung, ökologische, kulturelle und religiöse Zwecke in ökologischer Konditionierung), auf die der Mensch „natural unbeliebig [...] hingeordnet“ ist und
die er als „Bestimmung“ nur „in sozialer Interaktion verwirklichen“ (Anzenbacher 2002, S.
184) kann: „Nur in Partizipation am sozialen Interaktionsgeschehen vermag der Mensch
seine Bestimmung als Person zu verwirklichen.“ (Anzenbacher 2002, S. 183) Daraus
folgt das menschenrechtliche Anerkennungsverhältnis:
„Dabei impliziert diese Anerkennung, dass sie [die Menschen] sich wechselseitig jene
Rechte einräumen, die im Sinne des Systems der existenziellen Zwecke den Charakter von Grundbedingungen des Menschseins haben, und dass sie die diesen Rechten
korrespondierenden Pflichten übernehmen. Wir nennen diese Rechte Menschenrechte.“
(Anzenbacher 2002, S. 185)7
Dieses Anerkennungsverhältnis wird in Form der Menschenrechte als Grundrechte
durch den Staat als politischen Herrschaftsverband (MAX WEBER) positiviert. ANZENBACHER versteht es als „unverzichtbar-natürlich“ und zeigt aber, wie und warum es
sich als Ratschlag der Klugheit und als moralischer Imperativ begründen lässt, womit
er gleichzeitig grundlegend Stellung nimmt zum Zusammenhang von Anthropologie und
Ethik. So kommt ANZENBACHER zu seiner Formulierung des oben schon zitierten Personbegriffs als Sozialprinzip. Aufgrund der modernen Differenz zwischen Fragen des
guten Lebens und der Gerechtigkeit ergänzt er dies durch eine gerechtigkeitstheoretische Differenzierung des menschenrechtlichen Anerkennungsverhältnisses, indem er
Freiheitsrechte und soziale Rechte in einen Ausgleich bringt.
2.3
„Schlüsselrolle als ethisch relevanter Terminus“ (Baumgartner/Korff)
Bei BAUMGARTNER/KORFF wird die Personalität des Menschen zum Angelpunkt der für
die Moderne typischen sozialethischen Frage überhaupt: „[D]as ganze neue sozialethische
Paradigma mit seinem Übergreifen der ethischen Frage auf die Strukturen [ruht] letztlich auf
der Überzeugung von der personalen Würde des Menschen [auf].“ (Korff 2000, S. 385) Das
Personalitätsprinzip und die anderen Sozialprinzipien sind „als Baugesetzlichkeiten entwicklungsoffener Gesellschaft zu begreifen und lassen sich als solche keinem stationären,
essentialistisch argumentierenden Ethikmodell zuordnen [...]“ (Baumgartner, Korff 2000, S.
7 Den Ausdruck „Grundbedingungen des Menschseins“ entlehnt ANZENBACHER von OTFRIED HÖFFE (vgl.
Höffe 1996, S. 72)
Filipović, Das Personalitätsprinzip
405). Unter dieser Voraussetzung halten sie zunächst fest, „dass dem Begriff ‚Person‘ erst
im Prozess der ethischen Reflexion der Neuzeit eine Schlüsselrolle als ethisch relevanter
Terminus zugewachsen ist“. Damit stellt sich nicht mehr in erster Linie die Forderung an
den Menschen, einer „gegebenen Ordnung gerecht zu werden“, sondern die Forderung
„weitet sich dahin aus, diese Ordnungen so zu gestalten, dass sie umgekehrt auch dem
Menschen gerecht werden“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406).8 Personwürde als „Unverfügbarkeit als Person“ wird somit zu dem „letzten Maßstab“ (Baumgartner, Korff 2000, S.
406) einer äußeren Ordnung. Die Person ist ihre eigentliche „Anspruchswirklichkeit“.9 Diese
Personwürde liegt darin begründet, dass der Mensch „Zweck an sich selbst“ (Kant 2007,
S. 70, AA 434/W 68) sei. Die Aspekte der menschlichen Personalität werden vor allem als
Fähigkeiten verstanden, die ihm „eigen“ sind; genannt werden neben der Eigenheit des
moralischen Subjektstatus die Fähigkeit zu Selbstreflexion und zu „Selbstüberschreitung
auf anderes und andere hin“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406). An anderen Stellen wird
von Korff diese Anthropologie in zwei Hinsichten ergänzt bzw. vorbereitet. Er schreibt der
Liebe eine wesentliche Bedeutung für die neuzeitliche Fassung der Personwürde zu, insofern sie eine „ihr eigene Unmittelbarkeit zum Menschsein“ auszeichnet und insofern Motor,
Vorbild und Sinn der Personwürde ist (vgl. Korff 2000, S. 383). Und in dem immer noch
sehr lesenswerten Artikel „Was ist Sozialethik“ fasst Korff seine Anthropologie der naturalen Antriebskomponenten des Menschen zusammen, die er zur Sozialnatur des Menschen
rechnet: „Der Mensch ist dem Menschen Bedürfniswesen, Konkurrent und Fürsorger zugleich.“ (Korff 1987, S. 333)10 Ausgehend von dieser Anthropologie handelt es sich beim
Personalitätsprinzip um eine SOZIAL- ODER GESELLSCHAFTSTHEORIE, insofern die
drei Aspekte „gleichermaßen notwendige [...] Komponenten einer gegenwartsgerechten
ethischen und politischen Theorie der Institution“ (Korff 1987, S. 333) darstellen. Die „natural angelegte[n] Wirkkräfte“ sind nicht als „Produkte menschlicher Kulturstilisierung“ zu
interpretieren, sondern sie bestimmen „die interaktionellen Organisationsformen der höheren Lebenswelt“ (Korff 1993, S. 155).
Gesellschaftliche Einrichtungen legitimieren sich erst dann, wenn „sie sich als funktionale Vollzugs- und Entfaltungsbedingungen menschlichen Personseins erweisen“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406). Dieser „fundamentale strukturethische Zusammenhang“
sagt etwas über die
„Natur von sozialen Institutionen, gesellschaftlichen Strukturen und Ordnungsgestaltungen
aus, nämlich dass sie keine Naturbestände, keine biologisch vorgegebenen Programme,
aber auch keine zeit- und geschichtsenthobenen Wesensordnungen darstellen, sondern aus
vielfältigen Bedingungen gefügte Konstrukte sind.“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406)
Die sozialen Strukturen „sind Produkte des Menschen und damit unlösbarer Teil seiner
am Universalitätsanspruch menschlicher Personwürde auszurichtenden und zu verantwortenden Praxis“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406). Diesen Anspruch gelte es „in die
8 Eine andere Formulierung durch KORFF lautet: „Es gibt nicht nur gutes und schlechtes Handeln im Hinblick
auf gegebene Normen, gut oder schlecht können auch die dieses Handeln regelnden Normen und Institutionen selbst sein. Damit aber sieht sich der Mensch nicht nur in Gehorsamsverantwortung vor Normen gerufen,
sondern ebenso auch in Gestaltungsverantwortung für sie. Erst darin wird die besondere sozialethische Aufgabenstellung endgültig ansichtig. Sozialethik ist Ethik der gesellschaftlich übergreifenden Normen, Institutionen
und sozialen Systeme, sie ist »Sozialstrukturenethik« (A. Rich).“ (Korff 1987, S. 328)
9 Korff 1993, S. 147. Weiter heißt es dort: „Was immer den Menschen in seinem Handeln normiert, bleibt als
Produkt seiner eigenen Selbststeuerung an dessen Bedingungen und Möglichkeiten und damit an seine ‚Natur‘
zurückgebunden.“
10 Der gesamte Abschnitt lautet: „Menschliches Sozialverhalten ist keineswegs nur durch institutionelle Außenprägungen bestimmt, sondern folgt einem komplexen inneren Strukturgesetz [...]. Es manifestiert sich im
Spannungsgefüge dreier unterschiedlich aufeinander wirkender nicht voneinander ableitbarer Antriebskomponenten, die den Umgang des Menschen mit dem Menschen fundamental bestimmen, nämlich erstens einer
sachhaft-gebrauchenden Komponente, kraft deren sich der eine den anderen in der Vielfalt seiner individuellen
Möglichkeiten und Interessen zunutze macht, zweitens einer (stammesgeschichtlich aus dem innerartlichen
Aggressionsverhalten abzuleitenden) konkurrierenden Komponente, die Selbstand und Eigenwertigkeit der
Individuen im Umgang miteinander ermöglicht und sichert, und schließlich drittens einer (bis in naturale Dispositionen des Brutpflegeverhaltens zurückverfolgbaren) fürsorgenden Komponente, kraft deren der eine den
anderen nicht überspielt, sondern ihn in seinem Sein und Seinkönnen um seiner selbst willen annimmt und
zustandebringt. Der Mensch ist dem Menschen Bedürfniswesen, Konkurrent und Fürsorger zugleich.“ (Korff
1987, S. 332f.)
13
14
Filipović, Das Personalitätsprinzip
sozialen Strukturen hineinzuvermitteln und in ihnen zur Geltung zu bringen“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406). Dabei ist die Wahrung der Personwürde „grundsätzlich auf den
konkreten Menschen in seinen [...] naturalen, geschichtlichen und kulturellen Verfasstheiten bezogen“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406) und hat
„sonach notwendig etwas mit handfesten Entfaltungsbedingungen zu tun, wie sie aus
der Bestimmung des Menschen zur Freiheit, aus seiner Verantwortungsfähigkeit, seiner
Entwurfsoffenheit, seinen individuellen und sozialen Bedürfnissen, Erwartungen und Erfordernissen resultieren“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406).
Personen haben also aufgrund ihrer Würde einen „Anspruch auf Sicherung von Gütern
und die Wahrung von Rechten“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 406). Personwürde konkretisiert sich in einer Sammlung von Personrechten, die als Menschenrechte positiviert
werden und zu mehrfach dimensionierten „Gestaltungsformen der Gesellschaft“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 407) werden. Damit geht es im Personalitätsprinzip nicht nur um
einen „ethischen Begründungs- und Verweisungszusammenhang zwischen menschlicher Personwürde und Menschenrechten“ (Baumgartner, Korff 2000, S. 407), sondern
ebenso um einen solchen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und sozialen
Strukturen, die die entscheidende Bedeutung des Personalitätsprinzips in der christlichen Sozialethik eindringlich aufzeigen.
2.4
„Fundamentale menschliche Erfahrungen“ (Heimbach-Steins)
HEIMBACH-STEINS startet die Darstellung des „Grundprinzips Personalität“ mit der Diagnose, dass der Personbegriff heute eine vielfältig Verwendung findet, „insbesondere in
aktuellen ethischen Debattenzusammenhängen [...], um die großen ethischen Fragen um
Menschsein, Menschenbild und Menschenwürde zu bearbeiten“ (Heimbach-Steins 2008,
S. 179). Daher müsse eine christlich-sozialethische Formulierung des Personbegriffs sowohl die „unaufgebbaren Eckpunkte“ (Heimbach-Steins 2008, S. 179) kennzeichnen und
gleichzeitig zu einer Kommunikation über Fragen zur menschlichen Person einladen.
Damit ist der Ausgangspunkt gegeben für eine theologische Anthropologie christlicher
Sozialethik. Ausgegangen wird zunächst von den im Wirtschafts- und Sozialwort festgehaltenen Grundkonstanten des christlichen Menschenbildes:
„Im Licht des christlichen Glaubens erschließt sich eine bestimmte Sicht des Menschen:
Er ist als Bild Gottes, als das ihm entsprechende Gegenüber geschaffen und so mit
einer einmaligen unveräußerlichen Würde ausgezeichnet. Er ist als Mann und als Frau
geschaffen; beiden kommt gleiche Würde zu. Zugleich ist er mit der Verantwortung für
die ganze Schöpfung betraut; der Mensch soll Sachwalter Gottes auf Erden sein (Gen/1.
Mos 1,26-28). So ist der Mensch geschaffen und berufen, um als leibhaftes, vernunftbegabtes, verantwortliches Geschöpf in Beziehung zu Gott, seinem Schöpfer, zu den Mitmenschen und zu allen Geschöpfen zu leben. Das ist gemeint, wenn vom Menschen als
Person und von seiner je einmaligen und unveräußerlichen Würde als Person die Rede
ist.“ (Heimbach-Steins, Lienkamp 1997, S. Nr. 93)
Diese Konstanten werden als Vorlage verstanden und „dynamischer“ formuliert: „Fundamentale menschliche Erfahrungen werden aufgenommen, in denen sich Spannungen
zeigen, die das Menschsein prägen und als ethische Existenz herausfordern.“ (Heimbach-Steins 2008, S. 180) Die vier Spannungsbögen können als offene Formulierungen
des gesamten Terrains verstanden werden, auf dem menschliches Leben geschieht.
Menschen nehmen sich und andere (1) als verdankt und autonom wahr: sie erfahren
sich einem anderen Sein verdankt, als Gottes Geschöpf mit „Hoffnung auf Gelingen“ und
als eigenständig bzw. autonom. Beides wird in der theologischen Perspektive nicht als
Gegensatz wahrgenommen. Menschen erfahren sich (2) als individuell und sozial verwiesen: Individualität und Sozialität sind gleichursprünglich und notwendig zusammengehörig. Sozialität ist zudem „zugleich als Befähigung und als Bedürftigkeit zu verstehen“
(Heimbach-Steins 2008, S. 181). Dieser Gedanke betont die Körperlichkeit und verstehe
Filipović, Das Personalitätsprinzip
dadurch Leib und Geist als Einheit. Die leibgebundene Existenz wird inkarnatorisch gedeutet und erfährt dadurch besondere Würde. Menschen erfahren sich (3) als verantwortlich frei und schuldanfällig: menschliche Praxis kann gelingen, aber auch scheitern.
Im Scheitern nehmen Menschen eine Schuld wahr. Die christliche Terminologie lautet
hier Sünde und Erlösung und ist in der Rede von den „Strukturen der Sünde“ (Sollicitudo
rei socialis 36) auch sozialethisch bedeutsam. Zuletzt nehmen sich (4) Menschen wahr in
ihrer Sterblichkeit und in ihrer Fähigkeit, Grenzen des eigenen Lebens zu überschreiten:
„Die Tatsache, dass jeder Mensch sterben muss und darum weiß, bedeutet eine grundlegende Fraglichkeit des Lebens als Ganzes.“ (Heimbach-Steins 2008, S. 182). Ihre Zusammenfassung leistet ein Zweifaches, nämlich die christlich-theologische Begründung
der Personwürde und eine besondere Gestalt von Ethik:
„[D]er Mensch [ist] als Mann und Frau von Gott erschaffen und durch Jesus Christus erlöst [...]. In dieser Hinsicht sind alle Menschen gleich und mit einer unverlierbaren Würde
ausgestattet. In der Spannung von Schöpfung und Befreiung erschließt sich christlichem
Verständnis eine Ethik, die nicht zuerst eine Sollensforderung erhebt, sondern mit der
Vergewisserung und Ermutigung des von Gott geschenkten Könnens beginnt.“ (Heimbach-Steins 2008, S. 180)
Diese Skizze der „anthropologische[n] Grundüberzeugung“ wird durch „[D]ie sozialethische Reflexion ‚übersetzt‘ [...], indem sie das Personprinzip und die daraus resultierende Ausrichtung der Vergesellschaftungsformen auf das Gemeinwohl als Fundament der
Gesellschaft und ihrer Institutionen formuliert.“ (Heimbach-Steins 2008, S. 183) Hiermit
ist die klassische Formulierung des Personalitätsprinzips in Gaudium et spes 25 und
26 angesprochen. Einen wichtigen Schlussstein findet die Entfaltung des Grundprinzips
Personalität bei HEIMBACH-STEINS in einer Reflexion auf die Menschenrechte, die
als „Auslegung des Personprinzips“ verstanden werden. Menschenrechte repräsentieren nicht nur das personale Ethos, sondern gießen dieses „in eine rechtlich bindende
Gestalt“ (Heimbach-Steins 2008, S. 184). Offenbar geschieht die Auslegung also nicht
oder weniger auf der repräsentativen Eigenschaft der Menschenrechte, sondern in der
Ausformulierung einer rechtlichen Gestalt. Damit greifen sie die „Sicherung von Freiheit“
und „Spannung von Individualität und sozialer Gebundenheit der personalen Existenz“
auf und legen diese aus durch rechtliche Formulierungen zum „Schutz der persönlichen
Sphäre, durch Sicherung von politischen Partizipationsrechten und durch die Absicherung grundlegender Bedürfnisse und Ansprüche“ (Heimbach-Steins 2008, S. 185).
2.5
Auswertung
Die Gemeinsamkeiten sind unverkennbar. Beim Durchgang durch wichtige Entwürfe christlicher Sozialethik hat sich gezeigt, wie der Personbegriff inhaltlich gefüllt
wird und wie mit ihm sozialethisch argumentiert wird. Die Zusammenstellung zeigt
zugleich eine reichhaltige Terminologie theologischer Anthropologie und ihrer sozialethischen Reflexion. Freiheit, Subjekthaftigkeit, Moralität, Vernunft, Würde, Selbststand, Identität, Verwiesenheit, Mit-Sein und Sozialität, Leiblichkeit und Personrechte
– die Vielfalt der uns begegneten personalen Eigenschaften, Prädikate, Eigenheiten,
unaufgebbaren Eckpunkte, Fähigkeiten, Bestimmungen, der fundamentalen menschlichen Erfahrungswerte und menschlicher Natur und naturalen und geistigen Verfasstheit soll hier nicht Gegenstand einer Kritik in dem Sinne sein, dass das eine
begründet dazu gehört und das andere nicht. Auch die mindestens für den/die systematisch interessierte(n) Sozialethiker/-in spannenden Unterschiede, vor allem hinsichtlich der abwägenden und sehr vorsichtig geäußerten „Natur“ oder „Bestimmung“
des Menschen und ihrer theologischen, metaphysischen, transzendentalen oder
theologisch-hermeneutisch-erfahrungsbasierten Herleitung (inklusive ihrer Kombinationsmöglichkeiten), sollen nicht als solche behandelt werden. Innerhalb ihrer jeweiligen Konzeption argumentieren alle herangezogenen Entwürfe auf hohem Niveau
und bereichern durchweg. Obwohl man wohl vor allem an der Argumentation von
15
16
Filipović,
Personalitätsprinzip
B. Vinke, Das
Partizipation
als pädagogische Haltung
KERBER merkt, dass selbst eine vorsichtig und abwägend vorgetragene ableitende
Naturrechtsethik in der Durchführung für heutige theologisch-ethische „Ohren“ befremdet, kann festgehalten werden: Die inhaltlichen Konvergenzen des Menschenbildes zu z. B. einer hermeneutisch-erfahrungsbezogenen theologischen Anthropologie
à la HEIMBACH-STEINS sind kaum so groß zu nennen, als dass einem der beiden
Entwürfe eine „Wahrheit“ abgesprochen werden kann.
Was allerdings schwerer wiegt, ist ein Argument, das letztlich der Frage und dem
Bestreben nach der Wirksamkeit christlicher Sozialethik geschuldet ist: Die plurale
(Welt-)Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Vorannahmen, Traditionen, religiösen
Identitätsrahmen, Kulturen, Communities – letztlich: mit ihren unterschiedlichen Menschenbildern – ist der Referenzrahmen und Resonanzraum christlich-sozialethischen
Nachdenkens und Sprechens. Nur hier kann sich Christliche Sozialethik bewähren
und hier sind der Ort und die Zeit, an dem und in der die Gesellschaft persongerecht
durch sie in christlich motivierter und verantworteter Zeitgenossenschaft mitgestaltet
werden möchte.11 Wo keine rechtsstaatliche Demokratie verankert ist, wird christliche
Sozialethik aufgrund ihrer eigenen Grundlage helfen, diese zu befördern. In modernen säkularen Demokratien ist dann aber eine religiöse Begründung sozialethischer
Vorschläge „prekär“; klassisch-liberale Vorstellungen gehen so weit zu fordern, dass
in öffentlichen Aushandlungsprozessen „weltanschauliche“ und damit partikuläre Argumente nichts zu suchen haben. Als Argument könne nur gelten, was prinzipiell von
jeder und jedem einzusehen ist.12
Wie auch immer man zu diesem liberalen Verständnis von Religion und Demokratie steht: Die Frage der Gesprächsvoraussetzung stellt sich in unserer pluralen Gesellschaft auf jeden Fall, und Christliche Sozialethik muss dazu etwas sagen. Die
naturrechtliche Argumentation der Neuscholastik versuchte dies durch eine Theologieabstinenz zu lösen, um über (eine bestimmte) Philosophie eine gemeinsame
Gesprächsgrundlage zu schaffen. Eine solche Preisgabe der eigenen wesentlichen
christlichen Identität erscheint heute nicht sinnvoll; zu wertvoll sind die Identitätsmerkmale. Ein Verbergen der implizit doch immer vorhandenen Vorprägung eines
jeden Sozialethikers führt dazu, nicht mehr ernst genommen zu werden. Der Auftrag
lautet heute, Voraussetzungen und materiale Optionen explizit zu machen und DARÜBER in eine Verständigung einzutreten.13 Daher geht momentan der Versuch in
Richtung einer Abschwächung dezidiert christlicher Anthropologie oder in Richtung
einer „dynamischen“ Formulierung zentraler Topoi des christlichen Menschenbildes.
ANZENBACHER wählt den ersten Weg: Mit Recht schätzt er seinen Personbegriff
als „weltanschaulich voraussetzungsreich“ und „stark“ ein und formuliert: „Im Diskurs mit anderen Positionen können bei bestimmten Fragestellungen allerdings auch
schwächere Fassungen hinreichend sein.“ (Anzenbacher 1998, S. 183) In der erfahrungsbasierten theologischen Anthropologie von HEIMBACH-STEINS wird die
Kommunikabilität der theologischen Position mit einer „dynamischen Formulierung“
von untereinander in Spannung stehenden Koordinaten erreicht (Heimbach-Steins
2008, S. 180f.). Hinzu kommt ihre Andeutung, der Kanon der Menschenrechte wäre
eine Auslegung des Personprinzips, die – unter der Voraussetzung, dass Auslegung
immer auch Sinnkonstitution ist – das Personprinzip dann zusätzlich allgemein kommunikabel macht (insofern die Menschenrechte allgemein kommunikabel sind). Ein
durch die Menschenrechte ausgelegtes Personprinzip stellt dann auch eine Vorgabe
für christlich-sozialethisches und kirchliches Denken dar. Aber schon der Rückgriff
auf menschliche Erfahrung (statt auf „Natur“) deutet hier auf eine allgemeine Ver11 Vgl. zu diesem Verständnis „verantworteter Zeitgenossenschaft“ Auer 1986. Voraussetzung dieser Vorstellung ist die kirchliche „Annahme der Welt in ihrer ‚Wirklichkeit‘“, die in der Pastoralkonstitution des II. Vaticanums formuliert wird (vgl. Lehmann 1989, hier S. 169). Das verweist auch auf die sozialethische Hermeneutik,
die sich anhand des Stichwortes der „Zeichen der Zeit“ artikuliert (vgl. Heimbach-Steins 1997). Dieser ganze
Zusammenhang wird von HÖHN in die Fassung „Sozialanalyse als Zeitdiagnose“ gebracht (vgl. Höhn 1991,
hier S. 283).
12 Mit JEFFREY STOUT stehe ich dieser Einstellung kritisch gegenüber (vgl. Stout 2005).
13 Das ist der Kernsatz von ROBERT BRANDOMS großem Versuch der Grundlegung einer normativ relevanten Bedeutungstheorie, vgl. Brandom 2000 (engl. Titel: Making it Explicit, 1994).
B. Vinke, Partizipation
pädagogische
Haltung
Filipović,als
Das
Personalitätsprinzip
ständigungsbasis hin, wobei die Ausführung natürlich stark auf eine im christlichen
Kontext situierte und artikulierte Erfahrung rekurriert.14
So entscheidend der grundsätzliche Modus ist, in dem auf das christliche Personverständnis als Legitimationsbasis gesellschaftlicher Strukturen hingewiesen wird,
so sehr ist, das zeigt der Durchgang durch die Texte, der spezifische systematische
Kontext bedeutsam, in dem mit dem Personbegriff argumentiert wird. Hier ist Differenzierungsarbeit zu leisten. Christliche Sozialethik erschöpft sich nicht allein im
normativ-politischen Streit um die Gestaltung des Sozialstaats oder der (menschen-)
rechtlichen Normierung. Sie ist kein Appendix einer ins soziale gedrehten Moraltheologie als Individualethik und auch keine passive Verwertungswissenschaft der
Soziologie, Politologie und Volkswirtschaft. Auf verschiedenen Ebene gilt es also,
ein eigenes sozialethisches Profil zu entwickeln, oder anders: mit einem normativ
gehaltvollen Personbegriff umzugehen. In Fragen der politischen Umsetzung, in philosophisch und theologisch grundlegender Hinsicht oder in sozialwissenschaftlicher
Weise leistet der Personbegriff Unterschiedliches.
Diese verschiedenen Ebenen können aus der Darstellung sozialethischer Personalitätskonzepte gewonnen werden: Zunächst hängt der Personbegriff unmittelbar mit
dem Ethikbegriff zusammen. Die Person als moralisches Subjekt oder ihre Sozialität
als Bedürftigkeit zu kennzeichnen ist nicht nur eine anthropologische, sondern auch
eine ethische Frage. Der Personbegriff wird also (1) auf der Ebene des Verhältnisses
von Anthropologie und Ethik relevant. Die die Gesellschaft formende Antriebsstruktur des Menschen und Relationalität der Personalität (die konstitutive Relevanz des
Anderen für das Ich oder Selbst) bringen die Ebene des Gesellschafts-, Institutionen- und Strukturbegriffs in den Blick. Christliche Sozialethik braucht notwendig eine
Vorstellung bzw. Reflexion ihres Gegenstandes (des Sozialen). Die Frage lautet (2):
Wie kann und wird auf dieser gesellschafts- und sozialtheoretischen Ebene mit dem
Personbegriff umgegangen. Und schließlich führt die eminente Bedeutung der Verrechtlichung des personalen Anspruchs als notwendige Praxisbewegung christlicher
Sozialethik (3) zur Ebene des Rechts, die in modernen Rechtsstaaten immer auch
die der demokratischen Politik ist.
Bei diesen Ebenen geht es letztlich um das Design der Disziplin Christliche Sozialethik: Es sind diese Ebenen, die das Diziplinierende des Faches darstellen: (theologische) Ethik - Sozial- und Gesellschaftswissenschaft – Politik und Recht.15 Es ist
nicht zufällig, dass sich diese sehr grundsätzliche Fragestellung nach der Gestalt der
Disziplin christliche Sozialethik im Kontext des Personalitätsprinzips stellt, denn mit
diesem Prinzip ist schließlich die Grundlegung christlicher Sozialethik auf den Begriff
gebracht. Eine Reflexion dieses Prinzips bedeutet also auch notwendig eine Reflexion der Disziplin.
Eine intensive Entfaltung jeder Ebene ist an dieser Stelle nicht möglich; ich beschränke mich auf die grundlegende Ebene von Anthropologie und Ethik.
14 Der Rückgriff auf „menschliche Erfahrung“ oder der Umgang mit „Erfahrung“ als hermeneutischem und
erkenntnistheoretischem Schlüsselwort ist in der christlichen Sozialethik eher selten anzutreffen. Bei HEIMBACH-STEINS steht der Begriff im Kontext eines hermeneutisch-kontextuell vermittelten und dialogisch gefundenen theologischen Standpunkts (vgl. Heimbach-Steins 1995). Bei MIETH hat „Erfahrung“ den Status eines
Zirkulationspunktes theologischer Ethik (vgl. Mieth 1999 und Mieth 1998), den HAKER dann vor allem narrativ
entfaltet und auf Identität hin denkt (Haker 1999). Vgl. allgemein zur hermeneutischen und narrativen Ethik
Lesch 2002. Dass „Natur“ nicht anders erkannt werden kann als über Erfahrung, Erfahrung und Natur also nicht
zwei sich störende Größen sind (z. B. in dem Sinne, dass Erfahrung wahre Natur verfälscht oder „ungenügend“
wiedergibt), steht im Mittelpunkt des Werkes von JOHN DEWEY (Dewey 1993, engl. 1925).
15 Auf allen drei Ebenen ist der Modus wiederum relevant: Interdisziplinäre Konstellationen und die gesellschaftliche Situation mehrerer, sich vielleicht untereinander ausschließender Vorannahmen sind der Referenzrahmen für eine christliche Sozialethik in verantworteter Zeitgenossenschaft. Auch können die Ebenen nicht
so voneinander getrennt werden, dass sie allein für sich in der Perspektive der Sozialethik analysiert und
bearbeitet werden können. Die Ebenen sind eng miteinander verknüpft und Präferenzen auf der einen Ebene
beeinflussen die Möglichkeiten auf der anderen.
17
18
Filipović, Das Personalitätsprinzip
III.
Die grundsätzliche Problemebene:
(Theologische) Anthropologie und Ethik
1.
Anthropologie und normative Orientierungen
Durch die Psychoanalyse, die Sozialwissenschaften und vor allem durch die Biologie besonders in der Gestalt der Evolutionsbiologie ist der Anspruch von Theologie und Philosophie,
alleinig für die Anthropologie verantwortlich zu sein, seit längerer Zeit aufgeweicht. Die Evolutionsbiologie mit ihrer Initiation durch CHARLES DARWIN und in ihren spezifischen Weiterentwicklungen (Ethologie, Soziobiologie und Evolutionspsychologie) beeindruckt durch das
Angebot einer umfassenden kausalwissenschaftlichen Erklärung nicht nur für das Natur-,
sondern immer mehr auch für das Geistwesen Mensch (Illies 2006, S. 10). Die biotechnische
Revolution unserer Tage nimmt diese Fäden auf und verbindet sie mit neuen Allmachtsphantasien über die Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten.
Als damalige Reaktion auf diese sich entwickelnden ernst zu nehmenden wissenschaftlichen
Theorien über das allgemein Humane (hinzuzählen lassen sich auch die Ökonomie und die
entstehende Sprachwissenschaft) entstanden eine Reihe von Texten, die zusammen die
„Blüte der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert“ (Illies 2006, S. 19) ausmachen. Die entscheidenden Werke dieser Zeit von MAX SCHELER, HELMUTH PLESSNER
und ARNOLD GEHLEN reagieren alle auf eine Herausforderung:
„Ist der Mensch ein Gegenstand der Wissenschaften unter vielen anderen, dessen Tun und
Lassen, aber auch Denken und Fühlen aus den soziokulturellen Umständen (etwa den Produktionsbedingungen) oder unbewussten Triebimpulsen (etwa der Libido) abschließend verstanden werden können?“ (Illies 2006, S. 10).
In der Anthropologie des frühen 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach dem Wesen des
Menschen wieder vermehrt gestellt und versucht zu beantworten. Mit der Krise der Wesensmetaphysik hat dann die philosophische Anthropologie an Bedeutung verloren und
die moderne biologische Anthropologie, zum Teil explizit mit philosophischem Anspruch,
rückt an ihre Stelle.
Warum ist es notwendig, dennoch nach Wegen einer philosophischen und theologischen
Anthropologie zu suchen? ILLIES nennt für den Fall der philosophischen Anthropologie
unter anderem das Argument, dass wir „praktisch genötigt [sind], ein philosophisches
Selbstbild zu entwickeln“ (Illies 2006, S. 25). Er geht aus von KANTS Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht:
„Eine Lehre von der Kenntniß des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann
es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. - Die physiologische
Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen
macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht,
oder machen kann und soll.“ (Kant, AA XII, 119)
Die praktische (bei Kant pragmatische) Anthropologie erscheint als praktische Notwendigkeit. Jede Vorstellung von dem, was wir tun wollen, schließt eine Selbstdeutung ein. Diese
wiederum ist ohne eine normative Orientierung nicht denkbar: Identität wird definiert durch
einen Rahmen, der vorgibt, was gut ist und getan werden sollte, und der es überhaupt erst
möglich macht, einen Standpunkt zu beziehen (Taylor 1994). Der deskriptiven Wissenschaft
des Menschen (bei KANT die „physiologische Menschenkenntniß“), auch die mit einem philosophischen Anspruch auftretende biologische Anthropologie, ist eine Begründung normativer Einsichten nicht möglich, weil sie damit ihre methodischen Grenzen überschreitet.
Wie ist angesichts dieser Problemlage das Verhältnis von Anthropologie und Ethik zu beschreiben? Die evolutionäre Ethik geht davon aus, dass Anthropologie Moralität begründen
kann. Auch wenn man sich der Argumentation anschließen kann, dass dies nicht möglich
ist (Illies 2006, Kap 5.4 und 7), so bleibt das Verhältnis von Anthropologie und Ethik doch
schwierig, da die menschliche Frage nach seinem Selbstverständnis unvermeidbar ist und
Filipović, Das Personalitätsprinzip
normative Implikationen notwendig einschließt, und Ethik, wenn man sie nicht auf die formale
Begründung von Moralität schlechthin einengt, mit dieser Normativität zu tun hat. Hier sieht
man, dass die Anthropologie auch auf die Ethik zurückwirken, wenn sie sie auch nicht „begründen“ kann (vgl. Thyen 2007).
2.
Hermeneutische Anthropologie
Eine mit JEAN-PIERRE WILS (Wils 1997) akzentuierte hermeneutische Anthropologie kritisiert formale Ethikkonzeptionen in der Hinsicht, dass diese ohne empirische Erkenntnisse
auskommen wollen. Insofern wohnt der hermeneutischen Anthropologie in Bezug auf eine
so ausgerichtete Sozialethik ein wichtiges empirisch-deskriptives Korrektur-Moment inne.
Eine solche hermeneutische Anthropologie sieht aber auch, dass empirische Erkenntnisse
einer Deutung aus ethischer Perspektive bedürfen. Weder das empirische noch das normative Moment soll also aufgegeben werden. Hier gelingt die Vermittlung mit einem Begriff der
hermeneutischen Anthropologie, der für die Bestimmung des Christlichen einer Anthropologie hilfreich ist:
„Gerade in diesem Spannungsfeld hat Anthropologie eine korrelativ-kritische Funktion: Empirische Korrekturen ethischer Engführungen und ethische Korrekturen empirischer Reduktionismen gehören zu ihrer genuinen Aufgabe. Ich verstehe also unter Anthropologie eine
hermeneutische Betätigung, eine interpretative Tätigkeit hinsichtlich dominanter und/oder
signifikanter Erfahrungen und Selbstthematisierungen des Menschen.
Anthropologie will nämlich zugleich mehr sein als eine deskriptive und doch weniger als
eine rein präskriptive Wissenschaft. Positiv ausgedrückt: Anthropologie unternimmt den
Versuch, den latenten Empiriemangel ethischer Theorien auszugleichen und die Distanz
zu normativen Schlussfolgerungen bei den empirischen Wissenschaften zu verringern.
Anthropologie macht die Empirie normfähig und die Ethik empiriefähig.“ ((Wils 1997, S.
40), Hervorheb. i. Orig.)
Diese Konzeption eröffnet die Möglichkeit einer hermeneutischen Sozialethik, für die der Zusammenhang von „Wirklichkeit und Sollen“ (Mieth 2002, S. 223) im Zentrum steht. Diese
Terminologie kann also als Kurzformel einer theologisch-ethischen Hermeneutik verstanden
werden und ist so das komplementäre Gegenstück zur herangezogenen hermeneutischen
Anthropologie. Wirklichkeit ist doppeldeutig: „Der Begriff »Wirklichkeit« umschließt das Reale
und das Mögliche zugleich.“ (Mieth 1998, S. 31) Damit liegt im Begriff der Wirklichkeit trotz
der Kontrafaktizität des Sollens gegenüber den empirischen Verhältnissen der Grund für
die prinzipielle Vermittelbarkeit von dem, was mit Wirklichkeit und mit Ethik bezeichnet wird.
Sozialethik erscheint als eine engagierte Wirklichkeitswissenschaft.16 Das Sozialethische ist
in diesem Sinne eine „reflektierte Anerkennung anthropologischer Bedürftigkeit“ im Kontext
von Gesellschaft, eine
„Parallelsprache, die zwar nicht aus ‚Ist’-Plausibilitäten deduziert werden kann, die sich aber
mit der ‚Ist’-Plausibilität [in] einer gewissen Konvergenz befindet, nicht wie Linien, die sich
im Unendlichen schneiden, so[ondern] in der Art wie auf zwei Parallelstraßen die jeweilige
Plausibilität des Ist im Soll und die jeweilige Evidenz des Soll im Ist beobachtet werden kann“
((Mieth 1998, S. 64).
3.
Theologisch-sozialethische Antworten auf die Herausforderung
Die theologische Ethik hat traditionellerweise weniger das Problem, aus humanwissenschaftlich-deskriptiven Aussagen über den Menschen Sollenssätze abzuleiten, d. h. mit
empirischer Anthropologie die Ethik zu begründen. Die theologische Anthropologie hat
16 Für die sich hier andeutende Integration von Erkenntnistheorie und Ethik vgl. in Orientierung vor allem am
Pragmatisten JOHN DEWEY Filipović 2008.
19
20
Filipović, Das Personalitätsprinzip
es vielmehr mit der von KANT bei CHR. WOLF diagnostizierten kreisförmigen Verstrickung zu tun, wenn das Gesollte aus einer metaphysischen Wesensnatur des Menschen
abgeleitet wird (Schröer 1988).
Wie aber soll die theologische (Sozial)Ethik hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Anthropologie auf die Herausforderung reagieren, Anthropologie und Ethik in ein Verhältnis zu setzen?
Innerhalb einer Kantischen Ethik bleiben dafür nur beschränkte Möglichkeiten offen, da darin
die Entflechtung einer metaphysischen und empirischen Anthropologie von der Ethik konstitutiv ist. Es ist kein Wunder, dass die christliche Sozialethik nach der Verabschiedung des
neuscholastischen Paradigmas sich auch gegenüber der Anthropologie abstinent verhielt,
weil sie mehrheitlich diskursethisch orientiert war (Bohmeyer 2006) und diese Orientierung ja
auf wesentlichen Elementen der kantischen Ethik beruht.
Dies gilt in ähnlicher Weise für sozialethische Entwürfe, die einen transzendentalphilosophischen Autonomiebegriff ganz in das Zentrum stellen, also freiheitsanalytisch verfahren und
deontologisch ansetzen.17 Freilich operieren diese Beiträge nicht ohne eine Anthropologie,
aber sie ist minimal-formal angelegt und daher fällt eine oben angesprochene Vermittlung
von Wirklichkeit und Ethik schwer. Gerade aber z. B. bei HÜBENTHAL wird die freiheitsanalytische Herangehensweise durch eine passende „Anschlusstheorie“ (Hübenthal 2006,
S. 206) ergänzt, die am Handlungsbegriff ansetzt, aber in gewisser Weise ebenso minimalistisch verfährt und nach „zusätzlichen anthropologischen Überlegungen“ (Mieth 2004, S.
74, Anm. 14)18 verlangt. Die von HÜBENTHAL gezeigten Parallelen zum hermeneutischphänomenologischen Ansatz von CHRISTOF MANDRY (Mandry 2002) und die Option für
die Integration einer Ethik des guten Lebens und der Sollensethik (Hübenthal 2006, S. 199)
deuten hierfür Wege an, die aber von ihm für das Programm einer Grundlegung christlicher
Sozialethik nicht weiter verfolgt werden.
Vielversprechend scheint die sozialethische Aufnahme des Anerkennungsbegriffs. AXEL
HONNETH, durchaus in der Tradition der kritischen Theorie stehend, hat hier viel geleistet
(Honneth 1992) und die sozialethische Beschäftigung mit diesem Entwurf kann fruchtbar
gemacht werden in dem Sinne, dass sie mit einer geschichtlich-kontextuellen theologischen
Anthropologie vermittelt werden kann (Bohmeyer 2006).19
Wie der Durchgang durch die sozialethischen Konzepte gezeigt hat, liegt eine solche geschichtlich-kontextuelle theologische Anthropologie als Grundlegung christlicher Sozialethik
vor (WILS, MIETH, HAKER, HEIMBACH-STEINS). Das Schlüsselwort dieser Anthropologie
ist Erfahrung, ihre Methode ist induktiv, sie begründet sich biblisch und ihr Charakteristikum
ist, dass sie es vermeidet, einen Katalog menschlicher Eigenschaften, Prädikate und Eigenheiten aufzustellen. Der ihr entsprechende Ethiktyp ist narrativ und/oder rekonstruktiv hermeneutisch beziehungsweise theologisch-kontextuell (vgl. zu diesem Ethiktyp Lesch 2002).20
4.
Personbegriff im Verhältnis von Anthropologie und Ethik
Der Personbegriff bleibt höchst bedeutsam für jede Ethik; in ihm wird der Brennpunkt
der Ethik beschrieben, insofern er die in der Selbstzwecklichkeit begründete Würde des
Menschen ins Spiel bringt. Theologisch-ethisch bleibt er zentral, weil er die Würde des
17 Vgl. z. B. Hübenthal 2006, Hausmanninger 2002 und Pröpper 1995.
18 HÜBENTHAL meint dieser Forderung zu entsprechen, in dem er in seinem Handlungsreflexiven Ansatz
„ein substanziell anspruchsvolles Moralprinzip“ (Hübenthal 2006, S. 266) erkennt. Hinsichtlich der grundsätzlichen Strategie, die Anthropologie durch den Handlungsbegriff mit der Sozialethik zu vermitteln, kann man
kritisch sein, da man sich dadurch Probleme mit der Gesellschaftstheorie einhandelt: „Der Mensch wird an der
Unterseite des Handlungsbegriffs angeklammert und, wie Odysseus am Fell des Liebsten der Böcke, aus der
Zyklopenhöhle in die Gesellschaft seiner Gefährten gerettet.“ (Luhmann 2005b, S. 9)
19 Ein weiterer Versuch der Vermittlung von Anthropologie und theologischer Sozialethik (auf den hier nicht
weiter eingegangen werden kann) besteht in der Berücksichtigung des capabilities approach von MARTHA
NUSSBAUM. Vgl. dazu Winkler 2006, S. 135–139.
20 Ein an einer Vermittlung von philosophischem Pragmatismus und Christlicher Sozialethik interessierter
Entwurf scheint hier weitere Möglichkeiten zu präsentieren. Vgl. die dafür bereits vorliegenden ersten vorbereitenden Versuche Filipović 2008 und Filipović 2007.
Filipović, Das Personalitätsprinzip
Menschen an sein Gottesverhältnis koppelt. Auf der Ebene der Moralität und auf der
Ebene der (die Moral reflektierenden) Ethik auf diese Weise von „Person“ zu sprechen
leitet aber auch zu konkreteren Aussagen über das Menschsein über: Die Notwendigkeit
einer philosophischen und für die christliche Sozialethik theologischen konkreten Anthropologie ist begründet in der nicht zu trennenden unvermeidbaren menschlichen Selbstdeutung und den darin enthaltenen normativen Orientierungen. Die in unterschiedlicher
Gestalt vorliegende Selbstdeutung dieser Personen hat normative Implikationen, die auf
die Ethik zurückwirken. Ob diese (christlichen) Selbstdeutungen, die aus der intersubjektiven (Gottes-) und Welterfahrung immer neu entstehen, überhaupt sinnvoll in einem
Begriff der Person vereint werden können, erscheint mir zweifelhaft. Die Selbstdeutungen des Menschen, insofern sie als Gegenstand einer Reflexion vorliegen, sind gar nicht
anders als geschichtlich und kontextuell zu denken, d. h. sie sind kulturell geformt und
hängen von je verschiedenen Bedingungen der Identität ab. Ganz abgesehen von der
unbeantwortbaren (aber vielleicht notwendigen?) Frage, ob in diesen Selbstdeutungen
ein ungeschichtlicher, sogar wesensmäßiger Kern des Menschen verborgen liegt, wird
der Versuch, das Menschliche in einem Katalog von Attributen festzuhalten, „unvermeidlich dilettantisch“ (Luhmann 2005a, S. 260). Mit einem starren, gegen zeitgebundene
Phänomene sich abschottenden Katalog personaler Attribute im Rücken verspielt die
Ethik tendenziell ihre Möglichkeiten, mit der sich ändernden und je neu zu entdeckenden
Wirklichkeit in Kontakt zu treten.
Gegen die mit der notwendigen Aktualisierung des Personbegriffs entstehende Gefahr,
gesellschaftliche Zustände zu affirmieren, ist nicht nur das Würde-Attribut in der Selbstzweckformel (z. B. freiheitsanalytisch) zu bewahren und kritisch einzubringen. Auch die
Selbstdeutungen des Menschen, die aus ihren Erfahrungen entstehen, können das leisten. Wenn Christinnen und Christen, ausgehend von den in der Bibel urkundlich bewahrten intersubjektiven Gottes- und Welterfahrungen, ihre je spezifischen Selbstdeutung (in Liturgie, Diakonie, Verkündigung und Theologie) zum Ausdruck bringen, führt
das bestimmte normative Optionen mit sich, die kritisch gegen andere Selbstdeutungen
einzubringen sind und deren normative Orientierungen argumentativ unterstützt werden
können. Diese Selbstdeutungen samt ihrer normativen Implikationen sind aber nicht abzuleiten, sondern herauszufinden. Dieses Herausfinden, sofern es methodisch gesichert
geschieht und seine Ergebnisse der Überprüfung durch andere ausgesetzt werden, nennt
man theologische Anthropologie und sie wirkt auf die Ethik als Begründungs- und Reflexionsgestalt inhaltlich zurück. Das Ergebnis dieser Anthropologie ist ein dynamisches
christliches Menschenbild, das ohne eine Liste menschlicher Attribute auskommt und auf
reflektierter menschlicher Erfahrung beruht. Dies ist der „weltanschauliche Standpunkt“
christlicher Sozialethik, der sich einer genauen Ortsangabe entzieht.
Die Herausforderung, Anthropologie und Ethik in ein Verhältnis zu setzen, lässt sich umformulieren zu der Herausforderung, menschliche Erfahrungen als Deutungen in unterschiedlichster Gestalt (als Erzählungen, als Kunst, als Wissenschaft...) wahrzunehmen,
sie zu verstehen und zu reflektieren und auf ihre normativen Implikationen zu untersuchen. Die Würde der menschlichen Person und die konkreten Selbstdeutungen des
Menschen sind das normative Fundament. Formal ist es in der Selbstzweckfomel unverhandelbar und steht für eine Begründung moralischer Urteile zur Verfügung, inhaltlich ist
es aber offen zu halten und erfahrungsbasiert zu erheben und steht als Kompass und
Maßgabe für eine verantwortliche Zeitgenossenschaft christlicher Ethik zur Verfügung.
Eine christliche Sozialethik, die mit einem Personprinzip operiert, steht vor der Herausforderung, den Personbegriff nicht zu überfrachten. Das Personprinzip verweist dann auf
die unveräußerliche Würde jedes Menschen und darauf, menschliche Selbstdeutungen
ernst zu nehmen, also sich auf eine konkrete Anthropologie zu beziehen, die nicht aus
Ableitungen und festen Setzungen besteht. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.
21
22
Filipović, Das Personalitätsprinzip
IV.
Der Personbegriff als Grundlage politischer Bildungsarbeit
in christlicher Verantwortung?
Im bisherigen Verlauf der Überlegungen ist nicht dafür plädiert worden, das Gesellschaftliche
auf die Sozialität des Menschen zurückzuführen. Dass der Mensch „seinem Wesen nach“
ein soziales Wesen ist und von daher diese Sozialität die Grundnorm alles Sozialen ist, ist in
dieser Form der Argumentation ein methodisch fragwürdiger Kurzschluss. Die menschliche
Eigenschaft oder Bestimmung der Sozialität kann sozialethische Urteile nicht begründen und
ist so formuliert auch schwerlich als eine menschliche Selbstdeutung zu identifizieren, die auf
die Sozialethik inhaltlich einwirken kann. Wenn sie dennoch als solche identifiziert wird, dann
nur als eine geronnene Form, die zwar zurückliegende Erfahrungen in sich aufgenommen
hat, aber die mittlerweile so abstrakt geworden ist, dass deren implizite konkrete normative
Optionen nicht mehr zu identifizieren sind. Eine Bezugnahme auf die wesensmäßige Sozialität des Menschen bleibt so für sozialethisches Denken gleichsam nur gut gemeint, gibt aber
dem sozialethischen Vorschlag nichts inhaltlich Bemerkenswertes hinzu.
Dies bedeutet freilich nicht, dass man sich deswegen von der Maßgabe, gesellschaftliche
Strukturen, Institutionen oder das Gesellschaftliche im Ganzen sollen persongerecht gestaltet werden, verabschieden könnte. In formaler Hinsicht bedeutet persongerecht, dass
die Selbstzwecklichkeit des Menschen Ziel und Grenze gesellschaftlicher Strukturen und
Institutionen ist. In inhaltlicher Hinsicht bedeutet dies, dass sie seinen Selbstdeutungen entgegenkommen und sich befragen lassen müssen, ob sie den darin implizierten normativen
Orientierungen entsprechen. Diese Selbstdeutungen sind aber kontingent, plural, veränderlich und, wie sollte es anders sein, selbstbestimmt. Der freiheitsanalytische Begründungsweg
christlich sozialethischer Urteile, der die Freiheit und die Autonomie des Menschen betont
und im Ausdruck Person auf den Begriff bringt, ist seinerseits wieder systematisch untrennbar
mit der Selbstzwecklichkeit verbunden. Selbstbestimmte Selbstdeutung soll also sein. Wenn
dies so ist, und Gesellschaft muss sich dadurch legitimieren, dann ist der Inhalt menschlicher
Selbstdeutung Startpunkt einer Sozialethik, die die Verfassung des Menschen ernst nimmt
und die Wirklichkeit und das Sollen des Menschen nicht getrennt voneinander behandelt.
So geht es um die menschliche Erfahrung von und in Sozialität, wie sie sich heute darstellt.
Sie liegt in den verschiedensten Ausdrucksformen vor, etwa in Literatur, Kunst, öffentlicher
Kommunikation und Film. Hier zeigt sich aktuell, dass es gerade die Erfahrung des Ausgeschlossenseins ist, die Menschen heute in und mit der Gesellschaft und ihren Formen
machen. Die Phänomene der Abkopplung und Ausgrenzung werden ansichtig in der Rede
von der Hauptschule als „Restschule“, von der sich abkapselnden Unterschicht und von dem
abgehängten Prekariat. „Bestimmte Gruppen“, so HEINZ BUDE, verlieren „den Anschluss
an den Mainstream unserer Gesellschaft. Sie laufen mit, aber sie haben keine Adresse in der
kollektiven Selbstauffassung unseres Gemeinwesens.“ (Bude 2008, S. 9) Diese Ausgrenzung ist nicht restlos auf Benachteiligung zurückführbar:
„Sie betrifft vielmehr die Frage nach dem verweigerten oder zugestandenen Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft. Sie entscheidet darüber, ob Menschen das Gefühl haben,
dass ihnen Chancen offenstehen und dass ihnen ihre Leistung eine hörbare Stimme verleiht,
oder ob sie glauben müssen, nirgendwo hinzugehören, und dass ihnen ihre Anstrengung
und Mühe niemand abnimmt. Für die Exkludierten gilt der meritokratische Grundsatz ‚Leistung gegen Teilhabe’ nicht mehr. Was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt
keiner, und was sie fühlen, kümmert keinen.“ (Bude 2008, S. 14f.)
Diese „Erzählungen“ (und gemeint sind damit auch sozial- und politikwissenschaftliche „Erzählungen“) drängen zurzeit an die Oberfläche, müssen von der christlichen Sozialethik aufgenommen und mit formalen Methoden der Begründung von bestimmten Gerechtigkeitsforderungen verbunden werden. Mit der Konzeption der Beteiligungsgerechtigkeit reagiert
die christliche Sozialethik auf diese Erfahrungen und begründet ein spezifisches Konzept
sozialer Gerechtigkeit.21
21 Vgl. Filipović 2008 - im Druck.
Filipović, Das Personalitätsprinzip
Dieses Konzept ist gerade für bildungsethische Fragen hoch relevant, ja ist sogar ihr
Schlüsselbegriff (Heimbach-Steins 2005). Beteiligungsgerechtigkeit kann als Bemühen
verstanden werden, Gesellschaft in einer Situation persongerecht zu gestalten, in der
fehlende (politische) Teilhabemöglichkeiten aufgrund fehlender (politischer) Bildungsmöglichkeiten bedrückende Erfahrungen sind. In formaler Hinsicht wird die Einforderung
von gerechten Beteiligungsstrukturen u. a. mit dem konkreten Vollzug menschlicher Autonomie begründet. Diese Begründung zielt auf die politische Ebene, wonach Menschenwürde politische Mitwirkungsrechte einfordert.
Hinsichtlich dieser skizzierten Verwendung des Personbegriffs fällt an der AKSB-Konvention zunächst auf, dass sie zu kaum anderen Ergebnissen kommt. So wird die „verantwortliche Teilnahme am Politischen“ mit der Bewahrung und Förderung von Freiheit
und Selbstverwirklichung begründet. Unterschiede zu der hier vorgeschlagenen sozialethischen Verwendung des Personbegriffs und des Personprinzips lassen sich dennoch
erkennen. Neben einer meines Erachtens fehlenden menschenrechtlichen Argumentation (wie sie in den präsentierten sozialethischen Texten durchweg eine wichtige Rolle
spielt) fällt vor allem auf, dass als normative Grundorientierung die „Entfaltung des Menschen als Person“ oder der „Prozeß der Personwerdung“ betont wird. Über den Status
dieser Formulierungen bin ich mir nicht sicher. Die Betonung des Prozesshaften könnte
ein Versuch sein, den Personbegriff zu dynamisieren. Dies würde verhindert, wenn das
Ziel dieser Entfaltung schon gewusst wird. Möglich wäre auch, dass sich hier pädagogische und theologische Anthropologie vermischen. Ich würde besonders im letzten Fall
für eine Explikation der diesen Ausdrücken zu Grunde liegenden Annahmen plädieren.
Worauf ich aber auf Grund meiner bisherigen Überlegungen hauptsächlich eingehen
will, ist dies: Unterschiede können auch dort entdeckt werden, wo sich die Konvention
um eine Liste der personalen Attribute bemüht, die im Menschen „angelegt“ sind. Sie
gibt zwar vereinzelte Hinweise darauf, woher sie dieses Wissen gewinnt („durch den
christlichen Glauben“, Nr. 3), aber sie rekurriert nicht auf die Erfahrungswirklichkeit der
Menschen, die ja durchaus Glaubenserfahrung sein kann. Fällt aber die Bezugnahme
auf menschliche Selbstdeutung aus, so bleibt die Bestimmung menschlicher Personalität
formelhaft und unbestimmt und der Versuch, damit Bildungsarbeit zu begründen, muss
ebenso formelhaft bleiben. Nicht, dass nicht auch Formeln ihren Sinn haben. Aber eine in
konkreten Lebenswirklichkeiten ansetzende politische Bildungsarbeit sollte anders über
menschliche Personalität sprechen als Kompendien kirchlicher Soziallehre. Absatz 4
deutet nur sehr vorsichtig an, wie der Bezug auf menschliche Erfahrungswerte aussehen könnte: Identitätsbildung, so wird gesagt, ist heute immer schwieriger zu realisieren.
Aber auch hier fehlt der Verweis auf die Quellen dieser Einsicht.
Ich würde mir auf Grund der hier präsentierten Überlegungen wünschen, dass die Anthropologie als Diagnose menschlicher Wirklichkeit in der Welt von heute ausführlicher
dargestellt und systematisch stärker betont wird. Auf einen Katalog personaler Eigenschaften würde ich verzichten. Vielleicht könnte man nach einer biblisch-theologischen
Begründung der Menschenwürde und menschlicher Autonomie und einer menschenrechtlichen Deutung dieser Menschenwürde mit den Erfahrungen der Menschen in Bezug
auf Politik und ihre Teilhabemöglichkeiten fortfahren, wie sie in der konkreten politischen
Bildungsarbeit geäußert werden? Kann darin etwas spezifisch Christliches entdeckt werden? Welche normativen Optionen werden darin ansichtig? Ich bin mir sicher, dass jede
und jeder, der in der politischen Bildungsarbeit tätig ist, solche Erfahrungen aufgenommen hat und beisteuern kann. Politische Bildungsarbeit persongerecht zu gestalten mit
dem Ziel, dass die Gesellschaft immer persongerechter wird, könnte hier ihren Ausgang
nehmen. Politische Verantwortung nicht als Wesensmerkmal des Menschen als Person
einzuführen, sondern ausgehend von menschlichen Erfahrungen darauf einzugehen, zu
sammeln und zu refomulieren, was politische Verantwortung heute für Menschen heißt,
wie sie sie selbst beschreiben, womit sie ihre Probleme haben, welche Intuitionen und
Gefühle sie in Bezug auf politische Verantwortung äußern können, worauf sie ihr Verständnis von Verantwortung gründen, wem sie sich verantworten wollen und können und
wo sie Möglichkeiten sehen, diese Verantwortung zu stärken – das wird der Funktion
23
24
Filipović, Das Personalitätsprinzip
des christlichen Personbegriffs gerecht, nämlich die ethische Relevanz selbstbestimmter
Selbstdeutung ins Spiel zu bringen. Freie Selbstdeutung zu ermöglichen, die Ergebnisse
der Selbstdeutung verändernd und gestaltend, in verantwortlicher Freiheit in demokratisch organisierte Politik einzubringen, wird schließlich das Ziel politischer Bildungsarbeit
in christlicher Verantwortung sein. Was spricht dagegen, dass sich dies vom Ansatz her
aber auch inhaltlich an grundlegender Stelle in der AKSB-Konvention niederschlägt?
Das würde allerdings eine Bereitschaft zur ständigen Aktualisierung der Abschnitte der
Konvention bedeuten. Aber genau das, die Berücksichtigung aktueller menschlicher
Selbstdeutungen und die Entdeckung der darin enthaltenen normativen Orientierungen,
fordert das Personprinzip von der christlichen Sozialethik.
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27
Dr. Hermann-Josef Große Kracht
Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
Eine Warnung vor voreiligen Verabschiedungen.
Alle reden heute von der Gerechtigkeit; und jede Akademie, die auf sich hält, widmet ihr
erhöhte Aufmerksamkeit. Auf dem Markt der politischen Philosophie dürfte es mittlerweile ein gutes Dutzend unterschiedlicher Gerechtigkeitstheorien geben, die sich einen
munteren Konkurrenzkampf liefern. Es ist gewissermaßen für jeden Geschmack und für
jeden Geldbeutel ein passendes Angebot dabei. Die Diskussion kreist um Begriffe wie
Leistung und Eigenverantwortung, Freiheit und Chancen, Teilhabe und Inklusion, Beteiligung und Befähigung – und in den meisten Fällen geht es dabei auch um den Versuch,
Abstand zur klassischen Idee der Verteilungsgerechtigkeit zu entwickeln, die in den gegenwärtigen Debatten eher keinen guten Klang mehr hat.
Klassische ‚katholische‘ Sozialprinzipien – wie Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität – finden angesichts dieses Booms der Gerechtigkeitssemantik heute nur noch geringe Resonanz, nicht zuletzt auch im Raum der katholischen Kirche selbst. Das klassische Gemeinwohl-Motiv, das im 20. Jahrhundert vielfach missbraucht wurde, galt in
den 1970er und 1980er Jahren als Unwort, wurde von konservativen Kräften nur noch
vorsichtig verwendet und war bei progressiven Geistern geradezu verpönt.1 In letzter Zeit
taucht es jedoch in der politischen Rhetorik ebenso wie in der politischen Philosophie
gelegentlich wieder auf – so etwa zu Beginn der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder,
als er seine Regierung emphatisch darauf verpflichtete, ein von ihm behauptetes, aber
nicht näher definiertes ‚Gemeinwohl‘ kraftvoll gegen gesellschaftliche ‚Partikularinteressen‘ durchzusetzen... Damit war der alte Bann gegenüber der Gemeinwohl-Semantik
gebrochen. Dennoch spielt dieser Topos in den gegenwärtigen Debatten kaum ein Rolle;
und auch innerhalb der kirchlich-sozialethischen Selbstverständigungsdebatten taucht er
gegenwärtig nur selten auf. Und auch die katholische Rede von der Solidarität ist in den
letzten Jahren in eine veritable Krise geraten. Hatte es im Sozialwort der Kirchen von
1997 noch eine prominente Rolle gespielt und im Titel dieses Textes sogar den ersten
Rang eingenommen (‚Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit‘), so hat es diesen
Platz mittlerweile verloren. Im Gesundheitspapier vom Mai 2003 ist das katholische Prinzip der Solidarität dem liberalen Prinzip der Eigenverantwortung schon semantisch untergeordnet worden (‚Solidarität braucht Eigenverantwortung‘), und in der bisher letzten
sozialpolitischen Grundsatz-Verlautbarung aus der Bischofskonferenz vom Dezember
2003 werden dann auch nicht mehr die alten Prinzipien von Solidarität und Gerechtigkeit,
sondern nur noch diffus ein ‚neues Denken‘ (‚Das Soziale neu denken‘) eingefordert.2
Auch in der Kirche scheinen also mittlerweile viele ihre politisch-moralischen Hoffnungen
weniger auf die gute alte Botschaft der Solidarität als auf die neue Rede von der Eigenverantwortung zu setzen; und zumeist verstehen sie die Solidarität dabei nicht mehr als
ein fundamentales Strukturprinzip der Gesellschaft, sondern nur noch als moralisierende
Aufforderung zu einer individualethischen Haltung des Mitleids und der Barmherzigkeit;
ein Solidaritätsverständnis, das die katholische Soziallehre seit jeher, sei es in der Per-
1 Hermann-Josef Große Kracht, Die überraschende Renaissance des Gemeinwohls. Strohfeuer oder Auftakt
zu einer neuen Debatte um das politische Selbstverständnis moderner Gesellschaften?, in: Soziologische Revue 27 (2004) 3, 297-311.
2 Vgl. dazu Hermann-Josef Große Kracht, Von der ‚Solidarität‘ zur ‚Eigenverantwortung‘? Wie es nach dem
Sozialwort der Kirchen weiterging..., in: Karl Gabriel/Werner Krämer (Hg.), Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt. Der Konsultationsprozess und das Sozialwort ‚Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit‘, 2. Auflage
2004, Münster 2004, 292-323.
Dr. Hermann-Josef Große
Kracht, geboren 1962 in
Glandorf, Kreis Osnabrück,
seit 2000 Assistent am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Universität
Münster.
28
Große Kracht, Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
son Oswald von Nell-Breunings3 oder in der Person von Johannes Paul II.4, stets vehement zurückgewiesen hat.
Die AKSB-Konvention von 1998 atmet dagegen noch deutlich den ‚Geist‘ des Wirtschafts- und Sozialworts von 1997, was angesichts der zeitlichen Nähe auch nicht verwunderlich ist. Sie nennt als Prinzipien der christlichen Sozialethik die Personalität, das
Gemeinwohl, die Solidarität und die Subsidiarität. Ganz in der Tradition der katholischen
Soziallehre erinnert sie daran, dass das Gemeinwohl „den eigentlichen Sinn der staatlichen Ordnung“ darstelle, dass dieses Gemeinwohl darauf zielt, „dass alle Menschen
sich als Person in ihrem Leben verwirklichen können“ – und dass die Subjekte und
Träger dieser Gemeinwohlorientierung in der Gesellschaft selbst und keineswegs ausschließlich beim Staat zu suchen seien: „Das Gemeinwohlprinzip widerspricht deshalb
sowohl jenen, die dem Staat die Verantwortung für die Herstellung gerechter Lebensbedingungen absprechen, als auch jenen, die dem Staat allein die Verantwortung für
die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit zusprechen.“ (ASB-Konvention, Nr. 10) Auch
den Topos der Solidarität fasst sie zurecht nicht primär als moralisch-normative Kategorie ethischer Tugendhaftigkeit, sondern als gesellschaftliches Strukturprinzip, wenn sie
erklärt: „Solidarität beschreibt die menschliche Verbundenheit und die mitmenschliche
Schicksalsgemeinschaft.“ Allerdings lässt sie es dann bei dieser (allzu) knappen Formel
auch schon bewenden. Und anstatt die Ursachen und Entstehungskontexte, die Formen und Dimensionen dieser ‚Schicksalsgemeinschaft‘ näher zu thematisieren, kommt
sie dann allzu schnell auf die individualethischen Konsequenzen dieser solidarischen
Schicksalgemeinschaft zu sprechen.
Wie auch immer; das Verständnis der klassischen katholischen Sozialprinzipien von Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität ist in den letzten zehn Jahren gehörig ins Rutschen gekommen. Grund genug also, einige Vergewisserungen über das katholische
Verständnis von Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität vorzunehmen und die Frage
aufzuwerfen, inwiefern diese altehrwürdigen Sozialprinzipien heute noch orientierende
Kraft und argumentatives Potenzial beanspruchen können.
I. Gemeinwohl: Von der ‚Wohlfahrt des Staatsschiffes‘ zum
Dienstwert jenseits von Kollektivismus und Individualismus
Das klassische Gemeinwohlprinzip ist seit dem II. Vatikanischen Konzil auch innerhalb
der katholischen Soziallehre in eine schwere Krise geraten, aus der es bis heute nicht
herausgefunden hat. Ein emphatisch-offensiver Rekurs auf das Gemeinwohl als sozialmoralisches Legitimationsprinzip spielt gegenwärtig weder in Texten der lehramtlichen
Sozialverkündigung noch bei Autoren der katholischen Soziallehre eine nennenswerte
Rolle. Dabei war das Gemeinwohl (bonum commune) seit jeher der schlechthin zentrale
Leitbegriff der kirchlichen Staats- und Gesellschaftslehre. Bei Thomas von Aquin (12251274) im politisch-sozialen Kontext seiner Zeit, der vormodernen Welt des ‚christlichen
3 Schon 1951 schrieb Nell-Breuning, dass das Solidaritätsmotiv des ‚Einer für alle, alle für einen‘ einen
‚Seinsverhalt‘ bezeichne, der sich Folgendermaßen ausdrücken lässt: „wir fahren alle in einem Boot; sinkt das
Boot, so gehen wir alle unter; kommt das Boot glücklich ans Ziel, so wird wir alle gerettet; (...) Das sind keine
‚ethischen Postulate‘, sondern ganz nüchterne Tatsachen.“ (Oswald von Nell-Breuning, Art. Solidarismus, in:
Ders./Hermann Sacher (Hg.) Gesellschaftliche Ordnungssysteme (Beiträge zu einem Wörterbuch der Politik,
V), Freiburg i. Br.: Herder 1951, Sp. 357-376, 361.
4 So betont Johannes Paul II. in der Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987), dass die Solidarität „nicht ein Gefühl vagen Mitleids“ meine, sondern dem Bewusstsein einer „tiefen wechselseitigen Abhängigkeit“ entspringe,
denn: „Mehr als in der Vergangenheit werden sich die Menschen heute dessen bewußt, durch ein gemeinsames Schicksal verbunden zu sein, das man vereint gestalten muß, wenn die Katastrophe für alle vermieden
werden soll.“ (SRS 26,5) Aus diesem Wissen folgen dann unmittelbar politisch-moralische Konsequenzen:
„Wenn die gegenseitige Abhängigkeit in diesem Sinne anerkannt wird, ist die ihr entsprechende Antwort als
moralische und soziale Haltung, als ‚Tugend‘, die Solidarität. Diese ist nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder
oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah und fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und
beständige Entschlossenheit, sich für das ‚Gemeinwohl‘ einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines
jeden, weil wir für alle verantwortlich sind.“ (SRS 38,6)
Große Kracht, Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
Abendlandes‘ – fungierte die Rede vom Gemeinwohl als Chiffre für eine vor aller Zeit
in der göttlichen Schöpfungsordnung festgeschriebene Ziel- und Zweckbestimmung der
‚Wesensnatur‘ sozialer Gemeinschaften. Hier schien jeder Person und jedem Stand ein
unverrückbar feststehender Ort im hierarchisch gegliederten Ordnungsgefüge der Welt
zugewiesen zu sein. Das Gemeinwohl einer Gemeinschaft, angefangen vom ‚ganzen
Haus‘ über die dörfliche Gemeinschaft bis hin zum politischen Gemeinwesen, galt dabei
als eine für die menschliche Vernunft zwar nochvollziehbare, individueller Wahl- und
Dispositionsfreiheit aber entzogene Zielgröße allen individuellen und gemeinschaftlichen
Lebens. Geradezu klassisch für die Sozialphilosophie des Thomas und die auf ihn aufbauende Schulphilosophie des politischen Aristotelismus, die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein zur Standardausbildung an deutschen Universitäten gehörte, ist in diesem
Zusammenhang die Metapher vom ‚Staatsschiff‘, dessen Wohl darin besteht, sicher und
ungefährdet den Stürmen des Meeres zu trotzen und wohlbehalten den vorbestimmten
Zielhafen zu erreichen. Und auch wenn Historiker heute zurecht betonen, dass „auch
vormoderne Gesellschaften sich keineswegs durch eine von allen geteilte Sinnperspektive integriert haben, wie dies die Vertreter einer nach Ständen gegliederten und in der
‚Harmonie der Ungleichheit‘ geordneten Gesellschaft immer und bis tief in die Moderne
hinein behaupteten“5, so haftet dieses holistisch-harmonistische Gemeinschaftsmotiv der
Begriff des Gemeinwohls bis heute an – und macht ihn deshalb prima facie so ungenießbar. Nicht zuletzt die katholische Neuscholastik der zweiten Hälfte des 19. und der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts war – mitunter geradezu halsstarrig – davon überzeugt, über
einen umfassenden Entwurf wohlgeordneten gesellschaftlichen Lebens zu verfügen, den
man den jeweils Regierenden einfachhin als verbindliche Richtschnur ihres Handelns
auferlegen könne und müsse.
Die Vorstellung, ein göttlich vorgegebenes und von der menschlichen Vernunft (notfalls
mit der autoritativen Hilfe des kirchlichen Lehramtes) irrtumsfrei erkennbares ‚Gemeinwohl des Staates‘ könne und müsse von den politischen Autoritäten nur treu umgesetzt
werden, um ‚gute Politik‘ zu gewährleisten, ist mit den modernen Prinzipien der Volkssouveränität, der moralischen Autonomie der Person und einer freien politischen Öffentlichkeit als Medium demokratischer Meinungs- und Willensbildung jedoch kaum zu
vereinbaren. Mit dem weltanschaulichen Pluralismus moderner Massengesellschaften
wird eine solche ‚statisch-objektivistische‘ Vorstellung vom Gemeinwohl zudem politisch
unbrauchbar, wenn sie nicht gar, wie so oft, einem weltanschaulichen Totalitarismus
Vorschub leistet.
Vor diesem Hintergrund hat sich auch das Zweite Vatikanische Konzil deutlich von der
traditionellen Gemeinwohl-Konzeption distanziert. Es hat den Topos des Gemeinwohls
aber keineswegs aufgegeben, sondern in spezifischer Weise modernitäts- und pluralitätskompatibel umformuliert – und dabei gewichtige normative Verschiebungen vorgenommen. Das Gemeinwohl wird jetzt nämlich nicht länger substanzialistisch-objektivistisch, als eine den Individuen gegenüberstehende feste Größe verstanden, die es nur
fehlerfrei zu erkennen und dann politisch konsequent umzusetzen gelte. Vielmehr wird
das Gemeinwohl jetzt bezeichnet als die „Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“ (Gaudium et Spes,
26); und jedes Sozialgebilde hat dabei sein je eigenes Gemeinwohl, angefangen bei den
primären Lebensgemeinschaften über den Nationalstaat bis hin zum ‚Gemeinwohl der
ganzen Menschheitsfamilie‘.
Oswald von Nell-Breuning, der ‚Nestor der katholischen Soziallehre‘, hat das Gemeinwohl auf dieser Grundlage näherhin definiert als „den guten Befund oder Zustand eines
gesellschaftlichen Gebildes oder Gemeinwesens, kraft dessen es imstande ist, seinen
Gliedern zu helfen, zu erleichtern oder überhaupt zu ermöglichen, durch ihre eigenen
Anstrengungen das, was sie erstreben, das ist ihr eigenes Wohl oder ihre eigene Ver5 Otto Gerhard Oexle, Konflikt und Konsens. Über gemeinschaftsrelevantes Handeln in der vormodernen
Gesellschaft, in: Herfried Münkler/Harald Bluhm (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken
politischer Leitbegriffe (Forschungsberichte der interdisziplinären Arbeitsgruppe ‚Gemeinwohl und Gemeinsinn‘
der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1), Berlin 2001, 65-83, 80.
29
30
Große Kracht, Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
vollkommnung oder ein von ihnen gemeinsam erstrebtes Ziel, zu erreichen“.6 Das Gemeinwohl ist demnach zunächst und vor allem als Dienstwert zu bestimmen, denn es ist
„wertvoll nicht um seiner selbst willen, sondern um des Dienstes willen, den es leistet;
ganz offenbar ist das ein Dienst an den einzelnen; so kommt der gute Befund oder Zustand des Ganzen, den wir das Gemeinwohl nennen, ganz und gar den einzelnen, die
Glieder dieses Ganzen sind, zustatten und ist genau so viel wert, wie es ihnen dient“.7
Als solcher Dienstwert kommt dem Gemeinwohl dann zugleich auch ein Selbstwert für
die sozialen Gruppen und Gemeinschaften zu, insofern es das „ihnen allen gemeinsame
Wohl“ bezeichnet. „Beim Staat ist das mehr oder weniger das gesamte irdische Wohl;
bei der Familie ist es jenes spezifisch menschliche Wohl, dessen die Familienmitglieder
im Familienkreis sich erfreuen; bei einem auf Interessenvertretung angelegten Verband
ist es das oft sehr spezielle Interesse, das durch den verbandlichen Zusammenschluß
durchgesetzt werden soll.“ 8
Nell-Breuning verortet die Kategorie des Gemeinwohl somit in einer spezifischen Weise
jenseits von ‚Individualismus‘ und ‚Kollektivismus‘. Kollektivistische Engführungen ergeben sich immer dann, wenn man ein übergeordnetes angebliches Gemeinwohl unvermittelt gegen legitime und berechtigte Einzel- und Gruppeninteressen in Stellung bringen will
– und dabei übersieht, dass sich dieses Gemeinwohl immer als Dienstwert für die Realisierung prinzipiell aller Einzel- und Gruppeninteressen plausibilisieren lassen muss. Individualistische Engführungen treten immer dann auf, wenn man das Gemeinwohl vollständig
in die real anzutreffenden und sich politisch und ökonomisch entsprechend artikulierenden
Einzel- und Gruppeninteressen aufzulösen versucht. Dies geschieht etwa dann, wenn man
das Gemeinwohl als Summe der Wohlstands- und Nutzeneinheiten der Individuen definiert
und Gemeinwohlförderung rein quantitativ als Steigerung des ‚größten Glücks der größten
Zahl‘ begreift; oder wenn man das Gemeinwohl rein formal, gleichsam als ‚Resultante eines Parallelogramms‘ zu bestimmen versucht, das sich aus den realen Kräfteverhältnissen
der unterschiedlichen politischen, ökonomischen und kulturellen Interessengruppen, Bewegungen und Initiativen der Gesellschaft ergibt und als solches dann als Leitlinie der Politik fungieren soll. In beiden Fällen droht der Gemeinwohltopos seine politisch-moralische
Orientierungskraft einzubüßen und seine Funktion als kritisches Korrektiv gegenüber den
realen gesellschaftlichen Verhältnissen einzubüßen.
Deshalb sollte man den Begriff des Gemeinwohls – in seiner nachkonziliaren Lesart –
nicht vorschnell aufgeben, denn gerade die ‚überindividuellen‘ Gehalte dieser Semantik
erinnern daran, dass sich die komplexe Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft, von Person und Gemeinschaft weder kollektivistisch noch individualistisch auflösen lässt. Die Person geht weder in der Gesellschaft auf, noch lässt sich die Gesellschaft
als willkürliche Ansammlung isolierter Individuen verstehen, der der Einzelne je nach
seiner individuellen Interessenlage beitreten kann oder auch nicht. Insofern ist neben
dem Einzelwohl der Individuen weiterhin von einem ‚Gemeinwohl der Gesellschaft‘ zu
reden, auch wenn dies heute nicht mehr durch den autoritativen Rückgriff auf einen
‚objektiv‘ vorgegebenen und ewig unveränderlichen Gemeinwohlbestand, sondern nur
noch im Rahmen einer freien und öffentlichen Meinungs- und Willensbildung über die
jeweils hier und jetzt dringlichen Gemeinwohlbedürfnisse und Gemeinwohlinteressen
möglich ist. Ein zukunftsfähiges Konzept von ‚Gemeinwohl‘ darf insofern nicht hinter ‚die
Sperrklinken der politischen Moderne‘ zurückfallen. Es muss den Kriterien der (politischmoralischen) Individualisierung, der (demokratisch-diskursiven) Prozeduralisierung und
der (weltanschaulich-kulturellen) Pluralisierung gerecht werden.
Vielleicht kann hier aber sogar das alte Leitbild von der ‚Wohlfahrt des Staatsschiffes‘
noch einmal didaktische Hilfestellung leisten. Denn mit dem Siegeszug der politischen
Moderne wird das Staatsschiff nicht einfach – wie einst Donoso Cortés (1809-1859) im
Gestus eines antimodernistischen Katholizismus ebenso wortgewaltig wie unzutreffend
formulierte – zu einem orientierungslos dahintreibenden Boot, „das ziellos auf dem Meer
6 Oswald von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien 1980,
34.
7 Ebd., 35 (Herv. i. O.).
8 Ebd.
Große Kracht, Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
herumgeworfen wird, bepackt mit einer aufrührerischen, ordinären, zwangsweise rekrutierten Mannschaft, die gröhlt und tanzt, bis Gottes Zorn das rebellische Gesindel ins
Meer stürzt, damit wieder Schweigen herrsche....“.9 Unter demokratischen Bedingungen
ist vielmehr zu erwarten, dass die Crew „nicht nur ‚gröhlt und tanzt‘, sondern sich auch
gemeinschaftlich berät, was zu tun sei, nachdem das Vertrauen in Gottes Kursvorgaben
und die Autorität eines Kapitäns von Gottes Gnaden geschwunden ist“.10 Und dieses Bild
einer inklusiven, demokratisch-deliberativen Gemeinwohlberatung dürfte heute aktueller
denn je sein. Für einen leichtfertigen katholischen Verzicht auf die klassische Gemeinwohlformel besteht vor diesem Hintergrund jedenfalls keinerlei Notwendigkeit.
II. Solidarität: nicht nur moralische Tugend, sondern auch
soziale Tatsache
Auch die Kategorie der Solidarität ist gegenwärtig hochgradig umstritten. Thematisiert
wird sie heute vor allem in der Debatte über den Aufbau und die Aufgaben, die Ausgestaltung und die Ausmaße des Sozialstaates. Dabei hört man zur Zeit immer wieder die
Warnung, dass man die Solidarität nicht zu weit treiben, die Solidaritätsbereitschaften
der Bürger nicht überfordern dürfe, so dass es statt um Solidarität eher um die Stärkung
der Eigenvorsorge und der Eigenverantwortung gehen müsse.
Solidarität wird dabei zumeist als individuelle moralische Tugend, als Bereitschaft der
Einzelnen zur Hilfeleistung und Unterstützung für andere verstanden, als ein zartes und
verletzliches Gefühl mitmenschlicher Anteilnahme, das man auf keinen Fall überstrapazieren darf. Fragt man aber nach der Herkunft des Wortes ‚Solidarität‘, so fällt auf, dass
dieser Begriff mit Moral und Tugendhaftigkeit nichts zu tun hatte; er leitet sich nämlich her
vom lateinischen Adjektiv solidus (solide, dicht, fest zusammengefügt), so dass schon
der etymologische Befund ein erstes Indiz dafür liefert, dass ‚Solidarität‘ ursprünglich ein
weitgehend moral- und tugendfreier Begriff gewesen ist.
Als politischer Topos ist ‚Solidarität‘ eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.11 Er stammt
aus dem nachrevolutionären Frankreich, aus dem Versuch der laizistischen Republik,
jenseits von Kirche und Katholizismus, jenseits überkommener religiöser Werte und Vorstellungen, das Zusammenleben der Staatsbürger frei und gerecht zu organisieren. Der
Solidaritätsbegriff greift dabei zurück auf die römische Rechtstradition, auf die so genannte obligatio in solidum, die wechselseitige Bürgschaft, in der sich ein oder mehrere
Vertragspartner vertraglich verpflichten, im Zweifelsfalle für die Schulden des oder der
jeweils anderen nach dem Motto ‚Einer für alle, alle für einen‘ einzustehen. Als ein politisch-programmatischer Grundbegriff der sozialen Sprache, der die enge Verbundenheit,
die wechselseitige Abhängigkeit und das Aufeinander-Angewiesensein der Menschen
thematisiert, wurde die ‚Solidarität‘ vor allem durch die Arbeiterbewegung prominent. Die
in Restbeständen noch heute anzutreffende Solidaritätskultur der Arbeiterbewegung des
19. und 20. Jahrhunderts, die nicht selten auch ihre Gaststätten, Gesangsvereine und
Schrebergartenkolonien auf den Namen ‚Solidarität‘ taufte, zeugt davon, welche emotionale Wärme und welche politisch-moralische Strahlkraft der Solidaritätsbegriff zu transportieren vermochte und bis heute zu transportieren vermag.
Politisch relevant wurde der Topos der Solidarität aber nicht nur hier, sondern auch in der
seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Soziologie, der neuen ‚Wissenschaft von
der Gesellschaft‘, wie sie im republikanischen Frankreich vor allem von Auguste Comte
(1798-1857) und Émile Durkheim (1858-1917) entwickelt wurde. Comte hat in den 18409 Dieses suggestive Bild des spanischen Gegenrevolutionärs greift 1922 in seiner ‚Politischen Theologie‘
genüsslich auf (Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 6. Aufl.,
Berlin 1993, 639).
10 Ulrich Rödel/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt 1989, 133.
11 Vgl. zum Folgenden Hermann-Josef Große Kracht, Jenseits von Mitleid und Barmherzigkeit. Zur Karriere
solidaristischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Karl Gabriel (Hrsg.), Solidarität (Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 48), Münster 2007, 13-38.
31
32
Große Kracht, Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
er Jahren erstmals ohne alle normativen Implikationen von der ‚sozialen Solidarität‘ als
einer Kategorie zur Beschreibung der immer dichter werdenden gesellschaftlichen Interdependenzverhältnisse moderner Gesellschaften gesprochen; und mit Durkheims Buch
über die Arbeitsteilung aus dem Jahr 1893 sollte die ‚soziale Solidarität‘ dann zu einem
festen Topos soziologischer und sozialphilosophischer Theoriebildung in Frankreich
avancieren. Solidarität erscheint hier – gleichsam als Synonym zu ‚Verflechtung‘ und
‚Interdependenz‘ – als eine wert- und moralfreie, rein sozialwissenschaftliche Kategorie;
und überraschender Weise sollte später auch die katholische Soziallehre den Begriff der
Solidarität genau in diesem ‚wertfreien‘, also nicht primär moralisch, sondern vor allem
sozialwissenschaftlich-deskriptiv angelegten Sinne übernehmen.
Für den jungen Émile Durkheim, den überzeugten Republikaner, der als der eigentliche Gründervater der modernen Soziologie gelten kann, soll die ‚Wissenschaft von der
Gesellschaft‘ die Menschen über die ‚sozialen Tatsachen‘ (faits sociaux) aufklären und
ihnen das bewusste Leben in der modernen, für viele so bedrohlich erscheinenden Industrie- und Massengesellschaft erleichtern. Die Soziologie sollte dazu beitragen zu erklären, wie ‚soziale Integration‘ funktioniert, wie der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft zustande kommt und warum moderne Gesellschaften, die nicht mehr durch einen
von allen geteilten Glauben an Gott und die Gebote seiner Kirche zusammengehalten
werden, nicht auseinanderbrechen und in Chaos und Anarchie versinken. Den entscheidenden Grund dafür sieht Durkheim in der ungeheuren Zunahme der Arbeitsteilung, die
für moderne Gesellschaften kennzeichnend ist. Die Arbeitsteilung mache die Menschen,
wie er sagt, ‚zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer‘, d. h. freier und individueller
wie auch unfreier und abhängiger voneinander. Mit zunehmender Arbeitsteilung kommt
es zu Prozessen der Individualisierung, Spezialisierung und Professionalisierung, zur
massenhaften Ausbildung individueller Persönlichkeiten und zur Entdeckung der Freiheit
und Autonomie des modernen Individuums. Es kommt aber auch zu einem bisher unbekannten Reichtum und Wohlstand der Gesellschaft, zur Blüte von Handwerk und Kultur,
von Kunst und Literatur, wie schon Adam Smith, der Urvater der modernen Wirtschaftstheorie, am Ende des 18. Jahrhunderts prophezeit hatte.
Die Menschen werden also einerseits immer freier und persönlicher. Sie haben in den
großen arbeitsteiligen Massengesellschaften die Chance, sich immer mehr voneinander zu unterscheiden, immer spezieller, persönlicher, individueller zu werden, sie haben
immer größere Chancen, ihre Talente, Fähigkeiten und Begabungen nicht nur zu entdecken, sondern auch zu entfalten und dauerhaft zu kultivieren. Sie werden im diesem
Sinne immer freier, immer autonomer, immer personaler. Zugleich werden sie durch
diese arbeitsteiligen Differenzierungsprozesse jedoch auch immer abhängiger voneinander, immer dichter miteinander verbunden, immer mehr aufeinander angewiesen, ob
sie wollen oder nicht; und auch unabhängig davon, ob sie dies überhaupt wahrnehmen
oder nicht. Diese faktische Abhängigkeitssolidarität der Menschen untereinander nimmt
in den modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften immer mehr zu. Wenn
Gesellschaften größer, komplexer und leistungsfähiger werden, machen sie ihre Mitglieder in diesem Prozess also zugleich personaler und abhängiger, gewissermaßen im
Gleichschritt freier und unfreier.
In einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft haben zwar alle zusammen viel mehr Wohlstand und Komfort, viel höhere Freiheits- und Entfaltungsmöglichkeiten, aber keiner lebt
mehr für sich alleine, keiner ist mehr unabhängig, keiner kann mehr allein von seiner
Scholle, allein von seinen privaten Produktionsmitteln, allein von seiner eigenen Hände
Arbeit leben. Vielmehr ist nun – im Zeitalter der ‚großen Industrie‘ – jeder darauf angewiesen, dass er in angemessener Art und Weise an den nun nicht mehr individuell,
sondern kollektiv erarbeiteten Gütern partizipieren und so seine Bedürfnisse befriedigen
kann. Und erst dadurch entsteht der ‚moderne Kulturmensch‘, von dem der Soziologe
und Wirtschaftshistoriker Werner Sombart vor über 100 Jahren gesprochen hatte. Mit
dem modernen Kulturmenschen verhält es sich nämlich völlig anders als mit dem ‚freien
Bauern‘ früherer Zeiten. „Der Bauer auf seinem Gute, der sich noch seine gewerblichen
Zeugnisse selber schuf, der alles aus dem Boden selber holte, was er für diese gewerbli-
Große Kracht, Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
chen Produkte an Rohstoffen und was er an Nahrungsmitteln brauchte, das war ein freier
Mann, ein wirtschaftlich freier Mann: der moderne Kulturmensch, der nichts mehr selbst
produziert von dem, was er braucht, sondern der alles von andern Produzenten erhält
dafür, daß er für alle andern eine Ware produziert oder einen Dienst verrichtet, dieser
moderne Kulturmensch ist in wachsendem Maße wirtschaftlich unfrei, gebunden.“12
Auf der Grundlage dieser Solidaritätsidee entstand dann im Frankreich der Jahrhundertwende eine sozialpolitisch sehr erfolgreiche Reformbewegung, die nach einem ‚Dritten
Weg‘ jenseits von Manchesterliberalismus und Staatskollektivismus Ausschau hielt und
sich programmatisch auf das Konzept der Solidarität verpflichtete: die Reformbewegung
des solidarisme. Das Stichwort solidarité wurde hier zum zentralen Schlüsselbegriff einer umfassenden Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik, die das Zeitalter des bürgerlichen
Liberalismus überwinden und die große Parole der Französischen Revolution, die Trias
von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, auf die veränderten Verhältnisse der modernen
Industriegesellschaft umschreiben wollte. Der unumstrittene Anführer der solidaristischen
Bewegung im Frankreich der Jahrhundertwende, der Jurist Léon Bourgeois (1851-1925),
der zahlreiche sozialpolitische Reformprojekte einleitete. Er brachte die Bedeutung der solidaristischen Philosophie auf die beiden Formeln: „Nous naissons débiteurs! – Der Mensch
wird als Schuldner der menschlichen Assoziation geboren.“13 Und: „Die Solidarität ist die
primäre Tatsache, sie ist früher als jede soziale Organisation; zugleich ist sie der objektive Seinsgrund der Brüderlichkeit. Mit ihr muß begonnen werden. Solidarität zuerst, dann
Gleichheit oder Gerechtigkeit, was in Wahrheit dasselbe ist; und schließlich die Freiheit.“14
Interessant ist nun, dass das katholische Solidaritätsprinzip genau dieselbe Stoßrichtung
hat wie die Solidaritätsidee der antiklerikalen Solidaristen im Frankreich der Jahrhundertwende. Der Begründer des katholischen Solidaritätsgedankens, der aus Köln stammende Jesuit Heinrich Pesch (1854-1926), hat sich nämlich deutlich wahrnehmbar von den
französischen Solidaritätstheoretikern inspirieren lassen. Er hat den neuen Programmbegriff ‚solidarisme‘ übernommen und als Solidarismus eingedeutscht. In einem groß
angelegten, zwischen Sozialphilosophie und Nationalökonomie pendelnden Entwurf hat
Pesch versucht, jenseits von Liberalismus und Sozialismus ein „System des Solidarismus“ zu entfalten, das er als einen eigenständigen Ordnungsentwurf für die Organisation
des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens in Deutschlands anbieten wollte.15
Zwar war Pesch als katholischer Priester weit davon entfernt, eine rein säkulare oder gar
laizistische Sozialphilosophie zu entwickeln. Vielmehr blieb er voll und ganz auf der klassischen Linie des neuscholastischen Naturrechtsdenkens seiner Zeit stehen und verankerte die Solidarität als Seinsprinzip in der von Gott erschaffenen, unveränderlichen Wesensnatur des Menschen und seiner sozialen Ordnungen. Dennoch versteht auch Pesch
das Prinzip der Solidarität nicht moralisch, sondern – wie die französischen Soziologen –
als Synonym für das soziale Faktum einer unhintergehbaren wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen, als – wie sein Schüler Oswald von Nell-Breuning später sagen sollte
– ‚Gemeinverstrickung‘, aus der die moralische Forderung nach ‚Gemeinhaftung‘ aller
für alle resultiert. Bei Nell-Breuning heißt es an einer klassischen Stelle: „Die Gemeinschaft und ihre Glieder sind in das gleiche Geschick verstrickt (‚wir sitzen alle in einem
Boot‘). ... Was die einzelnen tun oder lassen, wirkt – gleichviel, ob gewollt oder nicht – auf
die Gemeinschaft. Und was die Gemeinschaft tut oder läßt, das wirkt – wiederum gleichviel, ob bezweckt oder nicht – auf die einzelnen, die Glieder dieser Gemeinschaft sind.“16
12 Werner Sombart, Technik und Wirtschaft. Vortrag gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 16. Februar
1901, Dresden 1901, 9f.
13 Léon Bourgeois, Solidarité, Paris 1896; zit. nach Christian Gülich, Die Durkheim-Schule und der französische Solidarismus, Wiesbaden 1991, 33
14 Léon Bourgeois, Solidarité, Paris 1896, zit. nach François Ewald, Der Vorsorgestaat (L‘État Providence),
Frankfurt 1993, 532f.
15 Mit diesem Interesse hat Pesch zwischen 1905 und 1923 ein fünfbändiges, nahezu 4000 Druckseiten
umfassendes Lehrbuch der Nationalökonomie vorgelegt, das in den Wirtschaftswissenschaften jedoch kaum
rezipiert wurde; vgl. zum Solidarismus Heinrich Peschs jetzt auch die Beiträge in Hermann-Josef Große Kracht/
Tobias Karcher SJ/Christian Spieß (Hrsg.), Das System des Solidarismus. Zur Auseinandersetzung mit dem
Werk von Heinrich Pesch SJ (Studien zur Christlichen Gesellschaftsethik, 11), Berlin 2007.
16 Oswald von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität. Durchgesehene
Neuausgabe, Freiburg i. Br. 1990, 17.
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Große Kracht, Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
Und wenn in diesem Sinne ‚alle in einem Boot sitzen‘, auch wenn sie in verschiedene
Richtungen segeln oder sich mit dem Ruder am liebsten gegenseitig die Köpfe einschlagen wollen, dann ist jeder Einzelne gut beraten, nicht leichtfertig von Bord zu gehen, um
fortan in einem ‚Ein-Mann-Schlauchboot‘ frei zu sein und auf stürmischer See eigenverantwortlich seinen individuellen Glück nachzujagen. Ratsamer wäre es nämlich, im Boot
zu bleiben und mit allen anderen – mit denen auf dem Sonnendeck ebenso wie denen im
Maschinenraum – einen demokratischen Beratungsprozess aufzunehmen und sich darüber zu verständigen, wie man das gemeinsame Boot am besten funktionstüchtig erhält
und welcher Kurs in den nächsten Jahren eingeschlagen werden soll, auch wenn einem
das mühsame Alltagsgeschäft der Demokratie, die langwierige Suche nach Konsens und
Verständigung dabei nicht selten gehörig auf die Nerven geht.
III. Subsidiarität: Hilfestellungsgebot und Kompetenzanmaßungsverbot jenseits von Eigenverantwortung
und Staatspaternalismus
Das Solidaritätsprinzip hat also zunächst einen beschreibenden, deskriptiven Fokus und
erst dann auch eine politisch-moralische Dimension. Das Subsidiaritätsprinzip dagegen ist von vorn herein und ausschließlich ein sozialethisch-normatives Prinzip. Es will
angeben, wie innerhalb des Solidaritätszusammenhangs sozialer Gemeinschaften die
Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die Zuständigkeiten und Kompetenzen sinnvoll und
sachgerecht zu verteilen sind; und zwar so, dass die Personalität der Menschen und der
Eigenwert ihrer kleineren sozialen Gemeinschaften innerhalb des großen gesellschaftlichen Solidarzusammenhangs nicht unter die Räder kommen.
Da das Prinzip der Subsidiarität hier in einem eigenen Beitrag behandelt wird, möchte ich
mich auf den Hinweis beschränken, dass Subsidiarität auch im katholischen Raum nicht
immer konsequent genug als positives Prinzip der Hilfeleistung, als ‚hilfreicher Beistand‘
(Nell-Breuning), sondern nicht selten nur als negatives Prinzip eines reinen Ersatzbehelfs
verstanden wird, der erst in wirklichen Notlagen zum Einsatz kommen dürfe. Subsidiarität wäre dann kein echtes Hilfsprinzip, sondern eher ein Prinzip der möglichst weitgehenden Hilfezurückhaltung. So heißt es etwa in dem bisher jüngsten ‚Gemeinsamen Wort‘
der beiden christlichen Kirchen, in der im November 2006 unter dem Titel Demokratie
braucht Tugenden erschienenen Stellungnahme zur ‚Zukunft unseres demokratischen
Gemeinwesens‘: Von den Bürgern könne und müsse erwartet werden, „dass sie Hilfe,
wie es die christliche Sozialethik im Subsidiaritätsprinzip ausformuliert hat, erst dann
beanspruchen, wenn sie sich tatsächlich nicht selbst helfen können. Dann allerdings soll
sie ihnen auch zur Verfügung stehen“.17
Hier klingt also mittlerweile auch in einem hochrangigen Kirchendokument deutlich die
nicht aus dem sozialkatholischen, sondern aus dem individualistisch-liberalen Denken
17 Demokratie braucht Tugenden. Gemeinsames Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens (Gemeinsame Texte, 19), Hannover-Bonn 2006, 21. Nell-Breuning hat gegen derartige Strategien, Subsidiarität nicht als Gebot
einer ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘, sondern als Gelegenheit, Selbsthilfe gegen Fremdhilfe in Stellung zu bringen, immer
wieder heftig protestiert: „Dann kommt der Unsinn heraus, der Einzelmensch (die Gliedgemeinschaft) müsse
sich bis zum letzten, bis zum völligen Zusammenbruch der Kräfte auspumpen, bevor die Gemeinschaft helfend
beispringen darf. Zum Beispiel: ein Familienvater könnte bei Aufbietung aller seiner Kräfte eben noch den notdürftigen Unterhalt seiner Familie bestreiten, aber nur um den Preis, daß er niemals sich um Frau und Kinder
kümmern könnte. Alsdann müßte die Familie alles, was über den notdürftigen Lebensunterhalt hinausgeht, entbehren: keine Erholung, keine Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben, keine den Anlagen der Kinder
entsprechende Ausbildung usw. ... Einen solchen Unsinn wollen einige Leute in das Subsidiaritätsprinzip hineintragen...“ (Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft. Solidarität und Subsidiarität. Durchgesehene Neuausgabe, Freiburg i. Br. 1990, 84.) Auch Joseph Höffner, der neben Nell-Breuning als der zweite große ‚katholische
Soziallehrer‘ in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gelten kann, betonte mit Nachdruck, dass das
Prinzip der Subsidiarität ‚Hilfe von oben nach unten‘ fordert, „was zuweilen tendenziös übersehen wird“ (Joseph
Höffner, Christliche Gesellschaftslehre (zuerst 1962), Neuauflage, Kevelaer 2000, 60).
Große Kracht, Katholische Sozialprinzipien in der Krise?
stammende Tendenz an, soziale Hilfe nur ersatz- und behelfsweise zuzugestehen. Die
AKSB-Konvention von 1998 wusste dagegen noch, dass es dem katholischen Subsidiaritätsprinzip nicht darum geht, „Hilfe erst dann zu beanspruchen, wenn es gar nicht mehr
anders geht“, sondern dass „die übergeordneten Gebilde den untergeordneten bei der
Erfüllung ihrer Aufgaben jeweils unterstützend zu Hilfe kommen sollen“ (AKSB-Konvention Nr. 12). Und sie wusste auch noch, dass die Gefahr eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip nicht darin liegt, dass Hilfesuchende nach Hilfe suchen, sondern darin,
dass die Politik – wie die Enzyklika Quadragesimo anno 1931 vor dem Hintergrund des
italienischen Faschismus so klar und eindrücklich formuliert hat – die Belange der Einzelnen sowie der „kleineren und untergeordneten Gemeinwesen“ obrigkeitlich-autoritär zu
dominieren versucht, sie also nicht, wie es sein soll, „unterstützen“, sondern „zerschlagen oder aufsaugen“ will (vgl. QA, 79.).
Das katholische Subsidiaritätsprinzip sperrt sich also dagegen, die Ideen von Selbsthilfe
und Staatshilfe gegeneinander in Stellung zu bringen. Es betont vielmehr den engen
Zusammenhang beider und die Notwendigkeit, dass sich alle Staatstätigkeit als eine
permanent mitlaufende und dauerhaft unterstützende ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ für die verschiedenen Personen und ihre sozialen Gemeinschaften verstehen lassen muss, wenn
sie ihrer Verpflichtung zur Gemeinwohlorientierung und der Tatsache der zunehmenden
sozialen Solidarität in den modernen arbeitsteiligen Gesellschaften gerecht werden will.
Eine m. E. besonders gut gelungene Beschreibung dieses Zusammenspiels von eigener
Verantwortung und subsidiärer Hilfe stammt übrigens schon von Ferdinand Lassalle, der
sich 1863 deutlich gegen die auch damals schon grassierende Entgegensetzung von
‚Selbsthilfe‘ und ‚Staatshilfe‘ zu Wehr setzte. In seinem berühmten ‚Offenen Antwortschreiben‘ rief er seine Leser dazu auf, sich „nicht durch das Geschrei derer täuschen
und irreführen (zu lassen), die Ihnen sagen werden, daß jede solche Intervention des
Staates die soziale Selbsthilfe aufhebe. Es ist nicht wahr, daß ich jemanden hindere,
durch seine eigne Kraft einen Turm zu ersteigen, wenn ich ihm Leiter oder Strick dazu
reiche. Es ist nicht wahr, daß der Staat die Jugend daran hindert, sich durch eigne Kraft
zu bilden, wenn er ihr Lehrer, Schulen und Bibliotheken hält. Es ist nicht wahr, dass ich
jemanden hindere, durch eigne Kraft ein Feld zu umackern, wenn ich ihm einen Pflug
dazu reiche...“18
18 Ferdinand Lassalle, Offenes Antwortschreiben an das Central Comité zur Berufung eines Allgemeinen
Deutschen Arbeiter-Congresses zu Leipzig 1863 (Sozialökonomische Texte, 9), hg. von August Skalweit.
Frankfurt/M. 1948, 71.
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36
Günter Wilhelms, Subsidiarität
Prof. Dr. Günter Wilhelms
Subsidiarität
Prof. Dr. Günter Wilhelms,
geboren 1958 in Borgentreich/Westfalen, seit September 2004 Inhaber des
Lehrstuhls für Christliche
Gesellschaftslehre an der
Theologischen Fakultät Paderborn, von Oktober 2005
bis Oktober 2007 Rektor der
Theologischen Fakultät in
Paderborn.
Ausgangspunkt der nun folgenden Überlegungen ist die Beobachtung eines eklatanten
Selbstwiderspruchs im modernen Verständnis vom Menschen: Die überall behauptete
Selbstzwecklichkeit und Autonomie des Menschen stellt in der politischen und gesellschaftlichen Realität keine mehr dar. Je mehr der Anspruch auf Selbstverwirklichung
betont wird, umso mehr geraten die vielfältigen Abhängigkeiten, gerade im Zuge wissenschaftlich-technischer und politisch-ökonomischer Instrumentalisierung, ins Bewusstsein.
Und die in den Medien zu hörenden Stimmen moralischer Empörung scheinen diesen
Widerspruch nur noch einmal zu bestätigen; sind sie nicht ein Ausdruck eher wachsender Ohnmacht der Menschen angesichts der eingespielten rationalen Mechanismen von
Markt und Staat? Ist es nicht so, dass Glauben, Moral, überhaupt die Unmittelbarkeit von
Wertbezügen nicht mehr imstande sind, adäquate Reaktionen auf reale Problemlagen
zu strukturieren, gerade weil sich die moderne Gesellschaft so verändert hat, dass der
Einzelne mit seinem sittlichen Bewusstsein grundsätzlich die falsche Ebene ist, wenn es
um die Gestaltung der Gesellschaft geht, einer Gesellschaft, die durch hohe Komplexität
und Differenziertheit gekennzeichnet ist?
Was hat diese, zugegeben, recht grobe Diagnose moderner Gesellschaft mit dem hier
zu diskutierenden Begriff der Subsidiarität zu tun? Soviel kann an dieser Stelle vorweggenommen werden: Sehr viel, weil die Subsidiarität ein Prinzip bezeichnet, das den wesentlichen Wert der Gesellschaft für den Menschen zum Ausdruck bringen will und zwar
mit Blick auf ihre Ordnung, ihre institutionelle Seite. Es bezeichnet ein formales Strukturprinzip, das den inneren Aufbau der Gesellschaft bestimmt. Es bezeichnet die Rahmenbedingungen, ohne die eine solidarische Verbundenheit der Gesellschaft insgesamt und
ihrer Glieder untereinander nicht möglich wäre. Es kennzeichnet eine Gesellschaft, die
eben nicht nach mechanischen Regeln funktioniert, sondern sittlich integriert ist.1
I. Subsidiarität in der lehramtlichen Verkündigung
Was heißt eigentlich Subsidiarität? Um diese Frage zu beantworten, schauen wir zunächst auf den bis heute gültigen Referenztext, die von Papst Pius XI. 1931 verfasste
Enzyklika „Quadragesimo anno“. Was aber nicht heißen soll, dass das Prinzip als „katholisches“ vereinnahmt werden soll, zu lang ist seine Vorgeschichte, man denke etwa
an die vielzitierten Namen Althusius und Lincoln, zu vielfältig sein Gebrauch. In Quadragesimo anno heißt es in Nr. 79:
„Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den
veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit
unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch
aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen
und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum
guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch
1 Mit den Worten einer „Strukturenethik“: Die Institutionen müssen sich daran bemessen lassen, „wieweit sie
ihm (dem Menschen (G. W.) zu sittlich fundierter humaner Entfaltung seines Daseins verhelfen.“ Das bedeutet,
„das Individuum in allen Formen seiner Vergesellschaftung als Subjekt ernst zu nehmen und präsent zu halten.“ (W. Korff: Institutionstheorie: die sittliche Struktur gesellschaftlicher Lebensformen, in: A. Hertz u. a. (Hg.):
Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1. Freiburg 1993, 168-176, 173.
Günter Wilhelms, Subsidiarität
zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie
soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder
aufsaugen.“ 2
Es geht, wie schon eingangs angedeutet, um die Gesellschaft und ihre Ordnung; und es
geht um den Menschen, den Einzelnen als gesellschaftliches Wesen. Wie kann er seine
sittliche Identität als Person entfalten und welche Rolle spielen dabei die gesellschaftlichen Institutionen und Ordnungen, das ist die Frage. Dabei ist zu beachten, dass der
Text von Anfang an und bis heute auf eklatante Weise missdeutet und fehlinterpretiert
worden ist und zwar vor allem in individualistischer Manier. Viele kennen nur den Namen,
so beklagte sich etwa Nell-Breuning, und hören das Eigenschaftswort „subsidiär“ heraus,
„das in unserem Sprachgebrauch so viel bedeutet wie ersatzweise, als Behelf, wenn es
nicht anders geht, als Notbehelf, nach dem man greift, wenn man nichts Besseres zur
Verfügung hat.“3 Das bedeutet dann angewandt auf das Subsidiaritätsprinzip: es wolle
„die Staatstätigkeit und überhaupt die Wirksamkeit aller öffentlichen Institutionen soviel
wie möglich einschränken, auf das unvermeidliche Mindestmaß zurückdrängen“.4 Eine
solch extrem individualistische Interpretation hat mit dem klassischen Wortlaut nichts
gemeinsam. Der Einzelne ist auf die Gesellschaft angewiesen, so wie die Gesellschaft
auf den Einzelnen angewiesen ist. Anders gesagt: Wenn die Gesellschaft ihre ureigene
Aufgabe erfüllen will, nämlich den Einzelnen zu unterstützen, kann sie das nur, wenn
sie so organisiert ist, dass sie ihm Verantwortung zutraut. Wobei eben nur dem einzelnen Menschen eine unverrückbare Würde zukommt und deshalb der Gesellschaft eine
Dienstfunktion, die allerdings unverzichtbar ist.
Dem Subsidiaritätsprinzip liegt also ein ganz bestimmtes Bild vom Menschen zugrunde:
Der Mensch ist ein mit einer persönlichen Würde und mit Freiheit ausgestattetes Geschöpf. Er ist zugleich verflochten in seine konkrete und geschichtliche Wirklichkeit. Er
ist sich selbst aufgegeben, er kann, soll und will seine Persönlichkeit entfalten, und zwar
vermittels der Gesellschaft. Anders gesagt: Die Gesellschaft ist die „Verlängerung der
Personen in Raum und Zeit“5, analog dem Leib-Seele-Verhältnis. Sie ist eine „Ordnungseinheit tätiger Menschen“.6 Papst Johannes XXIII hat in Mater et magistra Nr. 219 den
„obersten Grundsatz“ der katholischen Soziallehre entsprechend definiert: der Mensch
ist „Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen (…). Und zwar
der Mensch, sofern er von Natur aus auf Mit-Sein angelegt (…).” Der Mensch ist Subjekt,
aktiv, niemals nur Objekt, nur das, was andere aus ihm machen. Deshalb ist alles das
für ihn hilfreich, was es ihm erlaubt, sich als Subjekt zu betätigen und sich dadurch zu
entfalten. Zwar macht jede Hilfe den Bedürftigen per definitionem zum Objekt. Aber der
„Sinn dieser Maßnahmen darf kein anderer sein, als dem hilfsbedürftigen Menschen zu
helfen, wieder weniger Objekt und mehr Subjekt zu sein. Das besagt: die Hilfsmaßnahmen haben es darauf abzulegen, dem Hilfsbedürftigen soviel Gelegenheit wie möglich zu
bieten, zu seiner Befreiung aus der Not durch eigenes Tun mitzuwirken, sollen Hilfe zur
Selbsthilfe sein.“7 Die Gemeinschaft hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
die Glieder bestehen können, etwas unternehmen können, der einzelne sich entfalten
kann. Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Idee der Menschenrechte, die
von Freiheitsrechten und politischen Gestaltungsrechten, aber auch von Sozialrechten
spricht. Die Rechte werden dem Einzelnen nicht vom Staat verliehen, er hat sie „von sich
aus“. Und die Idee der Freiheit, die in der Menschenrechtsidee impliziert ist, ist immer
eine konkrete, die die materiellen Voraussetzungen der Freiheits- und Gestaltungsrechte, also ihre vielfältigen Vermittlungen, einschließt.
2 Pius XI: Quadragesimo anno, in: AAS 23 (1931) 177-228, 203, zit. nach: Texte zur katholischen Soziallehre.
Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente, hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands – KAB. Kevelaer 8. Aufl. 1992, 90f.
3 0. von Nell-Breuning: Subsidiarität – ein katholisches Prinzip? in: F. Hengsbach (Hg.): 0. von Nell-Breunning:
Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Lesebuch. Düsseldorf 1990,
349-370, 350.
4 Ebd.
5 E. Link: Das Subsidiaritätsprinzip. Sein Wesen und seine Bedeutung für die Sozialethik. Freiburg 1955, 91.
6 Ebd., 112.
7 O. von Nell-Breuning: Subsidiarität, a. a. O., 352.
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Günter Wilhelms, Subsidiarität
Es geht also um das Verhältnis Einzelner – Gesellschaft, und es geht um Hilfeleistung. So
findet sich in Quadragesimo anno auch eine ganz bestimmte Vorstellung von gesellschaftlicher Ordnung, die als Ausfaltung der Idee der Subsidiarität interpretiert werden kann:
das Modell „berufsständischer Ordnung“, später weniger missverständlich „leistungsgemeinschaftliche Ordnung“ genannt. Worum geht es? Die französische Menschen- und
Bürgerrechtserklärung von 1789 wurde sowohl durch das „personale Motiv der am Leistungsprinzip orientierten individuellen Entfaltungsfreiheit“ als auch durch das „transpersonale Motiv (…) der Ausschaltung der die Artikulation des Gemeinwohls gefährdenden
Gruppeninteressen aus dem Prozeß der politischen Willensbildung“8 auf den Weg gebracht. Dieses fundamentale Nivellierungsinteresse der Revolutionäre traf damit die alte
berufsständische Ordnung im Kern. Gegen diese „Nivellierungsinteressen“ organisierte
sich eine vor allem konservativ geprägte Bewegung, die in der sogenannten politischen
Romantik das „Unbehagen über den Verlust einer (…) Lebensmitte“9 zum Ausdruck bringen wollte. Der Kerngedanke ist die „ständische Mediatisierung des Individuums“10, die
gesellschaftliche Vermittlung des Einzelnen. „Leistungsgemeinschaften in diesem Sinne
(im Sinne von Quadragesimo anno, G. W.) wären Körperschaften, in denen alle an einer
bestimmten sozialen Leistung beteiligten Menschen zusammengeschlossen sind, gleich,
ob sie als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, in leitender oder bloß ausführender Tätigkeit
beteiligt sind. Die Leistungsgemeinschaften sind für das Individuum frei wählbar (…).
Das dem Gemeinwohl dienende Verhalten der verschiedenen Leistungsgemeinschaften
soll durch ihre ethische Einstellung und durch die ausgleichende Tätigkeit des Staates
bewirkt werden (…).“11 Wenn man sich vor Pauschaldiskreditierungen hütet12, kann man
in dieser Ordnungsvorstellung ein beachtenswertes Modell entdecken, das zwischen Individuum und Staat „intermediäre Institutionen“ schaffen wollte, „die dem Antagonismus
der Klassengesellschaft die Spitze nehmen und als gesellschaftliche Selbstregulierungsinstanzen den Staat entlasten sollten.“13
Nachdem das Prinzip geraume Zeit in den lehramtlichen Texten kaum noch, und wenn, nur
am Rande, Erwähnung gefunden hat, rückt es, wenigstens der Intention nach, im Gemeinsamen Wort der beiden deutschen Kirchen von 1997 „Für eine Zukunft in Solidarität und
Gerechtigkeit“14 in die Position eines Leitgedankens. Er lautet: Dass die Kirchen vornehmlich den Staat in die Pflicht nehmen wollen bei der Lösung der drängenden wirtschaftlichen
und sozialen Probleme, ist nicht neu. Aber auch die gesamte Gesellschaft in ihren vielfältigen und vielgestaltigen Organisationsformen — das ist neu. Die Zukunft in „Solidarität und
Gerechtigkeit” erwarten die Kirchen nicht zuletzt von diesen gesellschaftlichen Potentialen.
Das bedeutet dreierlei: 1. Die vielfältigen gesellschaftlichen Akteure sind mitverantwortlich
für die Gestaltung des Ganzen. 2. Es gilt, die Möglichkeiten zur Stärkung „zivilgesellschaftlicher” Solidaritätspoteniale zu entdecken und zu fördern, von einer „neuen Sozialkultur”
(Nr. 221) ist die Rede. 3. Die Partizipationsmöglichkeiten und Beteiligungschancen gerade
für die Armen, Schwachen und Benachteiligten sind zu erhöhen.
Dabei stößt vor allem die aktuell zu beobachtende Forcierung der Marktkräfte bei den
Kirchen auf Kritik. Dass Solidarität und Gerechtigkeit heute keine „unangefochtene Wertschätzung” mehr genießen, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass viele fälschlich glauben,
„ein Ausgleich der Interessen stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein”
8 P.C. Mayer-Tasch: Korporativismus und Autoritarismus. Eine Studie zu Theorie und Praxis der berufsständischen Rechts- und Staatsidee. Frankfurt 1971, 9.
9 Ebd., 11.
10 Ebd., 13.
11 Sie regeln „das berufliche Aus- und Fortbildungswesen, die Erziehung zum Berufsethos, die Überwachung
echten Leistungswettbewerbs, der Kartellgesetzgebung, Sozialversicherung, freiwillige Alters- und Krankenversicherung (…)“ und vieles mehr. (N. Monzel: Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von T. Herweg/K.H. Grenner. München 1980, 273f.)
12 Vgl. etwa T. Rendtorff: Subsidiaritätsprinzip oder Gemeinwohlpluralismus? in: ZEE (1993) 91-93.
13 A. Baumgartner: „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär.“ Zur anthropologischen und
theologischen Begründung der Subsidiarität, in: Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit. Zur Reichweit eines Prinzips in Deutschland und Europa, hrsg. von K. W. Nörr/Th. Oppermann. Tübingen 1997, 13-22, 17.
14 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hrsg. vom Kirchenamt der Ev. Kirche in Dt. und vom Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz. (Gemeinsame Texte 9). Bonn
1997.
Günter Wilhelms, Subsidiarität
(Nr. 2). Das Gegenteil scheint richtig: Auf diese Weise wird der Egoismus gefördert,
strukturell wie individuell. Auf der anderen Seite schwindet das „Vertrauen in die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft” (Nr. 53) — weil sich die Politik scheinbar nur
noch um sich selbst kümmert und weil sie ihre Gestaltungskompetenz immer mehr abgibt, Beispiel Globalisierung, die immer mehr den Charakter einer Naturgewalt annimmt.
Demgegenüber favorisiert das Gemeinsame Wort ein anderes Modell von Gesellschaft:
Für die gesellschaftliche Wohlfahrt werden, neben Staat und Markt, gesellschaftliche
Gruppen und Institutionen immer wichtiger, die einen „eigenständigen Beitrag” (Nr. 156)
leisten. Das Papier spricht von einer neuen Besinnung auf die „Sozialkultur” und meint
damit „soziale Netzwerke und Dienste, lokale Beschäftigungsinitiativen, ehrenamtliches
Engagement und Selbsthilfegruppen” (Nr. 221 u. 12). Alle diese Formen ergänzen, vermitteln und fördern gleichsam die zwei anderen Ebenen von Moral in der Gesellschaft:
die Rahmenordnung mit dem Recht als Medium und die individuelle Moral. Deshalb kann
man sie als Ausdruck subsidiärer Gesellschaft verstehen. Und diese Formen bieten neue
Möglichkeiten, sich an der gesellschaftspolitischen Debatte zu beteiligen. In diesem Sinne will das Papier alle Versuche, auf Sachzwänge zu verweisen, als ideologieverdächtig
entlarven. Die Probleme sind in die politische Debatte hineinzuholen. Das heißt den Legitimationszwang zu erhöhen, wenn Benachteiligungen herrschen.
II. Ordnung in der modernen Gesellschaft?
Die Vorstellungen des Gemeinsamen Wortes von einer neuen Sozialkultur werden allerdings erst verständlich, wenn man ein bestimmtes zentrales Ordnungsproblem ins Auge
fasst: Wie ist Gestaltung, wie ist Steuerung in modernen Gesellschaften denkbar? Aus der
Sicht moderner Gesellschaftsanalysen hat die Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung
eine typisch neue Form angenommen: In den primitiven Gesellschaften war sie in den
Sitten und Gebräuchen und Ritualen eingelassen und verdankte ihre unbefragte Selbstverständlichkeit nicht zuletzt den engen sozialen Bindungen der Gruppenmitglieder. Dann
übernahm die hierarchische Zuordnung von Kirche und Staat oder Staat und Gesellschaft
die Ordnungsfunktion: die Kirche bzw. der Staat definierte die gesellschaftlichen Ziele und
setzte sie durch. Heute, das heißt in komplexen, entwickelten Gesellschaften, können Ziele
wie Gerechtigkeit, Abrüstung, Frieden „nicht mehr schlicht beschlossen und verwirklicht
werden, weil Störfaktoren, Gegenbewegungen, Eigendynamiken, Überreaktionen, unbeabsichtigte Nebenfolgen etc. um so wahrscheinlicher sind, je differenzierter und komplexer
eine Gesellschaft ist.“15 „Nicht nur Großstädte, Bildungssysteme, Versicherungssysteme,
technologische oder militärische Großorganisationen scheinen mit wachsender Komplexität weniger regierbar und steuerbar zu werden; inzwischen wird dies immer häufiger von
ganzen Gesellschaften behauptet.“16 Was also zunächst als ein rein theoretisches Problem
erscheint, die Steuerung der Gesellschaft, erweist sich bei näherem Hinsehen als konkret
und folgenreich und ethisch hoch relevant.
Diese Entwicklung hat die soziologische Systemtheorie wie keine andere begrifflich auf
die Spitze getrieben. So charakterisiert Niklas Luhmann „die Moderne“ als eine funktional
differenzierte Gesellschaft. Das bedeutet, dass die moderne Gesellschaft als Ganzes
aus „ungleichartigen, aber gleichrangigen Teilen“ zusammengesetzt ist. Luhmann denkt
dabei vor allem an Wirtschaft, Politik, Recht, Militär, Wissenschaft, Kunst, Religion, Massenmedien, Erziehung, Gesundheitswesen, Sport, Familie und Intimbeziehungen.17 „Alle
Teilsysteme leisten aufgrund ihrer funktionalen Spezialisierung einen andern Beitrag zur
gesamtgesellschaftlichen Reproduktion. Gleichrangig sind sie für Luhmann deshalb, weil
15 H. Willke: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher
Selbstorganisation. 2. Aufl. Weinheim 1993, 69
16 H. Willke: Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theoriesozialer Systeme. 3. Aufl.
Stuttgart 1991, 59.
17 Vgl. U. Schimank: Ökologische Gefährdungen, Anspruchsinflationen und Exklusionsverkettungen — Niklas
Luhmanns Beobachtungen der Folgeprobleme funktionaler Differenzierung, in: Ders./U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Opladen 2000, 125-142, 126.
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Günter Wilhelms, Subsidiarität
alle gleichermaßen unverzichtbar für die Reproduktion der modernen Gesellschaft sind
und auch keines dabei durch ein anderes ersetzt werden kann. Die Wirtschaft dürfte
genauso wenig ausfallen wie die Massenmedien oder das Gesundheitswesen (...).“18 Die
klassische Vorstellung von funktionaler Differenzierung, etwa bei Durkheim oder auch
Parsons, fasst diese noch als gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung auf. Jedes Teilsystem trägt das Seine zum Erhalt des Ganzen bei, wie der Arbeiter am Fließband. Die
Koordination der einzelnen Beiträge geschieht bei Luhmann gerade nicht nach einem
irgendwie gearteten Plan, sondern eher zufällig, evolutiv.19 Die Entstehung der modernen Gesellschaft ist nicht nach dem Muster der Arbeitsteilung zu verstehen, „sondern als
spannungsreiches Neben- und Gegeneinander.“20 „Was z.B. wirtschaftlich nützlich ist, ist
nicht unbedingt auch politisch opportun oder künstlerisch wertvoll.“21 Jedes Teilsystem
tendiert zur Selbstverabsolutierung und zur entsprechenden Gleichgültigkeit gegenüber
den Belangen anderer Systeme. Oftmals gerät so ein und dasselbe soziale Ereignis
unter den Zugriff divergierender Sachlogiken: „Das Kunstwerk kostet Geld oder ist darüber hinaus politisch anstößig, und politische Machtkalküle durchkreuzen wirtschaftliche Investitionspläne.“22 Die Gesellschaft zerfällt regelrecht in die Vielfalt der möglichen
Perspektiven, aus denen ein soziales Ereignis beobachtet werden kann. „Ein Zugunglück beispielsweise lässt sich nicht der alleinigen Zuständigkeit eines bestimmten Teilsystems zuordnen, um so gleichsam unsichtbar, nämlich bedeutungslos — im doppelten
Sinne des Wortes — für die übrigen Teilsysteme zu bleiben. Sondern das Zugunglück
stellt sich als rechtliches, wirtschaftliches, politisches, massenmediales, wissenschaftlich-technisches, medizinisches, gegebenenfalls auch militärisches, pädagogisches oder
künstlerisches Geschehen dar — und jedes Mal ganz anders!“23
Wie muss man diese Entwicklung beurteilen angesichts der Tatsache, dass die „Rücksichtslosigkeit“ der Bereiche als eine wesentliche Ursache der aktuellen Probleme wie
Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, Korruption und Egoismus, auch „Nebenfolgen“
sachrationalen Handelns genannt, erscheint? Der Soziologe Ulrich Beck glaubt nicht,
dass die ausdifferenzierten Mechanismen ihre Nebenfolgen noch intern verrechnen können. Den einzelnen „egoistischen” Rationalitäten gelingt es nicht mehr, so seine These,
von den selbstproduzierten Nebenfolgen noch einmal zu profitieren, indem man sich,
als Spezialist, für die Pathologie allein zuständig erklärt. Gleichwohl nötigen die Nebenfolgen systemischen Handelns die Sachrationalitäten zum „Umdenken”, so interpretiert
Beck weiter. „Was nicht reflektiert wird, summiert sich zu dem Strukturbruch.“24 Das heißt
dieser Strukturbruch zwingt die Systeme dazu, reflexiv zu werden, die möglichen Folgen ihres Handelns besser zu kalkulieren. Und in diesem Augenblick bekommen Demokratisierung und Moralisierung wieder eine Chance, weil die geschlossenen Systeme
aufbrechen, „flüssig” werden, gestaltbar werden. Der Verantwortlichkeit des einzelnen
und einzelner Organisationen und Initiativen werden wieder Entfaltungsmöglichkeiten
eingeräumt. Alle ausdifferenzierten Systeme bekommen die Möglichkeit, sich neu zu
organisieren. Das klingt zunächst ganz anders als bei Luhmann, für den die Risikokommunikation den Effekt hat, die Teilsysteme noch mehr gegeneinander abzuschließen.
Aber in welche Zukunft eine solche reflexive Moderne geht, ist auch für Beck noch einmal
völlig offen. Sie kann „Weiterentwicklung oder Gegenmoderne zur Folge haben: Neofaschismus oder ökologische Demokratie; Ökodiktatur, Gewalt, Fundamentalismus oder
eine Weiterentwicklung von Demokratie und Aufklärung über die Verkrustungen und Bornierungen der Industriezivilisation hinweg.“ 25
18 Ebd.
19 Allerdings wollte Durkheim nicht einem Automatismus vertrauen. Es sollten vielmehr Regelsysteme entwickelt werden, zum Beispiel in Form von Korporationen, die das soziale Band fördern und garantieren, vgl.
G. Wilhelms: Die Ordnung moderner Gesellschaft. Gesellschaftstheorie und christliche Sozialethik im Dialog,
Stuttgart 1996, 50 und vgl. die Idee der leistungsgemeinschaftlichen Ordnung, s. o.
20 U. Schimank: Niklas Luhmann, a. a. O., 127.
21 Ebd.
22 Ebd.
23 Ebd., 128.
24 U. Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt 1993, 71f,
kursiv: G. W.
25 Ebd. 64.
Günter Wilhelms, Subsidiarität
Bei den Nebenfolgen, den Verselbständigungstendenzen, setzen auch moderne Demokratietheorien an. Anonymisierung und funktionale Differenzierung bedeuten nämlich einen Verlust an Partizipationsmöglichkeiten. Und sie suchen nach einem Gegengewicht
gegenüber diesen undemokratischen Tendenzen und finden es in vielfältigen Formen und
Assoziationen partizipatorischer Demokratie.26 Was bei der Systemtheorie, aber auch bei
Beck noch von einem eher evolutiv gedachten (sich selbst bewusst werdenden) gesamtgesellschaftlichen Prozess erwartet wird, sich hinter dem Rücken der (ursprünglich verantwortlichen) Akteure durchsetzend, wird nun in den rechtsstaatlichen, demokratischen
Prozess eingeordnet. Die Folgen mangelnder Systemintegration werden, so Habermas
gegen Luhmann, gerade vor dem „lebensgeschichtlichen Hintergrund verletzter Interessen
und bedrohter Identitäten” als lösungsbedürftig erfahren. Nicht zuletzt deshalb bleiben für
Politik und Recht zentrale integrative Aufgaben — auch und gerade in einer hochkomplexen, funktional ausdifferenzierten und anonymen Gesellschaft. Sie bleiben, weil Politik und
Recht „zur Lebenswelt hin geöffnet” sind. Sie können ihrerseits nicht als geschlossene
Systeme begriffen werden, weil sie die „unterhalb der Differenzierungsschwelle der Spezialkodes (…) gesellschaftsweit zirkulierende Umgangssprache” gerade für die Behandlung
gesamtgesellschaftlicher Probleme nutzen und also eine Integration „an der kommunikativen Macht des Staatsbürgerpublikums vorbei”, systempaternalistisch, nicht sinnvoll abgewickelt werden kann.27 Auch der Diskurs von Experten muss mit dem demokratischen
Meinungs- und Willensbildungsprozess rückgekoppelt werden, wenn Integration durch Legitimation gelingen soll. Außerdem zeichnet, so Habermas, die Systemtheorie ein sehr einseitiges Bild von der Gesellschaft, so als bestünde sie ausschließlich aus selbstreferentiell
geschlossenen Systemen. Als ein solches im engen Sinne kann er nur die kapitalistische
Wirtschaft verstehen und vielleicht noch die öffentliche Administration.28
Wie dem auch sei: Lassen sich die verschiedenen Perspektiven vermitteln? Kann man
die Einsichten der Systemtheorie mit denen der Demokratietheorie so in Verbindung
bringen, dass auf der einen Seite die Problemanalyse nicht „unterkomplex“ gerät und auf
der anderen Seite die Idee von einer humanen, von den Menschen zu verantwortenden
Gesellschaft nicht verloren geht? Mit Ulrich Beck hatten wir von einer „Verflüssigung“
der gesellschaftlichen Systeme gesprochen, von einem „Reflexivwerden“ angesichts der
drängenden Probleme. In eine ähnliche Richtung denkt auch ein anderer Systemtheoretiker, Helmut Willke, der, anders als Luhmann, für den fürs Überleben der Gesellschaft
eine Koevolution der Sachbereiche genügt, von vermittelnden Instanzen spricht. „In der
Praxis entwickelter Gesellschaften haben sich systemische Diskurse (kursiv: G. W.) (in
Form von Verhandlungssystemen, konzertierten Aktionen, sozialökonomischen Räten,
Bildungsrat, Wissenschaftsrat, tripartistischen Kommissionen und ähnlichen) an Brennpunkten sozietaler Konflikte herausgebildet. Inzwischen rücken entsprechende Diskurssysteme auch auf regionaler und kommunaler Ebene — z. B. im Bereich der Sozialpolitik
oder der Berufsbildung — ins Blickfeld (...). Wesentlich ist, daß es nicht den einen übergreifenden Systemdiskurs gibt, sondern entsprechend der föderalen und polyzentrischen
Struktur moderner Gesellschaften eine Vielzahl dezentraler Diskurse. Wichtiger noch:
Das Funktionieren dieser Diskurse hängt nicht an einer vorgegebenen übergreifenden
Idee des Ganzen von Gesellschaft, präsupponiert nicht eine einheitliche Identität oder
Subjektivität von Gesellschaft. Es gibt keine zentrale Instanz, welche die Richtung sozietaler Steuerung angeben oder kontrollieren könnte. Die Kontrolle der Richtung der
Steuerung erfolgt im Zusammenspiel der betroffenen autonomen Akteure; sie ist deshalb
notwendig dezentral und zurückverlagert in die Prozesse der Reflexion und Abstimmung
eigenständiger Funktionssysteme.“29 Und abschließend stellt er fest: „(...) überzogene
Ansprüche an Kontrolle, Beherrschbarkeit, Machtausübung und Steuerung von Gesellschaften” sind zu reduzieren. „Zugleich macht diese Perspektive deutlich, daß bloßes
Durchwursteln nicht mehr ausreicht. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte genau
26 Vgl. etwa R. Dahl: On Democracy. New Haven/London 1998. Vgl. dazu M.G. Schmidt: Demokratietheorien.
Ein Einführung. 3. Aufl. Opladen 2000, bes. 251ff.
27 J. Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaats. Frankfurt 1992, 426f. Zur Kritik an der Systemtheorie vgl. ebd., 399-467, bes. 420ff.
28 Vgl. ebd., 427f.
29 H. Willke: Systemtheorie entwickelter Gesellschaften, a. a. O., 139.
41
42
Günter Wilhelms, Subsidiarität
darin liegen, die Fähigkeiten naturwüchsiger Evolution zu verknüpfen mit dem Anspruch,
der aus der Besonderheit psychischer und sozialer Systeme folgt: die Fähigkeiten zu
dezentraler Selbstorganisation zu stärken und sie auf das Ziel einer Zivilisierung auszurichten, welches auch und gerade die Moderne noch längst nicht erreicht hat.“30 Was
Willke höchstens andeutet, ist der normative Orientierungspunkt. Zwar macht er auf die
Unzulänglichkeit des rein funktionalen Aspektes aufmerksam. Aber es bedarf des bürgerschaftlichen Engagements, es bedarf der vielfältigen Aktionen „vor Ort”, die dem einzelnen das Gefühl geben, das es (noch) gesellschaftliche Bereiche gibt, die er mitgestalten kann. Es gilt das individuelle sittliche Subjekt zu retten. Nur so kann beispielsweise
das fatale Bild der (Partei)Politik, nämlich sich auf Talk spezialisiert zu haben (Luhmann),
korrigiert werden und sie dadurch ihre Handlungsfähigkeit Stück für Stück zurückgewinnen. Auch das Wirtschaftssystem braucht Einrichtungen, die die möglichen Folgen von
Entscheidungen für die Umwelt, für die Menschen in den Unternehmensprozess integrieren (Beispiel Umweltbeauftragte, Datenschutzbeauftragte u. a.), braucht handlungsrelevante Leitbilder, die die Verantwortung des einzelnen auf allen Ebenen einbeziehen
wollen. Nur so kann sie wieder rückeingebunden werden in den gesellschaftlichen Diskurs und die Sorge ums Gemeinwohl. Und es braucht ein Medium, „über das sich die aus
einfachen Interaktionen und naturwüchsigen Solidarverhältnissen bekannten Strukturen
gegenseitiger Anerkennung in abstrakter, aber bindender Form auf die komplexen und
zunehmend anonymen Handlungsbereiche einer funktional differenzierten Gesellschaft
übertragen lassen.“31 Das ist die bleibende Aufgabe der Institutionen des Rechtsstaats.
Die soziologische Systemtheorie hat die Frage der gesellschaftlichen Ordnung ohne
Rückgriff aufs sittliche Subjekt, auf den Einzelnen, in den Blick genommen. Zugleich hat
sie allerdings Strukturen und Institutionalisierungen beschrieben, die, so die These, mit
den normativen Perspektiven moderner Demokratietheorie verbunden werden können.
Mehr noch: Die „Reflexivität“ der Systeme ist ohne das sittliche Subjekt nicht denkbar,
weil sie, wie gesehen, eine Infragestellung der Sachlogiken bedeutet. In dem Augenblick,
in dem die Sachgesetzlichkeiten „verflüssigt“ werden, bekommt der „ganze“ Mensch
wieder eine Chance mitzugestalten. Mit dieser Perspektive wäre das Eingangsszenario
eingeholt und eine Möglichkeit angedeutet, so etwas wie eine moderne subsidiäre Gesellschaft zu bestimmen. Anders gesagt: Mit dieser Perspektive wäre die klassische Idee
der Subsidiarität mit Hilfe moderner Gesellschaftsanalyse lebensweltlich verortet. Darüber hinaus fordert das sozialethische Interesse, so eine weitere These, institutionelle
Arrangements zu beschreiben, die dieser gesellschaftlichen Dynamik gleichsam entgegenkommen. Es reicht nicht, sich auf evolutiv verbrämte, individualistisch oder funktionalistisch gedachte Entwicklungen zu verlassen. Ein erster Hinweis steckt in der Idee
intermediärer Mechanismen oder systemischer Diskurse. Damit sind wir auch wieder bei
den Vorschlägen des Gemeinsamen Wortes und den Stichwörtern „Zivilgesellschaft“ und
„neue Sozialkultur“. Wobei diese sozialen Phänomene nicht überfordert werden dürfen,
das sei ausdrücklich angemerkt in Richtung einer berechtigten Kritik an solchen Positionen, die die Zivilgesellschaft zum neuen gesellschaftlichen Steuerungszentrum stilisieren wollen: Sie treten nicht an die Stelle des Staates, sie sind keine Expertengremien.
Sie können vielmehr nur indirekt einwirken auf die Funktionssysteme, sie können als Katalysatoren für sozialen Wandel wirken und gesellschaftliche Selbststeuerungspotentiale
entfalten.32 Sie sind aufeinander verwiesen…
III. „Neue“ Subsidiarität?
In dieses Szenario soll sich der Subsidiaritätsgedanke einfügen? Wenn wir das annehmen, haben wir dann nicht stillschweigend die Idee der Subsidiarität uminterpretiert und
ausgeweitet? Ging es nicht ursprünglich um eine rein institutionelle Frage, also um die
30 Ebd., 140.
31 J. Habermas: Faktizität und Geltung, a. a. O., 387.
32 Vgl. G. Kneer: Zivilgesellschaft, in: Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen.
München 1997, 228-251, 245ff.
Günter Wilhelms, Subsidiarität
Frage der hierarchischen Gliederung der verschiedenen gesellschaftlichen Sachbereiche? So hat etwa Nell-Breuning darauf hingewiesen, dass man für die Anwendbarkeit
des Prinzips darauf achten muss, ob es sich um ein Verhältnis von Ganzem und Glied
handelt. „Im Verhältnis von Ortsgruppe zu Kreisverband, von Kreisverband zu Landesverband, von Landesverband zu etwa bestehendem noch höherem, übergeordnetem
Verband ist dieses Verhältnis gegeben (...); ebenso im Verhältnis von Fachverband zu
Gesamtverband (Fachverband Textil zu Gesamtverband Industrie, Einzelgewerkschaft
zu Gewerkschaftsbund); nicht anwendbar ist es auf Sozialgebilde verschiedener Zielsetzung, am allerwenigsten, wenn die Ziele nicht nur verschieden, sondern gegensätzlich
sind.”33 Dagegen macht Koslowski zu Recht darauf aufmerksam, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht nur auf die Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Ganzen anzuwenden ist, sondern über die institutionelle Ebene hinausgeht und Fragen der „Funktionsverteilung und –koordination zwischen Subsystemen und Kultursachbereichen“
miteinbezieht.34 Koslowski will damit eine Interpretation im Sinne „linearer Subsidiarität“,
nur in eine „Richtung“ zielend, oder im Sinne einer „aufhebenden Abfolge“, abwehren
und sie vor allem als Kooperationsprinzip verstanden wissen. Staat und Markt sollen ihr
Versagen in der Erfüllung der eigenen Funktion wechselseitig kompensieren.35 Diese
Erweiterung der „klassischen“ Interpretation von Subsidiarität, die sich auf die institutionelle Ebene konzentriert, um die funktionale Perspektive, findet ihren Anhalt bei näherem Hinsehen schon in Quadragesimo anno. Insofern man mit der Enzyklika als die
eigentliche Funktion der Gesellschaft ihren Dienst an der Vervollkommnungsmöglichkeit
des Menschen bestimmen muss und der Text vor allem die Erosion intermediärer Gesellschaftsformen beklagt36, erweitern sich die Anwendungsbedingungen in dem normativen Sinn, dass intermediäre Gesellschaftsformen zu stärken und gegebenenfalls neu
zu etablieren sind.37 Was bedeutete das anderes als die streng hierarchische Gliederung
als Anwendungsbedingung des Prinzips zu relativieren? Der Einzelne gibt den letzten
Bezugspunkt, nicht die Gemeinschaft, ganz gleich ob „oben“ oder „unten“. Eine solche
„Funktionalisierung“ bringt das Subsidiaritätsprinzip in Verbindung mit der zentralen Kritik an eingespielten Sachrationalitäten, hier vor allem Marktmechanismen und Verwaltungsformen, die den Einzelnen außen vor lassen, und der Kritik an fremdbestimmten
Lebensräumen (s. o.); und bringt es ebenso in Verbindung mit einer Liberalismuskritik,
wie sie etwa der Kommunitarismus betrieben hat. Hierher gehört alles, was in der Debatte über die Bürger- oder Zivilgesellschaft zusammengetragen worden ist. Nur so ist die
Subisidiarität zu verbinden mit dem zentralen Ordnungsproblem moderner Gesellschaft,
der Steuerung unter Bedingungen funktionaler Differenzierung. Ihre Integration, also die
wechselseitige Rücksichtnahme der funktionalen Bereiche, bedarf des individuellen Subjekts, um die Systeme reflexiv werden zu lassen; diese wiederum bedürfen der institutionellen Unterstützung durch vielfältige intermediäre Mechanismen und zivilgesellschaftliche Engagementformen, aber auch der Rechtsordnung und der Politik – denn Integration
bedarf auch der Legitimation.
Wenn man nun noch einmal die steuerungstheoretische Problematik mit Hilfe des Subsidiaritätsbegriffs zusammenfassend rekonstruieren möchte, kann man zwei sozialethische Funktionen des Begriffs unterscheiden: Dann wird das Subsidiaritätsprinzip (1)
zum kritischen, normativen Maßstab für ganz bestimmte Folgen der Ausdifferenzierung,
insbesondere für die Selbstgenügsamkeit und tendenzielle Ignoranz gesellschaftlicher
Teilsysteme gegenüber der jeweiligen „Umwelt” — gegenüber den jeweils anderen Teilsystemen und vor allem gegenüber Person und Natur. Dann muss es aus ethischer Sicht
das Ziel sein, die Abspaltung des aktiven, individuellen Subjekts von den Teilrationalitäten
33 Ebd., 356f.
34 P. Koslowski: Subsidiarität als Prinzip der Koordination der Gesellschaft, in: Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, a. a. O., 39-48, 46.
35 Vgl. ebd., 44.
36 „In Auswirkung des individualistischen Geistes ist es so weit gekommen, daß das einst blühend und reich
gegliedert in einer Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen entfaltete menschliche Gesellschaftsleben
derart zerschlagen und nahezu ertötet wurde, bis schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und der Staat
übrigblieben – zum nicht geringen Schaden für den Staat selber.“ (Quadragesimo anno Nr. 78)
37 Vgl. O. Höffe: Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip, in: Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, a. a.
O., 49- 67, 55.
43
44
Günter Wilhelms, Subsidiarität
partiell rückgängig zu machen, Subjekt und System zu vermitteln, ohne gleichzeitig ihre
Spannung völlig aufzulösen — das wäre nämlich das Ende der Differenzierungsdynamik,
die die moderne Gesellschaft trägt und die weitgehend ohne den Einzelnen funktioniert.38
Auf der anderen Seite — aus (2) „konstruktiver” und „systemlogischer” Sicht — vermag
gerade die Einbindung der Verantwortung des Einzelnen die Selbstreflexionsfähigkeit
der Systeme — das heißt die möglichen Folgen eigenen Handelns für andere — zu erhöhen. Der Einzelne ist eben nie nur Teil einer bestimmten Systemlogik, nur Rolle, sondern
immer auch eingebunden in eine konkrete Lebenswelt mit ihrer Umgangssprachlichkeit.
Das ist notwendig, weil die Krisenlagen moderner Gesellschaften als nichtintendierte
Folgen sachlogischen Handelns interpretiert werden können. D. h. die kommunikative
Schließung der Systeme führt dazu, dass die Folgen systemischen Handelns durch das
System selbst kaum mehr wahrgenommen werden können.
Beide Perspektiven, kritisch normative und konstruktive, systemlogische, führen zu ganz
ähnlichen Konsequenzen, nämlich der Forderung, organisatorische Arrangements zu
entwickeln, die den Prozess der Ausdifferenzierung unterbrechen, indem sie Verantwortung möglich machen! Es geht darum, konkrete Vermittlungen zu suchen, die das
individuelle Subjekt im System zum Zuge kommen lassen. Diese Vermittlungsstellen
hätten, ganz allgemein gesagt, die Aufgabe, die Systeme zur Legitimation zu zwingen.39 Sie hätten die Aufgabe, den Subjekten Möglichkeitsbedingungen anzubieten für
die Übernahme von Verantwortung. Je größer, komplexer, differenzierter, folgelastiger
die gesellschaftlichen Gebilde werden, umso wichtiger sind vermittelnde Instanzen, die
den Einzelnen die Chance einräumen, an der Willensbildung „unmittelbarer” beteiligt
zu sein! Und solche Instanzen erhöhen wiederum die Chance, die Teilrationalitäten jeweils zu unterbrechen. Nur so ist die persönliche Verantwortung zu retten. Nicht dadurch, dass ihre Nichtexistenz zur Bedingung gesellschaftlicher Ordnung gemacht wird,
um ihre faktische Labilität und Beschränktheit zu kompensieren — die „Minima moralia“
moderner Gesellschaften finden sich nicht schon und ausschließlich in den moralfreien,
evolutiven Steuerungserfordernissen der wichtigsten Subsysteme —, sondern dadurch,
dass Strukturen entwickelt werden, die die funktionalen Erfordernisse mit persönlichem
Verantwortungsbewusstsein zu vermitteln gestatten. Noch einmal anders gesagt und
formelhaft zusammengefasst: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wird mit
dem Subsidiaritätsbegriff nach dem Prinzip des „hilfreichen Beistandes“ bestimmt. Diese
Bestimmung hat ihren Grund im christlichen Menschenbild. Die entsprechenden Institutionalisierungen müssen wiederum unter drei zentralen Aspekten beurteilt werden: 1.
Freiheit, im Sinne gesellschaftlicher Vermittlung der Entfaltung des Individuums; 2. Institutionalisierung, im Sinne der kooperativen Zuordnung der Bereiche; 3. Funktionalität, im
Sinne von Kompetenz und Effizienz.
IV. Sozialstaat und Bildungsreform
Zum Abschluss sollen in aller Kürze zwei Problemfelder hervorgehoben werden, an denen der mögliche Beitrag der Subsidiaritätsidee konkret gemacht werden kann: Sozialstaat und Bildung. Dabei geht es nicht darum, diese Themenbereiche umfassend zu
diskutieren; vielmehr sollen mit Hilfe des Subsidiaritätsbegriffs einige Akzente gesetzt
werden, die für die aktuelle politische Debatte von Bedeutung sein können.
Angesichts der Tatsache, dass wir unseren Sozialstaat nur mit Mühe finanzieren können,
sind Subsidiaritätsvorstellungen zunächst naheliegend und erleben eine neue Konjunk38 Bezüglich der Funktion der Kompetenzabgrenzung weißt Höffe darauf hin dass das Subsidiaritätsprinzip
eine Entzauberung vornimmt, „die über die respektlose Diagnose von Systemtheoretikern noch hinausreicht.
Daß der Staat weder allein noch primär zuständig ist, ohnehin seine Fähigkeiten überschätzt, erkennt das Subsidiaritätsprinzip an; zusätzlich kritisiert es noch das Überschreiten seiner Befugnisse. Dort geht es lediglich um
Grenzen des staatlichen Könnens, hier zusätzlich um Grenzen des staatlichen Dürfens.” (0. Höffe: Demokratie
im Zeitalter der Globalisierung. München 1999, 128f.).
39 Hierher gehört auch die Frage nach der Demokratisierung der gesellschaftlichen Bereiche, vgl. etwa U.
Beck: Die Erfindung, a. a. O., bes. die Kap. V ff.
Günter Wilhelms, Subsidiarität
tur – man denke an seine Bedeutung für die Gestaltung der deutschen Sozialgesetzgebung nach dem letzten Krieg. Heute geht es nicht mehr, anders als damals, um das
Verhältnis von öffentlichen und freien Trägern, sondern um das Verhältnis „kleiner sozialer Netzwerke und selbstorganisierter Initiativen zu den etablierten Institutionen der
Sozial- und Jugendhilfe, zu denen auch die Verbände der freien Wohlfahrtspflege gezählt werden.“40 Es geht also um die „Instandsetzung gesellschaftlicher Teilglieder für die
Hilfe zur Selbsthilfe“; und das politische Ziel ist die „Demokratisierung lokaler Sozialpolitik“ und die „Erhöhung der Partizipationsmöglichkeiten Betroffener“.41 Der Gedanke der
Selbsthilfe ist nicht nur bedeutsam für die Umverteilung sozialer Verantwortung, sondern
darüber hinaus für ein humanes Gesicht des Sozialstaats. Aber, ganz im Sinne des oben
Festgestellten, bleiben die Grenzen der Selbsthilfe und der funktionale Aspekt deutlich
im Blick. „Das Subsidiaritätsprinzip entlastet zwar den Staat von sozialen Aufgaben, die
von der Gesellschaft oder dem Einzelnen gelöst werden können. Es tut dies jedoch mit
dem Ziel, ihn zur Ausübung seiner koordinierenden und stimulierenden Funktion in der
Sozialpolitik sowie seiner sozialpolitischen Gesamtverantwortung zu befähigen.“42 Das
Prinzip wird also nicht mehr als Plädoyer für eine „prinzipielle Vorrangstellung“ der Verbände verstanden, sondern für ein „neue Balance zwischen den verschiedenen Typen
von Eigenhilfe und Fremdhilfe.“ Und die Aufgabe der Verbände sollte in Zukunft nicht
zuletzt darin bestehen, „Voraussetzungen für die Stabilisierung sich neu herausbildender
autonomer (Selbst-) Hilfepotentiale zu schaffen.“43 Aus evangelischer Sicht hat Ursula
Schoen mit Hilfe des Subsidiaritätsprinzips drei Forderungen an die Diakonie formuliert,
die in gleicher Weise auch für die Caritas gelten.44 1. Der Mensch und die Erhaltung
seiner Würde ist der Maßstab diakonischen Handelns. „Diese Forderung gewinnt angesichts zunehmender Spezialisierungs- und Zentralisierungstendenzen mehr und mehr an
Bedeutung.“45 Daraus ergibt sich der Vorrang einer „gemeinwesen- und gemeindebezogenen Diakonie vor überregionaler, spezialisierter und lebensweltbezogener Diakonie.“46
2. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt eine „Partnerschaft“ von Diakonie oder Caritas mit
den gesellschaftlichen Kräften, „die dem Einzelnen am nächsten stehen“.47 Das sind
Familienangehörige, Selbsthilfegruppen u. ä. Diese Forderung läuft der gängigen Orientierung kirchlicher Sozialdienste „nach oben“, zu den politischen Institutionen, eher entgegen. 3. Das bedeutet aber nun nicht, dass die „höheren“ Organisationen und der Staat
aus ihrer Verantwortung zu entlassen wären. Für den Staat bleibt die Verantwortung für
die Rahmenbedingungen, die verantwortliches Handeln ermöglichen. Ähnliches gilt für
die Aufgabe der Experten.48
Insgesamt gilt, dass persönliche Freiheit und Selbstorganisation der Lebenswelt, im
Sinne individueller Autonomie und „partizipatorischer Planungsbeteiligung“, als generell
„höherrangig“ begriffen werden müssen gegenüber verwalteten, fremdbestimmten Lebensräumen. Wobei immer daran zu denken ist, dass die „Höherrangigkeit“ Maß nehmen muss an ihrer Funktion; der entscheidende Maßstab aller Gemeinschaft und aller
Gesellschaft ist der „homo singularis“, jeder einzelne Mensch.
Diese Forderung lässt sich auch auf das Thema Bildung anwenden. Auch hier sollen
einige Hinweise genügen. Die aktuelle Bildungsdebatte in unserem Lande ist geprägt
von Institutionalisierungsfragen. Reformieren, Strukturieren, Modularisieren, Profilieren,
Vergleichen und Wettbewerb sind nur einige Stichworte, die deutlich machen können,
dass auch hier die grundlegende Ordnungsfrage nach dem Verhältnis von Individuum
und Gesellschaft gestellt werden muss. Was ist eigentlich das Ziel der aktuellen Reformbemühungen? Wettbewerbsvorteile zu sichern, Anpassung an veränderte gesellschaftliche Bedingungen (Globalisierung) organisieren? Oder aber Bildung der Persönlichkeit
40
41
42
43
44
45
46
47
48
U. Schoen: Subsidiarität, a. a. O., 224.
Ebd. 225.
Ebd., 226.
Ebd.
Unter Rückgriff auf die sogen. Bratislava-Erklärung von 1994.
Ebd., 231.
Ebd., 232.
Ebd.
Dieser Hinweis findet sich nicht bei Schoen.
45
46
Günter Wilhelms, Subsidiarität
und Beteiligung aller an den Bildungsgütern? Wie soll man sich die Hilfe der Gesellschaft
vorstellen? Auch wenn es überholt klingen mag und für manche „erledigt“ scheint, so
sind doch das als klassisch bezeichnete Bildungsverständnis des deutschen Humanismus und die Reformen Humboldts erhellend für die heutige Situation. Damals war der
Ausgangspunkt der Erwägungen über Bildung die Analyse der Zeitsituation. „Von Herder
über Schiller und Hölderlin bis zu Fichte und Pestalozzi werden die entmenschlichenden
Tendenzen eindringlich hervorgehoben.“49 Der Mensch wird, so die damaligen Überlegungen, im Zuge der Industrialisierung und Technisierung, dem Beginn dessen, was
oben als Prozess funktionaler Differenzierung beschrieben wurde, zu einem Fragment,
zu einer Maschine, die für beliebige Zwecke verfügbar ist. Die notwendige Antwort lag
und liegt auch heute in der Rückbesinnung auf das, was der Mensch ist und sein soll.
Zweck von Bildung ist und muss sein der Mensch selbst. Deshalb ist Bildung nur als
Selbstbildung denkbar. Jede vorzeitige Inanspruchnahme durch äußere Zwecke lässt
Bildung in diesem Sinne erst gar nicht aufkommen. Gleichwohl bedarf die Bildung der
Welt und der Gesellschaft. Das, was wir auch Kultur im weiteren Sinne nennen, regt
den Bildungsprozess an, gibt ihm Orientierung und Halt. Aber nicht allen Weltbezügen
kommt eine solche bildende Funktion zu. „Folglich gilt es, sie so einzurichten, daß sie die
Bildung des Individuums fördern. Also müssen jene die Weltbezüge vorgängig normierenden Mächte so umgestaltet werden, daß sie der Selbst-Bildung des Menschen Raum
geben.“50 Der Humanismus sah vor allem Staat, Religion und Erziehung als solche Mächte an. Bildung ist „Ausdruck für den Vorgang der Aneignung von Welt und der Entwicklung der Person“51, so heißt es auch programmatisch in der neueren Bildungs-Denkschrift
der evangelischen Kirche Deutschlands.
An dem Beispiel Bildung kann man sehr gut zeigen, dass die als subsidiär zu qualifizierende Unterstützung von Seiten der Gesellschaft und von Seiten des Staates die Autonomie eines Sachbereiches zunächst achten und schützen muss, damit er seine Effizienz
entfalten kann. Weil es in der Bildung um den „ganzen“ Menschen geht, seine Lebensgeschichte und die wesentlichen Weisen seiner Welterfahrung, um die Begegnung mit
kognitiver, moralisch-evaluativer, ästhetisch-expressiver und religiös-konstitutiver Rationalität52, deshalb ist sie in ihrer Art von „Aneignung von Welt“ vor vorschnellen und einseitigen Indienstnahmen von außen zu schützen. Aus dieser Perspektive kann dann auch
das problematische Verhältnis von Bildung und Wirtschaft anders gesehen werden. Der
Bericht der bayrisch-sächsischen Zukunftskommission von 1997 hat es so ausgedrückt:
„Das politisch zu gestaltende Bildungsparadox lautet: Die konsequente Orientierung am
wohlverstandenen Bedarf der Wirtschaft führt zu einer Wiederbelebung Humboldtscher
Bildungsideale. Die Zukunft gehört den sattelfest spezialisierten Generalisten.“53
Aber es gibt noch einen anderen Aspekt in der aktuellen Bildungsdebatte, auf den mit
dem Subsidiaritätsprinzip aufmerksam gemacht werden kann, nämlich dass die sogenannte informelle Bildung, die Alltagsbildung, die Bildung in der Familie, im Sport- oder
Musikverein, einen unersetzlichen Wert haben. Die Forderung, diese Bereiche zu unterstützen gründet schon in ihrer Personnähe, gründet aber auch in ihrer Spannung zu
organisierter, verwalteter, verzweckter Bildung. Allerdings gilt auch hier die „Metaregel“54,
nämlich die Pflicht der höheren Einheiten, Verantwortung zu übernehmen, wenn etwa
die Familie ihre Aufgabe nicht erfüllen kann, nämlich die individuelle Autonomie und
angemessene Beteiligung aller Betroffenen zu fördern. Von dieser Notwendigkeit der
Kompensation ist die aktuelle politische Debatte geprägt, man denke etwa an das Thema
49 C. Menze: Art. Bildung, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft. Freiburg, 7. Aufl. 1995, Bd. 1, Sp. 783796, 785.
50 Ebd., 786.
51 Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine
Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2003, 12.
52 Vgl. K. E. Nipkow: Zur Bildungspolitik der evangelischen Kirche. Eine historisch-systematische Studie, in: P.
Biehl/Ders.: Bildung und Bildungspolitik in theologischer Perspektive. Münster 2003, 153-252, 221.
53 Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit
in Deutschland. Entwicklungen, Ursachen und Maßnahmen, Teil III: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage. Bonn 1997, 44f.
54 Vgl. O. Höffe: Subisidarität: Über den Dienst der Gemeinschaft am Individuum, in: Synthesis Philosophica
26 (1998) 595-605, 605
Günter Wilhelms, Subsidiarität
Ganztagsbetreuung. Aber Kompensationen sind immer erst der zweite Schritt! Zunächst
hat der Staat alles zu unternehmen, um die Familien zu stärken. D. h. Familie und Staat
gegeneinander auszuspielen ist der falsche Ansatz; es muss vielmehr um Kooperationen
gehen, um Vernetzungen von Vereinen, Familien und Schulen etwa. Solche Strukturen
hätten auch den Sinn, einseitige Leistungsorientierung, die mit der Schule automatisch
verbunden ist, in Frage zu stellen und „Übernützliches“ (Th. Mann) in den Bildungsprozess einzubringen, in einen Prozess, der bei uns zunehmend nach ökonomischen Kriterien organisiert werden soll: immer schneller, vergleichbarer, profilierter…
47
48
Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
Prof. Dr. Joachim Wiemeyer
Die Bedeutung außerschulischer politischer
Bildung in der christlichen Sozialethik
Einleitung
Prof. Dr. Joachim Wiemeyer, seit 1998 Professor für Christliche
Gesellschaftslehre in
Bochum, von 20002006 Sprecher der
Arbeitsgemeinschaft
der Professoren für
Christliche Sozialethik
in Deutschland.
Erwachsenenbildung hatte für die christlich-soziale Bewegung in Deutschland in der Geschichte eine hohe Bedeutung. Der Katholizismus wies damit eigene Initiativen als Alternative zu Arbeiterbildungsvereinen liberaler und sozialistischer Provenienz sowie zur
Volkshochschulbewegung auf. Die Bildungsanstrengungen im sozialen Katholizismus
erstreckten sich auf die breite Mitgliederschaft der katholischen Verbände sowie auf die
spezielle Schulung von Führungspersonen, der geistlichen Präsides wie der Vorstandsmitglieder von Vereinen und Gewerkschaften, die teilweise auch in der Zentrumspartei
vor 1933 politische Ämter und Mandaten übernahmen. Diese Ausbildung der Führungskräfte organisierte vor allem der Volksverein für das katholische Deutschland.1
Nach der Unterbrechung durch den Nationalsozialismus nahm 1945 das christlich-sozialethische Bildungswesen einen neuen Aufschwung, wurde doch nach den Erfahrungen der Diktatur eine Wertorientierung auf der Basis der Katholischen Soziallehre als
Grundlage für eine gesellschaftliche Erneuerung angesehen. Die sozialen Seminare, die
Gründung vieler katholisch-sozialer Akademien etc. zeugen von diesen Bemühungen.
Angesichts kriegsbedingter Bildungslücken und der Orientierungssuche nach der NSZeit stießen diese Angebote auf verbreitetes Interesse. Im kritischen Rückblick muss
man aber sagen, dass die Soziallehre der Kirche für den gesellschaftlichen Neuaufbau
keine hinreichende Grundlage gab, da die ständestaatlichen Vorstellungen von Quadragesimo anno weder ein hinreichendes Verständnis für eine dynamische Marktwirtschaft
auswiesen noch vorbehaltlos zu einer parlamentarischen Demokratie passten. Ebenso
wenig konnte sich die Kirche in den 50-er Jahren vorbehaltlos den Menschenrechten
öffnen. Trotzdem hat die christlich-sozialethische Bildung dazu beigetragen, dass sich
die deutschen Katholiken mit großer Mehrheit mit der Ordnung des Grundgesetzes und
der sozialen Marktwirtschaft identifizieren konnten.
Die Nachfrage nach christlich-sozialen Bildungsinhalten ging in der Folgezeit erheblich
zurück, was sich z. B. an der klassischen Form der sozialen Seminare2 ablesen ließ.
Ursachen dafür waren:
•
ein höherer Stand schulischer Bildung, vor allem auch in der politischen Bildung,
so dass weniger Nachholbedarf bestand;
•
Entwicklung der christlichen Gesellschaftslehre, die sich für etwa 20 Jahre nach
dem Konzil in einer wissenschaftlichen Stagnation3 befand.4 Damit entstand
Raum für Konzeptionen, die das Verhältnis von Kirche und Welt neu vermessen
wollten wie die politische Theologie oder die Theologie der Befreiung. Um diese
Ansätze ist es mittlerweile wieder sehr still geworden. Ebenso verunsicherte der
im Konzil anerkannte legitime Pluralismus (Gaudium et spes Nr.43) unter Katholiken;
1 Vgl. Emil Ritter, Die katholisch-soziale Bewegung Deutschlands im 19. Jahrhundert und der Volksverein,
Köln 1954.
2 Vgl. Das Soziale Seminar, Leutersdorf 1976 u. Das Soziale Seminar. Bibliographie, Leutersdorf 1978. Der
Vfs. hat Anfang der 80er Jahre mehrfach mehrere Reihen als nebenamtlicher Dozent im Bistum Münster geleitet.
3 Vgl. Joachim Wiemeyer, Giovanni Battista Montini/ Paul VI. und die Christliche Soziallehre in Deutschland,
in: Hermann-Josef Pottmeyer (Hrsg.) Paul VI. und Deutschland, Brescia 2006, S. 45-60.
4 Es ist daher vermutlich kein Zufall, dass in der Informationsschrift „Das soziale Seminar“ jahrelang kein
Professor für Christliche Sozialethik als Autor vertreten war.
Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
•
Abnahme weltanschaulicher Konflikte mit Protestanten, Liberalen und der Sozialdemokratie;
•
die Verbreitung des Fernsehens und anderer Medien als Informationsquelle.
Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass sich ein katholisches Milieu als Ort christlich-sozialer Bildung schrittweise aufgelöst hat und eine Reihe von Einrichtungen christlich-sozialethischer Bildungsarbeit ihre Tätigkeit eingestellt haben oder durch die Abkehr
von im engeren Sinne christlich-sozialethischer Bildungsarbeit ihren Aufgabenbereich
neudefiniert haben.
Es stellt sich daher die Frage, welche Aufgabe christlich-sozialethische Bildungsarbeit,
die von ihrer Intention immer auch politische Bildungsarbeit ist, heute haben kann. Dazu
ist im ersten Schritt das Verhältnis der drei Träger der Soziallehre der Kirche5 – der kirchlichen Sozialverkündigung, der wissenschaftlichen Reflexion in der christlichen Sozialethik und dem Praxisengagement der Gläubigen – zu behandeln und ihre Beziehungen
zur christlich-sozialen Bildungsarbeit aufzuzeigen.
I. Soziallehre der Kirche und politische Bildung
Im 19. Jahrhundert ging das soziale Engagement der Kirche aus der Sensibilität von Gläubigen, einfachen Klerikern, den von ihren Gegnern als „rote Kapläne“6 bezeichneten Seelsorgern, hervor. Diese vielfältigen Initiativen der kirchlichen Basis wurden 1891 vom kirchlichen Lehramt mit der Enzyklika „Rerum novarum“ Papst Leo XIII. durch die Etablierung
einer kirchenoffiziellen Sozialverkündigung aufgegriffen und gebündelt. 1893 erfolgte dann
mit der Errichtung des ersten Lehrstuhls für christliche Gesellschaftslehre an der Universität Münster und seiner Besetzung mit Franz Hitze die wissenschaftliche Reflexion.
Im Laufe der Entwicklung sollte dieses Verhältnis „Initiative der kirchlichen Basis“, Bündelung und Bestärkung durch das Lehramt und dann erst Ausfaltung durch die wissenschaftliche Reflexion umgekehrt werden. Es setzte sich das hierarchische Verständnis der
Kirche durch, so dass die kirchenoffizielle Verkündigung wie die Sozialenzykliken, aber
auch die Weihnachtsansprachen Papst Pius XII. die grundlegende Richtung vorgaben.
Anschließend wurden im Sinne eines Verständnisses der christlichen Gesellschaftslehre
als „Exegese päpstlicher Dokumente“ durch die Wissenschaft die gesamtkirchlichen Impulse auf die konkrete Situation eines Landes hin ausgelegt und konkretisiert. Da einige
Sozialethiker wie Oswald von Nell-Breuning oder Gustav Gundlach „Ghostwriter“ päpstlicher Verlautbarungen waren, konnten sie ihre eigenen Vorlagen für kirchenamtliche Dokumente interpretieren. Im Sinne dieses hierarchischen Modells hatten die Laien, die in
der gesellschaftlichen Praxis engagierten Christen, nur noch die Aufgabe die Soziallehre
umzusetzen. Aufgabe christlich-sozialer Bildungsarbeit war es lediglich, die Verkündigung des päpstlichen Lehramtes und der wissenschaftlichen Reflexion zu vermitteln. Sie
sollten wie ein Katechismuswissen7 gelernt werden.
Nach dem Konzil, vor allem beeinflusst durch das apostolische Schreiben Papst Pauls
VI. Octogesima adveniens von 1971, hat sich das Verhältnis der drei Träger der Soziallehre der Kirche gewandelt. Es kam zur Entwicklung einer lokalen Sozialverkündigung
(Octogesima adveniens Nr. 4), für die etwa die Friedens- und Wirtschaftshirtenbriefe der
US-amerikanischen Bischöfe stehen, ebenso das deutsche ökumenische Wirtschaftsund Sozialwort “Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“.8 Diese Dokumente
wurden in einem Dialogprozess innerhalb der Kirchen mit anderen gesellschaftlichen
5 Vgl. Andreas Lienkamp, Christliche Sozialethik, in: Karl-Wilhelm Dahm, Franz Furger u. a. (Hrsg.) Christliche
Sozialethik, S. 29-88, bes. 37-42.
6 Vgl. Heinz Budde, Handbuch der christlich sozialen Bewegung, Recklinghausen 1967, S. 242f.
7 Vgl. Eberhard Welty, Herders Sozialkatechismus, 3 Bde. Freiburg 1951-1958.
8 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, eingeleitet
und kommentiert von Marianne Heimbach-Steins und Andreas Lienkamp, München 1997.
49
50
Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
Gruppen (Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgebern) und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen erarbeitet. An diesem Prozess hatten kirchliche Bildungseinrichtungen
erheblichen Anteil.
Der Konsultationsprozess macht ein verändertes Verhältnis der drei Träger der Soziallehre der Kirche deutlich.9 Das Lehramt hört bewusst auf das, was ihm die engagierten
Christen, die kirchliche „Basis“, sagen wollen. Umstritten ist hier, ob dieses dialogische
Verfahren grundsätzliche ekklesiologische Bedeutung hat oder ob das Verfahren sich
auf sozialethische Fragestellungen zu begrenzen hat, weil erstens hier in der Weltverantwortung primär Aufgaben der Laien liegen und zweitens Gesellschaftsgestaltung sozialwissenschaftliches Fachwissen voraussetzt, das nicht primär bei kirchlichen Amtsträgern zu finden ist. Aufgabe der wissenschaftlichen Sozialethik ist es, auf den Stand
der Wissenschaften, auf dem Niveau der zeitgenössischen Sozialphilosophie und Sozialwissenschaften christliche Wertvorstellungen zu formulieren und den Kenntnisstand
der profanen Wissenschaften für den binnenkirchlichen Diskurs fruchtbar zu machen.
Sie hat dabei nach außen in die Gesellschaft hinein die christlich-sozialethischen Wertvorstellungen in profaner Hinsicht argumentativ zu verbreiten, aber im binnenkirchlichen
Diskurs den Anschluss an die biblische Überlieferung und die christliche Tradition zu vermitteln. Dabei steht die christliche Sozialethik auch in Beziehung zur gesellschaftlichen
Praxis der Gläubigen, indem sie deren Praxisengagement reflektiert und begleitet, deren
Fragen und Probleme aufgreift, aber auch von der Basis Anstöße bekommt.10
Da Konsultationsprozesse als wechselseitige Lernprozesse von Lehramt, wissenschaftlicher Sozialethik und den gesellschaftlich engagierten Christen systematisch angelegt
sind, ist eine christlich-sozialethische Bildungsarbeit in solche Prozesse involviert, nicht
nur, weil sie in der Regel den Ort dieser Konsultationen darstellt, sondern auch inhaltliche Anstöße gibt, wie solche Lernprozesse aufbereitet werden.
Welche Bedeutung hat christlich-soziale Bildungsarbeit für das neue Verständnis der
Soziallehre der Kirche? Zwar wird die kirchliche Sozialverkündigung auch durch Verkündigung im Gottesdienst, in den kirchlichen Medien, Zeitschriften und Büchern, durch
die Programmdiskussion in kirchlichen Verbänden, durch Diskussionen in Arbeitskreisen
„Mission, Entwicklung, Frieden“, das Internet und andere binnenkirchlichen Vermittlungsformen verbreitet. Ebenso gibt es in die Gesellschaft hinein Vermittlungsformen wie die
allgemeinen Medien, Dialoge mit Parteien und Verbänden, institutionalisierte Vertretungen der Kirche wie katholische Büros etc. Nachhaltige Lernprozesse, die über eine
oberflächliche Wahrnehmung hinausgehen und konkrete Anstöße zum Handeln geben,
sollten aber vor allem durch Bildungsanstrengungen zum Tragen kommen.
In der Erarbeitung der kirchlichen Sozialverkündigung ist man häufig schon dann zufrieden, wenn man sich endlich auf ein Dokument geeinigt hat und man es auf einer Pressekonferenz vorgestellt hat. Auch beim Wirtschafts- und Sozialwort ist eine systematische
Umsetzungsstrategie nicht vorhanden gewesen. Deshalb konnte Kardinal Lehmann beklagen, dass das Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage „totgelobt“ worden sei. Für
eine solche Umsetzung ist eine christliche sozialethische Bildungsarbeit ein wesentlicher
Akteur, der daher bereits bei der Erarbeitung eine systematische Stimme haben sollte.
Hat christlich-soziale Bildungsarbeit für die Soziallehre der Kirche eine weitere Bedeutung? Christlich-sozialethische Bildungsarbeit greift die jeweiligen Fragen und Herausforderungen der Zeit auf. Dabei wird man in der Bildungsarbeit folgende Erfahrungen
machen:
•
Zu drängenden Fragen und Herausforderungen findet man gar keine ausführlichen und fundierten Aussagen der kirchlichen Sozialverkündigung. So gibt es zu
Fragen der Globalisierung und weltweiter Umweltprobleme bisher keine gesamtkirchlichen Dokumente der Sozialverkündigung.
9 Vgl. Judith Wolf, Kirche im Dialog. Sozialethische Herausforderungen der Ekklesiologie im Spiegel des
Konsultationsprozesses der Kirchen in Deutschland (1994 - 1997) Münster 2002.
10 Vgl. Joachim Wiemeyer, Christliche Sozialethik und weltwirtschaftliche Gerechtigkeit, Münster 1998.
Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
•
Zu einigen Fragen und Bereichen, man nehme etwa die Ausführungen des Sozialkompendiums11 zur Gentechnik, findet man sehr allgemeine und wenig konkrete Aussagen, die daher unbefriedigend bleibend.
•
Aussagen der kirchlichen Sozialverkündigung stoßen auf Desinteresse, auf Abwehr bzw. Ablehnung (z. B. kirchliche Stellungnahmen zu Migrationsfragen).
Christlich-sozialethische Bildungsarbeit hat daher die Aufgabe, Themen, Inhalte und
Fragen an die kirchliche Sozialverkündigung wie die wissenschaftliche Sozialethik heranzutragen und damit Impulse zur Weiterentwicklung der Sozialverkündigung wie der
wissenschaftlichen Sozialethik anzustoßen.
Es ist daher zu fragen, wie dies systematisch angegangen und institutionalisiert werden
kann. Einen Anknüpfungspunkt gibt es darin, dass ein Direktor einer katholischen Akademie12 Berater der Kommission VI für gesellschaftliche und soziale Fragen der Bischofskonferenz ist. Ebenso stellt sich die Frage, wie die Verbindung von wissenschaftlicher
Sozialethik und christlich-sozialer Bildungsarbeit in dem genannten Sinne intensiviert
werden könnte.
II. Politische Bildung aus christlich-sozialethischer Sicht
1. Der Bedarf an politischer Bildung
Grundfunktionen politischer Bildung sind Sachwissen über politische Abläufe, Institutionen und Prozesse zu vermitteln, eine eigenständige Urteilsfähigkeit des Einzelnen zu
fördern und zum politischen Handeln, zur Wahrnahme politischer Rechte (Wahlrecht,
Demonstrationsrecht) etc. und zur Übernahme politischer Verantwortung (Mitgliedschaft
in Parteien, Verbänden, Bürgerinitiativen einschließlich von Vorstandspositionen und
Mandaten) zu ermuntern.13 Politische Bildung kann dabei nicht wertfrei erfolgen. Sie ist
immer wertgebunden. Dabei hat sich im Kontext des Grundgesetzes politische Bildung
in öffentlicher Verantwortung (Schulen) sowie mit öffentlicher Förderung auf der Wertgrundlage des Grundgesetzes zu bewegen. Da das Grundgesetz von einer pluralistischen Gesellschaft ausgeht, gibt es eine natürliche Spannweite legitimer Wertvorstellungen im Grundgesetz und damit auch eine legitime Vielfalt von Ansätzen politischer
Bildung. Daher könnte eine christlich-sozialethisch ausgerichtete politische Bildung im
Kontext des Grundgesetzes legitim sein.
Es stellt sich daher die Frage, ob eine katholisch ausgerichtete Bildungsarbeit mit den
Wertvorstellungen des Grundgesetzes konform geht? Eine solche Frage wird in der Regel nicht aufgeworfen: Sie würde aber in unserer Gesellschaft sofort gestellt, wenn eine
islamisch-politische Bildungsarbeit mit öffentlicher Förderung etabliert werden sollte.
Dass eine solche Frage im katholischen Kontext nicht völlig absurd ist, kann man historisch damit verdeutlichen, dass 1949 Bischöfe das Grundgesetz abgelehnt haben und
die Bischöfe wie katholische Sozialethiker wie Oswald von Nell-Breuning in den 50-er
Jahren gegen Art. 3 des Grundgesetzes proklamierten, dass der Mann nach Offenbarung und Schöpfungsordnung Oberhaupt der Familie sei. In dem 1961 veröffentlichten
Heft 1 „Das Soziale Seminar“ schrieb Albrecht Beckel gegen das Grundgesetz: „Wenn
man (...) bedenkt, (...) daß die schematische Anwendung des Gleichheitssatzes hier
nicht zur Lösung führt, (…) ergibt sich die Angemessenheit der letzten Verantwortung
eines Teils. Dieser Teil ist der Mann kraft der ihm von Gott übertragenen Sprecherfunktion des Menschengeschlechts (Gen 2,15) und der Gehilfenstellung der Frau (Gen
2,18).“14 1953 schloss der Vatikan mit dem spanischen Diktator Franco ein Konkordat,
11 Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Freiburg 2006,
Nr. 472ff (S. 340-344).
12 Michael Schlagheck, Direktor der Akademie „Die Wolfsburg“ Mülheim.
13 Vgl. in: Bernhard Sutor, Politische Bildung im Streit um die „intellektuelle Gründung“ der Bundesrepublik
Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45/ 2002 v. 11.11., S. 17-27.
14 Albrecht Beckel, Grundfragen der Christlichen Gesellschaftslehre, Das Soziale Seminar Heft 1, Münster
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Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
das von Spanien ausdrücklich die menschenrechtswidrige Unterdrückung der Religionsfreiheit aller Nichtkatholiken verlangte. Ein solcher kritischer historischer Rückblick legt in
den heutigen Fragen der Migrationsgesellschaft bei manchen Positionsbeschreibungen,
etwa bei einer kritischen Auseinandersetzung mit islamischen Strömungen, eine gewisse
Zurückhaltung nahe.
Nachdem mit dem Zweiten Vaticanum die Kirche mit der Religionsfreiheit, den Menschenrechten allgemein und der Demokratie ihren Frieden geschlossen hat, ist eine
Kompatibilität der Soziallehre der Kirche mit der Wertordnung des Grundgesetzes zu
konstatieren. Im Rahmen einer pluralistischen Demokratie sind daher christlich-sozialethische Positionen legitime Wertvorstellungen, die ihren berechtigten Ort innerhalb politischer Bildungsarbeit haben. Sie können daher aus gesamtgesellschaftlicher Sicht als
förderungswürdig anerkannt werden.
Wie sieht nun umgekehrt die binnenkirchliche Sichtweise aus? Im Evangelium ist das
von Jesus verkündete zentrale Gebot die Gottesliebe und die Nächstenliebe. Was Nächstenliebe ist, erläutert Jesus am Beispiel der Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk
10,25-37). Daher gibt es von Beginn an in den christlichen Gemeinden konkretes Handeln
aus dem Geist der Nächstenliebe. Dieses hat sich im Laufe der Geschichte der Kirche in
Institutionen wie der Hospitäler und anderer Sozialeinrichtungen verfestigt und institutionalisiert. In der modernen Gesellschaft nach Aufklärung, nach französischer und industrieller
Revolution ist deutlich geworden, dass das Gleichnis vom barmherzigen Samariter auch
strukturell zu lesen ist: Warum gibt es keinen institutionalisierten Rettungsdienst, der die
Opfer aufliest? Warum werden die Strukturen der Räuberei nicht bekämpft? Warum gibt
es keine soziale Sicherung, die die Pflege und Versorgung des Verletzten übernimmt? Da
von solchen Institutionen aber die Humanität der Gesellschaft abhängt, ist der Einsatz für
humane Institutionen und Strukturen ein Gebot für Christen. Das Gebot der Nächstenliebe
ist daher ins politisch-institutionelle Feld hinein zu erstrecken. Wenn das Gebot der Nächstenliebe für Christen zentral ist, und wenn sich dieses Gebot in einer modernen Gesellschaft auf das kollektive Handeln zur Gestaltung der gesellschaftlichen Institutionen und
Strukturen bezieht, darf dann ein Christ unpolitisch sein?15
Wenn somit ein Christ politisch zu sein hat, muss er sich politisch informieren und politisch bilden. Das Engagement in politischen Ämtern ist - wie Paul VI. dies ausdrückte
- eine hervorragende Tat der christlichen Nächstenliebe. Es gibt daher sowohl einen
allgemeinen Bedarf an politischer Bildung wie spezieller politischer Bildung für Führungspersonen und Mandatsträger. Da sich die kirchliche Sozialverkündigung an „alle Menschen guten Willens“ richtet, sind auch Nichtkatholiken und Nichtchristen Adressaten.
Worin besteht ein Bedarf an christlich-sozialethischer Bildung? Wenn man davon ausgeht, dass aufgrund der schulischen politischen Bildung, der Behandlung auch sozialer
Fragen im Religionsunterricht und der Rezeption von Massenmedien ein sozialethisches
und politisches Grundwissen vorhanden ist, reicht dies angesichts der fortlaufenden vielfältigen Wandlungsprozesse nicht aus. Dies gilt deshalb, weil es grundlegende neue
Herausforderungen gibt, die in herkömmlicher Weise nicht reflektiert sind.
2. Zentrale Themen politischer Bildungsarbeit
Wenn man sozialethische Herausforderungen aufzählt, sollte dies nicht beliebig, uferlos
und modeabhängig sein, sondern eine ethisch begründete Gewichtung darstellen. Dies
wird im Folgenden versucht:
1961, S. 8.
15 Vgl. Joachim Wiemeyer, Das politische Engagement von Christen in Parteien und freien politischen Vereinigungen, in polnisch: Zaangażowanie polityczne chrześcijan w partiach politycznych i wolnych stowarzyszeniach, w: K. S. Stanisław Fel, Bp Józef Kupny (Hg.): Katolicka nauka społeczna, Podstawowe zagadnienia
z życia społecznego i politycznego, Katowice 2007, 205-225. (deutscher Text zum Herunterladen auf meiner
hompepage: http://www.ruhr-uni-bochum.de/cgl/Publikationen/Politischeverantwortung.pdf)
Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
1. Aus der Sicht der christlichen Sozialethik ist das prioritäre Thema die absolute
Armut von rund einer Milliarde Menschen auf der Erde, die sich vor allem in
Afrika sowie in Südasien konzentrieren. Deshalb hat Bundespräsident Köhler
Afrika zu Recht zu einem Kernanliegen seiner Präsidentschaft gemacht.
2. Bekämpfung absoluter Armut, wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt, Maßnahmen zur Erhaltung der Umwelt, Begrenzung von Migrationsströmen etc. sind nur
zu erreichen, wenn Kriege und Bürgerkriege beendet werden.
3. Langfristig ist für das Leben der Menschen auf dieser Erde die Erhaltung der natürlichen Umwelt zentral. Hier sind Fragen der Ressourcenschonung, des C02Problems und des Klimaschutzes zu sehen. Lange fehlte eine angemessene
sozialethische Kategorie in dieser Frage.16
4. Die Globalisierung der Wirtschaft hat sich in den letzten 15 Jahren erheblich in
tensiviert. Probleme der Finanzmärkte bedürfen dabei einer angemessen Regulierung.
Diese Probleme sind vielfältig miteinander vernetzt, stellen aber die zentralen Herausforderungen dar. Als Voraussetzung wie als Ergebnis ökonomischer Entwicklung werden sich Menschenrechte und Demokratie ausbreiten. Konflikte, in die Religionsgemeinschaften involviert sind, sind in der Regel nicht durch Religionsgemeinschaften als
primäre Konfliktursache ausgelöst. Die Religion wird von Politikern als Instrument zur
Konfliktverschärfung benutzt.
Auf die globalen Herausforderungen kann auch das größte Land in Europa, nämlich
Deutschland, nicht mehr allein angemessen reagieren, noch weniger gilt dies für alle
übrigen europäischen Länder.
5. Die Lösung globaler Probleme und die Rolle Europas in der Welt hängen davon
ab, ob die EU als friedlicher Zusammenschluss von Staaten weltweite Leitbild
funktion gewinnt. Dies setzt Handlungsfähigkeit, wirtschaftliche Prosperität und
sozialen Zusammenhalt voraus. Die EU mit ihrer neuen Verfassung ist daher
wichtig.
Auch in Zeiten der Globalisierung und der Europäisierung vieler Politikbereiche bleiben
der nationalen Ebene wesentliche Handlungsmöglichkeiten. Deshalb gibt es zentrale gesellschaftliche Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten im Inland. Diese sind:
6. Demographische Entwicklung und soziale Sicherung. Erst ab 2020 - 2030 beginnen die gravierenden Probleme aufgrund der Demographie tatsächlich.
7. Bereits gegenwärtig herrscht in ca. 25% Deutschlands Vollbeschäftigung. Die
Knappheit an qualifizierten Arbeitskräften, nicht ein „Ende der Arbeitsgesellschaft“ oder eine Alimentation von Langzeitarbeitslosen durch ein „Grundeinkommen“ ist das Zukunftsthema der Gesellschaft.
8. Die Knappheit qualifizierter Arbeitskräfte hat zur Folge, dass die Einkommensschere auseinander geht. Für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft ist
wichtig, dass durch präventive Maßnahmen (Bildung von Migranten) dem strukturell entgegengewirkt wird, indem Wachstumsziele (Investitionen in Humankapital) und Verteilungsziele (Mindestlebensstandard) nicht stärker in Konflikt geraten.
Ein Querschnittsthema, das systematisch immer mitgedacht werden muss, ist die Gender-Perspektive, die für weltweite Fragestellungen ebenso wie in Europa und Deutschland in allen Feldern Relevanz hat.
Wenn ein hoher Beschäftigungsstand gegeben wäre, Vertrauen in soziale Sicherungssysteme wiederhergestellt und der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet
ist, dürfte auch das Vertrauen in das politische und wirtschaftliche System, in Politiker
16 Vgl. Werner Veith, Intergenerationelle Gerechtigkeit, Ein Beitrag zur sozialethischen Theoriebildung, Stuttgart 2006.
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Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
und Parteien wachsen und negative Erscheinungen wie die Wahl extremistischer Parteien zurückgehen. Politischer Bildung selbst wird daher nur eine nachrangige Rolle im
Verhältnis zu den Sachproblemen zugewiesen. Bei einem hohen Beschäftigungsstand
werden Migranten ebenfalls leichter akzeptiert. Die näheren Inhalte politischer Bildung
aus christlich-sozialethischer Sicht werden im folgenden Abschnitt näher erläutert.
3. Lernziele politischer Bildung aus christlich-sozialethischer Sicht
Das erste wichtige Lernziel sollte sein, dass Christen motiviert werden, sich mit den komplexen Sachverhalten vertraut zu machen und angesichts schwieriger Güterabwägungen zu einer eigenen Urteilsfähigkeit gelangen. Dabei besteht die Erwartung, dass die
christlich-sozialethischen Beurteilungskriterien so überzeugend sind, dass sie als Basis
der eigenen Urteile übernommen werden.
Ein zweites zentrales Lernziel ist die Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen. In modernen Gesellschaften können gesellschaftliche Regeln und Institutionen zwar durch
kollektives Handeln der Menschen geändert werden - dies ist etwa gegen Gesellschaftstheorien Luhmann´scher Prägung festzuhalten, Regeln, Institutionen und Strukturen haben einen gesellschaftlichen Sinn, in sie ist investiert worden, sie beruhen auf sozialen
Suchprozessen. Daher können sie zu Recht nicht leichthin geändert werden. Weiterhin
ist zu berücksichtigen, dass der Erfolg von Strukturreformen längere Zeit in Anspruch
nimmt. So kann etwa nach den Arbeitsmarktreformen (Hartz IV) erst ab etwa 2008 erwartet werden, dass organisatorische Änderungen greifbare und nachhaltige Erfolge vorweisen können.
Das dritte Lernziel sollte sein, dass die Christen für soziale Herausforderungen, für offenliegende, aber auch eher verborgene, Ungerechtigkeiten sensibilisiert werden und ein
Einfühlungsvermögen17 aufweisen, solche Probleme nicht auf sich beruhen zu lassen.
Ein viertes Lernziel sollte sein, dass man sich zum gesellschaftlichen Engagement motiviert fühlt. Man sollte weder vor der Komplexität der Herausforderungen resignieren, noch
euphorisch glauben, gesellschaftliche Probleme ließen sich rasch bei entsprechendem
Engagement und gutem Willen ändern. Die Vielfalt der Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Engagement vom Wahlrecht, über Demonstrationen, Leserbriefe, Petitionen, Musterklagen, direkte Demokratie auf Kommunal- und Landesebene, die Beteiligung in Parteien, Verbänden, Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen sollte bewusst sein.
Ein fünftes Lernziel bezieht sich auf die ethische Abwägung unterschiedlicher Formen
politischen Engagements. Dies bezieht sich auf Sachgerechtigkeit von Behauptungen,
keine Diffamierung von Kontrahenten und Gegnern, und auf Fragen der Beachtung von
Regeln, etwa der Gewaltlosigkeit bei Demonstrationen bis hin zur ethischen Problematik
der Überschreitung von Regeln im Kontext des zivilen Ungehorsams.
Wenn diese fünf Lernziele erreicht werden, würde sechstens auch Politiker- und Parteienverdrossenheit entgegengewirkt und die Kritikfähigkeit an der gegenwärtigen Politikvermittlung durch die heutigen Massenmedien erhöht werden.
4. Adressaten christlich-sozialethischer Bildung
Traditionell zielte christlich-sozialethische Bildung auch darauf ab, Personen mit Benachteiligungen in ihrer Bildungslaufbahn weitere Perspektiven zu eröffnen. Unter dem Gesichtspunkt der politischen Bildung ist bei sozialen Unterschichten die Distanz zur Politik
17 Johann Baptist Metz sprich in diesem Zusammenhang vom „Compassion“; vgl. ders., Memoria passionis,.
Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006, 158ff.
Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
am größten.18 Dies lässt sich daran ablesen, dass hier das Engagement in der Politik und
die Wahlbeteiligung am geringsten sind. So lag in der Stadt Bochum die Wahlbeteiligung
zwischen dem am besten situierten Stadtviertel und einem sozialen Problemviertel um
20% auseinander.19 Damit kann ein Teufelskreis entstehen, indem Parteien sich in ihrem
Politikangebot nicht um Personen kümmern, die sowieso nicht zur Wahl gehen, so dass
sie mit ihren Interessen keine Wahlen gewinnen können. Dies kann wiederum die politische Apathie dieser sozialen Schichten verstärken.
Im Idealfall müsste aus einer christlich-sozialen Sicht, in der ein Gesichtspunkt wie die
„vorrangige Option für die Armen“ eine Rolle spielt, diese Gruppe in der Bildungsarbeit
erreicht werden. Neben sozial benachteiligten Deutschen, die sich vor allem durch einen
geringen Grad formaler schulischer und beruflicher Abschlüsse auszeichnen, gibt es besondere Probleme bei Migrantengruppen. Dabei wird im katholischen Raum in der Regel
schamhaft verschwiegen, dass, obwohl italienische Zuwanderer am längsten in Deutschland ansässig sind, diese unmittelbar nach den Türken bei den Sozialindikatoren einer
hohen Bildungsbeteiligung oder der Arbeitslosenrate die schlechtesten Werte aufweisen.
Ob und wie solche Zielgruppen generell für Bildungsmaßnahmen erreicht werden können und durch welche Inhalte und Methoden für diese politische Bildung möglich ist, ist
eine schwierige Aufgabe.
Adressaten christlich-sozialethischer Bildung haben aber auch gerade Multiplikatoren,
Funktionsträger und Führungspersonen zu sein, die in der Regel nicht über eine fundierte theologische Ausbildung, vor allem hinsichtlich sozialethischer Kompetenz, verfügen. Dass an zentralen sozialethischen Herausforderungen der Gegenwart generell ein
großes Bildungsinteresse besteht, lässt sich daran absehen, dass im August 2008 eine
soziale Bewegung wie ATTAC eine Sommeruniversität20 mit 800 Teilnehmern betreibt.
Dort finden sich junge Leute ein, um sich mit den komplexen Fragen der Globalisierung
auseinanderzusetzen.
III. Anfragen der politischen Bildung an die christliche Sozialethik
Aus der Sicht einer politischen Bildung in christlich-sozialethischer Trägerschaft könnten
eine Reihe von Anfragen an die wissenschaftliche Sozialethik gerichtet werden. Solche
möglichen Anfragen aus meiner Sicht wären:
•
Eine politische Bildung mit einer christlich-sozialethischen Orientierung setzt
voraus, dass es ein christlich-sozialethisches Profil gibt. Ein solches Profil könnte aber deshalb nicht gegeben sein, weil die Kriterien der Sozialethik zu allgemein bleiben und mit fast jedem Inhalt gefüllt werden können: So könnte „Sozialabbau“ und mehr Eigenverantwortung mit Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip begrüßt, unter Bezugnahme auf Solidarität und soziale Gerechtigkeit aber
auch bekämpft werden.
•
Ein zweite Anfrage ist mit dem ersten Vorwurf von Beliebigkeit und Belanglosigkeit verbunden: Es gibt nach dem Zweiten Vaticanum (Gaudium et spes Nr. 43)
einen legitimen politischen Pluralismus im Katholizismus. Ein solcher Pluralismus hat sich auch in der einschlägigen Wissenschaft, der Christlichen Sozialethik niedergeschlagen. Es gibt sowohl in konzeptioneller Hinsicht wie in konkreten Anwendungsfragen ein breites Spektrum von Optionen.
•
Die dritte Anfrage betrifft die gesellschaftliche Relevanz sozialethischer Theo
riebildung. Wenn man davon ausgehen würde - was biblisch gut begründet wäre -,
18 Vgl. Joachim Detjen, Politische Bildung für bildungsferne Milieus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 32-33/
2007 v. 6.8., S. 3-8. (auch weitere Beiträge in diesem Heft).
19 Vgl. Sozialbericht der Stadt Bochum 2008, S. 92-94. (im Internet unter: http://www.bochum.de)
20 Vgl. etwa: http://www.european-summer-university.eu/media/de/Saarkurier.pdf (Zugriff 1.9.2008) und http://
www.attac.de/aktuell/presse/detailsicht/datum/2008/08/06/erste-europaeische-sommeruniversitaet-von-attacein-riesenerfolg/?cHash=c6b627bdfa
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Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
dass sozialethische Theoriebildung ihren Ausgangspunkt bei realen Problemen, Leiden und Nöten von Menschen hat, etwa von Armen, Langzeitarbeitslosen, Migranten etc. und der Wert der Theoriebildung darin liegt, ob diese Theorien etwas zur Problemlösung beitragen können, könnte die Relevanz mancher
Diskurse in Frage gestellt werden.
•
Die vierte Anfrage betrifft die Frage, ob sich die christliche Sozialethik selbst hinreichend Überlegungen über ihre Vermittlung und entsprechende didaktische
Methoden (z. B. Planspiele) Gedanken macht.
Zur ersten Anfrage ist folgendes festzuhalten: Die zentralen Kategorien der Sozialprinzipien wie Personalität, Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität und neuerdings Nachhaltigkeit ebenso wie der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ und seine Ausfaltung primär in
Beteiligungsgerechtigkeit, nachgeordnet in Chancengerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit,
und intergenerationelle Gerechtigkeit sind in der jüngeren Diskussion der wissenschaftlichen Sozialethik präzisiert und entfaltet worden. Ebenso ist das Verhältnis der Kategorien untereinander näher bestimmt worden. Deshalb wäre es unzulässig, wenn man hier
von einer Beliebigkeit sprechen würde.
Zum zweiten Aspekt ist in der Tat festzuhalten, dass ein Pluralismus in der Sozialethik
besteht. Dies ist aber grundsätzlich nichts Neues, denn es gab bereits vor dem zweiten
Weltkrieg erhebliche Kontroversen, etwa der Wiener Richtung mit dem Solidarismus,
Unterschiede zwischen Dominikanern und Jesuiten, sowie innerhalb des Jesuitenordens
etwa zwischen Nell-Breuning und Gundlach, später zwischen Friedhelm Hengsbach und
Anton Rauscher. Der Pluralismus in der Christlichen Sozialethik betrifft die Methoden,
die Themen und die Ergebnisse. Dies ist zunächst deshalb der Fall, weil man der für alle
verbindlichen Grundlage, den biblischen Schriften, für heutige sozialethische Fragen nur
offene Optionen entnehmen kann.
Diese offenen Optionen der biblischen Schriften sind im sozialethischen Diskurs der
Gegenwart mit Hilfe der Sozialphilosophie zu konkretisieren. Sozialethiker/ innen
übernehmen dabei unterschiedliche Sozialphilosophien, etwa die Vertragstheorie, die
Diskursethik, den Kommunitarismus oder eine traditionelle Naturrechtslehre. Konkrete gesellschaftliche Probleme bedürfen dann aber auch einer näheren Analyse durch
Sozialwissenschaften. Da es verschiedene Sozialwissenschaften gibt, haben sie einen
unterschiedlichen Zugang zu Problemen. Innerhalb einer Sozialwissenschaft gibt ebenfalls unterschiedliche Theorien, was wiederum zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen
führen kann. Selbstverständlich ist nicht auszuschließen, dass die jeweilige politische
Option des Sozialethikers bzw. der Sozialethikerin sich in der Theoriewahl für bestimmte
Sozialphilosophien bzw. Sozialwissenschaften ebenso niederschlägt.
Auch dann, wenn die gemeinsamen biblischen Grundlagen unstrittig sind, genauso die
Frage, welche Themen Sozialethik bearbeiten soll und welche Zielsetzung Sozialethik
hat, kann man durch eine unterschiedliche Rezeption der Sozialphilosophie und einer
Sozialwissenschaft zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Es stellt sich die
Frage, ob es innerhalb der Sozialethik hinreichende Diskurse gibt, die kontroversen Fragen ausgiebig zu diskutieren.
Zum dritten Aspekt ist festzuhalten, dass manche Sozialethiker/-innen die Neigung haben
bzw. ihr Interesse darin liegen kann, selbst Theoriediskurse zu führen bzw. an Theoriediskussionen von Nachbarwissenschaften teilzunehmen. Solche Theoriedebatten mögen
intellektuell spannend und anregend sein. Wenn man aber die christliche Sozialethik als
eine an der Praxis orientierte Wissenschaft versteht, wäre die Frage, welcher Praxisbezug
einer Theoriediskussion vorliegt. Die neue sozialethische Zeitschrift Amosinternational ist
so konzipiert, dass sie relevante Sachthemen aus fachwissenschaftlicher wie sozialethischer Perspektive beleuchtet.
Zum vierten Aspekt ist festzuhalten, dass es bisher weder für die schulische Bildung noch
für die Jugend- und Erwachsenenbildung innerhalb der christlichen Sozialethik systematische Überlegungen und Konzepte ihrer Umsetzung gibt. Dieses könnte für die Sozialethik
selbst einen eigenen heuristischen Wert haben. Dieses Desiderat ist einzuräumen.
Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
IV. Marginalien zur AKSB-Konvention
Dass auch in einer Reihe von Fragen die Praxis der AKSB über die zehn Jahre alte Konvention hinweggegangen ist, kann man deutlich im AKBS-Bericht 2007 sowie in aktuellen Heften AKSB-inform ablesen. Insofern kann man diese Weiterentwicklungen nur begrüßen. Im Folgenden werden Aspekte aufgegriffen, die in der AKSB bereits weitgehend
selbst thematisiert werden. Als Vorbemerkung möchte ich zu bedenken geben, dass
die AKSB–Konvention nach dem vorkonziliaren deduktiven Duktus von obersten Prinzipien ausgehend hin zu Konkretionen aufgebaut ist. Seit mater et magistra hat das von
der CAJ stammende Konzept von „Sehen – Urteilen – Handeln“, das auch der Grundgliederung des gemeinsamen Wortes zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland zugrunde liegt, in der Sozialethik Resonanz gefunden. Man könnte sich auch eine Konvention
ausdenken, die mit dem I. Sehen von 1. den zentralen politischen Herausforderungen
der Gegenwart, 2. der Lage der außerschulischen politischen Bildung in Deutschland 3.
der Rolle der christlich-sozialethischen Bildung im Gesamtzusammenhang politischer
Bildung ausgeht, dann II. als Urteilen eine sozialethische Reflexion vornimmt, und III.
Handlungsoptionen für die Bildungsarbeit aufzeigt.
1. In der Konvention spielt das „christliche Menschenbild“ eine wesentliche Rolle. Hinsichtlich seines Gebrauchs sollen hier zwei Anmerkungen gemacht werden: Erstens
hat auch in der christlichen Sozialethik die Gender-Diskussion eine kritische Reflexion überkommender Vorstellungen stattgefunden und herausgearbeitet, dass häufig
hinter einem „christlichen Menschenbild“ ein Männlichkeitsbild steht.21 Die Bipolarität der Geschlechter ist nicht systematisch aufgearbeitet und in allen Konsequenzen reflektiert. Dies führt auch innerkirchlich aktuell zu Kontroversen, wenn etwa
in der Frage der frühkindlichen Kindererziehung implizit traditionelle Vorstellungen
vom „Wesen der Frau als Mutter“ zugrunde liegen. Auf der anderen Seite gibt es
gesellschaftliche Diskurse, in denen kritisiert wird, dass Frauen im Schnitt weniger
Einkommen als Männer beziehen, in Führungspositionen von Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft und Gesellschaft unterrepräsentiert sind etc. Zudem wird die niedrige
Geburtenrate in Deutschland beklagt. In diesem Punkt bestehen erhebliche Diskrepanzen zwischen dem Reflexionstand innerhalb der christlichen Sozialethik und kirchenamtlichen Verlautbarungen, die „Gender-Diskurse“ und Feminismus ablehnen.
Traditionell gehörte zum christlichen Menschenbild immer der Hinweis auf die Fehlbarkeit des Menschen, d. h. seine Anfälligkeit für sachliche und moralische Irrtümer.
So lange die Kirche betonte, dass der Mensch vor allem Sünder ist, konnte man in
der kirchlichen Terminologie den Ausdruck der Menschenwürde kaum finden. Mir
scheint die AKSB-Konvention mit der gegenteiligen Position, indem die Fehlbarkeit
des Menschen praktisch nicht auftaucht, ins gegenteilige Extrem zu verfallen. Dabei
hat die Fehlbarkeit des Menschen für die Demokratie und damit für die politische
Bildung einen zentralen Stellenwert. Gewaltenteilung, Begrenzung von Amtszeiten,
Abwahlmöglichkeiten, Amtsenthebungsverfahren etc. sind systematisch aus der Logik des „homo oeconomicus“ gestaltete Institutionen. Es wird gefragt, welche Folgen
Institutionen haben, wenn alle nur ihren kurzfristigen Eigeninteressen folgen. Bei
unbefriedigenden Ergebnissen sind die Institutionen neu zu gestalten. Es muss die
Spannung thematisiert werden zwischen dem proklamierten Ideal eines mündigen
Staatsbürgers auf der einen Seite, das letztlich von einem sehr optimistischen Menschenbild ausgeht, und auf der anderen Seite politischem Geschehen, das durch
das „radikal Böse“ gekennzeichnet ist, was nicht nur die deutsche Geschichte, sondern eine Vielzahl gegenwärtiger Diktaturen, Kriege, Terror, Selbstmordattentäter
etc. weltweit bestimmt.
2. Die Ausführungen des ersten Teils der Konvention sind in der Regel aus einer nationalstaatlichen Perspektive verfasst, in dem zum Beispiel nicht ausdrücklich die
21 Vgl. Marianne Heimbach-Steins, Sichtbehinderung. Das Geschlechterverhältnis in der Wahrnehmung christlicher Sozialethik, in: Ulrike Gentner (Hrsg.), Geschlechtergerechte Visionen, Frankfurt/M. 2001, 257–392.
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Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
gleiche Würde aller Menschen für den weltweiten Horizont proklamiert wird. In Konzilstexten und Enzykliken gebrauchte Kategorien, wie die „Einheit des ganzen Menschengeschlechts“ oder eine „menschheitsweite Familie“, tauchen nicht auf. Beim
Gemeinwohl ist lediglich vom nationalen Gemeinwohl die Rede, nicht aber vom „Weltgemeinwohl“.
3. Indem traditionelle Semantiken der vorkonziliaren Soziallehre fortgeschleppt werden,
indem z. B. Staat und Politiker für das Gemeinwohl verantwortlich gemacht werden
(Nr. 6) und nicht der Souverän der Demokratie, der Wähler, ist man Kategorien eines
monarchischen Obrigkeitsstaates näher als einer partizipativen Demokratie. In dieser
ist der/die Staatsbürger/-in der Souverän und der/die Politiker/-in (Minister = Ministrant)
die rechenschaftspflichtigen „Diener“, aber nicht die (vormundschaftliche paternalistische) Obrigkeit.
4. In dem Grundlagenteil wird der Gerechtigkeitsdiskurs aufgegriffen. Dabei taucht mit
Eigentumsgerechtigkeit eine Gerechtigkeitskategorie auf, die in der Sozialethik nicht
zu finden ist. Hingegen fehlt der wichtige Ansatz der Beteiligungs- oder Teilhabegerechtigkeit, die grundlegende Gerechtigkeitskategorie, die der Leistungsgerechtigkeit
etc. vorgeordnet ist
5. Im Grundwerteteil wird nicht hinreichend die Frage der Ökologie thematisiert und problematisiert, ob z. B. nicht die Sozialprinzipien durch ein Prinzip wie „Nachhaltigkeit“
ergänzt werden müssten.
6. Im Grundwerteteil wird die „Option für die Armen“ nicht erwähnt. Diese taucht vielmehr
unvermittelt in Nr. 19 auf, ohne dass deutlich wird, wie Gerechtigkeitsüberlegungen
oder Sozialprinzipien mit der „Option für die Armen“ zusammenhängen.
7. Problematisch erscheint im Abschnitt I: „Grundwerte“, dass jeweils aktuelle Herausforderungen benannt werden, z. B. Individualisierung und Wertewandel, Egozentrik
und Nützlichkeitsdenken, Wirtschaftsliberalismus und neue Sozialkultur. Es ist problematisch, umstrittene Aspekte, z. B. ob es überhaupt einen Wertewandel gibt oder ob
wirtschaftliche Probleme in der Bundesrepublik wie die Arbeitslosigkeit auf wirtschaftsliberale Einflüsse oder gerade zu wenig marktwirtschaftliche Instrumente zurückzuführen sind, hier aufzunehmen. Häufig wird vorschnell ein Wertewandel behauptet,
statt gründlich über beobachtete Verhaltensänderungen nachzudenken. So kann der
Geburtenrückgang in Deutschland ohne Annahme eines Wertewandels durch a) eine
technische Innovation (Pille), b) höhere Kosten pro Kind durch längere Ausbildung, c)
höhere Opportunitätskosten entgangenen Einkommens durch Aufgabe oder Unterbrechung der Erwerbstätigkeit der Frau, wegen des relativen Anstiegs der Frauengehälter
zu Männergehältern, d) Strukturwandel der Wirtschaft hin zu Frauen als Beschäftigungsgewinnern im Dienstleistungsbereich etc. erklärt werden. In Frankreich und
Schweden herrschen bei höheren Geburtenzahlen keine anderen Wertvorstellungen
vor, sondern auf die oben angeführten Strukturelemente haben die gesellschaftlichen
Institutionen (z. B. Ganztagsschulen) angemessener als in Deutschland reagiert.
8. Als Lernziele der politischen Bildung könnte man sich auch die Vermittlung von Grundhaltungen, um das altertümlich klingende Wort Tugend nicht zu gebrauchen, vorstellen. Zwar klingt dies teilweise an, wenn etwa Kompromissbereitschaft eingefordert
wird. Die Förderung eines Gerechtigkeitssinns, der bei Wahlen auch an nicht stimmberechtigte Migrante im Inland, zukünftige Generationen und die dritte Welt denken lässt,
wäre hier ein Ansatzpunkt. Weiterhin könnten Maßhalten / Mäßigung im politischen
Kampf und Vermeidung von Freund- Feind-Verhältnissen weitere Ansatzpunkte sein.
9. In der Konvention ist die Selbstverpflichtung enthalten, dass Bildungsreferenten, die
nicht über eine entsprechende Vorbildung verfügen, Grundkenntnisse der Soziallehre (Nr. 32) erwerben sollten. Dies ist unzureichend, weil damit „christliche Sozialethik“
nicht erlernbar erscheint. Tatsächlich erscheint christliche Sozialethik komplex22,
weil sie erstens die biblischen Grundlagen sozialethischer Fragen behandelt, die die
22 Vgl. Werner Wertgen, Ist moralische Kompetenz lehrbar und lernbar? Sozialethische Bildung als Aufgabe
der religiösen Erwachsenenbildung, in: Erwachsenenbildung 54 (2008), Heft 1, S. 12-17.
Joachim Wiemeyer, Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung
Tradition der kirchlichen Sozialverkündigung und der christlich-sozialen Bewegung
umfassen, zweitens die moderne Sozialphilosophie und ihr Verhältnis zur theologischen Ethik und drittens ein Verständnis moderner Gesellschaft entsprechend der
Sozialwissenschaften.
10. Im AKSB-Jahresbericht wird von „christlicher Gesellschaftsethik“ geschrieben, was
den Eindruck erwecken muss, dass lediglich ein politisch besonders exponierter
Lehrstuhls unseres Faches in der Bildungsarbeit eine Rolle spielt.
Einige Aspekte, die ich in der Konvention vermisst habe, sollen hier angesprochen werden:
•
Die AKSB sollte ehrlich die Spannung ansprechen, unter der sie selbst steht,
wenn sich Zielgruppen, Themen und Maßnahmen nicht nach selbstgesetzten
Prioritäten richten, sondern nach aktuellen Fördertöpfen, den dort vorherrschenden Moden etc.
•
Wenn man „Option für die Armen“ betont, Solidarität mit Schwächeren erwähnt,
stellt sich die Frage nach Sozialbenachteiligten und Migranten als ausdrücklicher Zielgruppe.
•
Weiterhin stellt sich die Frage, wie weit die AKSB die Behandlung esoterischer
Themen und Veranstaltungen als die Aufgabe ansieht. Gemeint ist Esoterik im
politischen Sinne, wenn solche Themen behandelt werden wie „zinslose Wirtschaft“ etc. Wenn man in kirchliche Bildungseinrichtungen kommt, ist man gelegentlich erstaunt, was dort angeboten wird.
•
Im Bereich des politischen Extremismus wird einseitig auf Probleme des Rechtsextremismus eingegangen. Dass der Linksextremismus in der Form der PDS/
Linkspartei, der Gewerkschaften, durch Regierungsbeteiligung in Berlin, an Universitäten, in Medien wohl etabliert ist, wird nicht thematisiert.
V. Abschließende Thesen
1. Die soziale Botschaft ist integraler und unverzichtbarer Bestandteil der kirchlichen
Verkündigung. Die Soziallehre der Kirche zielt auf die je größere Gerechtigkeit, die
Humanisierung des Zusammenlebens der Menschen durch Verbesserung gesellschaftlicher Regeln und Institutionen, ab.
2. Diese gesellschaftlichen Regeln und Institutionen werden in einer demokratischen
Gesellschaft durch kollektives Handeln der Menschen gestaltet. Um dieses kollektive
Handeln sowie Dialoge zwischen Christen und Nichtchristen zu fördern, ist politische
Bildung unverzichtbar.
3. Politische Bildung im christlich-sozialen Sinne zielt darauf ab, Christen zu befähigen, Weltverantwortung zu übernehmen und sie mit dem notwendigen Sachwissen,
der ethischen Urteilsfähigkeit, moralischer Sensibilität und der Beurteilung des politischen Instrumentariums auszustatten.
4. Politische Bildung vor christlich-sozialethischem Hintergrund ist keine Form der Umsetzung und Vermittlung der kirchlichen Sozialverkündigung oder der wissenschaftlichen Sozialethik allein. Vielmehr kann christlich-soziale Bildung auch Anstöße zur
Weiterentwicklung der Sozialverkündigung und der wissenschaftlichen Sozialethik
bieten. Dazu bedarf es geeigneter Wege und Verfahren, die diese Interaktion sicherstellen.
5. Als Adressaten christlich-sozialethischer politischer Bildung sollten auch Personen,
die am Rande der Gesellschaft stehen, wie Migranten oder schlecht qualifizierte Personen, im Auge gehalten werden. Ebenso darf es aber nicht aus dem Blickfeld verschwinden, heutige und potentielle Führungspersonen in der Gesellschaft mit dem
nötigen sozialethischen Rüstzeug auszustatten.
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Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
Prof. Dr. Peter Massing
Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“ aus
Sicht der Politikdidaktik
Prof. Dr. Peter Massing,
geboren in Dessau, seit
2002 Universitätsprofessor
für Sozialkunde und Didaktik der Politik am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien
Universität Berlin.
Die Aufgabe meines Beitrages ist zu hinterfragen, inwieweit Begriffe wie Demokratie,
Partizipation, Gesellschaft, Bürgerin und Bürger, die in der „Konvention“ verwendet werden, sowie das Gesamtanliegen politischer Bildung, dem heutigen Stand der Diskussion
entsprechen.
Bevor ich meine Überlegungen formuliere, scheint es mir notwendig eine Vorbemerkung
zu machen. Ich argumentiere aus der Sicht der Politikdidaktik, und noch konkreter, ich
argumentiere aus der Sicht einer politikwissenschaftlich orientierten Politikdidaktik, die
nicht den Anspruch erhebt, die heutige Politikdidaktik als Ganzes zu repräsentieren. Davon unabhängig beschäftigt sich Politikdidaktik in erster Linie mit politischem Lernen in
der Schule. Politikdidaktische Anmerkungen zur außerschulischen politischen Jugendund Erwachsenenbildung machen also nur Sinn, wenn sie sich auf Fragen beziehen,
die für alle Bereiche der politischen Bildung gelten und das Spezifische schulischen und
außerschulischen politischen Lernens außer Acht lassen.
Vor diesem Hintergrund werde ich mich mit meinen Anmerkungen auf drei Bereiche im
Zusammenhang der „Konvention“ beschränken.
Ich werde mich zunächst mit den normativen Grundlagen der politischen Bildung auseinandersetzen, wie sie in der „Konvention“ deutlich werden. Dazu gehören neben dem
Menschenbild das Demokratieverständnis und damit verknüpft das Bürgerbild und die
Bedeutung von politischer Partizipation. Zweitens werde ich einige Anmerkungen zu den
Lernzielen und den gesellschaftlichen und politischen Zielen politischer Bildung machen,
wie sie in der „Konvention“ formuliert sind, und drittens erlaube ich mir eine einige Hinweise
zu geben, welche aktuellen Diskurse in der Politikdidaktik und in der politischen Bildung für
die Überarbeitung oder Ergänzung der „Konvention“ von Bedeutung sein könnten. Vor allem in den ersten beiden Bereichen werde ich die aktuelle Diskussion in der Politikdidaktik
und der politischen Bildung darstellen und auf die „Konvention“ beziehen.
I. Normative Grundlagen politischer Bildung
Alle Konzeptionen politischer Bildung sind notwendigerweise normativ. Sowohl in den
klassischen als auch in den aktuellen Konzepten politischer Bildung lassen sich in der
Regel, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, zwei normative Bezugspunkte erkennen: zum einen der Bezugspunkt des politischen Systems, zum anderen der Bezugspunkt des Individuums. Politische Bildung ist immer im Zustand und in den Bewegungen
der Politik und der Gesellschaft verankert. Die Entstehung staatlich und gesellschaftlich
initiierter, organisierter und geplanter politischer Bildung erfolgte im engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungs- und Modernisierungsprozessen. Je mehr die
Individuen von politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Veränderungen unmittelbar betroffen wurden, je mehr politische und gesellschaftliche Prozesse von jedem
Einzelnen neue Kenntnisse, Veränderungen von Einstellungen, Verhaltensweisen verlangten und je mehr die Stabilität der gesellschaftlichen und politischen Strukturen von
der Akzeptanz und der Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger abhängig wurde,
desto notwendiger erwies sich die Herausbildung einer politischen Bildung, die systematisch spezifische Kenntnisse und normative Orientierungen vermittelte (vgl. Massing
2005, S.20; Pohl 2004, 317f.). Politische Bildung ist dann ein Mittel, Bürgerinnen und
Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
Bürger über die ihnen noch wenig vertrauten, veränderten oder noch zu verändernden
gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge zu informieren, „vor
allem aber zu einem Mittel den Legitimationskonsens über die neu hergestellte, herzustellende oder bestehende oder vor Veränderung zu schützende Ordnung zu erhöhen“
(Behrmann 1972, 217). Politische Bildung soll also vor allem einen Beitrag zur Stabilisierung der bestehenden politischen Ordnung oder zu ihrer Veränderung leisten. In demokratischen Gesellschaften und in demokratischen politischen Systemen ist diese Aufgabe politischer Bildung überlebensnotwendig.1 Nur wenn es politischer Bildung gelingt,
ein ausreichendes Maß an demokratischem Engagement von Gruppen und Individuen,
die sich politisch für ein Verständnis eines demokratischen Weges der gesellschaftlichen
Lebensweise und der Problemlösung einsetzen, zu erzeugen, kann sie Hoffnung auf die
Zukunft der Demokratie begründen. „Jede Demokratie kann nur wahrhaftig existieren und
sich entwickeln, wenn sie das aufgrund der praktisch wirksamen Einsicht und Anerkennung ihrer Bürger und Bürgerinnen tut. (...) Es ist weder von ihrem normativen Anspruch
noch unter dem Gesichtspunkt ihres historischen Überlebens ausreichend, sie einfach
als einmal historisch erfundenes Ensemble von Institutionen und Regeln zu betrachten.
Ihr politischer Kerngehalt besagt, es sind die Bürger und Bürgerinnen einer Gesellschaft,
die sich, darin ihre Freiheit zugleich konstituierend wie nutzend, eine selbst geschaffene
Ordnung gegeben haben, die sie anerkennen, verteidigen und den sich wandelnden
Aufgaben und Bedingungen entsprechend weiterentwickeln. Tun sie das nicht oder nicht
ausreichend, dann steht es schlecht um ihrer Freiheit und der Demokratie Zukunft“ (Greven 2000, 83f.). Auch wenn jetzt der Eindruck entstanden sein sollte, durch die Betonung
der mündigen, urteilsfähigen und/oder beteiligungsbereiten Bürgerinnen und Bürger, die
die Demokratie zu ihrem Bestehen benötigt, stünde das Individuum, die Entwicklung
seiner Persönlichkeit und seine Emanzipation im Zentrum, ist dies nicht der Fall, werden
doch diese Eigenschaften vorwiegend funktional betrachtet. Ihr eigentlicher Wert liegt in
der Erhaltung des politischen Systems, oder anders formuliert: Grundlegender normativer Bezugspunkt ist das politische System.
Politische Bildung liegt zwar im Interesse des politischen Systems, in einer Demokratie
kann sie sich aber nicht allein aus diesem Systeminteresse, sondern sie muss sich auch
aus einer „politischen Anthropologie“ legitimieren, die die Demokratie voraussetzt. Das
heißt, politische Bildung in der Demokratie bezieht sich auch auf das Individuum und
strebt für dieses Autonomie und Mündigkeit an. Autonomie meint die Fähigkeit, selbstständig, eigenverantwortlich und kompetent Verantwortung zu übernehmen. Von Mündigkeit sprechen wir dort, wo der Mensch zu eigenem Denken gelangt ist, wo er – von
Vorurteilen und Verblendungen frei – Distanz zur eigenen Zeit gewinnt, wo er gelernt hat,
Vorgefundenes kritisch zu reflektieren, und wo er sich auf dieser Grundlage entscheiden kann, die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu akzeptieren
oder auf ihre Veränderung hin zu wirken: ein Mensch, dem aufgrund seiner Fähigkeit zu
sittlicher Selbstbestimmung unabdingbare Würde, Selbstverantwortung für die ihm zurechenbaren Handlungen und Mitverantwortung für die von ihm beeinflussbaren sozialen
und politischen Verhältnisse zukommt (vgl. Sutor 2004, 52). In diesem Kontext erhält
politische Bildung ihren zentralen normativen Bezugspunkt vom Individuum her.
Vor allem von diesem normativen Bezugspunkt aus begründet die „Konvention“ ihre
Konzeption der politischen Bildung. Sie geht von einem Verständnis des Menschen als
Person aus. Zu diesem Personsein gehört sowohl Individualität als auch Sozialität. Der
Mensch ist ein moralisches Subjekt, dessen Handeln sich in Freiheit vollzieht und der für
sein Handeln Verantwortung trägt. Dazu gehört auch die verantwortliche Teilnahme am
Politischen. Die Identitätsbildung und die Entfaltung des Menschen als Person werden
einerseits durch vielfältige gesellschaftliche und globale Entwicklungsprozesse und durch
materielle und immaterielle Rahmenbedingungen beeinflusst und erschwert. Politische
Bildung soll dem Individuum helfen, sich in einer ständig wandelnden Gesellschaft immer
1 Vgl. auch Antrag der CDU/CSU Fraktion und der SPD Fraktion an den Deutschen Bundestag vom 25.06.2008
„Zur Lage der politischen Bildung in Deutschland“. Dort heißt es: „ Der Bundestag stellt fest: Demokratie ist so
stark, wie die Bürgerinnen und Bürger demokratisch sind. Eine Demokratie, die sich nicht über die Förderung
der demokratischen Kenntnisse und Fähigkeiten kümmert, wird aufhören, Demokratie zu sein.“ (Drucksache
16/9766, S. 1).
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Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
wieder neu zu verorten. Darüber hinaus hat sie die Aufgabe wirtschaftliche, politische
und gesellschaftliche Strukturen und Zusammenhänge für den Einzelnen transparent zu
machen, zur wertenden politischen Urteilsbildung beizutragen und zum gestalterischen
Handeln zu motivieren. Richtschnur für politische Urteile und politisches Handeln ist dabei Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wird nicht nur als grundlegender Wert für die Ordnung
der Gesellschaft gesehen, sondern auch als eine Tugend menschlichen Handelns, und
dass sich Menschen in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat für die Verwirklichung von Gerechtigkeit einsetzen, ist gleichzeitig zentrales Ziel politischer Bildung.
Bei der Entwicklung der Kriterien, nach denen gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Strukturen und Handlungen im Hinblick auf Gerechtigkeit beurteilt werden können,
stützt sich die „Konvention“ auf die Grundsätze und Prinzipien der christlichen Sozialethik.
Dazu gehören das Personalitätsprinzip, das zu der Unantastbarkeit der Menschenwürde
und zu den allgemeinen Grund- und Menschenrechten führt, das Gemeinwohlprinzip
sowie die Prinzipien Solidarität und Subsidiarität, die als Handlungs- und Beurteilungsprinzipien gelten.
Inwieweit nun entsprechen diese normativen Grundlagen der politischen Bildung, die
sich im Wesentlichen vom christlichen Menschenbild und den Prinzipien der christlichen
Sozialethik herleiten, der aktuellen Diskussion in der Politikdidaktik und der politischen
Bildung? Der spezifisch christliche Aspekt, der bei der Begründung einer allgemeinen
demokratischen politischen Bildung keine Rolle spielen kann, wird dabei nicht berücksichtigt. Dennoch finden sich viele Aspekte der anthropologischen und ethischen Vorentscheidungen der „Konvention“ auch in „weltlichen“ Konzeptionen politischer Bildung.
Allgemein, lässt sich festhalten, – und darin ist eine wichtige Gemeinsamkeit zur „Konvention“ zu sehen – verstehen sich Politikdidaktik und politische Bildung heute offensiver
normativ als in den 80-er und 90-er Jahren. Bezogen auf die beiden normativen Bezugspunkte Individuum und politisches System bedeutet dies folgendes: Eine Reihe von
„klassischen“ und aktuellen Konzeptionen betonen stark den normativen Bezugspunkt
Individuum. Sie gehen, ähnlich wie die Konvention, von der „Person“ (Sutor) bzw. vom
Zielwert der Emanzipation aus (vgl. Schmiederer, Hilligen, Roloff, u. a.). Emanzipation
meint Mündigkeit, d. h. die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Entfaltung der Persönlichkeit meint dies nicht minder. Das Denken in personalen Kategorien unterwirft Gesellschaft, Wirtschaft und Politik den Fragen, ob sie personale Entfaltung ermöglichen oder
erschweren oder gar verhindern. Daraus ergibt sich die kritische Funktion politischer
Bildung, denn dieses Denken stellt Bestehendes in Frage, wehrt sich gegen verfestigte
Strukturen und strebt deren Veränderung an. Dieser kritische Impetus politischer Bildung
wird allerdings sowohl in der „Konvention“ als auch in den meisten aktuellen Konzeptionen politischer Bildung bestenfalls implizit deutlich.
Konzeptionen politischer Bildung, die ihren normativen Bezugspunkt vor allem im politischen System sehen, legitimieren Aufgaben und Ziele politischer Bildung in erster Linie
politisch. Nicht die Qualifizierung des jungen Menschen mit Fähigkeiten für die Bewältigung seines Lebens kann politische Bildung rechtfertigen, sondern politische Bildung
dient in erster Linie der Legitimierung der bestehenden demokratischen Ordnung vor
dem jungen Menschen. Sie soll – im wörtlichen Sinne – die jungen Menschen einbürgern, und ihre Pflicht ist es, die demokratische politische Kultur zu festigen (u. a. Detjen
2004). Eine solche politische Bildung versteht sich weniger kritisch. Geht man allerdings
davon aus, dass eine demokratische politische Kultur vor allem die entsprechenden Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen meint, ist die Differenz zwischen den
beiden Positionen weniger groß, als dies auf den ersten Blick erscheint. Zusammenfassend lässt sich jedoch feststellen: In fast allen Konzeptionen politischer Bildung sind,
trotz Unterschieden und Differenzen im Einzelnen, beide normativen Bezugspunkte und
ihre Verknüpfung relevant.
Dies wird zum Beispiel in den Vorschlägen für bundeseinheitliche Bildungsstandards der
Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE)
deutlich, die u. a. auch einen politikdidaktischen Minimalkonsens ausdrücken. Dort heißt
Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
es: In einer Demokratie gehört es zu den Aufgaben politischer Bildung2, alle Menschen
zur Teilnahme am öffentlichen Leben zu befähigen. Politische Bildung fördert beim jungen Menschen die Fähigkeit, sich in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft angemessen zu orientieren, auf einer demokratischen Grundlage politische Fragen und Probleme
kompetent zu beurteilen und sich in öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren. Sie
leistet damit einen wichtigen Beitrag zur stets neu zu schaffenden Demokratiefähigkeit
junger Menschen. Zusammenfassend lässt sich diese Zielperspektive politischer Bildung
als Entwicklung politischer Mündigkeit bezeichnen.
„Politische Mündigkeit ist aus der Sicht des Einzelnen eine Bedingung für erfolgreiche
Partizipation, sie ist aber auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht für die Erhaltung und
Weiterentwicklung einer demokratischen politischen Kultur und eines demokratischen politischen Systems eine unerlässliche Zielperspektive politischer Bildung“ (GPJE 2004, 9).
In dem Begriff „politische Mündigkeit“ sind beide normativen Bezugspunkte miteinander
verknüpft. Mündigkeit als Eigenschaft des Einzelnen ist Ziel politischer Bildung, weil sie
ihn zur Teilnahme am öffentlichen Leben qualifiziert, andererseits ist das demokratische
System unter dem Gesichtspunkt seines historischen Überlebens auf mündige Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Konzeptionen politischer Bildung heute finden also ihre
normativen Bezugspunkte sowohl im Individuum und seinen Werten, als auch in der
Demokratie als politischem System sowie in der Verknüpfung beider. Sie sind normativ
komplex. In der „Konvention“ scheint mir der Schwerpunkt auf dem Individuum in seinem
Personsein sowie in seinen Werten zu liegen. Zwar ist auch von Gesellschaft, Wirtschaft
und Politik die Rede, die nach Prinzipien der christlichen Ethik organisiert sein sollen.
Auch geht die „Konvention“ bei der Definition des Gegenstandes der politischen Bildung
von einem politikwissenschaftlich fundierten Politikbegriff aus, wenn sie schreibt: „Unter
Politik verstehen wir jene spezifischen Formen gesellschaftlichen Handelns, in denen
die Menschen die gemeinsamen Bedingungen ihres Zusammenlebens gestalten und
auf je unterschiedlichen Ebenen der Gesellschaft gemeinsame Ordnungen entwickeln,
mit deren Hilfe sie jeweils ihre für die Gesamtheit bedeutsamen Probleme und Konflikte
regeln können. Politik ist kluges Bemühen um das Gemeinwohl. Dabei spielen Werte,
Bedürfnisse und Interessen von Einzelnen und von Gruppen eine zentrale Rolle.“ (S.5).
Abgesehen davon, dass sich in der politischen Bildung mittlerweile zwei konkretere Arbeitsbegriffe, die drei Dimensionen des Politischen und der Politikzyklus durchgesetzt,
haben: Der Begriff der Demokratie oder des demokratischen Systems findet im ersten
Teil der „Konvention“ keine Erwähnung, und ein Bezug zu politikwissenschaftlichen Demokratietheorien wird nicht hergestellt mit der Folge, dass die „Konvention“ in ihrem
ersten Teil institutionell blass bleibt und die Forderung nach Beteiligung allein ethisch
begründet wird. Eine demokratietheoretische Fundierung könnte dieser Forderung mehr
Bodenhaftung verleihen.
In der politikwissenschaftlichen Demokratietheorie werden heute drei Grundmodelle von
Demokratie unterschieden, die in einer Vielfalt von unterschiedlichen Formen auftreten.
Diese Grundmodelle sind: 1. das Modell liberaler Demokratie, 2. das Modell republikanischer Demokratie und 3. das Modell deliberativer Demokratie. Die Modelle unterscheiden sich im Kern nach der Art, dem Ausmaß und der Reichweite der Beteiligung
der Bürger. In den Modellen republikanischer und deliberativer Demokratie umfasst die
Beteiligung möglichst viele gesellschaftliche Bereiche. Ihre Vertreter vertrauen auf die
Überzeugungskraft rationaler Argumente in der öffentlichen Debatte und setzen darauf,
dass sich die Bürgerinnen und Bürger im Prozess demokratischer Deliberation durch
konsensorientiertes kommunikatives Handeln auf gemeinschaftliche Normen und Ziele
verständigen können und werden. Das Modell liberaler Demokratie favorisiert dagegen
die Beschränkung der Beteiligung auf den Bereich des Politischen und setzt auf Repräsentation und auf Formen der Institutionalisierung der Beteiligung der Bürger. Trotz
dieser Unterschiede im Einzelnen muss ein Demokratiekonzept, das einerseits normativer Bezugspunkt politischer Bildung sein kann und andererseits den Standards der De2 In den Bildungsstandards der GPJE die für die Schule formuliert wurden, heißt es immer „schulische politische Bildung“ oder „politische Bildung in der Schule“. Die Aussagen gelten jedoch für die außerschulische
politische Bildung in gleicher Weise.
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Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
mokratietheorie genügen will, das „magische Dreieck der Demokratie“ (Buchstein) mit
seinen Eckpunkten institutionelle Arrangements, Bürgerrechte und Bürgerqualifikationen
berücksichtigt und justiert haben. So versucht die aktuelle Demokratiediskussion, diese
Eckpunkte miteinander zu verbinden. Neben Neuarrangements, Umgewichtungen und
intelligenten Kombinationen vorhandener institutioneller Formelemente, die von einer
demokratisierten Weltgesellschaft über den kooperativen Staat bis hin zur assoziativen
und reflexiven Demokratie reichen (vgl. Schmalz-Bruns 1993; Benz 1997; Schuppert
1997), ist der Bürger wieder in den Blickpunkt geraten und die Frage, wie dessen Bereitschaft zur Partizipation gefördert und zugleich sicher gestellt werden kann, dass sich
erweiterte Teilhaberechte mit den anspruchsvollen ethischen, moralischen und kognitiven Bedingungen vernünftiger politischer Willensbildung zusammenschließen lassen
(vgl. Buchstein 1995; Massing 2002).
Bei dem Versuch, diese demokratietheoretische Diskussion für die politische Bildung
zu nutzen, sind zunächst die Kompetenzen und Tugenden, die in der demokratietheoretischen Debatte genannt wurden, rezipiert worden. Hubertus Buchstein, der den ersten
Impuls dazu gegeben hat, nennt drei Kompetenzen. Zum einen kognitive Kompetenzen
bezüglich der Gegenstände politischer Entscheidungen. In dieser Dimension geht es ausschließlich um die Wissensaspekte von Politik, zum zweiten prozedurale Kompetenzen
bezüglich der Verfahren politischer Entscheidungsfindung. Die beinhalten die Kenntnisse
und strategischen Fertigkeiten, die notwendig sind, um die eigenen Ziele innerhalb der
Regeln des politischen Systems zu verfolgen, d. h. die Fähigkeit, sich an Politik zu beteiligen. Drittens nennt Buchstein gemeinsinnorientierte und affektiv verankerte habituelle
Dispositionen. Damit sind Tugenden gemeint, die im demokratietheoretischen Diskurs zunehmend an Bedeutung gewinnen. Für die demokratischen Tugenden schlägt Hubertus
Buchstein folgenden Katalog vor, der sich aus Tugenden des Liberalismus, des Demokratismus und des Sozialstaats zusammensetzt. Dazu gehören: Die Tugenden der Loyalität
als der Bereitschaft, für die Gemeinschaft aller Mitbürger Verantwortung zu übernehmen,
und des Mutes im Sinne von Zivilcourage als der Bereitschaft, das Gemeinwesen gegen
Bedrohungen zu verteidigen. Rechtsgehorsam auf freiwilliger und daher reflexiver Basis,
Kooperationsbereitschaft, Fairness und Toleranz, die Bereitschaft, ethische und ethnische
Differenzen auszuhalten. Die Tugend der Partizipation, der Bereitschaft, politische Entscheidungen vor einem längeren Zeithorizont zu evaluieren sowie der Argumentation, der
Bereitschaft, sich für die eigene Meinung öffentlich zu rechtfertigen. Die Tugenden des
sozialen Gerechtigkeitssinns und der Solidarität (Buchstein 2000, S. 13).3
Vor diesem Hintergrund hat die politische Bildung unterschiedliche Bürgerrollen und
Bürgerbilder konstruiert und ihre Ziele daran orientiert. Sie reichen von „politisch Desinteressierten“, die für sich das Recht in Anspruch nehmen, der Politik nur begrenzte
Aufmerksamkeit zu schenken, und sich nur unregelmäßig oder selten an Wahlen und
Abstimmungen beteiligen. Sie sind über die aktuellen Problemlagen der Politik wenig
– und wenn, dann auch nur oberflächlich – informiert. Häufig kennzeichnet sie ein tief
sitzendes Misstrauen gegenüber politischen Eliten. Ihr politisches Wissen ist fragmentarisch, ihr politisches Denken vorurteilsgeprägt. In vielen politischen Sachfragen unschlüssig, neigen sie dazu, irrationalen Trieben und dunklen Impulsen nachzugeben.
Sie wollen heute dies und morgen jenes; ihre Urteilsstandards werden der Komplexität
und Kompliziertheit der politischen Angelegenheiten kaum gerecht, über die „informierten und urteilsfähigen Zuschauer/innen“. Diese interessieren sich für Politik und haben
so viel Wissen und Einblick in die Zusammenhänge des politischen Lebens, dass sie
diese Welt nicht als eine fremde, ihrer Einsicht entzogene betrachten. Sie werden zwar
außerhalb von Wahlen und Abstimmungen selten aktiv, lassen sich jedoch nichts vormachen und sind in der Lage, sich in politischen Zusammenhängen zu orientieren und
zu ihnen eine eigene, begründete Position zu entwickeln. Eine weitere Bürgerrolle ist die
des „interventionsfähigen Bürgers und der interventionsfähigen Bürgerin“. Sie besitzen
neben dem Wissen und den Fähigkeiten des informierten Zuschauers auch Kenntnisse
über die tatsächlich vorhandenen Einflusschancen und Möglichkeiten zur Beteiligung
3 Diese Tugenden werden hier so ausführlich dargestellt, weil sich ein Großteil von ihnen auch in der Konvention wiederfindet.
Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess sowie die Fähigkeit zu einer
rationalen, d. h. begründeten, politischen Urteilsbildung und einer prinzipiellen Handlungsbereitschaft aufgrund von kommunikativen, aber auch strategischen und taktischen
Fertigkeiten. Hinzu kommt soziales Vertrauen zu anderen Menschen, Selbstvertrauen
und Selbstachtung, um die mit politischer Aktivität verbundenen Belastungen auf sich zu
nehmen, sowie der Glaube an den eigenen Einfluss. Zuletzt die Rolle der Aktivbürger/
innen. Bei ihnen nimmt das Politische einen hohen Stellenwert ein. Sie sehen politische
Beteiligung als ihre wichtigste Aufgabe und ihre moralische Pflicht an. Sie möchten das
politische Geschehen aktiv mitbestimmen. Mitgliedschaft und Mitarbeit in Parteien, Interessengruppen, Bürgerinitiativen oder ideellen bzw. zivilgesellschaftlichen Vereinigungen
scheinen ihnen selbstverständlich. Der Aktivbürger, die Aktivbürgerin will das als richtig
Erkannte befördern bzw. umsetzen und orientiert sich dabei nicht nur an seinen/ihren
Eigeninteressen, sondern auch am Gemeinsinn (vgl. Massing 2002).
Politische Bildung sollte bei der Formulierung ihrer Ziele alle vier Gruppen berücksichtigen.
Die „Desinteressierten“ bilden dabei eine ständige Herausforderung. Ihre Zahl zu verringern,
und aus ihnen wenigstens informierte Zuschauer/innen zu machen, ist politischer Bildung
dauerhaft aufgegeben. Informierte und urteilsfähige Zuschauer/innen bilden dann ihr Minimalziel, auch wenn sie für die Praxis der politischen Bildung schon eine erhebliche Herausforderung darstellen. Als anspruchsvolleres, aber noch immer realistisches Ziel kann die
politische Bildung die interventionsfähigen Bürgerinnen und Bürger betrachten. Die Aktivbürger/innen scheinen dagegen für die politische Bildung ein eher utopisches Ziel zu sein. Sie
sollten aber nicht aus den Augen verloren werden, denn als regulative Idee erfüllen sie wichtige Orientierungsfunktionen, solange sich politische Bildung bewusst bleibt, dass nur wenige
diesen Grad der Aktivität erreichen (wollen). Zudem bedürfen Aktivbürger/innen im Grunde
keiner – eigens auf sie abgestimmten – Bildungs- und Erziehungsbemühungen. Die Bereitschaft zur Aktivbürgerschaft geht überwiegend von der Person selbst aus und speist sich
aus unterschiedlichen Quellen. Denkbar ist allerdings auch, dass diese Bereitschaft durch
politische Bildung angeregt oder verstärkt wird. Da es in der Demokratie innerhalb dieser
Bandbreite eine Vielzahl von legitimen Bürgerrollen gibt und der Einzelne im Zeitverlauf auch
mehrere Bürgerrollen wahrnehmen kann, tut politische Bildung gut daran, von unterschiedlichen Bürgerrollen auszugehen. Das gilt auch für die „Konvention“, die implizit dem Aktivbürger oder der Aktivbürgerin zuzuneigen scheint, mit der Gefahr, die Realität der Demokratie
zu verfehlen. Aktuelle Konzeptionen politischer Bildung haben heute zwar das Konstrukt unterschiedlicher Bürgerrollen beibehalten. Es hat aber eine Schwerpunktverschiebung stattgefunden von den Bürgerleitbildern hin zu den Kompetenzen, die der Einzelne benötigt, um
die eigene Bürgerrolle zu finden und sich frei, das heißt reflektiert und begründet, für eine
oder in seinem Leben auch für verschiedene Bürgerrollen zu entscheiden. Aufgabe politischer Bildung ist dann die Kompetenzen zu vermitteln, die notwendig sind, um überhaupt
irgendeine Bürgerrolle wahrnehmen zu können. Welche dies sein wird, ist seiner Verantwortung und seiner Entscheidung überlassen. Dies erscheint mir allerdings normativ zu blass.
Wenn Demokratie immer Programm ist und bleibt, ein unabgeschlossenes Projekt, das sich
nur in der öffentlichen Auseinandersetzung fortschreiben lässt und vor allem aus dem Spannungsverhältnis von Norm und Realität seine Dynamik und seine Orientierung gewinnt, dann
muss sich politische Bildung auch dafür verantwortlich fühlen, dass die zukünftigen Bürgerinnen und Bürger tatsächlich den Willen entwickeln, in eine Praxis einzutreten, in der sich
Demokratie selbst fortschreibt. Dann reicht es auch nicht aus, dass politische Bildung sich
bloß an unterschiedlichen Bürgerbildern orientiert, sondern sie muss auch die institutionelle
und strukturelle Dimension von Demokratie wieder in ihre Konzeption einholen. Denn nur vor
dem Hintergrund eines normativen Demokratiemodells ist die Kritik der politischen Realität
möglich und scheint die Richtung auf, in die eine Weiterentwicklung des bestehenden demokratischen Systems führen kann oder soll.
Bezogen auf die „Konvention“ könnte dies zweierlei bedeuten: Zum ersten scheint es
notwendig, das Bürgerbild, das ihr implizit zugrunde liegt, bewusst zu machen, es zu
differenzieren und es nicht nur anthropologisch durch das christliche Menschenbild und
durch die christliche Ethik zu begründen, sondern es auch demokratietheoretisch zu fundieren. Dazu ist es zweitens erforderlich, der Demokratie konzeptionell mehr Aufmerk-
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Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
samkeit zu schenken. Das heißt, politische Bildung nicht nur allgemein auf Gesellschaft,
Wirtschaft und Politik zu beziehen, sondern konkret auf ein normatives Demokratiemodell, zu dessen historischem Überleben politische Bildung – auch und vielleicht gerade
eine katholisch-sozial orientierte politische Bildung – unabdingbar ist.
II. Ziele der politischen Bildung
Vor diesem Hintergrund differenzierter Bürgerbilder und eines normativen Demokratiemodells ergeben sich dann die Aufgaben und Ziele politischer Bildung, die sich im aktuellen politikdidaktischen Diskurs im Wesentlichen in der Formulierung von Kompetenzen
zeigen. In der Politikdidaktik waren bereits seit den 90-er Jahren unterschiedliche Ansätze für die Beschreibung der Ziele politischer Bildung in Form von Kompetenzen entwickelt worden (vgl. Sander 2004, 36f.). Bernhard Sutor spricht z. B. von „kognitiven“, „kommunikativen“ und „moralischen“ Kompetenzen. Andere Modelle (im Anschluss an Oskar
Negt (1997), z. B. Peter Henkenborg (2002) und Dagmar Richter (2003), enthalten stark
normativ aufgeladene Kompetenzen wie z. B. „Sozial- und Gerechtigkeitskompetenz“,
„ökologische Kompetenz“ oder „Erinnerungs- und Utopiefähigkeit“. Aktuell konkurrieren
prinzipiell zwei unterschiedliche Kompetenzmodelle miteinander. Der eine Kompetenzbegriff ist im Rahmen der Bildungsstandarddiskussion entstanden, der andere stammt
aus der Berufspädagogik.
Wenden wir uns dem ersten Kompetenzmodell zu. Als ein Ergebnis der PISA-Studien
und anderer internationaler vergleichender Schulleistungsuntersuchungen hat sich in
Deutschland eine Diskussion entwickelt, in deren Mittelpunkt die Entwicklung von Kerncurricula und Bildungsstandards steht. Sie ist hierzulande mittlerweile zu einem Hauptziel der Schulpolitik geworden und hat auch die politische Bildung erfasst. Wenn derzeit
von Bildungsstandards die Rede ist, geht es zumeist um performance standards4, die
auf komplexe funktionale Fähigkeiten, d. h. auf bestimmte Kompetenzen, bezogen sind.
Was in diesem Zusammenhang unter Bildungsstandards und Kompetenzen verstanden
wird, ist definiert bzw. festgelegt durch die Expertise von Eckhard Klieme vom Deutschen
Institut für internationale pädagogische Forschung (DIPF), der die für die aktuelle Diskussion maßgebliche Sprachregelung vorgenommen hat (Klieme u. a. 2003, 4). Nach
der Expertise formulieren Bildungsstandards verbindliche Anforderungen an das Lehren
und Lernen. Bildungsstandards benennen präzise, verständlich und fokussiert die wesentlichen Ziele der pädagogischen Arbeit, ausgedrückt als erwünschte Lernergebnisse. Bildungsstandards legen fest, welche Kompetenzen Lernende zu einem bestimmten
Zeitpunkt mindestens erworben haben sollen. Der Kompetenzbegriff der Expertise geht
auf Franz Weinert zurück. Weinert definiert Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volotitionalen (absichts- und willensbezogenen, P. M.) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um
die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen
zu können“. Der Anspruch allerdings, Kompetenzen auch messen zu wollen, führt letztlich dann doch zu einer Verengung auf kognitive Leistungsbereiche. Kompetenz stellt
dann die Verbindung zwischen Wissen und Können her, ist als Befähigung zur Bewältigung unterschiedlicher Situationen zu sehen und erfordert eine entsprechend breite
Umsetzung in Aufgaben und Tests. (vgl. Klieme 2004, S. 12.)
4 Bildungsstandards und Kompetenzen beziehen sich in der aktuellen Diskussion allein auf die Schule. Beide
ließen sich allerdings auf die außerschulische politische Bildung übertragen.
Der Begriff Bildungsstandard wird erst dann eindeutig, wenn angegeben wird, was standardisiert ist bzw. was
standardisiert werden soll. In der aktuellen Literatur findet man folgende Unterscheidungen: Die Bildungsstandards beziehen sich auf die Unterrichts- bzw. Lerninhalte, sind also Inhaltsstandards (content standards). Sie
beziehen sich auf die erwarteten Schülerleistungen und ihre Bewertung (performance standards) oder sie
beziehen sich auf die für schulisches Lernen bereitgestellte Ressourcen (opportunity-to-learn-standards). Es
sind aber auch andere – und weitergehende – Differenzierungen, etwa die Unterscheidung zwischen Mindest-,
Regel- und Maximalstandards denkbar.
Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
Im Anschluss daran geht der GPJE-Entwurf zu bundeseinheitlichen Bildungsstandards
für die politische Bildung von folgendem Kompetenzmodell aus (vgl. GPJE 2004, 13):
Konzeptuelles Deutungswissen
Politische Urteilsfähigkeit
Politische Ereignisse, Probleme und Kontroversen so wie Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung
unter Sachaspekten und Wertaspekten analysieren und reflektiert beurteilen können
Politische Handlungsfähigkeit
Meinungen, Überzeugungen und Interessen formulieren, vor anderen angemessen vertreten und Kompromisse schließen können
Methodische Fähigkeiten
Sich selbstständig zur aktuellen Politik sowie zu wirtschaftlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen orientieren, fachliche Themen mit unterschiedlichen Methoden
bearbeiten und das eigene politische Weiterlernen organisieren können
Das zweite Kompetenzmodell stammt, wie erwähnt, aus der Berufspädagogik und unterscheidet zwischen Sach-, Methoden-, Sozial- und Personal- bzw. Selbstkompetenz, die als
Aspekte beruflicher Handlungskompetenz verstanden werden. Diese Kompetenzen werden
in der politischen Bildung als Aspekte von Demokratiekompetenz konkretisiert. Diese verknüpft in spezifischer Weise die einzelnen Kompetenzen und lässt sich in Qualifikationen,
Fähigkeiten und Fertigkeiten ausdifferenzieren (vgl. zum Folgenden Massing 2002a, 37ff.).
Bei der Sachkompetenz geht es in erster Linie um die Wissensdimension von Politik. Sie
ist für die politische Bildung von besonderer Bedeutung, denn Demokratie kann ihre Überlebensfähigkeit nur bewahren, wenn sie von weiten Teilen der Bevölkerung verstanden
und getragen wird. Demokratie ist eine so komplizierte politische Ordnungsform, dass
man sich in ihr nur zurechtfinden kann, wenn man es gelernt hat. Dazu benötigt man vor
allem Kenntnisse über die institutionelle Ordnung der Demokratie, ihrer verfassungsmäßigen Grundlagen, der wichtigsten Prinzipien und Institutionen sowie der Regeln, nach
denen im Zusammenhang der auf Machtgewinn und Durchsetzung gerichteten politischen
Interessen entschieden wird. Außerdem benötigt man Kenntnisse über im Rahmen der
institutionellen Ordnung vorhandenen Einflussmöglichkeiten und Partizipationschancen,
über politische Zuständigkeiten ebenso wie über rechtliche Verfahren, Kenntnisse über
funktionale Zusammenhänge des politischen Systems sowie über seine weltpolitischen
und weltwirtschaftlichen Abhängigkeiten – über die Ergebnisse und Voraussetzungen der
Globalisierung eben.
Da Politik dem Einzelnen jedoch häufiger im Mikrobereich und dort vor allem in Form von
Verwaltungshandeln begegnet, gehört zur Sachkompetenz auch, die Aufgaben, Befugnisse und Verfahrensweisen der Verwaltung zu kennen und zu wissen, wie man mit Behörden
umgehen und sich gegen deren Entscheidungen und Maßnahmen wehren kann. Sachkompetenz beinhaltet allerdings auch das Wissen um die persönlichen Kosten, Mühen und
Belastungen sowie über die begrenzten Folgewirkungen politischer Interventionen. Wissen im Rahmen von Sachkompetenz bedeutet jedoch nicht nur Kenntnisse von Fakten,
sondern auch Wissen im Sinne von Verstehen5, das sich als Teil von Politikbewusstsein
reproduziert, welches sich in der Fähigkeit zur kognitiven Orientierung in Politik und Gesellschaft ebenso ausdrückt wie in der bewussten Akzeptanz der Demokratie, insbesondere
der Grund- und Menschenrechte, im Interesse an öffentlichen Aufgaben und in der Sensibilität für gesellschaftlich-politische Probleme auf den verschiedenen Politikfeldern.
Verständnis von Demokratie und Einsichten in politische Zusammenhänge müssen
durch politische Urteilsfähigkeit ergänzt werden, d. h. die Qualifikation, politische Pro5 Damit ist das Gleiche gemeint, wie mit „Konzeptuellem Deutungswissen“ in den GPJE-Standards.
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Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
gramme und Leistungen, Probleme oder Entscheidungen oder auch Amtsinhaber nach
eigenen begründeten wertbezogenen und rationalen Maßstäben zu beurteilen und an
den Werten, Normen und Gestaltungsmöglichkeiten des demokratischen Gemeinwesens zu messen.
Methodenkompetenz als Ziel politischer Bildung meint zunächst die Fähigkeit, mit Hilfe von analytischen politischen Kategorien (z. B. Macht, Interesse, Konflikt, Konsens,
Werte, Ideologien usw.), die in Schlüsselfragen umformuliert werden können, sich selbst
politische Sachverhalte und Probleme sowie politische Entscheidungen und ihre Folgen
erschließen zu können. Da in modernen Demokratien dem Einzelnen Politik im Wesentlichen als „medienvermittelte“ begegnet, bedeutet dies in erster Linie die Fähigkeit, sich
selbstständig und gezielt über Massenmedien und/oder Neue Medien Informationen zu
beschaffen, auszuwählen und kritisch zu verarbeiten.
Darüber hinaus bedeutet Methodenkompetenz, dass man über die nötigen Qualifikationen verfügt, um ggf. in verschiedenen politischen Handlungsfeldern agieren zu können.
Methodenkompetenz meint auf dieser Ebene die Fähigkeit zur Teilnahme an der politischen Öffentlichkeit. Dazu sind vor allem kommunikative Fähigkeiten notwendig.
Sozial- und Selbstkompetenz sind eng miteinander verknüpft und aufeinander bezogen.
Sozialkompetenz erwirbt man in unterschiedlichen sozialen Situationen und ist Teil der
Selbstkompetenz. Selbstkompetenz beschreibt die Gesamtheit der verhaltensrelevanten
Persönlichkeitsmerkmale, die sich wieder in sozialen Situationen äußern. Bezogen auf
politische Bildung meint Sozial- bzw. Selbstkompetenz die handlungswirksame Aufnahme der Grundideen rechtsstaatlicher und sozialer Demokratie. Im Einzelnen beinhaltet
sie die schon oben beschriebenen demokratischen Tugenden. Zur Sozialkompetenz gehören des Weiteren kommunikative, emotionale und soziale Fähigkeiten. Darunter versteht man, Gedanken, Gefühle und Einstellungen anderer sensibel wahrzunehmen, in
der Lage zu sein, sich situations- und personenbezogen zu verständigen, zur sozialen
Perspektivenübernahme (Gotthard Breit) fähig zu sein, sich in die Situationen, die Interessen und Denkweisen anderer hineinzuversetzen und Verständigungsmöglichkeiten zu
suchen, aber auch konfliktfähig zu sein. Zur Selbstkompetenz gehört ein realistisches
Selbstbild, im Sinne von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, d. h. Ich-Stärke, um den
eigenen Überzeugungen gemäß handeln zu können, aber auch Kritikfähigkeit gegenüber sich selbst. Selbstkompetenz beinhaltet Neugier, Tatkraft und Freude am Experimentieren, aber auch die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten im eigenen
Leben und in sozialen Zusammenhängen umgehen zu können.
Die „Konvention“ unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Lernzielen und
gesellschaftlich-politischen Zielen der katholisch-sozial orientierten politischen Bildung.
In dieser Zweiteilung werden implizit die am Anfang beschriebenen beiden normativen
Bezugspunkte Individuum und politisches System deutlich. Die Lernziele beziehen sich
auf Fähigkeiten des Individuums, und in den gesellschaftlichen und politischen Lernzielen lassen sich implizit die Gesellschafts-, Wirtschafts- und Politikvorstellungen der
„Konvention“ erkennen.
In den Lernzielen ist zwar gelegentlich auch von Kompetenzen die Rede (z. B. Handlungskompetenz oder ethische Kompetenz), der Kompetenzbegriff, der aktuell die politische Bildung prägt, wird jedoch nicht für eine systematisierende und theoretisch fundierte Lernzielbeschreibung genutzt. Die Lernziele der „Konvention“ erscheinen dadurch zwar pragmatisch,
aber ebenso beliebig und bleiben hinter dem aktuellen Stand der politikdidaktischen Diskussion zurück. Ähnliches gilt für die gesellschaftlich-politischen Ziele. Die „Konvention“ verzichtet darauf, ein politikwissenschaftlich gestütztes, normatives Demokratiemodell bzw. zentrale
Elemente eines demokratischen Systems zu formulieren, die auch den Inhalt der politischen
Bildung festlegen würden. Die Folge davon ist, dass die genannten Vorstellungen zur Gesellschaft, zur Wirtschaft, zur Globalisierung und zur internationalen Politik moralisierend wirken, zumindest moralisch stark aufgeladen sind und letztlich eben beliebig erscheinen. Darin
scheint auch die Ursache dafür zu liegen, dass einige zentrale Entwicklungen, aus denen
sich Herausforderungen für die politische Bildung ergeben, unterbelichtet sind. Ohne dies
Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
hier weiter ausführen zu können, gilt dies z. B. für die Ursachen und Folgen der Globalisierung. Die Globalisierung hat in den letzten Jahren die Demokratie als Staats- und Lebensform vor ihre größte Belastungsprobe gestellt, und wie es scheint, ist sie dafür schlecht gerüstet. Zunehmend werden Zweifel vorgetragen, ob die tradierten Normen und Konzepte zur
Begründung demokratischer politischer Ordnung im 21. Jahrhundert noch Bestand haben
können. „Weil unter den Bedingungen marktorientierter Globalisierung die partizipativen Bürger der Zivilgesellschaft gegenüber den sachzwanghaften Marktkräften immer weniger zu
sagen haben, kann eine Rückentwicklung der modernen Massendemokratie zu autoritären
Mustern nicht ausgeschlossen werden.“ (Mahnkopf 1998, 55). Immer mehr Stimmen sind
zu hören, die vor der demokratiefeindlichen Wirkung des „autoritären Liberalismus“ warnen.
Die zentralen Fragen, die sich heute stellen, sind: Worin bestehen die Probleme, die sich
aus der Globalisierung für Demokratien westlicher Prägung ergeben? Welche Möglichkeiten
bieten sich an oder werden diskutiert, mit diesen Problemen umzugehen, und welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die politische Bildung? Eine Weiterentwicklung der
„Konvention“ müsste dringend versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Ein weiteres Element, das in den gesellschaftlichen und politischen Zielen der „Konvention“ keine Erwähnung findet, ist „Diversity“ als theoretisches und praktisches Konzept. Diversity steht im Kontext des sozialstrukturellen Wandels moderner postindustrieller bzw.
postmoderner Gesellschaften. Als Ausdruck der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas)
formuliert es als Ziel den positiven Umgang mit pluralisierten und individualisierten Lebensentwürfen und –stilen, mit patchworkartigen Identitätsmustern in der Multioptionsgesellschaft, mit Heterogenität in der Migrationsgesellschaft usw. (vgl. Hor-mel/Scherr
2005, 208ff.). Diversity verweist auf Entwicklungen, die in den letzten Jahren eine erhebliche Beschleunigung und Intensivierung erfahren haben. Im Ergebnis folgt daraus, dass
die, zu welchem Zweck auch immer, an einem Ort Versammelten heute fast nirgendwo
die gleiche geographische und sprachliche Sozialisation haben. Gleichzeitig ist die soziale Durchmischung und bis zu einem gewissen Grad auch die soziale Durchlässigkeit
eine normale Tatsache. Anders formuliert: Sprachliche und soziokulturelle Heterogenität sowie Pluralität bilden den Normalfall. Diversity, Interkulturalität und Internationalität
sind im Alltag fast aller Institutionen und insbesondere in Bildungsinstitutionen physisch
erfahrbar. Vor diesem Hintergrund hat sich in jüngster Zeit eine politische Strategie für
eine gerechtere Gesellschaft entwickelt, die im Anschluss an „Gender Mainstreaming“,
„Diversity Mainstreaming“ genannt werden kann. „Diversity Mainstreaming“ geht es um
die Wertschätzung von Menschen schlechthin. Ziel ist es, nicht nur Vorbehalte gegenüber unterschiedlichen Nationalitäten und Hautfarben, sondern auch gegen andere
Unterschiede, sei es durch Behinderung, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung und
sonstige Lebensweisen, im Sinne einer umfassenden Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik abzubauen. Dazu kann auch Diversity Lernen im Rahmen politischer Bildung einen wichtigen Beitrag leisten. Gerade eine katholisch-sozial orientierte politische
Jugend- und Erwachsenbildung, die in der Gerechtigkeit den grundlegenden Wert für die
Ordnung der Gesellschaft sieht, sollte die Diskussion zum „Diversity Lernen“ aufgreifen
und produktiv verarbeiten (vgl. zur Diversity Diskussion: GPJE 2008).
Der dritte Diskussionsstrang der Politikdidaktik und der schulischen politischen Bildung,
der allerdings erst am Anfang steht, der aber für die Weiterentwicklung der „Konvention“
von Bedeutung sein könnte, ist die Kontroverse um die Notwendigkeit von Fachwissen
bzw. um die inhaltliche Dimension der politischen Bildung. Die „Konvention“ möchte mit
ihrem Bildungsangebot einen Beitrag zur Fortentwicklung staatlicher, wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Ordnung auf der Basis der christlichen Sozialethik und insbesondere
der Option für die Armen leisten. Welches Fachwissen dazu notwendig ist, bzw. mit welchen Inhalten dies zu leisten ist, sagt die „Konvention“ nicht. Bestenfalls lassen sich implizit und auf sehr allgemeiner Ebene aus den Zielen auch auf einige Inhaltsfelder schließen. Damit ist die katholisch-sozial orientierte politische Bildung auf einem ähnlichen
Stand wie die Politikdidaktik. Hier hat aber in jüngster Zeit eine Diskussion begonnen,
die das Problem des notwendigen Fachwissens neu aufgegriffen hat und eine Lösung in
der Entwicklung von Basiskonzepten sieht. Die Diskussion wird zwar kontrovers geführt
und es gibt noch keine Übereinstimmung. Dass das Problem der Inhalte der politischen
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Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
Bildung aber über Basiskonzepte gelöst werden sollte, darüber besteht weitgehend Einigkeit. Ich kann diese Diskussion hier nur knapp skizzieren.
Im Zusammenhang mit der Entwicklung einheitlicher Bildungsstandards in der Form von
Kompetenzanforderungen, auf die ich oben schon eingegangen bin, ist in jüngster Zeit
die Kompetenzdimension „Fachwissen“ ins Zentrum fachdidaktischer, auch politikdidaktischer Diskussion geraten (vgl. dazu Georg Weißeno, 2008). Fachwissen verweist dabei
auf die inhaltliche Dimension der Fächer, die zunehmend über Basiskonzepte abgebildet
werden. Einer Reihe von Fachdidaktiken wie Biologie, Chemie, Physik oder Mathematik
und Geographie ist es gelungen, sich auf solche Basiskonzepte zu einigen. Zwar werden
auch in diesen Wissenschaften unterschiedliche Begriffe verwendet (Physik und Mathematik sprechen von Leitideen, die Geographie unterscheidet zwischen einem Hauptbasiskonzept und Basisteilkonzepten), inhaltlich meinen sie jedoch das Gleiche. Die Funktion von Basiskonzepten besteht darin, die Breite der entsprechenden Fachwissenschaft
auf einen inhaltlich-fachlichen Kern zu reduzieren, um ein exemplarisches Vorgehen zu
ermöglichen. Das Wissen wird auf der Grundlage von Basiskonzepten erarbeitet, die ein
systematisches und multiperspektivisches Denken sowie eine Beschränkung auf das
Wesentliche fördern. Sie bilden die Grundlagen eines systematischen Wissensaufbaus
unter fachlicher und gleichzeitig lebensweltlicher Perspektive und dienen der vertikalen
Vernetzung des erworbenen Wissens, und sie dienen der horizontalen Vernetzung, indem Verbindungen zu anderen Sachverhalten deutlich werden. Basiskonzepte sind so
verstanden eine Reaktion auf die Rückkehr der fachlichen Inhalte in den Unterricht und
auf die Wiederentdeckung der Bedeutung des Wissens sowie eine Antwort auf die Komplexität der Bezugswissenschaften. Basiskonzepte reduzieren die Breite der Fachwissenschaften auf einen inhaltlichen Kern und ermöglichen so ein exemplarisches Vorgehen. Die Politikdidaktik steht erst am Anfang dieser Diskussion. Die Begriffsvielfalt ist im
Vergleich zu den anderen Fachdidaktiken größer und die Einigung auf bestimmte Basiskonzepte erscheint schwieriger. Folgende Definition scheint sich jedoch als konsensfähig zu erweisen. Danach versteht man unter politischen Basiskonzepten die strukturierte
Vernetzung aufeinander bezogener Begriffe, Theorien und erklärender Modellvorstellungen, die sich aus der Systematik eines Faches zur Beschreibung elementarer Prozesse
und Phänomene historisch als relevant herausgebildet haben. Die fachdidaktische und
lerntheoretische Aufbereitung führt zu einer Auswahl und Rekonstruktion dieser Konzepte im Sinne der grundlegenden und für Lernende nachvollziehbaren Ausschnitte und
damit zum Begriff der Basiskonzepte. Basiskonzepte sind also Grundvorstellungen, die
zwischen den Phänomenen und theoretischen Modellbildungen vermitteln. Insofern sind
es Setzungen, abhängig von theoretischen Entscheidungen.
Zusammenfassend lässt sich also folgendes festhalten (vgl. Massing 2008, 184ff):
Basiskonzepte sind, obwohl der Begriff von den Fachwissenschaften kaum genutzt wird
– hier spricht man von wissenschaftlichen Ansätzen, wissenschaftlichen Theorien, Paradigmen oder auch Wissenschaftsmodellen – fachwissenschaftliche Konzepte. Da sie
zwar fachwissenschaftlich plausibel sein können, sich aber nicht stringent fachwissenschaftlich ableiten lassen, sind Basiskonzepte normativ, d. h. es sind Setzungen, die
auf theoretischen Entscheidungen beruhen. Damit Basiskonzepte nicht desintegrierend
oder fragmentierend wirken und einen Weg in die Praxis finden, bedürfen sie einer Übereinkunft der Politikdidaktiker und der politischen Bildner. Basiskonzepte scheinen nur
dann sinnvoll zu sein, wenn sie zumindest am Ende eines Diskurses von einer großen
Mehrheit der community der politischen Bildung akzeptiert und für sinnvoll gehalten werden. Basiskonzepte sind zwar per definitionem fachwissenschaftliche Konzepte, bei ihrer
Verwendung haben sie aber vor allem fachdidaktische Funktionen. Der Politikdidaktik ist
es bisher noch nicht gelungen, sich auf Basiskonzepte zu einigen. Unterschiedliche Vorschläge konkurrieren miteinander. Einige Positionen gehen davon aus, dass die Dimensionen des Politischen oder der Politikzyklus mit den dazugehörigen Kategorien auch
die Funktion von Basiskonzepten wahrnehmen können, andere Vorschläge sind als Basiskonzepte: Macht, Recht, Gemeinwohl, System, Öffentlichkeit, Knappheit, anzusehen
(Sander 2007, 100ff.). Die GPJE-Bildungsstandards sprechen von konzeptuellem Deu-
Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
tungswissen. Dahinter stehen die Basiskonzepte: Grundrechtsbindung und politische
Freiheit als Kernkonzepte demokratischer Verfassungsstaaten; Rechtsstaatlichkeit und
Gewaltenteilung; Demokratie als Volksherrschaft: repräsentative und plebiszitäre Demokratie; Parteiendemokratie; Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes; Pluralismus; Grundprinzipien der Marktwirtschaft; Internationale Verflechtungen moderner Gesellschaften
(GPJE 2004). Georg Weißeno (vgl. ders. 2006, 120ff.) macht nach Durchsicht der politikwissenschaftlichen Einführungsliteratur folgenden Vorschlag für Basiskonzepte: Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Frieden; Öffentlichkeit; Macht und Legitimation; InteressenVermittlung und politische Willensbildung; Politische System; Pluralität. Ohne noch auf
weitere Vorschläge einzugehen, lässt sich schon so erkennen, dass der Weg zur Formulierung konsensfähiger Basiskonzepte in der politischen Bildung noch weit ist. Dennoch
hat diese Diskussion eine wichtige Funktion: Sie hat in der Politikdidaktik und in der politischen Bildung die Bedeutung des Wissens wieder bewusst gemacht, das in den letzten
Jahrzehnten weitgehend vernachlässigt worden ist. Ob sich aus dieser Diskussion auch
Impulse für die außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung ergeben
können, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Es scheint mir aber durchaus sinnvoll, diese
Diskussion zur Kenntnis zu nehmen und diese Frage intensiver zu überprüfen.
III. Abschließende Hinweise
Bei der Betrachtung der aktuellen Diskurse in der politischen Bildung und in der Politikdidaktik scheinen mir für die „Konvention“ folgende Aspekte diskussionswürdig:
•
Vor dem Hintergrund der demokratietheoretischen Diskurse in der Politikdidaktik
wirkt die „Konvention“ normativ zu blass. Die Forderung nach Beteiligung, nach
Partizipation wird allein moralisch bzw. ethisch begründet. Der Bezug zu normativen Demokratiemodellen würde die Legitimation dieser Forderung auf eine
breitere, auch breiter akzeptierte Grundlage stellen. Dazu wären vor allem eine
kritische Rezeption der politikwissenschaftlichen Demokratietheorien und ihre
Verknüpfung mit der Politikdidaktik hilfreich.
•
Das Bürgerbild, das der „Konvention“ zugrunde liegt, hat eine große Nähe zum
Aktivbürger und wirkt normativ zu aufgeladen mit der Gefahr, die Realität der Demokratie zu verfehlen. Hier könnte die „Konvention“ Anschluss suchen an die
Diskussion in der Politikdidaktik, die von unterschiedlichen legitimen Bürgerrollen
in der Demokratie ausgeht und unterschiedliche Bürgerbilder konstruiert hat.
Zusammenfassend könnte dies, wie schon oben formuliert, bedeuten: Die „Konvention“
sollte von unterschiedlichen Bürgerbildern ausgehen und diese auch demokratietheoretisch fundieren sowie der Demokratie konzeptionell mehr Aufmerksamkeit schenken.
•
Im Zusammenhang mit den Lernzielen der politischen Bildung, die in der „Konvention“ offensichtlich pragmatisch gefunden und tendenziell beliebig erscheinen, sollte
überprüft werden, inwieweit Elemente der politikdidaktischen Kompetenzdiskussion
hilfreich sein könnten.
•
Für die Formulierung gesellschaftlich-politischer Ziele scheint der Bezug auf normative Demokratiemodelle und die schon geforderte Verknüpfung mit dem politikdidaktischen Demokratiediskurs weiterführend, um daraus systematisierende
und orientierende Hinweise zu gewinnen.
•
Bei den Gegenständen politischer Bildung finden folgende Entwicklungen zu wenig Berücksichtigung: Zum einen die Ursachen und die Folgen der Globalisierung für die Demokratie und die Herausforderungen für die politische Bildung,
die sich daraus ergeben. Zum anderen das theoretische und praktische Konzept
„Diversity“ und „Diversity Lernen“ als zunehmend wichtige Aufgabe der politischen Bildung.
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Peter Massing, Gesellschaftliche Relevanz der „Konvention“
•
Letztlich wirkt auch die Wissensdimension, d. h. die Frage, welches Fachwissen
notwendig ist, um die formulierten Ziele zu erreichen, in der „Konvention“ zu wenig ausgeführt. Inwieweit die aktuelle Diskussion um Basiskonzepte in der Politikdidaktik hier Anregungen bieten kann, muss zurzeit noch offenbleiben. Eine
intensive Beobachtung oder auch Beteiligung an dieser Diskussion scheint jedoch
angebracht.
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74
Stellungnahmen der Fachgruppen
Teil II: AKSB-Konvention - Relevanz für die
Bildungspraxis
Stellungnahmen zu einzelnen Aspekten der Konvention
Bei der Konzeption der Jahrestagung wurde angedacht, diese in eine Reihe von kleineren Projekten einzubinden. Damit sollte bereits während des Jahres eine Auseinandersetzung mit der Konvention gewährleistet werden. Unter anderem wurde vorgeschlagen,
einzelne Abschnitte des Textes in den Konferenzen der Fachgruppen zu diskutieren und
auf ihre Gültigkeit hin zu prüfen.
Die Konvention benennt in Abschnitt 19 „Gesellschaftliche und politische Ziele der katholisch-sozial orientierten politischen Bildung“ politische Handlungsfelder. Bereits in
früheren Abschnitten werden gesellschaftliche Entwicklungen beschrieben, die in einer
zeitgemäßen politischen Bildung katholischer Träger berücksichtigt werden müssen
(z. B. der Prozess der Individualisierung, Abschnitt 4). Es wurde daher vorgeschlagen,
die Konvention durch die drei Fachgruppen daraufhin diskutieren zu lassen, ob der in
Abschnitt 19 enthaltene Themenkatalog die aktuelle Arbeit widerspiegelt oder ob neue
Themen für die katholisch-soziale Bildung in den letzten Jahren relevant geworden sind.
Ebenso sollten die Abschnitte 18 „Lernziele der katholisch-sozial orientierten politischen
Bildung“ und 31 „Das personale Angebot in der katholisch-sozial orientierten politischen
Bildung“ diskutiert werden.
Die Fachgruppen sind dieser Aufforderung nachgekommen und haben sich in ihren ersten Sitzungen in 2008 mit Abschnitt 19 beschäftigt. In der zweiten Tagungsrunde wurden dann die Abschnitte 18 und 31 näher betrachtet. Die Ergebnisse der Diskussionen
werden im Folgenden dargestellt.
Marica Zelenika – Stellungnahme der Fachgruppe I zu Abschnitt 19
1.Stellungnahmen der Fachgruppen zu
Abschnitt 19 „Gesellschaftliche und
politische Ziele“ der AKSB-Konvention
Fachgruppe I – „Das Politische“
Die Diskussion in der Fachgruppe orientierte sich an mehreren Fragestellungen. Zum
einen wollten die Mitglieder die Aussagen der Konvention mit ihren Erfahrungen aus der
eigenen Arbeit vergleichen. Zum anderen wurde der Text daraufhin überprüft, welche
Thesen besonders aktuell und relevant sind und welche Aspekte neu diskutiert werden
müssen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Diskussion dargestellt.
Allgemeine Anmerkungen zum Abschnitt 19
Bei der Betrachtung des Konventionstextes ist der Fachgruppe die Missverständlichkeit
vieler Begriffe deutlich geworden. Einige der verwendeten Begriffe müssen aus heutiger
Sicht neu definiert, ergänzt oder ganz aus der Konvention herausgenommen werden.
Ein erweitertes Stichwortverzeichnis wäre an vielen Stellen hilfreich. Wünschenswert ist
zudem eine einheitliche Nutzung der Begriffe (z. B. Glieder der Gesellschaft, Menschen,
Bürger/innen, Konsumenten). Zudem sollte diskutiert werden, ob der Begriff „außerschulische politische Bildung“ nicht generell durch „non-formale politische Bildung“ zu ersetzen ist.
Die Fachgruppe stellte fest, dass das Politische im engeren Sinne im Abschnitt 19 allgemein zu kurz kommt. Hier muss diskutiert werden, ob die Stärkung der Zivilgesellschaft
ohne die Anregung des Engagements in politischen Parteien, in Parlamenten auf unterschiedlichen Ebenen und ganz allgemein im politischen System noch zeitgemäß ist.
Sollte nicht auch die Zuführung von Zielgruppen zu politischen Parteien, Parlamenten
bzw. ins politische System Ziel unserer Arbeit sein? Diese Aspekte müssen aus Sicht der
Fachgruppe neu diskutiert werden.
Inhaltliche Diskussion
Zum einleitenden Passus diskutierte die Fachgruppe, inwiefern der Ausdruck „Option für
die Armen“ heute noch angemessen oder möglicherweise veraltet ist. Es wurde die Frage
aufgeworfen, welche Zielgruppen durch diesen Passus definiert werden sollen bzw. welche bei der Formulierung des Abschnitts im Blick waren (benachteiligte und bildungsferne
Schichten?). Durch die Themen, die wir als politische Bildnerinnen und Bildner in unseren
Veranstaltungen aufgreifen, weisen wir auf die politischen und sozialen Missstände in unserer Gesellschaft hin. Die Fachgruppenmitglieder sprechen sich für „Multiplikator/innen
auf allen Ebenen“ als weitere Zielgruppe der politischen Bildung aus.
Diskutiert wurde ebenfalls das Spannungsfeld „Berufliche Bildung – Politische Bildung“.
Gedacht war in der Konvention ehemals nur an politische Bildung – heute arbeiten einige
Einrichtungen zum Teil überwiegend in der beruflichen Bildung. Dies ist in einer Selbstverständnisdebatte neu zu diskutieren.
Die Fachgruppe bemängelt zudem, dass die Pluralität der Mitgliedseinrichtungen im Text
nicht zum Tragen kommt.
Am ersten Absatz des Abschnitts 19 kritisiert die Fachgruppe die sehr utopischen Zielformulierungen. Es handelt sich bei diesen Formulierungen nach Ansicht der Gachgrup-
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Marica Zelenika – Stellungnahme der Fachgruppe I zu Abschnitt 19
pen-Mitglieder mehr um Ideale oder Visionen als um Ziele politischer Bildung. Gleichzeitig stellte die Fachgruppe fest, dass die „Befähigung zur Partizipation“ als Ziel im
betrachteten Absatz fehlt.
Die Formulierung „Glieder der Gesellschaft“ wird aus heutiger Sicht als nicht zeitgemäß
empfunden. Zudem wurde vorgeschlagen, die Begrifflichkeit der „Gleichstellung von
Frauen und Männern“ durch die heute gebräuchliche Formulierung „Geschlechtergerechtigkeit“ zu ersetzen. Der Aspekt „Migration“ findet hier leider keine Beachtung. Der
Text berücksichtigt daher nicht die Wirklichkeit unserer Einwanderungsgesellschaft.
Der zweite Absatz des Abschnitts spiegelt im Allgemeinen die Praxiserfahrungen der
Fachgruppenmitglieder wider. Themenbereiche wie Beteiligung, Medien und Medienkompetenz spielen in der politischen Bildung nach wie vor eine wesentliche Rolle. Neue
virtuelle Welten gewinnen in der Gesellschaft zunehmend an Bedeutung und stellen daher eine Herausforderung für unsere Praxis dar. Angemerkt wurde jedoch, dass der Begriff „Zivilgesellschaft“ in diesem Absatz fehlt.
Die Bezeichnung „Bürgerinnen und Bürger“ wird von der FG als unklar angesehen, da
nicht deutlich definiert wird, welche/r Bürger/in gemeint ist. Gerade im Hinblick auf die
Zuwanderungsgesellschaft und die Globalisierung sind an dieser Stelle eine genaue Definition des Bürgerbegriffs und eine klare Positionierung seitens der AKSB notwendig.
Hier wäre deutlicher auf Konzepte wie Aktivbürger/in, Initiativbürger/in, Weltbürger/in und
auf Mitbürger/innen ausländischer Herkunft, die die Bürgerrechte nicht besitzen, etc. einzugehen.
Der dritte Absatz des Abschnitts wird von der Fachgruppe allgemein als problematisch
angesehen. Zum einen ist die Abfolge in diesem Absatz missverständlich, zum anderen
werden die Unschärfen der Begriffe und die ungenaue Zieldefinition bemängelt.
Die Fachgruppe weist auf die Gefahr des Missbrauchs des Begriffs „Subsidiarität“ als
Rechtfertigung einer immer stärkeren Individualisierung hin. Als Problem wird angesehen, dass sich der Staat seiner Pflichten zunehmend entzieht. Hier wird von den Fachgruppen-Mitgliedern eine klare Positionierung durch die AKSB gewünscht. Zudem spricht
sich die Gruppe für eine Stärkung der Aspekte „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ und „in
der Wirtschaft: Vorrang der Person“ aus.
Kritisiert wird, dass eine Definition des Familienbegriffs fehlt. Es wird nicht deutlich, welche Familienform/en gemeint ist/sind. Es sollte an dieser Stelle neu diskutiert werden,
zu welcher Definition von Familie wir – als katholische Träger der Akademien – stehen
möchten. Zum Bereich „Familie“ sollte es aus den genannten Gründen einen Extraabschnitt geben.
Im fünften Absatz sollte nach Meinung der Fachgruppe verdeutlicht werden, dass die
Bewahrung der Schöpfung immer und unabhängig vom Trend ein aktuelles und relevantes Thema in der katholisch-sozial orientierten politischen Bildung ist. Im darauf folgenden
Abschnitt sollte deutlicher werden, dass „Mensch = Konsument“ nicht das Menschenbild
ist, welches wir mit dem christlichen Menschenbild verbinden. Im weiteren Verlauf wird
der Ausdruck „arme Länder“ kritisiert. Zudem sollte der Wandel der Gesellschaft, der
immer auch Einfluss auf die politische Bildung hat, stärker betont werden.
Für die Fachgruppe I zusammengefasst: Marica Zelenika
Ekke Seifert, Stellungnahme Fachgruppe II zu Absatz 19
Die Fachgruppe II – „Das Soziale“
Der Abschnitt 19 der Konvention der AKSB beschreibt die gesellschaftlichen und politischen Ziele katholisch-sozial orientierter Bildungsarbeit. Konkret werden hier, in Anlehnung an die Kapitel 3 und 4 des Gemeinsamen Wortes „Für eine Zukunft in Solidarität
und Gerechtigkeit“, Ziele aufgezeigt, in deren Geist die Mitgliedseinrichtungen der AKSB
politische Bildungsarbeit leisten wollen.
In der Fachgruppe wurde diskutiert, inwiefern sich die Konvention in der Praxis der Arbeit
der Mitgliedseinrichtungen bewährt hat. Es wurde aber auch deutlich benannt, wo inhaltliche Lücken im oder Probleme mit dem Text auftreten. Deshalb galt es, den Text auf seine Aktualität sowie auf seine gesellschaftliche und wissenschaftliche Anschlussfähigkeit
zu überprüfen. Das Ergebnis des Diskussionsprozesses fiel durchaus vielschichtig aus.
Generelle Anmerkungen zu Aufbau und Struktur
Zunächst einmal wurde nach den inneren und äußeren Umständen gefragt, die eine
Überprüfung der Konvention zehn Jahre nach ihrer Entstehung als notwendig erscheinen lassen. Deshalb würde es sich, nach einhelliger Auffassung der Teilnehmenden,
lohnen, eine breitere Selbstverständnisdebatte anzustoßen.
Ein Großteil der behandelten Inhalte hat auch heute noch als sinnvolle Leitidee Bestand.
Der Abschnitt 19 enthält eine Vielzahl zeitloser Forderungen, die maßgebend für die
inhaltliche Ausrichtung der politischen und katholisch-sozial orientierten Bildungsarbeit
sind.
Die Systematik der Anordnung der benannten Inhalte erschließt sich jedoch nicht auf
den ersten Blick. In der Reihenfolge und Gewichtung einzelner Inhalte könnten Verbesserungen und Aktualisierungen erfolgen. Diese müssten jedoch nach Verständigung der
zu benennenden Inhalte vorgenommen werden. Eine gute Vermittlung des Entstehungsund Diskussionsprozesses ist sinnvoll und wünschenswert, um inhaltliche Kontexte und
Leitideen besser nachzuvollziehen. Gegebenenfalls kann es jedoch auch sinnvoll sein,
zu einem neuen Aufbau und einer veränderten inhaltlichen Struktur zu gelangen.
Neben normativen Aspekten der gemeinsamen Arbeit in der AKSB wäre es nach Meinung einiger Mitglieder wünschenswert, sich auf eine Situationsbeschreibung bestehender gesellschaftlicher und sozialer Verhältnisse zu verständigen. Eine abschließende
Bearbeitung des Textes durch eine/n Fachmann/frau (Journalist/-in, Germanist/-in o.ä.)
wird von der Gruppe nachhaltig unterstützt und begrüßt.
Inhaltliche Anmerkungen
Ausgangspunkt
Die Formulierung der Leitideen und Ansätze ist nach Auffassung der Teilnehmenden
weitgehend zeitlos gehalten. Deshalb gehe es bei einer möglichen Neuformulierung
nicht um die Verwerfung weiter Textteile, sondern hauptsächlich um die weitere Ergänzung der Inhalte und eventuell eine neue Gewichtung.
Gemeinwohl und soziale Gerechtigkeit
Anspruch der politischen Bildung der Mitgliedseinrichtungen ist es nach wie vor, mit dem
Bildungsangebot einen Beitrag zur „Fortentwicklung staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnungen auf der Basis der christlichen Sozialethik und insbesondere
der Option für die Armen zu leisten“ (vgl. Art. 19 der Konvention). Unterstrichen werden
durch die Fachgruppe II die Prinzipien der Förderung des Gemeinwohls und der sozialen
Gerechtigkeit. Als Maßnahmen hierzu benennt die Konvention bisher den Abbau bestehender Diskriminierungen, Chancengleichheit bei unterschiedlichen Ausgangsvoraus-
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Ekke Seifert – Stellungnahme Fachgruppe II zu Absatz 19
setzungen, Gleichstellung von Männern und Frauen sowie eine gerechte Verteilung von
materiellen und immateriellen Gütern. Bei der Auflistung dieser Punkte wäre eine Präzisierung der Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit wünschenswert, da nur so objektiv
vermittelbare Wertvorstellungen glaubhaft zum Ausdruck gebracht werden können.
Medienkompetenz
Zur Stärkung der freiheitlichen Demokratie wird als Unterpunkt die Bedeutung der Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürger unterstrichen, ohne jedoch präzisiert zu
werden. Nach Meinung der Fachgruppe II wäre hier eine weitere Ausformulierung wünschenswert. Der kompetente Umgang mit modernen Medien, der Medienkonsum und
der Einfluss neuer Medienformate und -strukturen auf Politik und Gesellschaft hat in
den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Dies müsse auch einen verstärkten Ausdruck in der Konvention erfahren. Im Bereich Politik, Medien und Gesellschaft
müssen weitere Anstrengungen unternommen werden, um die Anschlussfähigkeit an
wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten nicht zu verlieren.
Zivilgesellschaft
In mehreren Absätzen (1-4) werden zivilgesellschaftliche Strukturen beschrieben und
deren Stärkung als Aufgabe katholisch-sozial orientierter Bildung genannt, ohne den
Begriff der Zivilgesellschaft explizit zu verwenden. Auch hier sei eine Anpassung an sozialwissenschaftliche und sozialethische Debatten und Fragestellungen notwendig, da
ein enormer Erkenntnisfortschritt in den letzten zehn Jahren zu konstatieren sei. Ferner
sei zu überlegen, diesen Punkt an zentraler Stelle am Anfang zu platzieren. Der Punkt
Förderung einer neuen Sozialkultur (Absatz 4) kann dabei stärker mit Themenbereichen
wie Zivilgesellschaft und Stärkung der freiheitlichen Demokratie verknüpft werden, um
bewusst auch inhaltliche Bezüge herzustellen.
Solidarität und Subsidiarität
Der Absatz über die Verwirklichung von Solidarität und Subsidiarität sollte neu gefasst
werden. Insbesondere die Anordnung der Inhalte wirkt nach Auffassung einiger Teilnehmer willkürlich. Ferner sollte dieser Punkt insgesamt stärker mit dem christlichen
Menschenbild verknüpft werden. Auch eine Trennung der Bereiche von Solidarität und
weltweiter Solidarität sollte überprüft und dann ggf. zusammengefasst werden. Eine Erweiterung der Solidaritätsdiskussion hat im Bereich der Elitenforschung stattgefunden.
Hier sollte überprüft werden, inwiefern diesen Entwicklungen und auch der Diskussion
um Elitenverantwortung Rechnung getragen werden kann oder sollte.
Interreligiöser Dialog
Ein wesentlicher Mangel wird im Bereich des interreligiösen Dialogs empfunden. Hierzu
taucht in Abschnitt 19 der Konvention keine Anmerkung auf. Das Anliegen der interreligiösen Verständigung sollte nach Auffassung der Fachgruppe II jedoch dringend im
Leitbild festgehalten werden. Die Bereiche religiöse Bildung, Dialogkompetenz, interreligiöse und interkulturelle Kompetenz, Integration und der Bereich Politik und Religion
sollten Ausdruck in der Konvention finden. In ihnen kommen wesentliche Ansprüche
der Mitgliedseinrichtungen, aber auch eine wichtige Erwartungshaltung der Öffentlichkeit
zum Ausdruck, denen die AKSB nicht nur begegnen sollte, sondern dies auch schon seit
Jahren praktiziert. Gerade vor dem Hintergrund religiös orientierter und wertbasierter
Bildungsarbeit kommt den Mitgliedseinrichtungen der AKSB nicht nur eine besondere
Verpflichtung in diesem Bereich zu, sondern auch eine spezifische Kompetenz, die unbedingt im Leitbild erwähnt werden sollte. Denn die Mitgliedseinrichtungen sind in zahlreiche Dialogkontexte bei eigenem Standpunkt eingebunden. Auf den Bedeutungswandel
Ekke Seifert – Stellungnahme Fachgruppe II zu Absatz 19
und auf die zahlreichen religiösen, politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen
Diskursen muss an dieser Stelle Bezug genommen werden.
Nachhaltige und zukunftsfähige Entwicklungen
Die Formulierungen im Bereich der nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklungen
könnten dem ökologischen Bildungsanspruch und der veränderten Ökologiedebatte in
Politik und Öffentlichkeit angepasst werden. Der Klimawandel und die Entwicklungen im
Sektor Energie- und Umweltpolitik werden die Politik dauerhaft beschäftigen. Die damit
verbundenen Herausforderungen und Ziele werden auch in sozialethischen Diskursen
aufgegriffen und thematisiert. Dementsprechend besteht auch hier eine Anschlussmöglichkeit der AKSB, die in der Konvention zum Ausdruck gebracht werden sollte.
Schlussfolgerungen der Fachgruppe
Insgesamt muss nach Ansicht der Fachgruppe II bei einer Neuformulierung der Konvention darauf geachtet werden, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht eklatant auseinanderdriften. Die Konvention sollte die Ziele der Arbeit, das Wertfundament und das
Selbstverständnis der AKSB zum Ausdruck bringen, nicht jedoch einzelne Inhalte und
Begründungszusammenhänge formulieren.
Für die Fachgruppe II lässt sich somit insgesamt festhalten:
Der Abschnitt 19 sollte neu strukturiert und präzisiert werden. Es gilt die Reihenfolge und
den Stellenwert der formulierten Inhalte zu überprüfen und ggf. anzupassen. Inhaltlich
sollten Ergänzungen in den Bereichen Zivilgesellschaft, Klimawandel, Medienkompetenz
sowie interreligiöser und interkultureller Dialog im Rahmen von sprachlichen und inhaltlichen Neuformulierungen vorgenommen werden. Wichtig ist es, mit einer möglichen
Neufassung der Konvention auf der Basis der christlichen Sozialethik wissenschaftlich
und gesellschaftlich anschlussfähig zu bleiben und eigene Standpunkte im öffentlichen
Diskurs sichtbar zu machen.
Für die Fachgruppe II zusammengefasst: Ekke Seifert
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Bernhard Eder – Stellungnahme der Fachgruppe II zu Abschnitt 19
Fachgruppe III – „Das Gesellschaftliche“
Die Diskussion der Konvention ist ein Bestandteil des aktuellen Selbstvergewisserungsprozesses der AKSB, bei dem es darum geht, die Geltung und Aktualität dieses Grundlagendokumentes zu sichern. Die Diskussion des Abschnitts 19 ergab in der Fachgruppe III
ein zweifaches Echo:
1. Die in der Fachgruppe III vertretenen Mitgliedseinrichtungen finden sich grundsätzlich
in diesem Text wieder. All die nun folgenden Kritikpunkte müssen auf dem Hintergrund
gelesen werden, dass das vorliegende Grundlagendokument nach wie vor konsensfähig
ist. In ihm finden sich gemeinsame Grundüberzeugungen von Bildungsinstitutionen mit
zum Teil sehr unterschiedlichen Arbeitsfeldern wieder. Auch zehn Jahre nach dessen
Beschlussfassung informiert die Konvention authentisch darüber, was die AKSB und ihre
Mitgliedseinrichtungen unter katholisch-sozial orientierter politischer Bildung verstehen.
Bei all den kritischen Anmerkungen darf der fundamentale Wert dieses Textes nicht gering geschätzt oder gar negiert werden.
2. Um die Aktualität zu gewährleisten bedarf der vorliegende Text der Konvention einiger
substantieller Ergänzungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Konvention ein komprimierter Kompromisstext ist. Diey bringt logischerweise mit sich, dass manche Themen
eben nur kursorisch angesprochen werden. In der Diskussion der FG III wurden Desiderata für die stärkere Berücksichtigung folgender Themen geäußert:
Der europäische Einigungsprozess
Der Aspekt der Integration der Europäischen Union ist in einem gemeinsamen Absatz
mit der zunehmenden Globalisierung gefasst. Auch wenn mehrere sachliche Bezüge
zwischen diesen beiden Trends vorhanden sind, hat der europäische Einigungsprozess
doch ein derartiges Eigengewicht, dass es lohnt, diesen Aspekt in einem eigenen Absatz
zu bearbeiten. Denn durch die verschiedenen Verträge ist in Europa ein transnationales
Gebilde sui generis (mehr als ein Staatenbund aber weniger als ein Bundesstaat) mit
zahlreichen Verflechtungen und Kompetenzübertragungen auf die Ebene der Europäischen Union entstanden.
Die Integration von Migranten/Migrantinnen und damit einher gehend
Aspekte der Interkulturalität und des interreligiösen Dialogs
Die Integration der Zuwanderer/innen in Deutschland ist einer der zentralen politischen
Zukunftsaufgaben. Sehr viele von ihnen haben längst ihren Platz in der deutschen Gesellschaft gefunden. Gleichwohl gibt es unübersehbare Integrationsprobleme: Teile der
zugewanderten Menschen sprechen unzureichend Deutsch, schneiden in Bildung und
Ausbildung schwächer ab und sind häufiger arbeitslos. Es gehört zum Alltag demokratischer, pluraler Gesellschaften, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen zusammen leben. Dieses Miteinander gedeihlich für alle Beteiligten zu gestalten ist
nicht voraussetzungslos. Es setzt Ehrlichkeit und Offenheit auf beiden Seiten sowie eine
gemeinsam anerkannte Wertebasis voraus. Die Debatten um die Einbürgerungsprüfungen und über Ziele und Wege nachhaltiger Integrationsrichtlinien zeigen, wie heftig umstritten dieses Thema ist.
Die demographische Entwicklung und das Verhältnis der Generationen
Eine abnehmende Geburtenrate und eine steigernde Lebenserwartung tragen wesentlich
zu einem demographischen Wandel bei. Der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung wie auch in Relation zu den jüngeren Generationen nimmt erheblich zu. Dazu
Bernhard Eder – Stellungnahme der Fachgruppe II zu Abschnitt 19
nur ein Beispiel: in zwanzig bis dreißig Jahren werden mehr Menschen zwischen 60 und
80 Jahre alt sein als zwischen 20 und 40. Dieser Trend hat erhebliche Konsequenzen für
das Zusammenleben in Deutschland – gerade auch für die intergenerativen Beziehungen. Die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen dieses Phänomens sickern erst langsam in das öffentliche Bewusstsein ein. Bedenklich stimmt die Katastrophenrhetorik, die
die mediale Darstellung des demographischen Wandels begleitet.
Die ökologischen Herausforderungen
Der Aspekt der Ökologie ist im vorliegenden Text mit ökonomischen Überlegungen verwoben. Dies ist nicht zu beanstanden, denn die Zusammenhänge von Wirtschaft und
Umwelt sind offensichtlich. Bedenklich stimmt allerdings folgende Beobachtung: Die natürliche Umwelt wird im Basistext ausschließlich im Hinblick einer optimalen Nutzung für
die gegenwärtigen und kommenden Generationen verstanden. Eine humane Ökologiepolitik wäre demnach ein generationenübergreifendes, langfristig angelegtes Ressourcennutzungsprogramm. Die Beachtung des Eigenwerts von Flora und Fauna jenseits der
Verzweckung für menschliche Bedürfnisse fehlt.
Die Menschenwürde
Der Aspekt der Menschenwürde sollte noch stärker betont werden. Er hat unter anderem
eine hohe Relevanz bei solchen existentiellen Fragen wie die nach dem Umgang mit
Leid und Sterben.
Weitere Themen: Familie / bürgerschaftliches Engagement
Den Bereichen Familie sowie Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement sollte
mehr Raum gewidmet werden und dabei der aktuelle Sachstand der wissenschaftlichen
und politischen Debatten berücksichtigt werden.
Impulse für die Weiterarbeit
Diese kritischen Anmerkungen sind nicht als Mängelrüge oder als Defizitanzeige zu verstehen, sondern als Hinweise, wie die Konvention zu ergänzen wäre, um aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen und Entwicklungen gerecht zu werden.
Auffällig ist nämlich, dass sich die kritischen Anmerkungen vor allem auf den Abschnitt
„gesellschaftliche und politische Ziele der katholisch-sozial orientierten politischen Bildung“ der Konvention beziehen. Zu den Aufgaben der politischen Bildung katholischsozialer Provenienz samt der fachlichen Eingrenzung sowie zu den Lernzielen gab es
kaum kritische Anmerkungen.
Für die Fachgruppe III zusammengefasst: Bernhard Eder
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Marica Zelenika – Stellungnahme der Fachgruppe I zu den Abschnitten 18 und 31
2. Stellungnahmen der Fachgruppen
zu den Abschnitten 18 „Lernziele“
und 31 „Das personale Angebot“
der AKSB-Konvention
Fachgruppe I – „Das Politische“
Die Fachgruppenmitglieder diskutierten neben den Inhalten der Abschnitte 18 (Lernziele)
und 31 (personales Angebot) auch die Zielgruppen unserer Bildungsarbeit. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Auseinandersetzung zusammengefasst:
Abschnitt 18: „Lernziele der katholisch-sozial orientierten
politischen Bildung“
Generell sind die Fachgruppenmitglieder mit den in der Konvention formulierten Zielen
der katholisch-sozial orientierten politischen Bildung einverstanden. Allerdings sind einige Dinge aufgefallen, die stärker diskutiert wurden und nach Ansicht der Fachgruppe I
als kritisch zu betrachten sind. Diese werden nun im Folgenden vorgestellt.
Die Ziele sind an einigen Stellen sehr utopisch formuliert. Es stellt sich die Frage, ob z. B.
Ziele wie „Fähigkeiten entwickeln und einüben, Handlungskompetenzen erwerben und
Handlungsfelder entdecken, die zur wirkungsvollen Teilnahme an gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und politischen Gestaltungsprozessen und zur Fortentwicklung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, der europäischen Einigung und der Ausgestaltung der internationalen Beziehungen notwendig sind“ durch die politische Bildung erreicht werden können. Gerade im Hinblick auf die genannte europäischen Einigung und
Ausgestaltung der internationalen Beziehungen erscheint die Zielformulierung utopisch.
Insgesamt ist der Abschnitt sehr lang und besteht aus unzähligen Wiederholungen. Eine
Straffung des Textes wäre vorteilhaft und würde wahrscheinlich auch zur besseren Verständlichkeit beitragen. Die Formulierungen sind außerdem sehr allgemein. Der Bezug
zu gesellschaftlichen Realitäten wie Globalisierung, Demokratie und sozialen Fragen
fehlt leider. Auch die kritische Perspektive im Sinne von kritischem Umgang mit Wissen,
Urteilsfähigkeit und Meinungsbildung wird in diesem Abschnitt nicht benannt. Die Besonderheiten der katholisch-sozial orientierten politischen Bildung in Abgrenzung zu anderen Anbietern der politischen Bildung kommen an dieser Stelle des Textes nicht zum
Tragen. Eine Profilschärfung wäre aus Sicht der Fachgruppe wünschenswert.
Abschnitt 31: „Das personale Angebot in der katholischen-sozial
orientierten politischen Bildung“
Mit den wesentlichen Inhalten des Abschnitts 31 erklärten sich die Fachgruppenmitglieder generell einverstanden. Zu ergänzen wäre, dass sich bei den politischen Bildnern/
-innen um Vorbilder und interessante Erwachsene aus Perspektive der Jugendlichen
handelt. Interessant erscheint die Frage, wie politisch eigentlich politische Bildner/innen
sein sollten? Sind die Zugehörigkeit zu einer Partei und das politische Engagement im
engeren Sinne wünschenswert? Diese Fragen sind sicherlich zu diskutieren und wurden
in der Fachgruppe intern bereits angesprochen. Angesichts der Realität, dass es sich bei
unserer Gesellschaft um eine Einwanderungsgesellschaft handelt, benötigt die politische
Marica Zelenika – Stellungnahme der Fachgruppe I zu den Abschnitten 18 und 31
Bildung aus Sicht der Fachgruppe I mehr Mitarbeiter/-innen mit Migrationshintergrund.
Zielgruppen der AKSB-Einrichtungen
Bestehende Zielgruppen:
•
SVler/-innen
•
Multiplikatoren/-innen der SV (Pat/innen)
•
Schüler/-innen der Sekundarstufe I und II
•
Ganztagsschüler/-innen
•
Schülerzeitungsredakteure/-innen
•
Absolventen/-innen des internationalen FSJ
•
Auszubildende
•
Studierende
•
Eltern
•
Frauen und Männer
•
junge Senioren/-innen
•
Bürger/-innen aus den neuen Bundesländern
•
Bundeswehrsoldaten/-innen
•
Polizisten/-innen
•
Migranten/-innen
•
Multiplikatoren/-innen politischer Bildung
•
Ehrenamtliche
•
Kollegen/-innen aus dem Ausland (internationaler Fachkräfteaustausch)
•
Erzieher/-innen, Lehrer/-innen, Sozialpädagogen/-innen, Sozialwissenschaftler/
-innen
Zielgruppen, die verstärkt in den Blick genommen werden sollten:
•
Verbindungslehrer/-innen
•
Ganztagsschüler/-innen
•
Eltern
•
Gruppen aus Ostdeutschland (deutsch-deutsche Begegnungen)
Allgemeine Anmerkungen
Bei der Konvention handelt es sich um einen historischen Text, der sehr lang und ausführlich ist. Natürlich sind manche Inhalte nicht mehr aktuell, trotzdem ist der historische
Wert des Textes nicht zu verkennen. Die Fachgruppe regt aber an, einen prägnanten
und aktuellen Text zusätzlich zu gestalten: einen Text, der den Kooperationspartnern,
den Zielgruppen und anderen Menschen mitgegeben werden kann, eine viel kürzere
Version, die prägnant auf ein paar Seiten deutlich macht, was die Arbeitsgemeinschaft
katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland ausmacht. Die
Konvention ist für so einen Zweck nicht geeignet.
Für die Fachgruppe I zusammengefasst: Marica Zelenika
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Ekke Seifert – Stellungnahme der Fachgruppe II zu den Abschnitten 18 und 31
Die Fachgruppe II – „Das Soziale“
Die Arbeit der Mitglieder abbilden
Im Rahmen des gesamten Konventionstextes fand die bisherige Fassung des Artikels 18
weitgehende Zustimmung. Viele Punkte sind nach wie vor aktuell und bedürfen keiner
grundsätzlichen Korrektur. Des Weiteren sind viele Begrifflichkeiten mit anderen Absätzen und inhaltlichen Fragestellungen der Konvention verknüpft und werden an anderer
Stelle der Konvention aufgegriffen und eingehend erörtert.
Ein fester Bestandteil der Arbeit zahlreicher AKSB Mitgliedseinrichtung ist es, umfassende Kenntnisse sozialethischer Konzepte zu vermitteln. Ferner verfolgen viele Weiterbildungs- und Lernangebote das Ziel, für soziale Ungleichheiten zu sensibilisieren und
Möglichkeiten des Engagements für Benachteiligte aufzuzeigen. Diese Dimension der
konkreten Bildungsarbeit sollte auch in der Konvention hinreichend zum Ausdruck kommen.
Eine sinnvolle Ergänzung des Artikels 18 der Konvention wäre es, auch den Erwerb
interkultureller und interreligiöser Kompetenzen als Lernziele politischer Bildungsarbeit
zu benennen. An dieser Stelle würde die Konvention der tatsächlichen Praxis in den
Mitgliedseinrichtungen folgen. Denn hier werden die Befähigung und Einübung interkultureller Kompetenzen schon lange praktiziert. Eine Anpassung kann dementsprechend
als sinnvoll erachtet werden.
Der Terminus „Fortentwicklung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats“ sollte aus
Sicht der Fachgruppe II um den Terminus „Sozialstaat“ ergänzt werden.
Generell lohnt es sich für die weitere Entwicklung der internen Lernzieldebatte die Entwicklung der Lernzielformulierungen der Zentralen für Politische Bildung zu beobachten
und zu begleiten. Hier scheinen sich größere Veränderungen in den Verständnissen,
Dimensionen und Begrifflichkeiten der Politischen Bildung insgesamt abzuzeichnen.
Das personale Angebot
Bei der Diskussion um das personale Angebot (Artikel 31) und die Zielgruppen wurde
festgestellt, dass die Konvention keiner umfassenden Neuformulierung bedarf. Vielmehr
gelte es hier, die Formulierungen weitgehend beizubehalten und weiterhin in der Öffentlichkeit und der Praxis der Mitgliedseinrichtungen zu vertreten. Im Hinblick auf die
Lernziele und die bisher bestehenden und künftig zu erschließenden Zielgruppen sollte
die Diskussion des personalen Angebotes spezifiziert werden. Es gilt, über die einzelnen Mitgliedseinrichtungen hinaus, immer wieder neu zu definieren, wie ein sinnvoller
und effektiver Personaleinsatz im Rahmen der Bildungsarbeit gestaltet werden kann.
Die Vereinbarkeit von individueller Biographie des Personals und der Lebenswelt der
Teilnehmenden und die interne Verständigung darüber, welches Personal unter welchen
Bedingungen ausgewählt wird, muss ständig neu ausgelotet werden. In der Fachgruppe
II wird eine weitere Verständigung über den Zusammenhang von Milieudiskussion und
Lernkultur angestrebt. Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Milieus mit einer
explizit katholisch sozial orientierten Bildungsarbeit noch erreicht werden können und
de facto auch erreicht werden. Die weitere Ausdifferenzierung der Zielgruppen hängt
darüber hinaus jedoch nicht nur vom personalen Angebot der Mitgliedseinrichtungen ab.
Das personale Angebot ist hierbei nur ein Faktor. Generelle Lösungen oder Vorgehensweisen hängen dabei auch stark von den unterschiedlichen Einrichtungen, regionalen
und inhaltlichen Kontexten ab und können nicht über die Verbandsstruktur vorgegeben
oder gelöst werden. Generell ist die Fachgruppe II jedoch der Auffassung, dass der Faktor „personales Angebot“ zur Profilierung verstärkt betont werden sollte.
Für die Fachgruppe II zusammengefasst: Ekke Seifert
Bernhard Eder – Stellungnahme der Fachgruppe IiI zu den Abschnitten 18 und 31
Fachgruppe III – „Das Gesellschaftliche“
Auch die folgenden Anmerkungen zu den Abschnitten 18 und 31 der Konvention sind als Ergänzungen zur Weiterarbeit und Weiterentwicklung des vorliegenden Textes zu verstehen. Es gab
kein Plädoyer, bestehende Textpassagen zu ersetzen.
Die Aussagen werden im Folgenden dargestellt nach allgemeinen Voten, die nicht unmittelbar die beiden oben erwähnten Abschnitte betreffen, sowie nach Kommentaren zu diesen Textbestandteilen:
1. Allgemeine Aussagen
Gewünscht werden Klarstellungen zur Abgrenzung bzw. zur Verbindung von politischer Bildung
mit politischen Aktionen. Von den Kursteilnehmenden, vor allem von solchen im jugendlichen Alter
würde gern gesehen, dass die Lernerfahrungen direkt in Aktivitäten münden. Auf diese Weise wäre
ein Praxistransfer Bestandteil des Lernprozesses. Andererseits werden die Schwierigkeiten der
unmittelbaren Verlinkung von Bildung mit politischer Aktion durchaus gesehen (Überwältigungsverbot nach dem Beutelsbacher Konsens, förderungsrechtliche Hindernisse).
Auch bedürfe die Frage, ob propädeutische Themen – wie Kommunikation, Mediation, Konfliktmanagement – Bestandteile der politischen Bildung sind oder nicht, klärender Aussagen.
Die Frage nach einem Mindestalter als Voraussetzung für die Teilnahme an Veranstaltungen wurde diskutiert. Die Fachgruppe III plädiert bei der Altersbegrenzung grundsätzlich für eine Offenheit
„nach unten“. Gemeint ist, dass auch Kinder für die politische Bildung empfänglich sein können.
Ihnen sollte daher nicht verwehrt sein, an entsprechenden Kursen teilzunehmen. Dies sollte auch
förderungsrechtlich berücksichtigt werden.
2. Anmerkungen zu Abschnitt 18, Lernziele der katholisch-sozial
orientierten politischen Bildung
Die vorgegebene Liste an Lernzielen ist grundsätzlich konsensfähig, Es bestehen folgende Desiderata an Ergänzungen:
Die Mechanismen des Machterhalts sollen reflektiert und dadurch den Teilnehmenden durchschaubar gemacht werden, um sie so gefeiter gegen manipulative Tendenzen zu machen.
Gefragt wurde ferner, ob nicht der biblisch-christlichen Heilsbotschaft mit ihren messianischen Verheißungen, die etwa in bildhaften Aussagen vom „neuen Himmel und einer neuen Erde“ formuliert
werden, eine Radikalität inhärent ist, die die in der Konvention formulierten Lernziele als Ausdruck einer gesellschaftspolitisch affirmativen „bürgerlichen Religion“ erscheinen lassen. Hier wäre der Hebel
für einen Selbstvergewisserungsprozess, durch den die Relevanz dieser messianischen Dimension
für die katholisch-soziale politische Bildung geklärt werden soll. In diesem diskursiven Prozess könnte auch die Gefahr minimiert werden, dass die messianische Radikalität in eine fundamentalistische
Rigorosität mündet.
Allerorts wird von den Muslimen erwartet, dass sie ihre „zivilen“ und demokratietauglichen Ideale
aufzeigen und sich intern in einen entsprechenden Bildungsprozess begeben. Nun scheint heute
das Verhältnis von Christen und Demokraten oft gelöst. Ein Blick in die Vergangenheit, aber auch
in die „evangelikaleren“ und „orthodoxeren“ Kreise zeigt aber, dass dem Christlichen durchaus auch
hinsichtlich der politischen Haltungen antidemokratische und kulturskeptische Punkte inhärent sind.
Diese Indizien sind Anlass genug, der Öffentlichkeit, den politisch Verantwortlichen und den öffentlichen Sponsoren zu zeigen, dass:
1. die AKSB sich selbstreflexiv gewiss ist, dass die Religion selbst nicht nur Lösung, sondern auch Teil eines Problems für die liberale Ordnung ist,
2. die AKSB bereit und geneigt ist, hier historisch und sozialwissenschaftliche Aufklärungsarbeit zu leisten,
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Bernhard Eder – Stellungnahme der Fachgruppe III zu den Abschnitten 18 und 31
3. die AKSB neben dieser wissenschaftlichen Dimension auch aufmerksam ist für die
„pädagogischen“ und „bildnerischen“ Aufgaben und Verantwortung, die uns dabei auferlegt sind,
4. eine solche Arbeit in privilegierter Weise von denen übernommen werden kann, die
selbst Gläubige sind, im Glauben stehen und die „radikalen“ Potentiale des Christlichen in der eigenen Biographie kennengelernt haben und sich somit in tugendethischer Hinsicht selbst an diesen Zumutungen der Religion abarbeiten müssen:
Wenn sich diese christlichen politischen Bildner/innen dem Themenfeld widmen, dürfen
auch ihre Stakeholder im politischen Kontext berechtigt hoffen, dass etwas Fruchtbares
für das Gemeinwesen herauskommt.
Ergänzend zu den inhaltlichen Lernzielen soll auch das Erlernen von Methoden als Lernziel aufgenommen werden.
3. Anmerkungen zu Abschnitt 31 „Das personale Angebot
in der katholisch-sozial orientierten politischen Bildung“
Der Aspekt des personalen Angebots ist immer noch aktuell und wichtig. Er äußert sich in einer Anerkennungskultur, wonach mit den Teilnehmenden in einer wertschätzenden, achtenden Haltung
umgegangen wird. Dazu gehört, als Kursleitung authentisch zu sein und für die Seminargruppe
auch nach den Bildungseinheiten ansprechbar zu sein. Aus diesem Kommunikationsangebot ergeben sich vielfältige Gesprächskonstellationen mit Beratungsdienstleistungen, denn die Teamer/
-innen werden zu unterschiedlichsten Fragen und Problemen angesprochen. Dieser Einsatz ist
nicht voraussetzungsfrei: Er bedingt Zeitaufwand, spezifische kommunikative Kompetenzen der
Kursleitung und die Möglichkeit für diese Personen, unterstützende und Halt gebende Kommunikationskonstellationen zu haben, etwa durch eine Supervision. Ein solches Unterstützungssystem ist
notwendig, um die Handlungsfähigkeit in Situationen, in denen Seminarleiterinnen und Seminarleiter mit psychosozialen Schwierigkeiten ihrer Teilnehmenden konfrontiert werden, zu erhalten.
Das personale Angebot bedingt das Prinzip der Freiwilligkeit der Teilnahme an Kursen der außerschulischen Bildung.
Diskutiert wurde die Frage, ob eine explizit christliche Orientierung für alle im operativen Geschäft
tätigen pädagogischen Mitarbeiter/innen katholisch-sozialer Einrichtungen vorausgesetzt werden
kann. Für hauptamtlich Tätige wird dies bejaht, bei Honorarkräften erscheint dies nicht unbedingt
erwartbar. Für diese soll als Mindestanforderung gelten, dass sie die grundlegenden Werte der
Christlichen Gesellschaftsethik vertreten, auch wenn sie diese selbst für sich nicht aus einer christlichen Orientierung heraus begründen.
Der Terminus des/der „Bildner/in“ erscheint angesichts des aktuellen wissenschaftlichen Diskussionsstands veraltet, denn er suggeriert einen Gestaltungszugriff der Kursleitenden auf die Teilnehmenden, der ihnen nicht zukommt. Sie sind vielmehr „Hebammen von Bildungsprozessen“ oder
Gestalter von Lernarrangements und sollen den Teilnehmenden helfen, Handlungsfähigkeit zu
entwickeln. Auch ist der Lernprozess mit dem Seminarabschluss nicht zu Ende. Manche Kompetenzen entwickeln sich mit dem Transfer der Lerninhalte in die Lebenspraxis.
Für die Fachgruppe III zusammengefasst: Bernhard Eder
Programm der AKSB-Jahrestagung in Schwerte
AKSB-Jahrestagung 2008: „Am Puls der Zeit“
Katholisch sozial orientierte politische Bildung zwischen wissenscharftlichem
Diskurs und gesellschaftlicher Relevanz – Akademie Schwerte vom 24. bis 25. November
Montag, 24. November 2008
15.00 Uhr
Begrüßung, Dr. Alois Becker, AKSB-Vorsitzender
Einführung in die Tagung, Detlef Herberts, Kommende Dortmund, Leiter der Erwachsenenbildung der AKSB-Fachgruppe II „Das Soziale“
15.15 bis
16.00 Uhr
Wertgrundlagen politischer Bildung im 21. Jahrhundert
Prof. Dr. Udo Vorholt, Technische Universität Dortmund
Moderation: Dr. Alois Becker
16.30 Uhr
Katholisch-sozial orientierte politische Bildung im Blick der
Sozialethik - Kurzreferate
„Personalität“, Dr. Alexander Filipović, Uni Bamberg
20.00 bis
21.30 Uhr
anschl. Diskussion, Moderation: Pater Tobias Karcher SJ,
Stellvertretender AKSB-Vorsitzender „Gemeinwohl/Solidarität“, Dr. Hermann-Josef Große Kracht,
ICS Münster
„Subsidiarität“, Prof. Dr. Günter Wilhelms, Theologische Fakultät
Paderborn
10 Jahre AKSB-Konvention - Spiegelbilder und Reflexionen
AKSB im Gespräch mit ehemaligen Verantwortlichen der AKSB-Grund-
satzpapiere, Moderation: Lothar Harles, AKSB-Geschäftsführer
Dienstag, 25. November 2008
09.00 Uhr
Politische Bildung aus katholisch-sozialem Impuls - Kurzreferate
„Christliche Gesellschaftslehre und politische Bildung“,
Prof. Dr. Joachim Wiemeyer, Ruhr-Universität Bochum
anschl. Diskussion, Moderation: Bernward Bickmann, AKSB-Vorstandsmitglied
11.00 bis
12.30 Uhr
„Katholisch-sozial orientierte politische Bildung zwischen
Selbstanspruch und gesellschaftlichen Erfordernissen“ Beiträge aus den Fachgruppen, präsentiert in drei Workshops
14.30 bis
15.15 Uhr
„Katholisch-sozial orientierte politische Bildung aus Sicht der Politikdidaktik“ – Rückmeldung eines Beobachters aus der Politikdidaktik,
Prof. Dr. Ingo Juchler, PH Weingarten
Moderation: Sabine Wißdorf, AKSB-Vorstandsmitglied
15.45 Uhr
Die Zukunft katholisch-sozial orientierter politischer Bildung
Auswertung der Zukunftsreflexionen
Moderation: Lothar Harles, AKSB-Geschäftsführer
17.00 Uhr
Ende der Jahrestagung
„Die gesellschaftliche Relevanz der AKSB-Konvention“,
Prof. Dr. Peter Massing, FU Berlin,
(Stand: 03. November 2008)
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Hrsg.: Verein zur Förderung katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Geschäftsstelle: Heilsbachstraße 6 · 53123 Bonn · Tel. 0228 - 2 89 29-30 · Fax 0228 - 2 89 29-57
[email protected] · www.aksb.de · Verantwortlich: Lothar Harles · Redaktion: Markus Schuck
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