Biochemische Reaktionskinetik

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KAPITEL 2
Biochemische Reaktionskinetik
In jedem lebenden Organismus finden ständig biochemische Reaktionen statt. Dabei involviert sind häufig spezielle Proteine (Eiweißverbidnungen), sogenannte Enzyme. Enzyme
sind hochmolekulare Eiweißverbindungen, die chemische Vorgänge als Biokatalysatoren
beschleunigen oder erst ermöglichen. Den Gesamtprozess bezeichnet man als Stoffwechsel
– das Einwirken von Enzymen zur Umwandlung von Stoffen in lebenden Organismus.
Ein klassisches Beispiel ist der Abbau von Glucose zum Zwischenprodukt Brenztraubensäure (Glykolyse), der 10 verschiedene Enzyme benötigt.
1. Die Michaelis–Menten Kinetik
Leonor Michaelis und Maud Leonora Menten haben im Jahr 1913 ein mathematisches
Modell formuliert, das bis heute die Grundlage zur Beschreibung von Enzymreaktionen
ist. Betrachtet werden vier verschiedene Substanzen: ein Enzym E, ein Substrat1 S, ein
Komplex (oder Zwischenprodukt) C sowie ein (End–)Produkt P . Diese vier Substanzen
unterliegen folgender schematischer Darstellung einer Enzymreaktion:
(2.1)
k1
k
2
C −→
P +E
S + E C,
k−1
Die Konstanten k1 , k−1 und k2 sind Parameter, die mit den Reaktionsraten verknüpft
sind. In (2.1) bedeutet der Doppelpfeil , dass die Reaktion in beiden Richtungen ablaufen kann und entsprechend der Einzelpfeil −→, dass die Reaktion nur in einer Richtung
abläuft. Die Darstellung (2.1) stellt dar, dass ein Molekül aus S mit einem Molekül aus
E zu einem Komplex (Molekül) C kombiniert, das gegebenenfalls ein Molekül aus P und
ein Molekül aus E produziert.
Zur Herleitung eines biochemischen Modells verwenden Michaelis und Menten das sogenannte Massenwirkungsgesetz (Law of Mass Action),
Die Rate, mit der bei einer Reaktion neue Stoffe gebildet werden, ist proportional zum
Produkt der Konzentrationen der Stoffe, die die Reaktion auslösen, d.h. an der Reaktion
beteiligt sind.
Wir führen daher für jede der vier Substanzen die entsprechenden Konzentrationen ein
und bezeichnen diese mit s, e, c und p. Nach dem Massenwirkungsgesetz haben wir die folgenden Modellannahmen, die zur zeitlichen Veränderung der Konzentrationen verwendet
werden:
1Eine chemische Verbindung, die von einem Enzym umgewandelt wird.
27
28
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
1) die Raten entsprechen den zeitlichen Ableitungen der Konzentrationen,
2) die Konstanten k1 , k−1 und k2 sind Proportionalitätskonstanten,
3) es muss stets der Gewinn und Verlust in den Konzentrationen berücksichtigt
werden.
Daher liefern die Reaktionen (2.1) ein System von gewöhnlichen Differentialgleichungen
der Form
ds
(2.2)
= −k1 es + k−1 c
dt
de
(2.3)
= −k1 es + k−1 c + k2 c
dt
dc
(2.4)
= k1 es − k−1 c − k2 c
dt
dp
(2.5)
= k2 c
dt
Dieses System wird gewöhnlich als Anfangswertproblem formuliert und typische Anfangswerte sind
s(0) = s0 , e(0) = e0 , c(0) = 0, p(0) = 0
d.h. der Reaktionsprozess befindet sich am Anfang.
Unsere erste Beobachtung zum System (2.2)–(2.5) ist, dass Gleichung (2.5) direkt integriert
werden kann, sofern die Konzentration c = c(t) bekannt ist,
Zt
p(t) = k2
c(τ ) dτ
0
k1
Weiterhin ist das Enzym E ein Katalysator der Reaktion S+E C, d.h. E beschleunigt
k−1
die Reaktion beziehungsweise macht sie erst möglich, wird aber selbst nicht verbraucht,
de dc
+
= 0 =⇒ e(t) + c(t) = e0
dt
dt
Wir haben also ein Erhaltungsgesetz, was man direkt aus der Gleichungen abliest, indem man die beiden Gleichungen (2.3) und (2.4) addiert.
Man sieht aber auch, dass es eine zweite Erhaltungsgröße gibt: addiert man die drei Gleichungen (2.2), (2.4) und (2.5), so erhält man
ds dc dp
+
+
= 0 =⇒ s(t) + c(t) + p(t) = s0
dt
dt
dt
Unser Fazit ist, dass wir das System (2.2)–(2.5) auf ein gekoppeltes System von nur zwei
Gleichungen reduzieren können,
ds
(2.6)
= −k1 e0 s + (k1 s + k−1 )c
dt
dc
(2.7)
= k1 e0 s − (k1 s + k−1 + k2 )c
dt
1. DIE MICHAELIS–MENTEN KINETIK
29
Im nächsten Schritt wollen wir dieses reduzierte Modell entdimensionalisieren. Sei dazu
τ = k1 e0 t eine skalierte Zeit und
c(t)
s(t)
, v(τ ) =
u(τ ) =
s0
e0
Mit den Parametern
k2
k−1 + k2
e0
λ=
, K=
, ε=
k1 s0
k1 s0
s0
ergeben sich die skalierten Gleichungen
du
= −u + (u + K − λ)v
dτ
dv
ε
= u − (u + K)v
dτ
mit u(0) = 1 und v(0) = 0.
Aus dem skalierten System kann man leicht das qualitative Verhalten von Lösungen der
Michaelis–Menten Kinetik ablesen:
(1) Gleichgewichtspunkte
dv
du
=
= 0 ⇐⇒ u = v = 0
dτ
dτ
(2) Für die Parameter gilt
k−1 + k2
k2
k−1
K −λ=
−
=
>0
k1 s0
k1 s0
k1 s0
(3) Verhalten bei τ = 0. Es gilt
u|τ =0 = 1
und v|τ =0 = 0
und daher
du
dv
|τ =0 < 0 und
|τ =0 > 0
dτ
dτ
d.h. die Funktion u(τ ) fällt zunächst ab, während v(τ ) zunächst ansteigt.
dv
u
(4) Die Ableitung
wird Null, wenn v den Wert
erreicht, d.h.
dτ
u+K
u
dv
= 0 ⇐⇒ v =
dτ
u+K
u
Bei v =
gilt
u+K
du
u+K −λ
= −u + (u + K − λ)v = −u +
u<0
dτ
u+K
Das bedeutet, dass v ein Maximum erreicht und die Funktion u(τ ) weiter fällt.
(5) Nachdem die Funktion v(τ ) ihr Maximum erreicht hat, fällt v monoton in τ ab,
du
da
< 0 und damit u weiter fällt. Für τ → ∞ folgt dann
dτ
lim v(τ ) = lim u(τ ) = 0
τ →∞
τ →∞
30
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
Ein graphische Darstellung des qualitativen Lösungsverhaltens ist im nachfolgenden Bild
dargestellt.
BILD
2. Die Hypothese pseudo–stationärer Zustände
Das System (2.2)–(2.5) läßt sich nur für den trivialen Fall k2 = 0 (P = 0) in geschlossener
Form lösen. Briggs und Haldane haben daher bereits im Jahr 1925 eine Modellvereinfachung vorgeschlagen, die zu expliziten Lösungsdarstellungen führt. Dieser Ansatz wurde –
und wird noch heute – weiterentwickelt und man bezeichnet diese Form der Modellreduktion als Hypothese der pseudo–stationären Zustände beziehungsweise als Approximation
mit quasi–stationären Zuständen (quasi–steady state approximation, QSSA).
Briggs und Haldane nehmen an, dass nach einer kurzen transienten Phase die Konzentration des Komplexes C in einem Gleichgewicht ist, d.h. es gelte
dc
=0
(2.8)
dt
Nach (2.7) errechnet man
k1 e0 s
e0 s
c=
=
k1 s + k−1 + k2
s + KM
wobei KM die sogenannte Michaelis-Menten Konstante bezeichnet,
k−1 + k2
KM =
k1
Addiert man nun die beiden Gleichungen (2.6) und (2.7), so ergibt sich
d(s + c)
ds
e0 s
=
= −k2 c = −k2
dt
dt
s + KM
Damit erhält man die Briggs-Haldane Gleichung
ds
vmax s
, vmax = k2 e0 ,
(2.9)
=−
dt
s + KM
die man auch als sQSSA–Modell (standard quasi–steady state approximation) bezeichnet.
Segel und Slemrod diskutieren in einer Arbeit aus dem Jahre 1989 die rQSSA–Methode
(reverse quasi–steady state assumption) in dem sie statt (2.8) die Bedingung
ds
=0
dt
verwenden.
Im Jahr 1996 veröffentlichen Borghans et al. eine Arbeit zum sogenannten tQSSA–Modell
(total quasi–steady state approximation), das auf der Variablentransformation s → s+c =
s0 − p basiert. Und schließlich erscheint im Jahr 2003 in der Zeitschrift Bulletin of Mathematical Biology eine Arbeit ”Michaelis–Menten Kinetic at High Enzyme Concentrations”
(Volume 65, Seiten 1111-1129) von Tzafriri, in der die Arbeiten von Borghans et al. verbessert werden und gezeigt wird, dass die modifizierte tQSSA für alle Anfangsdaten e0
2. DIE HYPOTHESE PSEUDO–STATIONÄRER ZUSTÄNDE
31
und s0 eine gleichmäßig gute Approximation der Michaelis–Menten Kinetik liefert.
Zum Abschluß dieser Übersicht zu QSSA–Modellen zitieren wir noch einige Zeilen aus
einer Arbeit von Schnell und Mendoza aus dem Jahr 1997 (!) mit dem Titel ”Closed Form
Solution for Time–dependent Enzyme Kinetics”, erschienen in der Zeitschrift Journal of
Theoretical Biology, Volume 187, Seiten 207–212:
”It has been shown in Section 3 that, assuming QSSA, the total time evolution of the
reactants is reduced to the solution of eqn (18). In the present work, with the aid of a
powerful computer algebra system (Char et al., 1991) we have been able to find a closed
solution for the equation of the form
−vmax t + [S0 ]
[S0 ]
exp
[S](t) = KM W
KM
KM
where W is the omega function (Fritsch et al., 1973; Corless et al., 1993). This relatively
unknown function, first introduced by Euler in 1779, staisfies the transcendental equation
W (x) exp(W (x)) = x;
and is useful in the treatment of some nonlinear systems, in particular those for which it
is difficult to express solutions in terms of the independent variables. For instance, in the
present case it is well known (Rubinow, 1975) that the integration of eqn (18) results in
[S] + KM log([S]/[S0 ]) = [S0 ] − vmax t,
but it had not been possible to derive a solution of [S] = f (t).”
Aus mathematischer Sicht bleibt nach diesen Ausführungen die Frage, wie entschieden
werden kann, welche Gültigkeit die verschiedenen QSSA–Modelle letzendlich besitzen. Im
Folgenden wollen wir daher das entdimensionalisierte Modell,
(2.10)
(2.11)
du
dτ
dv
ε
dτ
= −u + (u + K − λ)v
= u − (u + K)v
mit Hilfe asymptotischer Methoden genauer untersuchen.
Enzyme fungieren in biochemischen Reaktionen als Katalysatoren. Es reichen daher bereits
kleine Konzentrationen, um den Reaktionsmechanismus in Gang zu setzen. Wir nehmen
daher im Folgenden an, dass
e0
1
ε=
s0
gilt – typisch ist dabei ε = 10−2 − 10−7 . Die Gleichungen (2.10) und (2.11) enthalten
zusätzlich die beiden Parameter K und λ und auch diese bestimmen das Lösungsverhalten unseres Systems. Da wir im Folgenden an asymptotischen Lösungen für kleine ε
interessiert sind, nehmen wird zusätzlich an, dass K = ord(1) und λ = ord(1) gilt, d.h.
K = O(1), 1/K = O(1), λ = O(1) und 1/λ = O(1).
32
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
In der asymptotischen Analysis sucht man noch Lösungen, die in Form einer Potenzreihe in dem kleinen Parameter ε dargestellt werden. Wir machen daher den Lösungsansatz
u(τ ; ε) =
v(τ ; ε) =
p
X
n=0
p
X
εn un (τ )
εn vn (τ )
n=0
wobei p ∈ N ist. Setzen man diese Entwicklungen in die Differentialgleichungen (2.10) und
(2.11) ein und ordnet die einzelnen Terme nach den Potenzen in ε, so ergeben sich für
n = 0 gerade die beiden Gleichungen
du0
(2.12)
= −u0 + (u0 + K − λ)v0
dτ
(2.13)
0 = u0 − (u0 + K)v0
mit den Anfangsbedingungen u0 (0) = 1 und v0 (0) = 0.
Die Gleichung (2.13) läßt sich nach v0 auflösen,
u0
(2.14)
v0 =
u0 + K
und gleichzeitig vereinfacht sich (2.12) zur Gleichung
du0
= −λv0
dτ
Setzen wir nun (2.14) in (2.15) so erhalten wir
(2.15)
du0
u0
= −λ
dτ
u0 + K
Gleichung (2.16) ist dann gerade die entdimensionalisierte Briggs–Haldane Gleichung.
(2.16)
Um eine Lösung der skalierten Briggs–Haldane Gleichung zu berechnen, verwenden wir
zunächst, dass es sich um eine separierbare Differentialgleichung handelt,
u0 + K du0
=λ
u0
dτ
und eine Integration bezüglich τ liefert die implizite Lösungsdarstellung
u0 (τ ) + K ln u0 (τ ) = C − λτ
Verwenden wir nun noch die Anfangsbedingung u(0) = 1, so folgt C = 1 und daher
(2.17)
u0 (τ ) + K ln u0 (τ ) = 1 − λτ
Wir versuchen nun diese implizite Lösung mit Hilfe der Lambertschen W –Funktion darzustellen. Aus (2.17) ergibt sich durch Division durch K und Anwendung der Exponentialfunktion gerade
u0 (τ )
1 − λτ
(2.18)
exp
u0 (τ ) = exp
K
K
2. DIE HYPOTHESE PSEUDO–STATIONÄRER ZUSTÄNDE
Setzen wir
u0 (τ (s))
û0 (s) =
K
so ergibt sich aus (2.18) gerade
1
mit s =
exp
K
1 − λτ
K
33
,
exp (û0 (s)) û0 (s) = s
und daher û0 (s) = LambertW (s). Als Lösung von (2.16) mit Anfangsbedingung u0 (τ ) = 1
erhalten wir also gerade
1
1 − λτ
(2.19)
u0 (τ ) = K · LambertW
exp
K
K
Dies entspricht genau der Lösung die Schnell und Mendoza in ihrer Arbeit aus dem Jahr
1997 angegeben haben. Gleichzeitig liefert dann die Gleichung (2.14) die Lösung v0 = v0 (τ )
und wir sprechen dann von einer asymptotischen Entwickung nullter Ordnung.
Wie gut können diese asmptotischen Lösungen unsere Ausgangsgleichungen (2.10) und
(2.11) mit den Anfangsbedingungen u(0) = 1 und v(0) = 0 lösen? Die Bedingung, die
wir bei der Herleitung unserer asymptotischen Lösung nicht verwendet haben, ist die
Anfangsbedingung v(0) = 0. Und in der Tat sehen wir hier, dass unsere asymptotische
Lösung diese Bedingung nicht erfüllen kann, denn
v0 (0) =
u0 (0)
1
=
6= 0
u0 (0) + K
1+K
Asymptotisch gesehen wäre dies nur im Grenzwert K → ∞ möglich,
k−1 + k2
K=
→∞
k1 s0
was wir aber wegen K = ord(1) ausgeschlossen haben.
Wir können die Anfangsbedingung v(0) = 0 nicht erfüllen, da unser Problem (2.10), (2.11)
im Grenzwert ε → 0 singulär gestört ist: die Differentialgleichung (2.11) entartet zu einer
algebraischen Gleichung und damit verlieren wir die Möglichkeit, eine Anfangsbedingung
für v = v(τ ) vorzuschreiben. Dies bedeutet aber auch, dass wir mit Hilfe unserer asymptotischen Entwicklung (u0 (τ ), v0 (τ )) nullter Ordnung keine Approximation erhalten, die
gleichmäßig für τ ≥ 0 gültig ist, denn die Anfangsbedingung v0 (0) = 0 ist nicht erfüllt.
In der asymptotischen Analysis versucht man daher, das Verhalten von v0 (τ ) für τ 1
über eine Grenzschichtanalyse zu bestimmen. Hierzu verwendet man eine Skalierung
der unabhängigen Variablen τ in der Umgebung von τ = 0 mit Hilfe der Transformation
τ
σ = , u(τ ; ε) = U (σ; ε), v(τ ; ε) = V (σ; ε)
ε
Die neuen Gleichungen in σ lauten dann
dU
(2.20)
= −εU + ε(U + K − λ)V
dσ
dV
(2.21)
= U − (U + K)V
dσ
34
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
mit U (0) = 1 und V (0) = 0.
Mit einem zu oben identischen asymptotischen Ansatz für U (σ; ε) und V (σ; ε) erhalten
wir in nullter Ordnung die beiden Gleichungen
dU0
= 0,
dσ
dV0
= U0 − (U0 + K)V0
dσ
sowie die Anfangsbedingungen U0 (0) = 1 und V0 (0) = 0. Die entsprechenden Lösungen
lauten dann
1 1 − e−(1+K)σ
U0 (σ) = 1, V0 (σ) =
1+K
Zwischen den beiden unterschiedlichen Entwicklungen bezüglich τ und τ /ε besteht der
folgende Zusammenhang
lim U0 (σ) =
1
= lim u0 (τ )
lim V0 (σ) =
1
1+K
= lim v0 (τ )
σ→∞
σ→∞
τ →0
τ →0
Damit passen also die inneren und äußeren Lösungen zusammen – man nennt dies auch
ein Matching: für 0 < τ 1 fest, folgt im Grenzwert ε → 0 die Bedingung σ → ∞.
Die Grenzschicht bei τ = 0 hat eine Dicke der Ordnung O(ε und es gilt
1 dV0
1
dv
|τ =0 ∼
|σ=0 = 1
dτ
ε dσ
ε
d.h. die Lösung v(τ ) ändert sich innerhalb der Grenzschicht rapide.
Unser erstes Fazit zur Beurteilung der verschiedenen QSSA–Modelle ist also positiv: die
Briggs–Haldane Gleichung ist eine hinreichend genaue Approximation außerhalb einer
kleinen Grenzschicht bei t = 0, sofern für die Anfangsbedingungen der beiden Größen
Substrat S und Enzym E die asymptotische Bedingung ε = e0 /s0 1 gilt. Für andere
Werte von ε wird das sQSSA–Modell allerdings wenig geeignet sein, die tatsächliche Lösung
quantitativ gut zu beschreiben.
Das von Segel und Slemrod vorgeschlagene rQSSA–Modell ist für den Fall e0 s0 , d.h.
ε 1 hergeleitet worden und zeigt hier auch deutlich bessere Resultate. Allerdings liefert
in diesem Fall bereits eine einfache Linearisierung eine geschlossen Lösung, die eine noch
bessere Approximation liefert. Daneben kann das (schnelle) transiente Verhalten bei t = 0
auch sehr gut mit Hilfe einer Riccati–Differentialgleichung beschrieben werden. Das von
Tzafriri vorgeschlagene tQSSA–Modell läßt sich nicht in geschlossener Form lösen und eine
asymptotische Approximation erster Ordnung zeigt gegenüber der Linearisierung keine
besseren Resultate. QSSA–Modelle sollten also in der Tat nur dann verwendet werden,
wenn die Approximationsgüte der Modelle eindeutig geklärt ist.
Bemerkung 2.1. Unsere letzten beiden Aussagen basieren auf einer Untersuchung des
folgenden reduzierten Modells. Mit den Erhaltungsgrößen e0 = e(t) + c(t) und s0 = s(t) +
3. KOMPLEXERE KINETIK I: ENZYMDEAKTIVIERUNG
35
c(t) + p(t) können wir ein reduziertes Modell auch in der Form
dc
= k1 (e0 − c)(s0 − c − p) − (k2 + k−1 )c
dt
dp
= k2 c
dt
schreiben. Der eindeutige Gleichgewichtspunkt ist dann gegeben durch (c, p) = (0, s0 ) und
eine Linearisierung um diesen Punkt liefert eine geschlossene Lösung, die für s0 e0
deutlich bessere Ergebnisse liefert als das rQSSA–Modell. Für das (schnelle) transiente
Verhalten bei t = 0 setzt man in der ersten Gleichung zur Modellreduktion gerade p = 0
und erhält damit eine Riccati–Gleichung für die Konzentration c.
3. Komplexere Kinetik I: Enzymdeaktivierung
Bei medizinischen Anwendungen spielt auch die bewußte Ausschaltung von unerwünschten
Enzymen, die als Katalysatoren biochemische Reaktionen auslösen, eine wichtige Rolle.
Typische Krankheiten, bei denen diese bewußte Enzymausschaltung eingesetzt wird sind
etwa Depression, Epilepsie oder Tumorbehandlung. In diesem Zusammenhang stellt
sich die wesentliche Frage, ob das Substrat S, das vom unerwünschten Enzym umgewandelt
wird, aufgebracht ist, bevor das Enzym vollständig deaktiviert ist.
Wir betrachten daher folgende Hemmstoffreaktion
(2.22)
k1
k
k
2
3
S + E X −→
Y −→
P + E,
k−1
k
4
Y −→
Ei
Dabei bezeichnen wir mit E ein Enzym, mit S das Subtrat und mit P das entstehende Produkt. Die Spezies X und Y sind Enzym–Substrat–Zwischneprodukte und Ei ein
inaktives Enzym. Dabei reagiert der Zwischenstoff Y also entweder
• mit der Rate k3 zu E + P ,
• oder mit der Rate k4 zu einem inaktiven Enzym Ei .
Von besonderer Bedeutung ist dabei das Verteilungsverhältnis
k3
r=
k4
Dem Substrat S kommt eine besondere Rolle zu, denn es bindet das Enzym E zu einem
Hemmstoff Y , der das Enzym E deaktiviert.
Wir wollen uns hier mit der folgenden zentralen Frage beschäftigen: welcher Parameter
bestimmt, ob das Substrat S aufgebraucht ist, bevor das Enzym E vollständig deaktiviert
ist?
In der Literatur findet amn dazu verschiedene Antworten:
1) in der Arbeit von Waley (Biochemical Journal, 1980) wird als Parameter der Wert
rµ mit µ = e0 /s0 angegeben.
2) Tasunami et al. identifizieren in ihrer Arbeit aus dem Jahr 1981 (erschienen in
Biochimica et Biopysica Acta) den Parameter als (1 + r)µ, wobei sie noch die
folgenden Eigenschaften angeben:
36
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
• für (1+r)µ > 1 wird das Substrat ausgeschöpft, bevor das Enzym vollständig
deaktiviert ist,
• für (1 + r)µ < 1 wird das Enzym komplett deaktiviert,
• für (1 + r)µ können beide oben genannten Fälle auftreten.
Im Folgenden beziehen wir aus auf eine Arbeit von Barke et al. aus dem Jahr 1990 (erschienen in Biophysical Chemistry), wobei wir den interessanten Fall betrachten, bei dem
das Verhältnis µ = e0 /s0 nicht klein ist, also µ = O(1).
Aus dem Massenwirkungsgesetz erhalten das nachstehende System von gewöhnlichen Differentialgleichungen,
(2.23)
(2.24)
(2.25)
(2.26)
(2.27)
(2.28)
und als
de
= −k1 se + k−1 x + k3 y
dt
ds
= −k1 se + k−1 x
dt
dx
= k1 se − k−1 x − k2 x
dt
dy
= k2 x − k3 y − k4 y
dt
dei
= k4 y
dt
dp
= k3 y
dt
Anfangsbedingungen wählen wir
e(0) = e0 , s(0) = s0 , x(0) = y(0) = ei (0) = p(0) = 0
Die folgenden Modellreduktion sieht man direkt:
(1) Die Gleichung (2.28) kann integriert werden, sobald y = y(t) bekannt ist.
(2) Durch Addition von (2.23) mit (2.25)–(2.27) erhalten wir die Erhaltungsgröße:
d
(e(t) + x(t) + y(t) + ei (t)) = 0
dt
also mit den oben stehenden Anfangsbedingungen
e(t) + x(t) + y(t) + ei (t) = e0
Ein reduziertes System ist dann zum Beispiel gegeben durch
ds
dt
dx
dt
dy
dt
dei
dt
= −k1 (e0 − x(t) − y(t) − ei (t))s + k−1 x
= k1 (e0 − x(t) − y(t) − ei (t))s − (k−1 + k2 )x
= k2 x − (k3 + k4 )y
= k4 y
3. KOMPLEXERE KINETIK I: ENZYMDEAKTIVIERUNG
37
Zur Entdimensionalisierung setzen wir
s̄ =
s
y
ei
, ȳ = , ēi =
s0
e0
e0
sowie
x̄ =
s0 + KM x
s0
e0
mit
KM =
k−1 + k2
k1
Unser skaliertes System lautet dann (wir lassen die Striche wieder weg)
ds
dt
dx
dt
dy
dt
dei
dt
s0
k−1 e0
x(t) − y(t) − ei (t))s +
x
s0 + KM
s0 + KM
s0
x(t) − y(t) − ei (t))s − (k−1 + k2 )x
= k1 (s0 + KM )(1 −
s0 + KM
k2 s0
x − (k3 + k4 )y
=
s0 + KM
= −k1 e0 (1 −
= k4 y
mit s(0) = 1 und x(0) = y(0) = ei (0) = 0.
Aus dem letzten Abschnitt wissen wir bereits, dass obiges System zwei unterschiedliche
Zeitskalen besitzt:
1) eine schnelle Zeitskala, auf der der Komplex X maximal wird,
2) und eine langsame Zeitskala, auf der das Substrat S signifikant fällt.
Zur Bestimmung der relevanten Zeitskalen suchen wir zunächst eine schnelle Skala, auf
der die Konzentration des Komplexes exponentiell anwächst. Dazu betrachten wir die
Gleichung
s0
dx
= k1 (s0 + KM )(1 −
x(t) − y(t) − ei (t))s − (k−1 + k2 )x
dt
s0 + kM
und setzen in dieser Gleichung s = 1 sowie y = ei = 0. Damit ergibt sich wegen k−1 + k2 =
k1 KM
dx
dt
s0
x(t)) − k1 KM x
s0 + KM
= −k1 (s0 + KM )x + k1 (s0 + KM )
= k1 (s0 + KM )(1 −
Die schnelle Zeitskala ts ist also gegeben durch
ts =
1
k1 (s0 + KM )
38
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
Zur Bestimmung der langsamen Skala betrachten wir die Gleichungen aus dem letzten
Abschnitt unter der Annahme quasi–stationärer Zustände: die Substratgleichung in dimensionsbehafteten Größen lautete
k2 e0 s
ds
=−
(2.29)
dt
s + KM
mit s(0) = s0 . Die zugehörige Skala von (2.29) kann durch das Verhältnis s/ṡ bestimmt
werden,
s0
s0 + KM
tl ∼
=
=
|ṡ(0)|
k2 e0
wobei die Annahme quasi–stationärer Zustände gültig ist, sofern ts tl .
Auf der schnellen Zeitskala ts ergeben die skalierten Gleichungen mit der neuen unabhängigen Variable τ = t/ts das System
σ
ρ
ds
= ε −s +
sx + sy + sei +
x
dτ
1+σ
(1 + ρ)(1 + σ)
dx
σ
x
= s−
sx − sy − sei −
dτ
1+σ
1+σ
σ
ψ
dy
=
x−
y
2
dτ
(1 + σ) (1 + ρ)
1+σ
dei
Φ
=
y
dτ
1+σ
mit den Parametern
k3 + k4
k4
s0
k−1
, ρ=
, ψ=
, Φ=
σ=
KM
k2
k−1 + k2
k−1 + k2
sowie
e0
s0 + KM
Als Anfangsbedingungen haben wir s(0) = 1 und x(0) = y(0) = ei (0) = 0.
ε=
Unter der Annahme 0 < ε 1 können wir wieder asymptotische Methoden anwenden,
aber hier gilt es zu beachten, dass der Parameter σ ebenfalls von ε abhängt.
e0
e0 σ
e0
e0
=
=
=
ε=
s0 + KM
s0 (1 + KM /s0 )
s0 (1 + 1/σ)
s0 1 + σ
Stellen wir oben stehende Gleichung nach σ um, so ergibt sich
s0 ε
s0
σ=
= ε + O(ε2 )
e0 − s0 ε
e0
Wegen der Annahme e0 /s0 = O(1) folgt damit σ = O(ε).
In nullter Näherung ergeben sich zunächst die beiden Gleichungen
ds(0)
=0
dτ
und
dy (0)
ψ (0)
=−
y
dτ
1+σ
3. KOMPLEXERE KINETIK I: ENZYMDEAKTIVIERUNG
39
und mit s(0) (0) = 1 und y (0) (0) = 0 erhalten wir
s(0) (τ ) = 1,
y (0) (τ ) = 0
Weiter ergibt sich wegen ei (0) = 0 und
(0)
dei
Φ (0)
=
y =0
dτ
1+σ
(0)
die Lösung ei (τ ) = 0. Damit lautet die Gleichung fur x(0) (τ )
dx(0)
= 1 − x(0) , x(0) (0) = 0
dτ
also
x(0) (τ ) = 1 − e−τ
Bemerkung 2.2. Es lassen sich ebenfalls höhere Terme der asymptotischen Entwicklung
berechnen. Allerdings muss dabei stets die Beziehung
s0
σ = ε + O(ε2 )
e0
berücksichtigt werden. Zum Beispiel gilt
s(1) (τ ) = −
ρ
τ
+
e−τ − 1
1+ρ 1+ρ
Auf der langsamen Zeitskala definieren wir zunächst die neue Zeitvariable
T = (1 + ρ)
t
k2 e0
t = k2 ε(1 + ρ)t
= (1 + ρ)
tl
s0 + kM
wobei der Vorfaktor (1 + ρ) nur zur Vereinfachung der Berechnungen eingeführt wird.
Die skalierten Gleichungen bezuglich der neuen Variablen T lauten dann
ds
ρ
= −s((1 + σ) − σx − (1 + σ)y − (1 + σ)ei ) +
x
dT
1+ρ
dx
(2.31)
ε
= s((1 + σ) − σx − (1 + σ)y − (1 + σ)ei ) − x
dT
σ
dy
ε
(2.32)
=
x − ψy
dT
(1 + σ)(1 + ρ)
dei
(2.33)
ε
= Φy
dT
wobei die Parameter ε, σ, ρ, ψ und Φ wie oben definiert sind.
(2.30)
Mit dem Lösungsansatz
s(T ) = s0 (T ) + εs1 (T ) + . . .
und den Relationen σ = O(ε), ψ = O(1) ergibt sich aus (2.32) die Bedingung
y0 (T ) = 0
40
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
Mit Gleichung (2.31) erhalten wir
s0 − s0 y0 − s0 ei,0 − x0 = 0
y0 =0
=⇒
x0 = s0 (1 − ei,0 )
Wegen ρ = O(1) liefert (2.30) gerade
ds0
ρ
(2.34)
= −s0 (1 − ei,0 ) +
x0
dT
1+ρ
ρ
s0 (1 − ei,0 )
= −s0 (1 − ei,0 ) +
1+ρ
1
= −
s0 (1 − ei,0 )
1+ρ
Eine Gleichung für ei,0 ergibt sich in der O(ε)–Ordnung aus (2.32) und (2.33) mit der
Annahme Φ = O(1) und der Beziehung
σ = O(ε) = p · ε
was man folgendermaßen sieht: aus (2.32) folgt
dy0
p
=
x0 − ψy1
dT
1+ρ
und wegen y0 (T ) = 0
p
y1 =
x0
(1 + ρ)ψ
Gleichung (2.33) liefert zunächst
dei,0
pΦ
= Φy1 =
x0
dT
(1 + ρ)ψ
und daher
dei,0
pΦ
(2.35)
=
s0 (1 − ei,0 )
dT
(1 + ρ)ψ
Fassen wir (2.34) und (2.35) zusammen, so ergibt sich
dei,0
pΦ
=−
ds0
ψ
und daher
1
(2.36)
ei,0 = (B − s0 (T ))
β
ψ
mit β =
. Dabei bezeichnet B einen freien Parameter, der über eine geeignete Kopplung
pΦ
zwischen langsamer und schneller Zeitskala bestimmt ist.
Unsere Kopplungsbedingungen zwischen der schnellen und langsamen Zeitskala lauten
offensichtlich
lim ei,0 (T ) =
T →0
lim s0 (T ) =
T →0
(0)
lim e (τ )
τ →∞ i
=0
lim s(0) (τ ) = 1
τ →∞
4. KOMPLEXERE KINETIK II: AUTOKATALYSE
41
Damit ist der freie Parameter B in (2.36) festgelegt als B = 1. Die Gleichung für s0 kann
daher geschrieben werden als
ds0
dT
1
1
s0 (1 − (1 − s0 ))
1+ρ
β
1
= −
s0 (β − 1 + s0 )
(1 + ρ)β
s0
β−1
s0 (1 +
) (β 6= 0)
= −
(1 + ρ)β
β−1
= −
Damit sind die Lösungen auf der langsamen Zeitskala gegeben durch
s0 (T ) =
ei,0 (T ) =
1−β
1−
βeT (1−1/β)/(1+ρ)
1 − s0 (T )
β
x0 (T ) = s0 (T )(1 − ei,0 (T ))
y0 (T ) = 0
Aus dieser Lösungsdarstellung wird die Rolle des Parameters β deutlich: für β < 1 folgt
lim s0 (T ) = 1 − β
lim ei,0 (T ) = 1
T →∞
T →∞
d.h. das Enzym E wird vollständig deaktiviert, bevor das Substrat S erschöpft ist. Gilt
dagegen β > 1, so erhalten wir
lim s0 (T ) = 0
T →∞
lim ei,0 (T ) =
T →∞
1
β
d.h. das Substrat S ist erschöpft, bevor das Enzym E vollständig deaktiviert ist. Der
Parameter β ergibt sich dabei als
β=
ψ
k3 + k4 e0
=
= (1 + r)µ
Φp
k4 s0
4. Komplexere Kinetik II: Autokatalyse
Unter Autokatalyse versteht man einen chemischen Vorgang, bei dem die neuentstehende
Substanz selbst die Rolle des reaktionsbeschleunigenden Katalysators übernimmt. Das
Basisschema der Autokatalyse ist gegeben durch
k1
A + X 2X
k−1
d.h. ein Molekül X kombiniert mit einem Molekül A und bildet zwei Moleküle X.
42
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
Das einfachste Modell zur Autokatalyse erhält man aus der Modellannahme, dass die Konzentration von A trotz der Reaktionen konstant bleibt. Mit Hilfe des Massenwirkungsgesetzes ergibt sich damit das skalare DGL–Modell
dx
= k1 ax − k−1 x2
dt
Dies ist gerade das chemische Analogon zum logistischen Wachstum und es gilt
x(t)
t→∞
−→
xs =
k1
a
k−1
Eine Erweiterung des einfachen Basisschema ist die Autokatalyse mit Zusatzreaktion,
A+X
k1
2X
k−1
k
2
B + X −→
C
Nimmt man auch hier an, dass die Konzentrationen von A und B konstant bleiben. so
erhält man die skalare Modellgleichung
dx
= (k1 a − k2 b)x − k−1 x2
dt
Dies ist nur dann wieder eine logistische Gleichung, sofern der Term k1 a − k2 b positiv ist.
Untersucht man zum Beispiel die stationären Zustände des Modell, so erhält man aus
(k1 a − k2 b)x − k−1 x2 = 0
gerade
k1 a − k2 b
k−1
Die Stabilität der beiden stationären Zustände hängt dabei vom Vorzeichen von k1 a − k2 b
ab:
2b
(1) für k1 a > k2 b ist xs = 0 instabil und xs = k1 a−k
> 0 stabil.
k−1
xs = 0
oder xs =
(2) für k1 a < k2 b ist xs = 0 stabil und xs =
k1 a−k2 b
k−1
< 0 instabil.
Man erhält also eine typische Bifurkation (oder Verzweigung) in Abhängigkeit vom Vorzeichen des Parameters λ = k1 a − k2 b. Eine graphische Darstellung zeigt das nachfolgende
Bild
BILD
In der Arbeit ”Undamped oscillations derived from the law of mass action” erschienen in
J. Amer. Chem. Soc., Vol. 42, 1595-1599, im Jahr 1920 beschreibt Alfred James Lotka den
folgenden Reaktionsmechanismus einer doppelten Autokatalyse,
k
1
A + X −→
2X,
k
2
X + Y −→
2Y,
k
3
Y −→
2B
Hier sind die ersten beiden Reaktionen autokatalytisch. Unter der Modellannahme, dass
die Konzentration von A während der Reaktionen konstant bleibt, ergibt sich aus dem
5. QUALITATIVE MODELLE IN DER BIOCHEMISCHEN REAKTIONSKINETIK
43
Massenwirkungsgesetz das Modell
dx
= k1 ax − k2 xy
dt
dy
= k2 xy − k3 y
dt
Skaliert man dieses System unter Verwendung von
k2
k2
u = x, v =
y, τ = k1 at
k3
k1 a
so ergeben sich die Gleichungen
du
= u(1 − v)
dτ
dv
= αv(u − 1)
dτ
k3
mit α = a. Dieses System ist heute als Lotka-Volterra Modell bekannt – ein Räuber–
k1
Beute Modell in der Populationsdynamik.
5. Qualitative Modelle in der biochemischen Reaktionskinetik
Nicht immer sind die biochemischen Reaktionen im Detail bekannt, sondern vielmehr nur
der Einfluß einzelner Spezies auf den Gesamtprozess – zum Beispiel bei der Änderung der
Konzentration eines Reaktanten oder bei der Änderung der operativen Konditionen.
In diesem Fall versucht man bei der Modellierung allein das qualitative Verhalten in die
Modellierung einzubauen. Dies bedeutet, dass nicht etwa das Massenwirkungsgesetz zur
Anwendung kommt, sondern das Modell direkt als System von Differentialgleichungen postuliert wird.
Wir wollen dazu das folgende exemplarische Beispiel betrachten: gegeben seien zwei chemische Substanzen U und V . Das qualitative Verhalten der beiden Substanzen sei folgendermaßen beschrieben:
1) die Substanz V wird durch U aktiviert,
2) beide Substanzen werden proportional zu ihren Konzentrationen abgebaut,
3) wächst die Konzentration von V , so nimmt die Produktion von U ab. 2
Bei der gesamten biochemischen Reaktion können die Substanzen U und V dabei nur ein
Teil eines weitaus komplexeren Systems sein.
Die oben genannten Modellannahmen lassen sich qualitativ in den folgenden beiden Differentialgleichungen zusammfassen
du
a
=
− cu = f (u, v)
dt
b+v
dv
= du − ev = g(u, v)
dt
2Man bezeichnet dies als Rückkopplung durch Hemmung = Feedback Inhibition
44
2. BIOCHEMISCHE REAKTIONSKINETIK
wobei a, . . . , e positive Konstanten sind.
Die Gleichgewichtspunkte (u0 , v0 ) mit f (u0 , v0 ) = g(u0 , v0 ) = 0 sind gegeben durch
be
d
ae
v0 = u0 , u20 + u0 −
=0
e
d
cd
und mittels einer Linearisierung läßt sich die Stabilität der Gleichgewichtspunkte einfach
untersuchen.
Entscheidend für die Stabilität der Gleichgewichtspunkte sind die Eigenwerte der Jakobi–
Matrix ausgewertet beim Gleichgewichtspunkt (u0 , v0 ). Man berechnet


∂f ∂f
!
a
 ∂u ∂v  −c −
2
 (u ,v ) =
(b + v0 )
Jf (u0 , v0 ) = 
 0 0

∂g ∂g
d
−e
∂u ∂v
Nun gilt
ad
tr J = −(c + d), det J = ce +
(b + v0 )2
Der Gleichgewichtspunkt (u0 , v0 ) ist stabil, falls die Realteile der Eigenwerte von J strikt
negativ sind. Das charakteristische Polynom von J lautet
λ2 − tr J λ + det J = 0
und Re λ < 0, falls tr J < 0 und det J > 0. Dies ist hier offensichtlich erfüllt.
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