Molekulare Komplexität in Chemie und Biologie Molecular

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Jahrbuch 2012/2013 | Stein, Matthias | Molekulare Komplexität in Chemie und Biologie
Molekulare Komplexität in Chemie und Biologie
Molecular complexity in chemistry and biology
Stein, Matthias
Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme, Magdeburg
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
Vorgänge
in der Chemie
und Biologie
beruhen auf der komplexen Wechselw irkung von Molekülen
untereinander. Die biologische und chemische Erzeugung von Wasserstoff, einem Energieträger der Zukunft,
durch Enzyme und Katalysatoren bei Raumtemperatur w urde mit verschiedenen Computerrechenverfahren
untersucht. Die von der Natur inspirierten chemischen Systeme sind notw endig, um Details der Enzyme zu
verstehen. In der molekularen Systembiologie verschieben sich der Fokus und die Art der Betrachtung
dagegen und ermöglichen das Verständnis der W echselw irkungen und Kinetiken von Proteinen in Netzw erken.
Summary
Operations in chemistry and biology are based on complex interactions betw een molecules. The biological and
chemical generation of hydrogen, one of the energy carriers of the future, by enzymes or catalysts at ambient
temperature w as investigated by applying various computational approaches. Nature-inspired chemical
systems are necessary in order to reveal details of the enzymatic system. In molecular systems biology, the
focus and the w ay of investigations shift and enable the understanding of interactions and kinetics of proteins
in netw orks.
Wasserstofferzeugung in der Natur und im Reagenzglas
Molekularer Wasserstoff (H 2 ) ist ein Energieträger der Zukunft, aber schw ierig zu erzeugen und zu
handhaben. Er w eist die stabilste aller homonuklearen chemischen Einfachbindungen auf, w as ihn so
aufw endig in der Erzeugung, aber so attraktiv als Speicher macht. In der Natur erzeugen Enzyme aus
Mikroorganismen – die Hydrogenasen für Energie– Wasserstoff bei Raumtemperatur und bei normalem
atmosphärischem Druck. Wenn es gelingt, ihren Reaktionsmechanismus im Detail zu entschlüsseln, die
w ichtigsten Schlüsselkomponenten zu identifizieren, die Bauprinzipien der Natur zu abstrahieren und im Labor
nachzubauen, ist die W issenschaft in der Entw icklung von Prozessen mit alternativen Energieträgern einen
großen Schritt w eiter. Beispielsw eise für den Betrieb von Brennstoffzellen ist hier entw eder die Nutzung
enzymatisch erzeugten Wasserstoffes möglich oder sogar der Einsatz der Mikroorganismen als biologische
Kathode, an der in der Brennstoffzelle W asserstoff erzeugt w ird (mikrobakterielle Brennstoffzelle).
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Eine Proteinstruktur verrät nicht alles
A bb. 1: Da rste llung de s Enzym s de r Fe Fe -Hydroge na se
(link s), e ine Ve rgöße rung von De ta ils de s a k tive n Ze ntrum
(Mitte ) m it e ine m in de r P rote instruk tur nicht e inde utig
zuordne nba re n Brück e nliga nde n und e in struk ture lle r Na chba u
de s a k tive n Ze ntrum s de s Enzym s (re chts).
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Die Verfügbarkeit einer experimentell bestimmten Struktur von Proteinen beantw ortet manchmal nicht alle
offenen Fragen. Seit einigen Jahren gibt es z. B. Röntgenstrukturen des Enzyms der Hydrogenasen aus
verschiedenen Mikroorganismen, die Wasserstoff erzeugen können. Das aktive Zentrum, an dem die Reaktion
stattfindet, ist eine komplizierte Verbindung aus Eisenatomen, Schw efelatomen und kleinen Liganden aus der
anorganischen Chemie w ie Kohlenmonoxid und Cyanid. Die beiden Eisenatome des aktiven Zentrums sind
durch einen verbrückenden Liganden verknüpft, w elcher als Zentralatom entw eder ein Sauerstoffatom, eine
Aminogruppe oder eine Methylgruppe enthalten könnte. Alle besitzen fast die gleiche Anzahl von Elektronen
und lassen sich deshalb in der Röntgenstrukturanalyse schw er eindeutig zuordnen. Spektroskopische
Untersuchungen am Enzym selbst w aren auch nicht eindeutig in der Zuordnung. Ein Modellkomplex mit
strukturellen Ähnlichkeiten zum aktiven Zentrum des Enzyms w urde hergestellt und untersucht (Abb. 1). Durch
eine Kombination von aufw endigen Methoden der Spektroskopie und der computergestützten Chemie konnten
Parameter für ein Stickstoffatom in der Mitte der Brückenliganden gew onnen und interpretiert w erden, sodass
auch im Enzym die Existenz einer Aminogruppe als gesichert gilt [1].
Klein macht den Unterschied
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A bb. 2: Sa ue rstofftole ra nte Hydroge na se a us de r Kla sse de r
[NiFe ]-Hydroge na se . Die Tole ra nz ge ge nübe r Luftsa ue rstoff
wird nicht, wie la nge a nge nom m e n, durch Ve rä nde runge n a m
a k tive n Ze ntrum he rvorge rufe n. Es ist vie lm e hr da s Auftre te n
e ine r ne ue n Art von Eise n-Schwe fe l-C luste rn in de r k le ine n
Unte re inhe it, da s für die Sta bilitä t de s Enzym s in Anwe se nhe it
von Sa ue rstoff ve ra ntwortlich ist. De r ne ue 4Fe -3S-6C yste incluste r we ist e in unge wöhnliche s R e dox ve rha lte n a uf
und schützt so da s a k tive Ze ntrum , we lche s sich 10 Å e ntfe rnt
be finde t.
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Die meisten der Hydrogenasen aus der Familie der [NiFe]-Hydrogenasen sind sehr empfindlich gegenüber der
Gegenw art von Luftsauerstoff. In der Evolution sind sie als anaerobe Bakterien ideal angepasst an ihre
Lebensbedingungen vor Milliarden von Jahren und kommen heute noch in vulkanischen Umgebungen vor. Sie
w erden durch Sauerstoff irreversibel geschädigt und sind danach nicht mehr aktiv. Eine besondere Unterart
der Hydrogenasen hat sich gemäß ihren symbiotischen Lebensbedingungen an die Anw esenheit von
Luftsauerstoff angepasst. Obw ohl dieser Fakt seit mehreren Jahren bekannt ist, w ar die Ursache dieser
idealen Anpassung bisher nicht erklärbar. Kürzlich gelang es, die Ursache für die Sauerstofftoleranz
aufzuklären. Durch eine Kombination von Methoden der Bioinformatik und der dreidimensionalen Modellierung
der Proteinstruktur w ar es möglich zu zeigen, dass keine Veränderungen am oder in der Nähe des aktiven
Zentrums für die Sauerstofftoleranz verantw ortlich sind (Abb. 2). Stattdessen ist es ein neues, bisher
unbekanntes
Koordinationsmuster
Elektronentransportkette
(in
der
von
kleinen
Aminosäuren
am
nächsten
Proteinuntereinheit),
die
die
Eisen-Schw efel-Cluster
sauerstofftoleranten
in
der
von
den
sauerstoffempfindlichen [NiFe]-Hydrogenasen unterscheiden [2]. Der Abstand zw ischen dem aktiven Zentrum
und dem nächstgelegenen Eisen-Schw efel-Cluster beträgt 10 Ångstrom. Dieser neue, bisher nicht bekannte
Typ von 4Fe-6Cystein-Clustern w eist ein ungew öhnliches Redoxverhalten auf und schützt so das aktive
Zentrum vor Schädigung durch Luftsauerstoff über eine relativ große Entfernung.
Von der Natur ins Reagenzglas
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A bb. 3: Da rste llung de r Ge m e insa m k e ite n de r a k tive n Ze ntre n
de r [Fe Fe ]-, [NiFe ]-Hydroge na se n und von
Mode llve rbindunge n. Ve ra nk e runge n durch
W a sse rstoffbrück e nbindunge n m it de m um ge be ne n P rote in
sind in ora nge a nge de ute t. Die struk ture lle Fle x ibilitä t in de r
Mode llve rbindung ste llt e ine He ra usforde rung da r.
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Die Designprinzipien der Natur zu erkennen bedeutet, diese zu abstrahieren und die essenziellen Strukturen
auf ein System zu übertragen, das die Natur nachahmt (Biomimetikum). Es gelang das chemische Design von
Modellverbindungen, die im Reagenzglas die elektrochemische Reduktion von Protonen zu molekularem
Wasserstoff katalysieren. Von einer großtechnischen Umsetzung ist der Prozess aber noch entfernt.
Beispielsw eise sind zw eikernige Komplexe aus Eisenatomen, die Strukturmerkmale des Enzyms aufgreifen und
umsetzen, dazu in der Lage (Abb. 3). Die Eisenatome w eisen eine Koordinationssphäre auf, die der im Enzym
ähnelt. Bei geringer Überspannung setzen sie Wasserstoff frei. Unerlässlich für das Verständnis und die
Aufklärung
der
Arbeitsw eise
der
Modellsysteme
sind
die
Synthese,
die
Spektroskopie
und
die
Computerberechnungen. Ebenso lassen sich mononukleare Komplexe herstellen, die ohne ein zw eites
Eisenatom auskommen, w elche Wasserstoff durch elektrochemische Protonenreduktion freisetzen [3]. Bei der
Untersuchung und Analyse der biomimetischen Verbindungen zeigt sich, dass manchmal die kleinen
Modellverbindungen komplizierter sind als die Natur selber. Im Enzym w ird das aktive Zentrum durch eine
große Anzahl von Wechselw irkungen mit der Proteinmatrix festgehalten und ist so w eniger flexibel als kleine
Moleküle in Lösung. Diese sind bew eglicher und können durch diese strukturelle Flexibilität mehrere
konformationelle Zustände erreichen, die alle bei der Analyse und Interpretation berücksichtigt w erden
müssen.
Proteine im großen Zusammenhang betrachten
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A bb. 4: Be re chnung und Sortie rung von e ine r große n Anza hl
von P rote ine n na ch de re n Eige nscha fte n.
Ma trix re prä se nta tion, Da rste llung a ls ba um ä hnliche s
Dia gra m m (Epogra m m ) und dre idim e nsiona le Visua lisie rung
in de r P rote instruk tur (3D-Ma pping).
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In der Systembiologie verschiebt sich der Fokus von der Untersuchung einzelner Proteine hin zur
Untersuchung von Proteinen in Netzw erken. Kinetische Parameter für die Aktivierung, für den Substratumsatz
sow ie für regulatorische Prozesse sind hierfür notw endig, oftmals aber nicht in der Literatur verfügbar.
Grundlage sind aber immer molekulare Wechselw irkungen von u. a. Substrat und Enzym oder Protein-ProteinInteraktionen, die
im Computer berechnet und analysiert w erden. Hiermit verändert sich auch die
Betrachtungsw eise von der Untersuchung einzelner Proteine hin zur Charakterisierung einer großen Anzahl
von Proteinen in einem w eiteren Kontext (Abb. 4). Durch den quantitativen Vergleich der dreidimensionalen
Wechselw irkungsfelder [4] zw ischen einer großen Anzahl von Proteinen lassen sich Aussagen treffen über den
Einfluss einzelner Mutationen auf kinetische Parameter, den Vergleich von Enzymen metabolischer Netzw erke
in verschiedenen Organismen [5] oder die Variabilität und Unterschiede von der gleichen Enzym- oder
Proteinklasse z. B. des Menschen [6]. Der Ansatz ist nicht begrenzt auf Enzyme, sondern lässt sich ebenso
anw enden auf Proteine der Maschinerie der Endozytose oder menschliche Grippeviren.
Die Entw icklung von neuen Algorithmen und Werkzeugen zur Simulation auf verschiedenen Zeitskalen w ird in
Zukunft die Betrachtung w eiterer molekularer Grundlagen für komplizierte Vorgänge in der Chemie und
Biologie erlauben.
Literaturhinweise
[1] Erdem, Ö. F.; Schwartz, L.; Stein, M.; Silakov, A.; Kaur-Ghumaan, S.; Huang, P.; Ott, S.; Reijerse, E. J.;
Lubitz, W.
A model of the [FeFe] hydrogenase active site with a biologically relevant azadithiolate bridge: a
spectroscopic and theoretical investigation
Angew andte Chemie International Edition 50, 1439-1443 (2011)
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[2] Goris, T.; Wait, A. F.; Fritsch, J.; Heidary, N.; Stein, M.; Zebger, I.; Lendzian, F.; Armstrong, F. A.;
Friedrich, B.; Lenz, O.
A unique iron-sulfur cluster is crucial for oxygen tolerance of a [NiFe]-hydrogenase
Nature Chemical Biology 7, 310-318 (2011)
[3] Kaur-Ghumann, S.; Schwartz, L.; Lomoth, R.; Stein, M.; Ott, S.
Catalytic hydrogen evolution from mononuclear iron(II) carbonyl complexes as minimal functional models
of the [FeFe] hydrogenase active site
Angew andte Chemie International Edition 49, 8033-8036 (2010)
[4] Gabdoulline, R. R.; Stein, M.; Wade, R. C.
qPIPSA: relating enzymatic kinetic parameters and interaction fields
BMC Bioinformatics 8, 373 (2007)
[5] Stein, M.; Gabdoulline, R. R.; Wade, R. C.
Cross-species analysis of the glycolytic pathway by comparison of molecular interaction fields
Molecular BioSystems 6, 162-174 (2010)
[6] Stein, M.; Pilli, M.; Bernauer, S.; Habermann, B. H.; Zerial, M.; Wade, R. C.
The interaction properties of the human Rab GTPase family – a comparative analysis reveals
determinants of molecular binding selectivity
PLoS ONE 7(4): e34870 (2012)
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