Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg HENNING BEY „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset“ Symphonie und Ode: Musik als Schöne Kunst im ausgehenden 18. Jahrhundert Originalbeitrag erschienen in: Musicologia Austriaca 23 (2004), S.[29]-56 „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset” Symphonie und Ode: Musik als Schöne Kunst im ausgehenden 18. Jahrhundert' Henning Bey The frequent comparison between symphony and ode (or more general: lyric a rt) in the late eighteenth century represents more than a simple metaphor for a new validation of instrumental music. Rather, it emphasizes the methodological background of a theory of fine a rts and, indeed, the parallels between the constructions of these two genres. Thus, the present study takes a look at the late eighteenth-century debate on music as fine a rt anditsewmphonaesticfprnao(stedfrpnaio).Itsh new emphasis that links instrumental music with lyric a rt and attributes meaning to wordless stru ct ures. This also explains why lyric techniques of expression - such as gestures, rapid changes, perspectivism, and the idea of contrast - were used by composers like Haydn and Moza rt for writing symphonies that were impressive and intelligible at the same time. Comparing analyses of Friedrich Gottlieb Klopstock's ode Die Frühlingsfeier and Joseph Haydn's Symphony No. 82 aim to illustrate their similarities in style and construction and perhaps help to explain a paradigm shift in symphonic writing around 1785 with an evolving concept that reached far into the nineteenth century. In einer umfangreichen, sich über elf Nummern der Allgemeine[n] musikalische[n] Zeitung von 1801 erstreckenden Artikelserie mit „Bemerkungen über die Ausbildung der Tonkunst in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert" 2 schreibt Johann Karl Friedrich Triest von umwälzenden musikalischen Veränderungen im späten 18. Jahrhundert: Dritte Periode; von J. Haydn und W.A. Mozart bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts. Wenn man das letzte Fünftheil oder Zehntheil des vergangenen Jahrhunderts mit Einem Worte 1 Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 28. Juni 2004 im Rahmen des Forschungsseminars vom Institut für Musik- und Tanzwissenschaft an der Universität Salzburg gehalten habe. Darüber hinaus handelt es sich um einen Bestandteil meiner im Druck befindlichen Dissertation Haydns und Mozarts Symphonik nach 1782. Konzeptionelle Perspektiven (Ars una-Verlag, Neuried 2005). Vor dem Hintergrund eines international wirksamen Konzepts Schöner Künste analysiert diese Gattungsstudie die Werke beider Komponisten aus der Perspektive einer sich zeitgleich herausbildenden Musikästhetik. 2 Johann Karl Friedrich Triest, „Bemerkungen über die Ausbildung der Tonkunst in Deutschland im achtzehnten Jahrhundert", in: Allgemeine musikalische Zeitung 14 (1801), Sp. 225-235; 15 (1801), Sp. 241-249; 16 (1801), Sp. 257-264; 17 (1801), Sp. 273-286; 18 (1801), Sp. 297-308; 19 (1801), Sp. 321-331; 22 (1801), Sp. 369-379; 23 (1801), Sp. 389-401; 24 (1801), Sp. 405-410; 25 (1801), Sp. 421-432; 26 (1801), Sp. 437-445. Musicologica Austriaca 23 (2004) 30 Henning Bey charakterisieren wollte, so liesse sich dazu vielleicht kein besseres finden, als das Wo rt Gäh rung. Nicht nur politische Meinungen und Grundsätze, auch wissenschaftliche Ideen und Systeme (sogar bis zur Logik) sind in ihren Grundfesten erschüttert, ja, was noch mehr, und zugleich ein auszeichnendes Merkmal dieses Zeitalters ist, jene Veränderungen blieben nicht blos Gegenstände des Wissens und ein Spielball für Gelehrte und müssige Weltbeschauer, sondern gingen schneller als sonst in's praktische Leben über. Müsste es nicht ein Wunder seyn, wenn die schönen Künste, welche mit jenen Dingen, d.h. sowohl mit den wissenschaftlichen Ideen als mit der praktischen Denkungsart, so genau zusammenhängen, von einer solchen Gährung nicht angegriffen wären?[...] In der That finden wir bey einem auch nur flüchtigen Blick auf den neueren Zustand der Tonkunst, dass diese, weit entfernt, an der allgemeinen Gährung nicht Theil zu nehmen, vielmehr zum Sinn- oder Vorbilde wichtiger Ereignisse dienen konnte. 3 Schon allein die Bezeichnung von Musik, insbesondere Instrumentalmusik, als „schöne Kunst" bedeutet eine gedankliche Revolution. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden nämlich erbitterte Auseinandersetzungen um die Frage, ob (wortlose) Instrumentalmusik überhaupt des eigenständigen Ausdrucks fähig sei, statt. Es ringen erneut anciens und modernes miteinander, diesmal um den Vorrang von Vokal- oder Instrumentalmusik, um die Vergleichbarkeit von und das Verhältnis zwischen Sprache und Musik. Indem Triest geradezu selbstverständlich von Musik als Schöner Kunst spricht, bezieht er sich unmittelbar auf das Ende dieser ausführlichen Auseinandersetzungen und präzisiert damit zugleich die gegen Ende des Jahrhunderts einsetzende „Gährung" als einen musikalischen Paradigmenwechsel4 in Komposition und Bewertung von Instrumentalmusik. Mit Blick auf die Symphonie im späten 18. Jahrhundert — so die Hauptthese dieser Studie — äußert sich dieser Paradigmenwechsel, der mit einem „Strukturwandel der Öffentlichkeit" 5 einhergeht, am Entschiedensten in dem zeitgenössischen Vergleich zwischen Symphonie und Ode. Bekanntlich tritt dieser Vergleich erstmalig in Johann Georg Sulzers Allgemeine[r] Theorie der Schönen Künste auf: Die Symphonie ist zu dem Ausdruk des Großen, Feyerlichen und Erhabenen vorzüglich geschikt. 1...] Die Kammersymphonie, die ein für sich bestehendes Ganzes, das auf keine folgende Schreibart abzielet, ausmacht, erreicht ihren Endzwek nur durch eine volltönige, glänzende und feurige Schreibart. Die Allegros der besten Kammersymphonien enthalten große und kühne Gedanken, freye Behandlung des Satzes, anscheinende Unordnung in der Melodie und Harmonie, stark marquirte Rhythmen von verschiedener Art, kräftige Bassmelodien und Unison, concertirende Mittelstimmen, freye Nachahmungen, oft ein Thema, das nach Fugenart behandelt wird, plötzliche Übergänge und Ausschweifungen von einem Ton zum andern, die desto 3 Ebenda, 5p. 369 (Hervorhebung im Original). 4 Im Sinne Thomas S. Kuhns (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 2 1976), dessen Begriffsfeld „Gemeinschafts-Paradigmata" die praktische Verbreitung neuer Muster und Vorbilder unter Übergehung eines hierfür explizit zu erstellenden Regelkanons veranschaulicht. Ein Paradigmenwechsel (mit Herausbildung neuer Paradigmata) steht vor der Existenz neuer Regeln. Demnach ist Paradigmata ein „Status zuzubilligen, der dem von gemeinsamen Regeln und Annahmen vorgeordnet ist." (Ebd., S. 62). 5 Hierzu Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. Neuauflage 1990, insbesondere Kapitel V: „Sozialer Strukturwandel der Öffentlichkeit". „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset” In stärker frappiren, je schwächer oft die Verbindung ist, starke Schattirungen des Fo rte und Piano, und vornehmlich des Crescendo, das, wenn es zugleich bey einer aufsteigenden und an Ausdruk zunehmenden Melodie angebracht wird, von der größten Wirkung ist. Hiezu kommt noch die Kunst, alle Stimmen in und mit einander so zu verbinden, daß ihre Zusammentöne nur eine einzige Melodie hören läßt, die keiner Begleitung fähig ist, sondern wozu jede Stimme nur das Ihrige beyträgt. Ein solches Alleg ro in der Symphonie ist, was eine pindarische Ode in der Poesie ist; es erhebt und erschüttert, wie diese, die Seele des Zuhörers, und erfodert denselben Geist dieselbe erhabene Einbildungskraft, und dieselbe Kunstwissenschaft um darin glüklich zu sein. 6 Wie allerdings im Verlauf vorliegender Untersuchungen zu zeigen ist, steht dieser im theoretischen Diskurs der Zeit häufig auftretende Vergleich' für das übergeordnete Konzept eines Kanons Schöner Künste. Die Gleichsetzung von Symphonie und Ode geht über eine bloße Metapher oder ästhetische Nobilitierung der Symphonie hinaus. Als methodische Gleichsetzung produziert sie vielmehr einen geistigen Kontext von Musik als Schöner Kunst, mit dem musikalische Verläufe analytisch verdeutlicht und gedeutet werden können. Deshalb widmet sich diese Studie zunächst den poetologischen Zusammenhängen zwischen lyrischer und schöner Kunst und Musik als Schöner Kunst. Die Gattung der Ode, gleichsam Brennpunkt dieser Zusammenhänge, fordert einen Blick auf die Oden Friedrich Gottlieb Klopstocks als innovativsten und einflussreichsten Odendichter und Literaturtheoretiker des 18. Jahrhunderts. Dies geschieht in Form einer Betrachtung von Klopstocks Ode Die Frühlingsfeier, um schließlich mit einer Analyse von Joseph Haydns „Pariser" Symphonie Nr. 82 die von seinen Zeitgenossen beobachteten Bezüge zwischen Symphonie und Ode greifbar werden zu lassen. Lyrische Kunst und die Ästhetik der Darstellung Die Ode gilt im 18. Jahrhundert als prominenteste Gattung der Lyrik. Bezeichnend ist ihre Kombination aus logisch-syntaktischer Konstruktion und emphatisch-ausdrucksvollem Stil, treffend charakterisiert durch den Terminus „scheinbare" oder „schöne Unordnung", wie beispielsweise in Johann Gottfried Herders Schrift Von der Ode: [Die Odej sei nicht in der Gedankenfolge genau ordentlich sondern läßt oft leicht hinzuzusetzende Gedanken aus. Das heißt der Sprung: verbindet die Gedanken so, daß sie beim ersten Anblick ohne Verbindung scheinen, d.i. schöne Unordnung; streue auch entferntere Betrachtungen aus, d.i. Ausschweifung. 8 6 Johann Abraham Peter Schulz, „Symphonie ", in: Johann Georg Sulzer (Hg.), Allgemeine Theorie der Schönen Künste (Band 4), Leipzig 2 1794, S. 479. 7 Hierzu Mark Evan Bonds, „The symphony as Pindaric ode", in: Elaine Sisman (Hg.), Haydn and his world, Princeton 1997, S. 131-153. Es handelt sich allerdings um einen ausschließlich historischen Überblick. Weder verortet Bonds den Vergleich zwischen Symphonie und Ode im dazugehörigen methodologischen Kontext einer Theorie Schöner Künste, noch findet sich bei ihm eine analytische Konkretisierung dieses Vergleichs. Johann Gottfried Herder, „Von der Ode", in: Ulrich Gaier (Hg.), Johann Gottfried Herder. Frühe Schriften 1764-1772, Frankfurt a.M. 1985, S. 59 (Hervorhebungen im Original). 8 m Henning Bey Man könnte auch von ,geplanter Spontaneität' sprechen, geht es doch in der Ode um eine assoziative Vermittlung plötzlich einsetzender Perspektivwechsel und Erlebniszustände, sodass, nahezu paradox anmutend, „scheinbare Unordnung" zur Maxime künstlerischer Darstellung erklärt wird. Hierauf führt Friedrich Gottlieb Klopstock eine aktive Rezeptionshaltung des Publikums zurück: „Unvermutetes, scheinbare Unordnung, schnelles Abbrechen des Gedankens, erregte Erwartung, alles dies setzt die Seele in eine Bewegung, die für die Eindrücke empfänglicher macht. " 9 Individuelle Zusammenhänge sind nun entscheidend, nicht mehr das ,Was' sondern das ,Wie' eines Werkverlaufs bezeichnet seinen Inhalt. Diese inhaltliche Schwerpunktverlagerung vom Dargestellten auf die Darstellungsweise eines Werks bringt die noch relativ junge Disziplin der Ästhetik ins Spiel, schließlich sind Kunstwerke „ä st het i sc h imengernSinn,[...]welcheeinuninteressirtes Wohlgefallen an der Darstellung vermittelst der Anschauung bewirken" 10, wie Christian Friedrich Michaelis feststellt. Im Umkehrschluss handelt es sich demnach bei Lyrik im Sinne aussagekräftiger und eigenständiger Kunst um Schöne Kunst, da sich mit ihrem Schwerpunkt auf der Darstellung — das ist mit dem Attribut „ästhetisch" 11 gemeint — der Inhalt eines Werks aus Verhältnismäßigkeit und Bezüglichkeit seiner sämtlichen Bestandteile zusammensetzt bzw. erklären lässt — unabhängig von einer gegenständlichen Bestimmbarkeit. Die nachdrückliche Reklamierung eines „uninteressirten Wohlgefallens" begründet und legitimiert eine Aussagekraft des Wortlosen, Gestischen: die musikalische Qualität lyrischer Kunst. Hier knüpft im späten 18. Jahrhundert die Theoretisierung von Musik als Schöne Kunst an, um eine bislang vorherrschende ästhetische Verlegenheit im Hinblick auf Eigenständigkeit und Aussagekraft wortloser Instrumentalmusik zu lösen. Vor diesem Hintergrund verbindet sich künstlerisches Handwerk mit philosophischer Ästhetik und Rhetorik zu einer Ästhetik der Darstellung: We remember, that philosophy was (in short) knowledge of all things, knowledge the versatile orator could not properly be without; that dialectic was an indispensable tool of rhetorical argument; and that the orator needed a special psychological knowledge to judge the reactions he hoped to produce in his audience. Erudition, logic, and psychological expertise were all valueless in themselves (...J, but as resources for rhetoric they had a considerable impo rtance, all serving to give speech to that solidity without which it was mereley golden noise, signifying nothing. 12 9 Friedrich Gottlieb Klopstock, „Von der Darstellung ", in: Karl-Heinz Hahn (Hg.), Klopstocks Werke in einem Band, Berlin u.a. 1979, S. 279. Hierzu: Winfried Menninghaus, ,,,Darstellung'. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas ", in: Christian L. Ha rt Nibbrig (Hg.), Was heißt ,Darstellen' ?, Frankfurt a.M. 1994, S. 205-226. 10 Christian Friedrich Michaelis, Über den Geist der Tonkunst. Mit Rücksicht auf Kants Kritik der ästhetischen Urtheilskraft (Band 1), Leipzig 1795, 5. 8f (Hervorhebung im Original). 11 Für Johann Georg Sulzer repräsentiert Ästhetik die „Philosophie der schönen Künste" (Johann Georg Sulzer, „Ästhetik ", in: Ders. [Hg.], Allgemeine Theorie der Schönen Künste [Band 1], Leipzig '1793, S. 47). 12 Kevin Hilliard, Philosophy, Letters, and the fine Arts in Klopstock's thoughts, London 1987, S. 114. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur ästhetischen Aufwertung von Instrumentalmusik als vorrangigem Vertreter von Musik als Schöner Kunst. Ihre Wortlosigkeit und gegenständliche Unbestimmtheit werden im Kontext einer Ästhetik der Darstellung ab ca. 1782 nicht mehr als Nachteil angesehen. Einen Überblick hierzu bietet beispielsweise Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Laaber 4 1986, S. 39-48. „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset „ Im Odenvergleich bei Sulzer beschreibt Johann Abraham Peter Schulz diese Verbindung als „erhabene Einbildungskraft” und „Kunstwissenschaft". Joseph Haydn hingegen spricht gegenüber Leopold Mozart von „Geschmack" und „Compositionswissenschaft". 13 Beide meinen dasselbe. Zurück zur Ode: Mehr als eine Gattung, wird sie im 18. Jahrhundert als Sprachform angesehen. Johann Gottfried Herder nennt sie eine „Sprache der Empfindung" 14 und gesteht ihr damit eine Universalität zu, die er in ihrer Vermengung und Kombination unterschiedlicher Gattungsmerkmale, Erzählhaltungen und Perspektiven begründet sieht. Hieraus bildet sich eine eigenständige und freie Syntax, ein individueller Stil, der weit entfernt ist von strenger Regelhaftigkeit oder aristotelischer Nachahmungsästhetik. Auch davon spricht Sulzers Odenvergleich („ein für sich bestehendes Ganzes", „volltönige, glänzende und feurige Schreibart", „freye Behandlung des Satzes" usw.). Darüber hinaus ist dort von Pindar die Rede. Die Vorbilder Pindar und Horaz werden im 18. Jahrhundert ebenso als Synonyme für die Ode selbst wie für einen eigenständigen Dichtungsstil oder künstlerischen Stil überhaupt verwendet. Ursprünglich Repräsentanten zweier unterschiedlicher Ausdruckssphären der Antike, politisch-öffentliche versus privat-gesellige Odendichtung, vereinigen sich beide Pole odischer Schreibweise in den Oden Friedrich Gottlieb Klopstocks und somit auch im allgemeinen Bewusstsein seiner Zeit. Klopstock gilt als herausragendster Vertreter und Theoretiker der Gattung. Wenn sich demnach der Vergleich zwischen Symphonie und Ode bei Sulzer auf die „pindarische Ode" beruft, so kann dies genauso — zumindest im deutschsprachigen Raum — auf Klopstocks Oden bezogen werden. Zugleich bedeutet das Prädikat „Pindar” eine künstlerische Auszeichnung, ein hochstehendes Werturteil. Auffällig ist bei Pindar sein sogenannter „dunkler Stil" mit sprunghaft wechselnden Gedanken, abrupten Unterbrechungen sowie Abschweifungen, also mit einer verfremdeten Syntax. Dieser Stil ist jedoch, und das gilt für den Stil Klopstocks und das Selbstverständnis der odischen Gattung überhaupt, ebenso Ausdruck künstlerischen Kalküls wie eines furor poeticus, auf den sich die Odendichter der Zeit gern berufen. Essentiell ist hierfür die europaweit verbreitete Ästhetik des Erhabenen (die ja auch im Sulzerschen Odenvergleich Erwähnung findet). Nach der Neuauflage von 1747 des 1678 verfassten Traktats Le traité du sublime ou du merveilleux dans le discours, traduit du Grec de Longuin von Nicolas Boileau erscheint 1757 Edmund Burkes grundlegende Abhandlung A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the Sublime and Beautiful, auf die sich später Kant, Sulzer, Michaelis, Schiller und Johann Georg Heusinger (um nur einige zu nennen) beziehen. Es handelt sich bei dieser Ästhetik um den Entwu rf einer gleichsam psychologisch ausgerichteten Kunsttheorie. 13 Brief Leopold Mozarts vom 16. Februar 1785, in: Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch (Hg.), Mozart. Briefe und Aufzeichnungen (Band 3), Kassel u.a. 1987, S. 373. 14 Herder, „Von der Ode" (s. Anm. 8), S. 67. Henning Bey Sie diskutiert und beschreibt die rationale Anwendung und sinnliche Wirkung eines künstlerisch gestalteten Netzwerks von Bezüglichkeiten, erzielt durch Spannung, Verzögerung, Überraschung und Unterbrechung, Kontraste und Gegensätze. Burkes Ästhetik des Erhabenen ist dialektisch, denn sie basiert hauptsächlich auf der These, dass eine sinnliche Vorstellung nur vermittels ihres Gegensatzes erkennbar, d.h. künstlerisch darstellbar wird: Schönheit benötigt Hässlichkeit bzw. Schrecken, Vertrautes Überraschendes, Ebenmaß Unregelmäßigkeit, Tradition Individualität. 15 Sulzer beschreibt dieses Phänomen im Artikel „Vergleichung" seiner Allgemeine[n] Theorie der Schönen Künste: Das Wort hat zweyerleyBedeutungen; aber beyde drüken die Neben- oder Gegeneinanderstellung zweyer Dinge aus, in der Absicht eines durch das andere zu erläutern. Was bey den römischen Lehrern der Redner insgemein Comparatio genannt wird, ist die Vergleichung zweyer Dinge von einerleyArt, wodurch die Größe, oder die Wichtigkeit des einen gegen das andere abgewogen wird; man könnte sie die logische Vergleichung nennen. Eine andere Art, die eigentlich Similitudo heißt, setzet Dinge von ungleicher Art, in der Absicht die Beschaffenheit des einen aus der Beschaffenheit des andern anschauend zu erkennen, nebeneinander: sie kann die ästhetische Vergleichung genennt werden. 16 Durch diese Dialektik eignet sich die Ästhetik des Erhabenen geradezu ideal als ästhetische Theorie lyrischer Dichtkunst unter einem Primat des Spontanen, Assoziativen — also für ein Kunstverständnis, bei dem es sowohl um einen Dialog zwischen Werk und Publikum als auch um dialogische Strukturen innerhalb eines Werks geht. Auf einer derartigen Ästhetik der Darstellung gründet sich das Konzept einer sogenannten Odenhandlung, wie es beispielsweise Johann Jakob Engel beschreibt: Um meiner Anmerkung ihre völlige Ausdehnung zu geben; so ist da nirgends Fortgang der Handlung, wo nur alle zu einer gewissen ganzen Idee, oder einem gewissen ganzen Vorsatz, gehörige Theile nach einander durchgegangen werden. So, wenn ein bestimmter Begriff in der Seele schon völlig da ist, und nun der Redende die einzelnen Theile derselben nur nach einander vorträgt, nicht erst auseinander entwickelt so ist da kein Fortgang der Handlung. j...] Aber nur dann rückt sie hier weiter, wenn während dem Reden in der Seele neue Ideen, neue Bewegungen hervor kommen, die auf die nachherigen Zustände Einfluss haben. 17 Diese sich im individuellen Werkkontext entwickelnde Handlung, präzisiert Engel, ist eine „philosophische Handlung", die „in den meisten Fällen nichts als die Wirksamkeit einer einzigen nachdenklichen Seele fordert." 18 Es ist nicht zuletzt diese gattungsimmanente Reflexion durch das Publikum, die auf einen engen Aktualitäts- und Öffentlichkeitsbezug der Ode 15 Hierzu Garsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart u.a. 1995. 16 Johann Georg Sulzer, „Vergleichung" (s. Anm. 6), S. 642. 17 Johann Jakob Engel, „Fragmente über Handlung, Gespräch und Erzählung ", in: Ders., Schriften (Band 4), Berlin 1802; Nachdruck Frankfurt a.M. 1971, S. 149f. 18 Ebenda, S. 155. „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset „ als Inbegriff lyrischer Dichtkunst hinweist: „Man kann verfolgen, wie die Ode immer mehr öffentlich wird, sich mehr und mehr zur Stimme des Zeitgeistes macht. Die literarischen wie politischen Tendenzen der Epoche nimmt Klopstock auf als Mund seines Volkes." 19 (Charakteristischerweise wählt später Friedrich Hölderlin für sein Gedicht Der Zeitgeist die Form einer freien und reimlosen Ode.) Als universale und wirksamste Form lyrischer Dichtkunst reicht ihr Einfluss über traditionelle Gattungsgrenzen hinaus, hebt diese sogar auf und initiiert gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Neueinteilung der Schönen Künste in lyrische und nicht-lyrische (bzw. didaktische) Kunst, wie Johann Georg Heusinger in seinem 1797 erschienenen Handbuch der Ästhetik, oder Grundsätze zur Bearbeitung und Beurtheilung der Werke einer jeden schönen Kunst ausführt. 20 Hieraus folgt: „Das ästhetische Attribut ,odenmäßig' ist nur noch locker mit der fest umrissenen Dichtart Ode verbunden." 21 EstehvilmrfüdÄstekDarlungiemWkSchönrKüste. ,Odenmäßige' Musik als Schöne Kunst Durch die Charakterisierung von Musik als lyrische Kunst setzt sich zunehmend im musiktheoretischen und musikästhetischen Schrifttum des ausgehenden 18. Jahrhunderts ein Verständnis von Musik als schöne, eng mit der philosophischen Ästhetik verbundene Kunst durch. Der Sulzersche Vergleich zwischen Symphonie und Ode fügt sich nahtlos in diesen methodologischen Kontext ein, mehr noch: In seiner Rezeption durch andere Theoretiker schlägt sich die Entwicklungslinie von der Ode als repräsentative Gattung lyrischer Dichtkunst zu einer lyrischen Sprachform Schöner Kunst nieder. So spricht Christian Friedrich Michaelis nur noch von „odenmäßiger" Musik. Dennoch sind seine Erörterungen alles andere als vage, vielmehr führen sie den Vergleich Sulzers weiter aus, bis hin zur Nennung einzelner Komponisten: 22 Der Charakter der elegischen Musik war sanfte Rührung, die odenmäßige zeichnet sich durch erhabene Rührung aus. Eine größere Mannigfaltigkeit und Abwechslung in der Wahl und in dem Gang der Melodie und Harmonie, in Tonart, Rhythmus u.s.f., ist ihrem kühneren, feurigeren Schwunge gemäß. Die odenmäßige Begeisterung bedient sich der prächtigsten Fülle der Harmonie, seltener und kühner Wendungen und Übergänge, mit einem Anscheine von Unordnung, welche aber im Grunde eine eigene Ordnung der begeisterten Einbildungskraft ist. Die odenmäßige Komposition erfordert eine noch höhere, mächtigere Gewandheit des Geistes, 19 Karl Vietor, Geschichte der deutschen Ode, Hildesheim 1961, S. 120; eine weitere hilfreiche Darstellung zu Gattungsgeschichte und Poetik der Ode ist Otto Knörrich, „Die Ode", in: Ders. (Hg.), Formen der Literatur in Einzeldarstellungen, Stuttgart 2 1991, S. 272-280. 20 Johann Georg Heusinger, Handbuch der Ästhetik, oder Grundsätze zur Bearbeitung und Beurtheilung der Werke einer jeden schönen Kunst (Band 1), Gotha 1797, S. 129. 21 Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert, Stuttga rt 1968, S. 248. 22 Michaelis, Geist der Tonkunst (s. Anm. 10), S. 123f (Hervorhebungen im Original). An anderer Stelle spricht Michaelis von „scheinbarer Planlosigkeit" (ebd., S. 121). Henning Bey einen noch größeren Reichthum an musikalischen Ideen, als der blos elegische Ausdruck. ihr kann kein gemä ßigter A ffekt (als sanfte Sehnsucht stille Wehmut oder Freude etc.) sondern nur eine starke Gemüthsbewegung und heftige Leidenschaft zum Grunde liegen. Dann wird sie auch den hohen Schwung, den hinreißenden Strom ästhetischer Ideen, die Energie und Kürze, und die Beziehung auf Eine große Hauptidee haben, die man mit Recht erwartet, in gewissen Werken der ersten Meister (eines K. Ph. Bach, Hayden, Mozart, Clementi u.a.) bewundert. Johann Jakob Engel wiederum vergleicht die zeitgenössische Symphonie mit einer „lyrischen Ideenreihe", die er mit eindeutig ,odischem' Vokabular beschreibt: Eine Symphonie, eine Sonate, ein jedes von keiner redenden oder mimischen Kunst unterstütztes musikalisches Werk —sobald es mehrals bloss ein angenehmes Geräusch, ein liebliches Geschwirre von Tönen seyn soll — (...J muss eine solche Reihe von Empfindungen enthalten, wie sie sich von selbst in einer ganz in Leidenschaft versenkten, von aussen ungestörten, in dem freien Lauf ihrer Ideen ununterbrochenen Seele nach einander entwickeln. Wenn ich eine noch nicht bekannt gewordene Theorie von den verschiednen Ideenreihen und ihren Gesetzen hier voraussetzen dürfte; so würd' ich sagen, dass die Ideenreihe keine andere als die lyrische seyn muss. 23 Wiesehrinzwischen derVergleich zwischen Symphonie und Ode in eine methodische Gleichsetzung von Instrumentalmusik und lyrischer Dichtkunst übergegangen ist, verdeutlicht schließlich seine ästhetische Umkehrung beiJohann Georg Heusinger, der nun die lyrische Sprachform durch einen Vergleich mit der (für ihn höherstehenden) musikalischen Gattung auszeichnet: Offenbar muß der Dichter, was die Bestimmtheit und Stärke des Gefühls betrifft, dem Tonkünstler den Rang lassen, und eine Sinfonie von Haydn drückt gleichsam der Seele dasselbe Gefühl weit tiefer ein, das ein Denis oder Klopstock in der Ode unübertrefflich schön und stark (so stark als es der Dichtkunst möglich ist) darzustellen vermag. 14 Vorher hatte die französische Musikästhetik in Person von Michel Guy de Chabanon die Beziehung zwischen Symphonie und Ode bereits auf der konzeptionellen Ebene ins Gegenteil verkehrt: L'attribut distinctif de la Poésie lyrique chez les anciens, fut l'enthousiasme & l'audace. On sait que l'ode en affecte plus que l'Épopée même; & les législateurs du gout déférèrent à ce caractère 23 Johann Jakob Engel, „Über musikalische Mahlerey", in: Ders., Schriften (Band 4), Berlin 1802; Nachdruck Frankfu rt a.M. 1971, S. 323f (Hervorhebung im Original). Auf eben diesen Kontext bezieht sich später Friedrich Schlegel in seinem Athenäums-Fragment 444: „Es pflegt manchem seltsam und lächerlich aufzufallen, wenn die Musiker von den Gedanken in ihren Kompositionen reden; und oft mag es auch so geschehen, dass man wahrnimmt, sie haben mehr Gedanken in ihrer Musik als über dieselbe. Wer aber Sinn für die wunderbaren Affinitäten aller Künste und Wissenschaften hat, wird die Sache wenigstens nicht aus dem platten Gesichtspunkt der sogenannten Natürlichkeit betrachten, nach welcher die Musik nur die Sprache der Empfindung sein soll, und eine gewisse Tendenz aller reinen Instrumentalmusik zur Philosophie an sich nicht unmöglich finden. Muss die reine Instrumentalmusik sich nicht selbst einen Text erschaffen? Und wird das Thema in ihr nicht so entwickelt, bestätigt, variiert, und kontrastiert, wie der Gegenstand der Meditation in einer philosophischen Ideenreihe?" (zitiert nach: Mark Evan Bonds, Wordless Rhetoric. Musical Form and the Metaphor of the Oration, Cambridge MA 1991, S. 228). 24 Heusinger, Handbuch der Ästhetik (s. Anm. 20), S. 174. „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset” de l'ode jusqu'à ériger en préceptes son désordre, se écarts & ses licences. L'esprit d'une telle législation se fait aisement connoitre; la Musique émeut & crouble les sens; elle enivre, pour ainsi dire, la raison. [..] Ne doutez pas que les caractères de la Poésie lyrique ne soient établis sur ce fondement (...]. 25 Unübersehbar ist ein mittlerweile weitverbreitetes Urteil über Musik als Schöne Kunst, gewährleistet durch ihren engen methodischen Bezug zu lyrischer Dichtkunst. Sulzer würdigt in diesem Zusammenhang Instrumentalmusik als „Hauptsache" 26 der Schönen Kunst Musik. Ihr herausragender Repräsentant, mit starkem Öffentlichkeitsbezug, ist die Symphonie (auch hierin der Ode und ihrem Stellenwert innerhalb der lyrischen Dichtkunst vergleichbar). Doch nun zu einem Blick auf den übergeordneten theoretischen Kontext des Odenvergleichs, die im 18. Jahrhundert vieldiskutierte Beziehung zwischen Musik und Sprache und ihre Veränderung gegen Ende des Jahrhunderts. Diese Beziehung verlagert sich von einer ausschließlich konstruktiven auf die konzeptionelle Ebene musikalischer Komposition, d.h. ,Sprache' steht nun für die ästhetische Qualität kontextabhängiger Aussagen im Rahmen eines selbstreferentiellen Zeichensystems. Entgegen der früheren Übereinstimmung von musikalischem und sprachlichem Satzbau bedeutet ein ästhetisches Sprachverständnis erstens den Wegfall ihres semantischen Anteils 27 und zweitens eine individuelle Abstufung sprachähnlicher Strukturen innerhalb eines Werks, sodass Michaelis zu Recht eine Komposition als „gleichsam Form einer Sprache" bezeichnet, „durch welche die ästhetische Idee des Ganzen [...] ausgedrückt wird." 28 Aus diesem Grund betonen die Theoretiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts das Gestische und den Tonfall von Instrumentalmusik, Faktoren, die, wie auch in der Ode, ein wortloses Netz von Bezüglichkeiten herzustellen in der Lage sind. 29 Eng damit verbunden ist schließlich die Kategorie der Bewegung, die als rhythmisches Gestaltungsmittel insbesondere Gegensätze, Kontraste und plötzliche Richtungswechsel im Verlauf einer Ode (und damit einer Symphonie) ausprägen kann. „Der rhythmische Formtrieb [...] greift aktiv in den Bewegungsverlauf ein, der Rhythmus staut durch die Einschnitte zwischen den Wörtern den Strom der Gedanken und Empfindungen. 25 Michel Guy de Chabanon, De la musique considerée en elle-même, Paris 1785, S. 233f; auch Chabanons Zeitgenosse Bernard Germain Comte de la Cépède räumt in seiner Schrift La poétique de la Musique (Paris 1785) der Idee einer ,odischen' Instrumentalmusik viel Platz ein. Er nennt als ihr he rvorragendes Kennzeichen „représenter le désordre' (ebd., S. 53) und bezieht sie als „art sublime" (S. 99) direkt auf den ästhetischen Kontext von Burkes Theorie des Erhabenen. 26 Johann Georg Sulzer, „Instrumentalmusik", in: Ders. (Hg.), Allgemeine Theorie der Schönen Künste (Band 2), Leipzig '1793, S. 677. 27 Hierzu Nicole Schwindt-Gross, Drama und Diskurs: Zur Beziehung zwischen Satztechnik und motivischem Prozeß am Beispiel der durchbrochenen Arbeit in den Streichquartetten Haydns und Mozarts, Laaber 1989, 5. 105f. 28 Michaelis, Geist der Tonkunst (s. Anm. 10), S. 20. 29 Hierzu beispielsweise Johann Georg Sulzer, „Ton" (s. Anm. 6), S. 539 und Johann Gottfried Herder, „Kalligone. Vom Erhabnen und vom Ideal", in: Bernhard Suppan (Hg.), Johann Gottfried Herder. Sämtliche Werke XXII, Hildesheim 1967, S. 185. Zur wortlosen Ausdruckskraft bei Klopstock siehe Klaus Weimar, „Das Wandeln des Wortlosen in der Sprache des Gedichts ", in: Kevin Hilliard und Katrin Kohl (Hg.), Klopstock an der Grenze der Epochen, Berlin u.a. 1995, S. 33-45. Henning Bey [...] Es ist eine Aktion, die auf dem Spannungsgegensatz von Ruhe und Bewegung aufgebaut ist." 30 Solch eine Art der musikalischen Darstellung, deren eigenständige Syntax sich aus den oben genannten Faktoren zusammensetzt, rubriziert Johann Nikolaus Forkel als „ästhetische Anordnung" einer Komposition: So wie nun in der Redekunst oder Poesie ungemein viel darauf ankömmt in welcher Ordnung diese Beweise und Überredungen oder Widerlegungen aufeinander folgen; so ist es auch in der Music von der äussersten Wichtigkeit, alles so anzuordnen, daß der Zuhörer stuffenweise, und aufs natürlichste zu einer Empfindung hin, oder auf eben die Weise von einer andern abgeleitet werde. Daraus entsteht eine eigene A rt von der Anordnung musicalischer Gedanken, die ich die ästhetische Anordnung nennen würde, wenn es mir erlaubt wäre, einer Sache einen eigenen Namen zu geben, die bisher theils von wenigen gefühlt, theils aber auch nur in die Lehre von der Periodologie gerechnet wurde. 31 In der „ästhetischen Anordnung" erläutert sich die musikalische Komposition gleichsam selbst, ihre einzelnen Glieder des Verlaufs prägen Bezüge und Gegensätze aus, an denen der Hörer aus wechselnder (motivischer oder thematischer) Perspektive die „Entwiklung" einer Satzhandlung im Sinne Sulzers verfolgen kann: [Entwiklung ist] eigentlich die Zergliederung oder Auslegung des Mannigfaltigen, das in einer Sache liegt, und ist von der Auflösung unterschieden. Diese macht das Ungewisse gewiß, das Zweifelhafte bestimmt; stellt die Ordnung her, wo sie nicht vorhanden schien; jene läßt uns das, was würklich in einer Sache liegt erkennen, indem sie uns eines nach dem andern von den in ihr liegenden Dingen klar vor Augen legt. Das Verworrene, oder das, was so scheint, wird aufgelöset und das Zusammengelegte wird entwikelt. Ein Begriff wird entwikelt durch die Erklärung, ein Gedanke durch Zergliederung desselben; aber weder der eine noch der andre wird aufgelöset, es sey denn, daß etwas rätselhaftes oder unbegreiflich scheinendes darinn gewesen sey. Die Auflösung gebiehrt Gewißheit und Richtigkeit die Entwiklung aber Deutlichkeit. 32 Der theoretische Hintergrund für die Ästhetik der Darstellung in Symphonie und Ode liegt in der „Vereinigung aller Schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten", die Karl Philipp Moritz 1785 für den Kanon Schöner Künste entwirft. Dabei bedeutet „in sich selbst vollendet" sowohl innere Schlüssigkeit eines Werks als auch Unabhängigkeit gegenüber äußeren gesellschaftlichen Verwendungszwecken: 30 Irmgard Böger, Bewegung als formendes Gesetz in Klopstocks Oden, Berlin 1939, 5. 22f. Hildegard Benning spricht in diesem Zusammenhang von der „unsichtbare[n] Sprache der Bewegung" (Rhetorische Ästhetik. Die poetologische Konzeption Klopstocks im Kontext der Dichtungstheorie im 18. Jahrhundert, Stuttga rt 31 Johann Nikolaus Forkel, „Von der Theorie der Musik, in so fern sie Liebhabern und Kennern 197,5.28) nothwendig und nützlich ist", in: Carl Friedrich Cramer (Hg.), Magazin der Musik (Band 1.2), Hamburg 1783, S. 893 (Hervorhebung im Original). 32 Johann Georg Sulzer, „Entwiklung" (s. Anm. 11), S. 77. „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset” Wo also bei einem Gegenstande ein äußerer Nutzen oder Zweck fehlt, da muß dieser in dem Gegenstande selbst gesucht werden, sobald derselbe mir Vergnügen erwecken soll; oder: ich muß in den einzelnen Theilen desselben so viel Zweckmäßigkeit finden, daß ich vergesse zu fragen, wozu nun eigentlich das Ganze soll? Das heißt mit andern Worten: ich muß an einem schönen Gegenstande nur um seiner selbst willen Vergnügen finden; zu dem Ende muß der Mangel der äußern Zweckmäßigkeit durch seine innere Zweckmäßigkeit ersetzt sein; der Gegenstand muß etwas in sich selbst Vollendetes sein. 33 Christian Friedrich Michaelis leitet hieraus seine Vorstellungen von musikalischer Werkautonomie ab, 34 und aus diesem Blickwinkel muss Sulzers Odenvergleich gelesen werden, der die Symphonie „ein für sich bestehendes Ganzes" nennt, „das auf keine folgende Schreibart abzielet". Dessen Einfluss und Verbreitung in der technisch ausgerichteten Musiktheorie äußert sich beispielsweise im dritten Band von Heinrich Christoph Kochs Versuch einer Anleitung zur Komposition (1793) und in seinem ungefähr zehn Jahre später erschienenen Musikalische[n] Lexikon: Beide zitieren vollständig Sulzers Vergleich zwischen Symphonie und Ode. 35 Friedrich Gottlieb Klopstocks Frühlingsfeier Bei Klopstocks Ode Die Frühlingsfeier handelt es sich um einen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekannten und daher repräsentativen Vertreter der Gattung. Ihre erste Fassung von 1759 unterzieht Klopstock 1771 einer Überarbeitung. Auf den ersten Blick erscheint diese zweite Fassung übersichtlicher, mit durchgängig vierzeilig angelegten Strophen. Allerdings geht damit eine rhetorische Verdichtung ihrer Kontraste und ein überraschender Perspektivwechsel einher. Klopstock stellt nun Gegensätze unvermittelt nebeneinander (beispielsweise in Strophe I, Zeile 2, wo „Will ich mich stürzen! schweben nicht" ursprünglich zweizeilig angelegt war: „Will ich mich stürzen!! Nicht schweben, wo die ersten Erschaffnen"; das analog zu Zeile 1 wiederholte „Nicht" macht die Strophe in der Erstfassung leichter verständlich). Weiterhin treibt er in der zweiten Fassung das für die 33 Karl Philipp Moritz, Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten, Berlin 1785 (Nachdruck Mainz 1989), S. 12 (Hervorhebungen im Original). 34 Michaelis, Geist der Tonkunst (s. Anm. 10), S. 10: „Der eigentliche Zweck der schönen Kunst kann nur eine D a r s t e l l u n g seyn, die weder um eines Begriffs, noch um eines Eindrucks willen, sondern b I o s durch sich selbst gefalle." (Hervorhebungen im Original) 35 Heinrich Christoph Koch, Versuch einer Anleitung zur Komposition (Band 3), Leipzig u.a. 1793 (Nachdruck Hildesheim 1969), S. 302; Heinrich Christoph Koch, „Sinfonie oder Symphonie", in: Ders., Musikalisches Lexikon, Frankfu rt a.M. 1802 (Nachdruck Kassel u.a. 2001), Sp. 1386f. In seiner Anleitung legt Koch überdies dem Leser nahe, „über die Gegenstände seiner Ausbildung selbst zu denken, und die dahin einschlagenden Abhandlungen über die schönen Künste und Wissenschaften zu lesen" (ebd., Band 2, S. 17). Eine Unkenntnis ästhetischer Theorie durch den Tonsetzer bedeutet für ihn die Verfehlung innerer Zweckmäßigkeit eines Werks, da es sich bei dieser um den „Endzwek seiner Kunst" handle (ebd., Band 2, 5. 27). 40 Henning Bey Erstfassung der Ode typische Wechselspiel aus Wiederholung und gradueller Veränderung auf die Spitze (Strophe IV fehlt in der Erstfassung). Dieses ohnehin ungewöhnliche Werk behält damit durch die zwölf Jahre später erschienene, radikalisierte Zweitfassung seinen Platz im öffentlichen Bewusstsein der Zeit. In Goethes Werther (1774) genügt bereits das Wort „Klopstock", um während eines Gewitters die spannungsgeladene Intensität ihrer Bilder gleichsam wortlos zu evozieren (nicht zuletzt die Anwendung einer Odentechnik!). Werther und Lotte wissen — wie auch der Leser —, was in diesem Kontext gemeint ist. 36 Die Frühlingsfeier (2. Fassung; 1771) I/1 Nicht in den Ozean der Welten alle Will ich mich stürzen! schweben nicht, Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts, Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn! II/5 Nur um den Tropfen am Eimer, Um die Erde nur, will ich schweben und anbeten! Halleluja! Halleluja! Der Tropfen am Eimer Rann aus der Hand des Allmächtigen auch! III Da der Hand des Allmächtigen Die größeren Erden entquollen, Die Ströme des Lichts rauschten und Siebengestirne wurden, Da entrannest Du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen! 10 IV 15 V 20 Da ein Strom des Lichts rauscht' und unsre Sonne wurde, Ein Wogensturz sich stürzte wie vom Felsen Der Wolk herab und den Orion gürtete, Da entrannest Du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen! Wer sind die Tausendmaltausend, wer die Myriaden alle, Welche den Tropfen bewohnen und bewohnten? und wer bin ich? Halleluja dem Schaffenden! mehr wie die Erden, die quollen, Mehr wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten! 36 Hierzu Paul Böckmann, „Die Sprache des Erhabenen in Klopstocks ,Frühlingsfeier", in: Ders., Formensprache. Studien zur Literaturästhetik und Dichtungsinterpretation, Hamburg 1966, S. 98 - 105, hier: S. 98: „Es ist gut, sich dieser Bedeutung Klopstocks für den Werther zu erinnern, wenn wir heute uns der Frühlingsfeier zuwenden. Gar zu leicht mag der Eindruck durch manches Befremdliche und Ungewohnte gestört werden, so daß man nicht mehr erkennt, wie sehr gerade dieses Gedicht und die ihm nah verwandten religiösen Oden von 1758/59 einen entscheidenden Wendepunkt innerhalb der deutschen Dichtungsgeschichte und besonders der Lyrik darstellen." „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset" VI Aber du Frühlingswürmchen, Das grünlichgolden neben mir spielt, Du lebst und bist vielleicht, Ach, nicht unsterblich! VII/25 Ich bin herausgegangen, anzubeten, Und ich weine? Vergib, vergib Auch diese Träne dem Endlichen, O du, der sein wird! VIII 30 Du wirst die Zweifel alle mir enthüllen, 0 du, der du mich durch das dunkle Tal Des Todes führen wirst! Ich lerne dann, Ob eine Seele das goldene Würmchen hatte. IX Bist du nur gebildeter Staub, Sohn des Mais, so werde denn Wieder verfliegender Staub Oder was sonst der Ewige will! 35 X 40 Ergeuß von neuem du, mein Auge, Freudentränen! Du, meine Harfe, Preise den Herrn! XI Umwunden wieder, mit Palmen Ist meine Harf umwunden! Ich singe dem Herrn! Hier steh ich. Rund um mich Ist alles Allmacht! und Wunder alles! XII/45 Mit tiefer Ehrfurcht schau ich die Schöpfung an; Denn du! Namenloser, du! Schufest sie! XIII 50 Lüfte, die um mich wehn und sanfte Kühlung Auf mein glühendes Angesicht hauchen, Euch, wunderbare Lüfte, Sandte der Herr, der Unendliche! XIV Aber jetzt werden sie still, kaum atmen sie. Die Morgensonne wird schwül! Wolken strömen herauf! Sichtbar ist, der kommt, der Ewige! 55 XV 60 Nun schweben sie, rauschen sie, wirbeln die Winde! Wie beugt sich der Wald! Wie hebt sich der Strom! Sichtbar, wie du es Sterblichen sein kannst, Ja, das bist du, sichtbar, Unendlicher! Henning Bey XVI Der Wald neigt sich, der Strom fliehet, und ich Falle nicht auf mein Angesicht? Herr! Herr! Gott! barmherzig und gnädig! Du Naher! erbarme dich meiner! XVII/65 Zürnest du, Herr, Weil Nacht dein Gewand ist? Diese Nacht ist Segen der Erde. Vater, du zürnest nicht! XVIII 70 Sie kommt, Erfrischung auszuschütten, Über den stärkenden Halm! Über die herzerfreuende Traube. Vater, du zürnest nicht! XIX Alles ist still vor dir, du Naher! Ringsumher ist alles still! Auch das Würmchen, mit Golde bedeckt, merkt auf! Ist es vielleicht nicht seelenlos? ist es unsterblich? 75 XX 80 Ach, vermöcht ich, dich, Herr, wie ich dürste, zu preisen! Immer herrlicher offenbarest du dich, Immer dunkler wird die Nacht um dich Und voller von Segen! XXI Seht ihr den Zeugen des Nahen, den zückenden Strahl? Hört ihr Jehovas Donner? Hört ihr ihn? hört ihr ihn, Den erschütternden Donner des Herrn? XXII/85 Herr! Herr! Gott! Barmherzig und gnädig! Angebetet, gepriesen Sei dein herrlicher Name! XXIII 90 Und die Gewitterwinde? sie tragen den Donner! Wie sie rauschen! wie sie mit lauter Woge den Wald durchströmen! Und nun schweigen sie. Langsam wandelt Die schwarze Wolke. XXIV Seht ihr den neuen Zeugen des Nahen, den fliegenden Strahl? Höret ihr hoch in der Wolke den Donner des Herrn? Er ruft: Jehova! Jehova! Und der geschmetterte Wald dampft; 95 XXV 100 Aber nicht unsre Hütte! Unser Vater gebot Seinem Verderber, Vor unsrer Hütte vorüberzugehn! .,ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset" XXVI 104 XXVII Ach, schon rauscht, schon rauscht Himmel und Erde vom gnädigen Regen! Nun ist, wie dürstete sie! die Erd erquickt, Und der Himmel der Segensfüll entlastet! Siehe, nun kommt Jehova nicht mehr im Wetter, Im stillen sanften Säuseln Kommt Jehova, Und unter ihm neigt sich der Bogen des Friedens! Schon mit ihrem unkonventionellen Anfang, gleichsam einem „Nicht-Beginn", stürzt sich die Ode in eine „scheinbare Unordnung". Strophe I und 11 bilden durch ihre jeweils erste Zeile einen Gegensatz aus und markieren dennoch gemeinsam das dichterische Vorhaben Klopstocks in der Frühlingsfeier. Sie durchmessen einmal den gesamten Kosmos der Schöpfung, vom größten „Ozean der Welten" bis zum kleinsten „Tropfen am Eimer", um sich dann gleichsam auf mittlerer Größe, „die Erde nur" als Sphäre des Menschen, einzupendeln. Nicht nur die Perspektive zwischen beiden Vierzeilern wechselt jäh, es kontrastieren auch einzelne Aktionen miteinander: Der Kontrast „stürzen"—„schweben” zwischen 1,2 und 11,6 wird bereits innerhalb der Strophe I vorweggenommen, wirkt do rt alerdingsoch,abedVrniNgatodesAfnmiarvebdt, sodass sich ihre Kontrastierung erst in Strophe 11,6 ganz entfalten kann. Weiterhin findet sich ein Enjambement in 1,3/4 – ein Zeilensprung, der nur im Nachhinein klar wird, da es sich genauso gut um ein beschwörendes „Anbeten, tief anbeten!" in Zeile 4 allein hätte handeln können, ohne Verbindung zum Vorigen. Auch hier besteht durch eine Art Vorwegnahme die Verbindung zu Späterem, dem Kontrast „stürzen"—„schweben” vergleichbar, da „anbeten" erneut in Zeile 6 auftaucht. Ein letzter Gegensatz existiert schließlich auf der zeitlichen Ebene der Darstellung in der Gegenüberstellung von Präsens und Imperfekt („will ich", 11,6 und „rann aus der Hand des Allmächtigen", 11,8). Der gesamte Verlauf dieser Ode setzt sich aus derartigen Gegensätzen und Kontrasten zusammen. Auf den ersten Blick irritierend, sind sie jedoch zusammenhangstiftend, da sie einzelne Bestandteile, unterschiedliche Darstellungsebenen und Größenverhältnisse gegeneinander abgrenzen und gleichzeitig zueinander in Beziehung setzen. Das gilt auch für die scheinbaren Gedankensprünge und Unterbrechungen in dieser Ode, mit Interjektionen („ Halleluja!" 11,7) oder Einschüben ganzer Strophen (Strophe V), die entweder eine sich formierende Bewegung und Odenhandlung zwecks Spannungssteigerung abreißen lassen oder rückblickend das Netz von Bezüglichkeiten erweitern. Eine weitere große Rolle spielt in der Ode der sprachliche Tonfall, wie die eingeschobene Strophe V verdeutlicht. Zwar mit den vorangegangenen Strophen durch den einsilbigen Beginn des Anfangs verbunden („Nicht", „Nur", „Da", „Da", „Wer"), überrascht hier die in einer hymnischen Ode seltsam deplazie rt scheinende Frage „Wer sind die Tausendmaltausend, wer die Myriaden alle,/ Welche den Tropfen bewohnen und bewohnten? Und wer 13 Henning Bey bin ich?" (Zeile 17/18). Trotz dieses abrupten Wechsels im Duktus existiert dennoch eine Verbindung zum Vorigen, da in dieser Frage sowohl die Größenverhältnisse der ersten beiden Strophen („Ozean der Welten"–„Tropfen am Eimer"–„ich") als auch ihre beiden Zeitebenen (Präsens und Imperfekt) auftauchen und noch dazu auf engstem Raum zusammengefasst werden. Diese Zusammenfassung wirkt wie ein Resümee des Bisherigen. Gleichzeitig weist der Wechsel im Tonfall auf Neues hin: Nun ändert sich die Richtung der odischen Darstellung, der Einwurf „Halleluja dem Schaffenden!" (V,19) mit seiner unvollständigen Fortsetzung „mehr wie die Erden, die quollen,/ Mehr wie die Siebengestirne, die aus Strahlen zusammenströmten” deutet es an, und die erstmalig zweisilbig beginnende Strophe VI („Aber") bestätigt es. Was wäre die Schöpfung ohne Gott, meinte nämlich die Frage aus Strophe V ohne sie zu stellen, und die folgenden 22 Strophen widmen sich der Begegnung und Beziehung zwischen Mensch und Schöpfer. Eine weitere Odentechnik Klopstocks ist die der Wiederholung, Akzentuierung, Aussparung oder leichten Abwandlung. Hieraus konstituiert sich ein Verlauf, eine Odenhandlung und damit ein Dialog zwischen Werk und Publikum. Ausgewähltes Kernvokabular durchzieht die gesamte Ode (z.B. stürzen, schweben, rauschen, strömen, Halleluja). Außerdem werden ganze Verse wortwörtlich („Da entrannest Du, Tropfen, der Hand des Allmächtigen” in 111,12 und IV,16) oder leicht abgewandelt („Seht ihr den Zeugen des Nahen, den zückenden Strahl?” bzw. „Seht ihr den neuen Zeugen des Nahen, den fliegenden Strahl?" in XX1,81 bzw. XXIV,93) an anderer Stelle wiederholt. Für Gott findet Klopstock zahlreiche Namen, die Neuartiges und Vertrautes zugleich ausstrahlen sollen: „Allmächtiger", „Schaffender", „du, der sein wird", „der Ewige", „Herr", „Namenloser", „Unendlicher" „Naher", „die Nacht" usw. Damit entstehen Bezugs- und Vergleichspunkte innerhalb des gesamten Handlungsverlaufs, die es ermöglichen, spontan Perspektive und Art der Darstellung zu wechseln oder in bildhafter Konnotation die traditionelle Bedeutung eines Ausdrucks zu verändern, wie beispielsweise in Strophe VIII. Dort verwendet Klopstock das A tt ribut „dunkel" im negativen Sinne eines „Tal des Todes" (Zeile 30/31). In Strophe XVII kippt diese Bedeutung in der Konfrontation zwischen den Zweizeilern 65/66 und 67/68 ins Gegenteil: „Zürnest du, Herr,/Weil Nacht Dein Gewand ist?"—„Diese Nacht ist Segen der Erde.Nater, du zürnest nicht". Die furchteinflößende (dunkle) Nacht ist auf einmal „Segen der Erde", Gott zürnt dem Menschen nicht. Und dieser neue Bedeutungskontext entwickelt sich weiter: „Immer herrlicher offenbarest du dich,/ Immer dunkler wird die Nacht um dich" (XX,78/79). Je dunkler es wird, desto näher ist Gott. Die „schwarze Wolke" in XXII1,92 stellt also keine Bedrohung dar, sie ist vielmehr Inbegriff einer erwartungsvollen Spannung. In diesem Kontext erhält auch der erlösende Regen in Strophe XXVI („Nun ist, wie dürstete sie! die Erd erquickt!") eine eigene Bedeutung. Er steht für die geistige Erquickung des Menschen durch die Nähe Gottes. Kurz vor der „immer dunkler" werdenden Nacht, in XX,77 hieß es nämlich: „Ach, vermöcht ich, dich, Herr, wie ich dürste, zu preisen!”. Diese Erwartung löst besagter Regen, die Entladung des Gewitters in der Nähe Gottes, ein. Faszinierenderweise kristallisierten sich solche individuellen Aussagen erst im Gesamtverlauf der „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset” Ode heraus, nachdem ihre wichtigsten Bestandteile in unterschiedlichen Konstellationen dargestellt und diversen Gradationen unterzogen worden sind. Hier liegt das Prozesshafte einer „Entwiklung" im Sinne Sulzers, 37 wo sich im Wechselspiel die einzelnen Glieder eines Werks gegenseitig erläutern. Eng verbunden mit dieser Entwicklung individueller Bedeutungskontexte ist die Spannungskurve ab Strophe XIII. Sie setzt sich aus der Bewegung und dem inneren Tempo der Darstellung zusammen, aus einzelnen Verben oder Versen mit gestischem Charakter: „Lüfte, die [...] wehn und sanfte Kühlung [...]/ hauchen" (X111,49/50), „Aber jetzt werden sie still, kaum atmen sie" (XIV,53), „Wolken strömen" (XIV,55), „Nun schweben sie, rauschen sie, wirbeln die Winde!" (XV,57), „Wie beugt sich der Wald! Wie hebt sich der Strom!" (Zeile 58), „Der Wald neigt sich, der Strom fliehet" (XVI,61). Die Bewegung der Verben nimmt zu, die Spannung verdichtet sich — um wieder abzubrechen (Einschub der Strophen XVII bis XX). Es folgt ein zweiter Anlauf, ausgelöst durch Blitz und Donner (XXI). In Strophe XXIII komprimiert Klopstock dieses plötzliche Umschlagen der Bewegung in den Zeilen 90/91: „Wie sie rauschen! wie sie mit lauter Woge den Wald durchströmen!/ Und nun schweigen sie." Die im Anschluss daran langsam wandelnde „schwarze Wolke" repräsentiert das retardierende Moment vor dem „gnädigen Regen" (XXVI,102) und der epigrammatischen Entspannung im „Bogen des Friedens" (XXVI1,108) — dem biblischen Symbol für den Bund zwischen Gott und den Menschen. Joseph Haydns „Pariser" Symphonie Nr. 82 Wie Klopstocks Frühlingsfeier beginnt Haydns Symphonie mit dem unmittelbaren Kontrast zweier Perspektiven in der Darstellung, mit dem Gegensatz zweier syntaktischer Einheiten, aus dem sich der weitere Verlauf ihrer Satzhandlung speist. Es handelt sich um eine achttaktige Periode, den ersten Hauptgedanken des ersten Satzes (Notenbeispiel 1). Dabei steht fortissimo gegen piano, das gesamte Orchester gegen die Streicher, statische Repetierung der Tonika gegen einen harmonischen Gang von der Dominante zur Tonika und ein auf jeder Zählzeit akzentuierter Vordersatz (Pauke) gegen walzerähnliche Betonungsverhältnisse im Nachsatz. Die ersten vier Takte ähneln dem in Paris üblichen coup d'archet38 und versuchen, mit ihren Sechzehnteln eine kontinuierliche musikalische Bewegung zu initiieren, die jedoch bereits in Takt 2 abbricht und sich die nächsten beiden Takte nur ruckartigsprunghaft abwärts bewegt. 37 Siehe hierzu Anmerkung 32. 38 Siehe hierzu Wolfgang Amadé Mozarts Brief vom 12. Juni 1778, in: Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch (Hg.), Mozart. Briefe und Aufzeichnungen (Band 2), Kassel u.a. 1962, S. 379. ICI Henning Bey Notenbeispiel 1: 1. Hauptgedanke, Takt 1-8 •LI 1 l 1 >••■• ■•• ■ r7I!,■ • ••■ .■ r• ■ _^ ^^ l^•7^-t=_74=s7)•rr^^L7)•r^^r n.^r^ ^rrrr7^ ■^■■•••■ '1Yrrr^r^L^^r ^r^rrrlArYr1 Jrrprr^rl^ rrrr ^ 1. ^.^rlrrl^^lrrlrr^ ^ - r --- ff w■ p Haydn spielt hier mit der Pariser Tradition symphonischen Beginnens. Schnell wird jedoch deutlich, dass in diesem Satz andere Verhältnisse herrschen und sich erst in dem pianoNachsatz, der einen dynamischen, melodischen und rhythmischen Kontrast zum „Coup d'archet" ausbildet, eine musikalische Bewegung konstituieren kann. Der daran anschließende, metrisch zwölftaktige erste Nebengedanke unterbricht jedoch sofort diesen Ansatz eines Satzgeschehens (Notenbeispiel 2). Nach zwanzig Takten kommt also jegliche musikalische Bewegung zum Stehen und verharrt auf einem Dominantabsatz. Notenbeispiel 2 1. Nebengedanke, Takt 8-20 Haydn greift nun zu einer typisch ,odischen' Technik, indem er überraschend die Perspektive wechselt: Bisher war sich der Zuhörer über den Stellenwert der einzelnen Glieder nicht im Klaren und hielt nicht zuletzt den Unisono-Beginn im Fortissimo für einen typischen Symphonieanfang. Ab Takt 21 kontrastiert Haydn diesen Vordersatz mit sich selbst (Notenbeispiel 3) und weist ihm dadurch größere Bedeutung als die eines konventionellen Auftaktgestus zu. „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset" Notenbeispiel 3 Eigenkontrastierung 1. Hauptgedanke, Takt 21-38 ■ MIIMw w _ =IN 11 wwr ww wwr>•11•9■11wINIWIIIIIIMMII■ ww11111111wMMINIMMIIIIIMINa w..■ w^ wl ■MIMw• ..m>,=ewmwwwwr r■w■ wulmor. m■ J■Nme i..w, IMO tl ii ■■• ■■ III • Der Fortissimo-piano-Kontrast des Beginns verkehrt sich hier ins Gegenteil (piano-forte). Mit dem forte-Einsatz in Takt 25 wandert das Dreiklangsmotiv in die tiefen Streicher; der rhythmische Kontrast zwischen Synkopen in den Violinen und dem Dreiklangsmotiv in Bratschen und Violoncelli bzw. einer stets unbetont einsetzenden Achtelbewegung in den Bläsern setzt endlich eine harmonische Bewegung in Gang (Takt 25: Tp; Takt 29: Doppeldominantseptnonakkord), die in den rhythmischen Fluss eines zweiten Nebengedankens mündet (Notenbeispiel 4): Notenbeispiel 4 2. Nebengedanke, Takt 39-50 •■=,_:/..■•■ AMMI . • ■ • ■•11•JMs-1WANIw .MI•ww...=■ » .wc ^ MiIIIIIIIIMwIM --- 1111•---11111w --- 1111111111M111111 www w---111111".....111111 w---1111111111111111111ww• . ^ %al^ % ^ --- r ss.l^^1•L^.S^ ^wwwwww wi wwwwwi^-wwlww^wwwwww ^w^^^wwwr X aww^ww^^ww w^w7^w:rrsww ^wwwwwww --- --- ^^^ ^ üi --- w^ Henning Bey Die Gradation des Anfangskontrasts und vor allen Dingen die Eigenkontrastierung des hauptgedanklichen Vordersatzes isoliert eines der beiden Glieder und stellt seine Bedeutung in veränderter Perspektive heraus. Der darauf folgende zweite Nebengedanke (Takt 39-50) prononciert in seiner wiederholten harmonischen Abfolge Doppeldominantseptakkord-Dominante einen Gang in Richtung Dominanttonart, der sich dann auch ab Takt 46 auf G-Dur als neue Tonika bezieht. Allerdings tritt diese erst in Takt 50 auf unbetonter Zählzeit zum ersten Mal in Erscheinung. Eine Verfestigung der neuen Tonart — wie es auch die Konvention erwarten ließe — findet jedoch nicht statt, vielmehr erstickt erneut ein überraschender Einbruch diese Entwicklung im Keim (Notenbeispiel 5) und sorgt überdies für harmonische Irritation, denn in welchem tonartlichen Abschnitt der Exposition befinden wir uns nun? Handelt es sich um einen Schritt zurück nach C-Dur, mit Akkordwechsel zwischen Molltonikaquintsextakkord oder Molltonikadurgegenklang und der Dominante, oder bezieht sich das As auf die kurz zuvor gestreifte Tonart G-Dur als neapolitanischer Sextakkkord, der sich in die unbetonte Tonika löst? In Takt 54 kippt das Geschehen harmonisch nach c (Dominantseptakkord mit Quinte im Bass, der im Folgetakt 55 nach c-Moll aufgelöst wird) — um dann doch über Doppeldominante (Takt 56, 57) und Dreifachdominante (Takt 58) wieder in die Dominanttonart G-Dur zu modulieren, die mit Beginn des dritten Nebengedankens (Notenbeispiel 6) erreicht wird. Notenbeispiel 5 Einbruch/ Exposition, Takt 51-58 51 V. I I = ^ , MN ■111111.11===---s:r•^:^^^s^^^^^ =Mug, f b _======1171====_=i111__====! ■ M l =If 111111.:1.1•11/ » NIN ■ BMW MININI•• IN'» M1111,11 Y. l1=r3==11l=..‘= ■ =11W» ^ f` P ^. ^ Vn Va. M ..EL„ ^^.^...^^^^^. ^^ ^.,^„_^^^^^^^^..^.^^^ ^MIIIIMMIIII, MIN .1■11•■■ .1MP M711. ■ ■MI 7= .L. = =1.1==1■11=.M == W="M •IMIsl:>• -7- -,=1/..1=1 •i.VSi i^=.T1•11=111=.T1=1=11t^ir^^ Il ^^^ iu^.>.w^...^^ ■ I[„' ^^^^ â ^^ââ ^^^^:^ ^ ^:>. mnamommomiiiiim p. r.vc>>rr^^^^^rr^r.rr,.rr^=.r.^rr C^.'C h C^^ f ^ ^^ :Ill: .. 1^.r^ rraMEMM ^C^^^ : ' ^^ : ' ^C^^^C^ : '^ fi k f „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset "' Notenbeispiel 6 3. Nebengedanke, Takt 59-69 Dieser dritte Nebengedanke, für den der vorangegangene Einbruch gleichsam den Weg freisperrte, weist in zwei verschiedene Richtungen und erinnert in seiner doppelten Bezüglichkeit an das Enjambement in Strophe II, Zeile 7/8 aus Klopstocks Frühlingsfeier: Getrennt von Zeile 5/6 durch die Interjektion „Halleluja! Halleluja!" deutet „Der Tropfen am Eimer/ Rann aus der Hand des Allmächtigen auch!" sowohl auf Zeile 5 als auch auf den Beginn von Strophe Ill (Zeile 9). Ein Scharnier gewissermaßen, das in seiner Gegensätzlichkeit zum Umliegenden gleichzeitig Bezüge herstellt. Sein Anfangstakt 60 nimmt den Anfangsrhythmus des zweiten Hauptgedankens vorweg (Notenbeispiel 7), während sein abrupter Schluss in Takt 67-69 den charakteristischen Rhythmus des ersten Nebengedankens evoziert. Notenbeispiel 7 2. Hauptgedanke, Takt 70-78 1 71►^ /* 0 4g I LI P I / ^ . • 14, • r fz • 4 4 .rrr^rirr^r^ ^•••^ . ^rir^rrrrrr•^•^.rr^rrri - •• - ^•.•••--rr^rrwrr^ !-' p Z i P Zwischenfazit: In dieser Exposition unterbrechen sich ihre einzelnen Glieder gegenseitig. Tonfall-, Bewegungs- und Perspektivwechsel sind die Folge, sodass der Hörer zu erhöhter Aufmerksamkeit nahezu fortwährend gezwungen wird. Nun, da sämtliche Parameter des Sat- Henning Bey 50 zes vorgestellt worden sind (den Eckpunkten des Kosmos' in Klopstocks Ode vergleichbar), kann sich aus ihnen eine Satzhandlung entwickeln. Die Durchführung bringt auch prompt eine neue Perspektive ins Spiel: Sie überspringt den Vordersatz und setzt auf dem Nachsatz des ersten Hauptgedankens ein (Notenbeispiel 8). Notenbeispiel 8 Beginn der Durchführung auf dem Nachsatz des 1. Hauptgedankens, Takt 103-110 103 ^ ^ ^ ■ ^^^ ^ -^ ^^mmem - EN a■s ■I mum tl UNIIMMUMMI rwSLTU ■ rUMMIMUU NINI ■■M ■ TUMIN ■■ UNU f.^,^^ ■ i fMUINUNI•NNII MMM ■N■ Wit NM ^f r t l• Dieser Gedankensprung verlagert das Augenmerk von der Dichotomie zwischen Vorder- und Nachsatz auf das Verhältnis zwischen Nachsatz und erstem Nebengedanken: Wer unterbrach in der Exposition eigentlich wen — der Nachsatz den Vordersatz oder der Nebengedanke den Nachsatz? Auf einmal verdeutlicht die Hervorhebung eines ,neuen' Gegensatzes die Gemeinsamkeiten von Vordersatz und erstem Nebengedanken in Tonfall, Dynamik und Bewegung. Problemlos schiene aus dieser neuen Perspektive folgende Kombination denkbar: Notenbeispiel 9 Fiktive Kombination zwischen Vordersatz/ 1. Hauptgedanke- da Vordersatz a^ d m ' 1. Nebengedanken H aupt- und . ■M =MINIMUM ^1 J1 .INNIIIIUM .■ t) Z/r J ■■^ Jt7rJr L`J>•^^ ■a-- r^ ■ ^rra- ^^ ■Ma^r r 1 L J r ..^:U=-- ■ rrM ■ UFrUJlr■■ vr>•rrMM-MMUMMUMM ■ U •■ == V Ji. JIMMI arIUMMIMUNIMMIN■.aUNININIUMNINia ■UNIMr S ■ NI ■ aMNIMMU if Doch zunächst folgt die Durchführung dem weiteren Verlauf der Exposition mit der bekannten Eigenkontrastierung des hauptgedanklichen Vordersatzes, um danach erneut durch Auslassung bzw. Gedankensprung die Bedeutung des dritten Nebengedankens herauszustellen. Dieser ist hier nämlich nur mit seinen Schlusstakten vertreten (Takt 138-140 = Takt 67-69), auf die unmittelbar der zweite Hauptgedanke folgt. Damit wird sowohl seine Verbindung zum ersten Nebengedanken wie zum zweiten Hauptgedanken deutlich. „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset' Der Einbruch aus der Exposition (siehe Notenbeispiel 5), der hier an analoger Stelle vom Hörer erwartet wird, fehlt. Deshalb überrascht sein verspäteter Auftritt — am Schluss der Durchführung und in abgewandelter Form — umso mehr (Notenbeispiel 10). Der Stimmtausch zwischen Bratsche und Violoncelli verlegt den Orgelpunkt g in den Bass. Dadurch klärt sich seine anfängliche harmonische Unschärfe, die in der Exposition sowohl nach CDur als auch nach G-Dur wies, auf: Eindeutig wird nun der As-Dur-Akkord über Orgelpunkt g als neapolitanischer Sextakkord auf der Mollsubdominante von G-Dur gedeutet. Durch seine Erweiterung auf zwölf Takte wird die mit dem Einbruch einhergehende Schockwirkung perpetuiert und dadurch entzerrt; ab Takt 165 kann er daher problemlos in die zweite harmonische Richtung (hier: C-Dur) kippen, da nun seine Struktur einsichtig und sogar logisch erscheint. (Als endgültig klärender Nachtrag tritt übrigens in Takt 169/170 das As als verminderte Quinte des Doppeldominantseptakkords von C-Dur auf.) Die nun folgende Reprise hört das Publikum mit anderen Ohren, und ab Takt 196 verlässt Haydn den in der Exposition vorgezeichneten Verlauf und bringt zwei im Tonfall zusammengehörige Satzglieder — wie ja auch schon weiter oben angedacht — zusammen (Notenbeispiel 11): Anstelle der Eigenkontrastierung des Vordersatzes erklingen hier simultan der Vordersatz des ersten Hauptgedankens in den Violinen und der erste Nebengedanke in Hörnern, Trompeten und Pauke. Als abschließende „Entwiklung” oder „Auslegung des Mannigfaltigen" 32 findet sich noch eine letzte Gradation des prominenten Einbruchs aus Exposition (Takt 51ff) und Durchführung (Takt 162ff). Hatte dieser in der Exposition noch den Weg für den zweiten Hauptgedankenkomplex freigesperrt und ihm durch seine harmonische Unschärfe die Gelegenheit zu einem tonartlich eindeutigen Auftritt verschafft, so unterbrach sein zweiter Auftritt die Ausdruckssphäre des zweiten Hauptgedankens und beendete die Durchführung. In der Reprise verzögert schließlich seine auf das piano der Streicher beschränkte, ,ausgedünnte' Fassung in Takt 239-247 den Schluss des gesamten Satzes (Notenbeispiel 12). Interessanterweise präsentieren sich hier noch einmal die Deutungsmöglichkeiten für das verstörende As: In Takt 241 deutet ein Trugschluss auf dem Molltonikadurgegenklang As-Dur in die eine, und in Takt 246/247 die Akkordfolge verminderter Doppeldominantseptakkord-Quartsextakkord auf der Dominante (mit as-g im Bass) in die andere Richtung. Den gesamten Satz beschließt der erste Nebengedanke und rundet mit seiner Entsprechung zum Tonfall des Satzbeginns diesen disparaten und vielschichtigen Symphoniesatz nach außen hin ab. 39 Sulzer, „Entwiklung" (s. Anm. 32). D Henning Bey Notenbeispiel 10 Gradation des Einbruchs, Takt 162ff I fr PP fz fZ „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset" Notenbeispiel 11 Kombination von Vordersatz des 1. Hauptgedankens und 1. Nebengedanken, Takt 196ff 0 ivn Cor. Trbne. limp. V. I MI rar — a .. W.^»! 7M^^.^r^^t'a^^=.^r}^t 7^^^.^r llL 7^01101011. ■ t IM/sWr-W1.110.tr r11•r•••r-r•tresaaerrrr-r.r4r_r11000111111111•rrrr4rr91 a.MIlL. .. . ..a-. a. ■..a.a.a.1100‘. ■la.ida.a.a.. aN0,116: a .•M. . . .1a.. a aaa NINIEMENNEIN AMID i MUM MIP 11•01100•10 MIII•1011■1010 000111001•01_ •1010 ■1000110M11111_at•t 10111^.^ar ■ a101101rt^. ac_11•111•1 •11=1rMaaa11 Waa , 1110010. ar■ aaIMIIr ^V i ^ VVV\v^r^ VVV^v^r^ ^a r.a r.la r-".^a.r^^.ir4^ IMO= m.1 a) >s -r^t . ^^ ^ rrt 1!-a^I ^ ■ ^—t ••=00 Ya , llllrl.11r_IIIIIIIr^trrlllAr^Ir^r1^I.`^II. T 0rrOIrrlO/ Mar aIr•10lnr7=11•10011In I11110111, AMP' J•0111•1010. 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Das Disparate seines Verlaufs wird von den unterschiedlichen Entwicklungslinien eines musikalischen Kernvokabulars zusammengehalten: —erstens, von der Gradationslinie des Anfangskontrasts, dessen Polarität zwischen Vorder- und Nachsatz sich zu Beginn der Durchführung auf den Gegensatz zwischen Nachsatz und erstem Nebengedanken verschiebt, um dann in der Reprise in eine Kombination von Vordersatz und erstem Nebengedanken zu münden (Notenbeispiele 1-8-11); —zweitens, von der Gradationslinie des Einbruchs aus der Exposition (Takt 51ff), die sich ebenfalls über Durchführung (Takt 162ff) und Reprise (kurz vor der Coda, Takt 239-247) erstreckt (Notenbeispiele 5 - 10-12); —drittens, von den unterschiedlichen Querverbindungen im Tonfall, die zwischen einzelnen musikalischen Gedanken oder innerhalb eines Gedankens bestehen (beispielsweise im dritten Nebengedanken, Notenbeispiel 6). Am auffälligsten ist hierbei eine Umklammerung des Satzes durch den Tonfall von Vordersatz und erstem Nebengedanken (Coda). Diese unterschiedlichen Verbindungslinien verkörpern eine eigene Logik der Darstellung, ja man könnte sogar von einer ,Folgerichtigkeit der Unterbrechung' sprechen, die Gegensätze nicht synthetisiert sondern produktiv nutzt. Stets rechnet dabei der Komponist mit hörendem Mit- und Nachvollziehen. Die Eindeutigkeit seiner musikalischen Aussagen nimmt proportional zur Kompetenz des Hörers zu, eine Vorgehensweise, die Sulzer in seinem Artikel „Sinnlich" beschreibt: Sinnliche Begriffe werden ohne großes Nachdenken erlanget. Es wird dazu blos so viel Aufmerksamkeit erfodert daß man Dinge, die würklich verschieden sind, oder verschieden in die Sinne fallen, von einander unterscheide, wozu der geringste Grund des Nachdenkens hinlänglich ist. Aber um deutliche und entwikelte Begriffe zu erlangen, muß man oft die Vorstellungskraft ernstlich, anhaltend und auf mancherley Weise anstrengen. Man muß nicht nur alles Einzele der Ordnung nach und nach wieder zusammensetzen, oder vom Zusammensetzen wieder entwikeln können. Die sinnlichen Begriffe, deren man gewohnt ist, stellt man sich ohne Mühe in einem einzigen untheilbaren Punkt der Zeit vor; deutliche Begriffe kann man nicht anders, als allmählig bekommen; indem man das Einzele darin stükweis betrachtet, und gleichsam aufzählt. 4° Schlussbetrachtungen In dem weitverbreiteten Vergleich zwischen Symphonie und Ode äußert sich die Bedeutung der Theorie Schöner Künste — und damit von ästhetischer Theorie überhaupt — für die Analyse und das Verständnis von Symphonien aus dem späten 18. Jahrhundert. Im Falle 40 Johann Georg Sulzer, „Sinnlich ", (s. Anm. 6), 5. 410f. „ein Mensch, der wachend träumet und mit Vernunft raset” Joseph Haydns unterminiert dieser Vergleich sogar das Bild vom mustergültigen Klassiker, der ausgewogene, ausbalancierte und leicht zugängliche Werke komponiert. Hans Robert Jauß' Definition des Modernitätsbegriffs in der Aufklärung beschreibt treffend das Konzept von Haydns Symphonik ab 1785: in diesem epochalen, zuvor nicht anzutreffenden Grundmotiv hat sich die Modernität der Aufklärung am entschiedensten von der Grundposition der humanistischen Anciens abgekehrt: im offenen Horizont einer wachsenden Perfektion des Zukünftigen, nicht mehr im Idealbild einer vollendeten Vergangenheit liegt von nun an das Richtmaß, nach dem die Geschichte der Gegenwart zu beurteilen, ihr Anspruch auf Modernität zu bemessen ist. 41 In diesem Sinne kann bei Haydn und Mozart 42 von modernen Künstlern gesprochen werden, von einer Avantgarde, die James Webster zu Recht „First Viennese Modernism" 43 nennt. Ihre Symphonien gehen einen ersten Schritt voraus ins 19. Jahrhundert, bevor dieses überhaupt begonnen hat. Nicht umsonst bezeichnet E.T.A. Hoffmann Haydn und Mozart, „die Schöpfer der neuern Instrumentalmusik", als romantische Künstler, ihre Werke „atmen einen gleichen romantischen Geist, welches eben in dem gleichen innigen Ergreifen des eigentümlichen Wesens der Kunst liegt." 44 Die drastische Ablehnung durch einen englischen Zeitgenossen veranschaulicht einmal mehr das Neuartige dieses symphonischen Stils: But later composers, to be grand and original, have poured in such floods of nonsense, under the sublime idea of being inspired, that the present SYMPHONY bears the same good relation to good music, as the ravings of a Bedlamite do to sober sense. Where there is really Air, it will exist under all disadvantages of Performance. But what would become of our Sublimities, if it were not for the sho rt cut of a Pianissimo, so delicate as almost to escape the ear, and then a sudden change into all the Fo rtissimo that Fiddling, Fluting, Trumpeting, and Drumming can bestow?45 Haydns „Pariser" Symphonien von 1785-86 wenden sich erstmalig an ein internationales Publikum aus „Kennern und Liebhabern", an eine gebildete und zu bildende Hörerschaft. Im 41 Hans Robe rt Jauß, „Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität ", in: Ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, 5. 35 (Hervorhebung im Original). 42 In Mozarts Symphonien ab KV 504 äußert sich deutlich der Einfluss Haydns und seines ,odischen' Symphoniekonzepts. Auffälligstes Beispiel ist die Jupiter- Symphonie KV 551, an deren Anfang — wie in Haydns Symphonie Nr. 82 — die Dichotomie zwischen Vorder- und Nachsatz einer Achttaktperiode steht, aus der sich ein Satzgeschehen mit Unterbrechungen, Perspektivwechseln, Gedankensprüngen und Gradationen entwickelt (sogar mit einem dritten Hauptgedanken). 43 James Webster, „Between Enlightenment and Romanticism in Music History: ,First Viennese Modernism' and the Delayed Nineteenth-Century", in: Nineteenth - Century Music 25 (2002), S. 108-126. 44 E.T.A. Hoffmann, [Ludwig van Beethoven, 5. Sinfonie], in: Hans-Joachim Kruse (Hg.), Schriften zur Musik, Berlin 1988, S. 24. Hierzu Jauß (s. Anm. 41), S. 39: „Die neue Modernität, die sich nach der Jahrhundertwende als ,romantisch' versteht, bezeichnet ihren Gegensatz zur Antike mit einem Wo rt, für das sie in dieser Bedeutung eine Anleihe bei den Brüdern Schlegel aufnehmen muß: ,klassisch'." 45 William Jackson, On the present state of music in London, London 1791, S. 16ff. Henning Bey Gegensatz zu früher komponiert er damit nicht mehr für eine ihm bekannte Zielgruppe (etwa in Eisenstadt), sondern schreibt und veröffentlicht nun Werke für eine unabgeschlossene und räsonierende Öffentlichkeit, 46 die vor dem allgemeinen Hintergrund eines ,Zeitgeistes' Schöner Künste und im konkreten Vergleich zwischen Symphonie und Ode in der Lage ist, ihr individuelles Werkkonzept emotional zu erleben und zugleich intellektuell nachzuvollziehen. Als Korrelat zu dieser in zahlreichen Traktaten des späten 18. Jahrhunderts beschriebenen Rezeptionshaltung entwirft Johann Georg Sulzer das Bild eines Künstlers, dessen Komponierhaltung Emotio und Ratio, künstlerisches Kalkül und sinnliche Wirksamkeit miteinander verbindet. Diese Charakterisierung eines gebildeten Künstlers — beispielsweise Klopstock oder Haydn —, der „wachend träumet" und „mit Vernunft raset", trifft mit ihrer Dialektik genau ins Zentrum einer Ästhetik der Darstellung, wie sie sich in Ode und Symphonie präsentiert: Zu den schönen Künsten wird nothwendig ein Hang zur Sinnlichkeit erfordert. Dieser macht, daß wir uns das Abstrakte in körperlichen Formen vorstellen, daß wir sichtbare Gestalten bilden, in denen wir das Abstrakte sehen. Darum ist jeder Künstler ein Dichter; die vornehmste Kraft seines Genies wird angewendet, die Vorstellungen des Geistes in körperliche Formen zu bilden. Dieser Hang zeiget sich nirgend deutlicher, als bey den Künstlern, die vorzüglich den Namen der Dichter bekommen haben, die mehr, als andre, abstrakte Vorstellungen mit Sinnlichkeit bekleiden, weil sie mehr, als andre Künstler; mit solchen Vorstellungen zu tun haben. [...] Aber mit dieser Anlage zum Kunstgenie muß ein reiner Geschmak an dem Schönen verbunden seyn, der die Sinnlichkeit des Künstlers vor Ausschweifungen bewahre. Denn nichts ist ausschweifender und zügelloser, als eine sich selbst überlassene lebhafte Einbildungskraft. Der Künstler ist einigermaßen als ein Mensch anzusehen, der wachend träumet, und der mit Vernunft raset; wenn ihn diese verläßt geräth er in abentheuerliche Ausschweifungen.' Vordergründig findet das odische Gattungskonzept der Symphonie durch Ludwig van Beethovens Vertonung von Friedrich Schillers Ode An die Freude im Finale seiner 9. Symphonie ihren Abschluss. Haydns Vorstellung eines eigenständigen symphonischen Kosmos, der den Zuhörer sowohl emotional überwältigt als auch intellektuell beschäftigt, bleibt jedoch darüber hinaus wirksam. 46 Hierzu Habermas (s. Anm. 5), S. 98: „Der gleiche Vorgang, der Kultur in Warenform überführt und sie damit zu einer diskussionsfähigen Kultur überhaupt erst macht, führt drittens zur prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Publikums. So exklusiv jeweils das Publikum sein mochte, es konnte sich niemals ganz abriegeln und zur Clique verfestigen; denn stets schon verstand und befand es sich inmitten eines größeren Publikums all der Privatleute, die als Leser, Hörer und Zuschauer, Besitz und Bildung vorausgesetzt, über den Markt der Diskussionsgegenstände sich bemächtigen konnten. Die diskutablen Fragen werden ,allgemein' nicht nur im Sinne ihrer Bedeutsamkeit, sondern auch der Zugänglichkeit: alle müssen dazugehören können." Dies unterstreicht nachdrücklich die europaweite Veröffentlichung der „Pariser" Symphonien innerhalb nur eines Jahres durch Haydn selbst, bei der man erstmalig von gezielter Vermarktung sprechen kann: 1787 bei Artaria & Co. Wien; 1788 bei Forster in London, Hummel in Amsterdam, Longman & Broderip in London und Imbault in Paris. Siehe hierzu Ludwig Finscher, Joseph Haydn und seine Zeit, Laaber 2000, S. 330ff. 47 Johann Georg Sulzer, „Künstler", in: Ders. (Hg.), Allgemeine Theorie der Schönen Künste (Band 3), Leipzig 2 1794, S. 101.