Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg RAINER MARTEN „Esoterik und Exoterik“ oder „Die philosophische Bestimmung wahrheitsfähiger Öffentlichkeit“, demonstriert an Platon und Aristoteles Originalbeitrag erschienen in: Helmut Holzhey (Hrsg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie: Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung; Rudolf W. Meyer zum 60. Geburtstag. Basel: Schwabe, 1977, S. 13-31 PHILOSOPHIEGESCHICHTLICHE ANALYSEN RAINER MARIEN «Esoterik und Exoterik» oder «Die philosophische Bestimmung w ► hrheitsfithiger Öffentlichkeit», demonstriert an Platon und Aristoteles 1. Der Vorwurf des Esoterischen Wer an der Verbesserung, Produktion und Verteilung von Autos oder auch Napalm teilnimmt, hat seine sichere öffentliche Reputation. Wer erneut die Frage der Einheit von Ethik und Ontologie bei Platon aufgreift, gilt leicht als jemand, der — analog zur «platonischen Liebe» — allein einer «platonischen Arbeit» nachgeht: er arbeitet nicht wirklich, ist nicht für die Öffentlichkeit produktiv, versteht sich in seinem hohen und elitären Tun schließlich nur noch mit wenigen Gleichgesinnten, wenn nicht ausschließlich mit sich selbst. Der platonische Arbeiter verhält sich in seiner Distanz zum Gewöhnlichen mit einem Wort esoterisch. Esoterik ist so eine — negative — Bestimmung der geistigen und gesellschaftlichen Verfaßtheit weniger Einzelner. Platon selbst gilt als Advokat der «Wenigen» par excellence. Das zeitgenössische Ressentiment gegen alles bloß Akademische bietet sich an. um auf den Gründer der Akademie zu zielen. Mit Karl Marx wäre der Idealismus als genaues Gegenstück zum wahren Weltbezug herauszustellen. um die Theorie der Idee bei Platon in ihrem Ursprung zu treffen. Schon Renaissancehumanisten erscheint Platons Gedanke des Guten an sich selbst zu hoch, um für den Gedanken des lebendigen Menschen bedeutsam werden zu können. Gründe genug gibt es also, einer Philosophie vorzuwerfen, Philosophie zu sein. Man wird sie dann unbedenklich aufgreifen. wenn es opportun ist, signifikant Andere als öffentliches Ärgernis zu denunzieren. 13 2. «Esoterisch», «exoterisch» Wenn Ja mblich der Pythagoreischen Schule Zugehörige «Esoteriker» nennt', dann ist das — von Philosoph zu Philosoph — positiv gemeint. «Exoteriker» nämlich als die von einer Schule und ihren Lehren Ausgeschlossenen' stehen so gut wie außerhalb der Philosophie. Gebraucht Aristoteles «exoterisch» zur Kennzeichnung populärer Argumente und Untersuchungen', dann hat er genau das im Sinn, was nicht eigentlich philosophisch ist 4. Für die folgenden Untersuchungen ist nicht dieser — beschränkte — Wortgebrauch von «esoterisch» und «exoterisch» maßgeblich, sondern der Begriff des Esoterischen, wie er Philosophie in einem weiteren und zugleich tieferen Sinne betrifft. Ich möchte dabei — in Abkehr vom heutigen Selbstverständnis des Esoterikvorwurfes — Esoterik und Exoterik positiv als Bestimmung philosophischer Wahrheit, insofern sie jeweils eine Frage von Öffentlichkeit ist, verstehen. Das Esoterische und Exoterische ist nicht allein Sache der Philosophie. Auch für Kunst und Religion entscheidet sich im Spannungsfeld von Esoterisch und Exoterisch das Verhältnis von Wahrheit und Öffentlichkeit. So sind die Untersuchungen zum Esoterischen und Exoterischen doppelt beschränkt, wenn sie im wesentlichen allein auf Platon und Aristoteles Bezug nehmen. Um anzuzeigen, was mit dem Verhältnis von Wahrheit und Öffentlichkeit in Anbetracht des Verhältnisses von Esoterisch und Exoterisch überhaupt gemeint ist, 'greife ich — zunächst und unvermittelt — eine Bestimmung von Wahrheit bei Plotin auf. 3. Die wirkliche Wahrheit Doppelte Wahrheit — das klingt nach doppelter Moral. Die Götter lachen zwar wirklich (die homerischen, und nicht allein sie), aber die Wahrheit, wie sie Platon den philosophisch begabten Jünglingen zudenkt, ist die, daß Götter prinzipiell nicht lachen'. Heißt das, Wahrheit (genauer: Wissen, wie sich etwas in der Tat verhält) werde von Philosophen als philosophisches Privileg entworfen, um sie — zum Besten der ihnen Anvertrauten — manipulieren zu können? Ist Platons Philosoph für die ihm pädagogisch und politisch Anvertrauten dasselbe wie Dostojewskijs Großinquisitor für die Gläubigen? Ist die wirkliche Wahrheit im wesentlichen Sache von Herrschaft und Elite? 14 Wer den Begriff der Wahrheit an dem einer besonderen Art von Übereinstimmung festmachen möchte, kann, wenn er sich historisch orientiert, eine merkwürdige, gänzlich anders geartete Doppelung der Wahrheit gedacht linden. Plotin spricht von der Wahrheit, die mit anderem und von derjenigen, die mit sichselbst zusammenstimmt, von letzterer aber als von der wirklichen Wahrheit 6. Diese wirkliche Wahrheit ist keine Urteilswahrheit, denn sie würde dann über andere Dinge etwas aussagen' und nicht rein sich selbst , : «was sie sagt, das ist sie auch, und was sie ist, das sagt sie». Diese wirkliche, einzig mit sich selbst zusammenstimmende und sich aussagende Wahrheit ist die des wahren und wirklichen Denkens (wörtlich: voiig), dem das zu Denkende als das wahre Seiende kein Äußerliches ist. Die Wahrheit, die diesem Denken zugehört, ist durch nichts vermittelt, auch nicht durch das Denken. Sie ist dem Denken reine Selbstevidenz 9. Hat diese Wahrheit, wenn es sie schon gibt, Öffentlichkeitscharakter? Für öffentlich wird gewöhnlich das erklärt, was publik ist: was — je nachdem — alle wahrnehmen können, was allen verständlich ist usw. Das Öffentliche ist das Veröffentlichte, auf das sich alle beziehen können. Wird etwas so veröffentlicht, wie es sich in Wahrheit verhält, dann gibt es Tatsächliches, auf das allgemein je zu einer Zeit als Wissen urteilend Bezug zu nehmen ist. Ist Plotins wirkliche Wahrheit öffentlich? Ist sie nicht-öffentlich? Ist dieses Entweder-Oder für sie einfach passend oder ist sie auf einzigartige Weise das, von dem weder zu sagen ist, es sei öffentlich, noch, es sei nicht-öffentlich? Im Kapitel 5 der Fünften Enneade wird erörtert, inwiefern das zu Denkende nicht außerhalb des Denkens sei. Wir könnten demnach eine Öffentlichkeit annehmen, die durch die Differenz von Denken und zu Denkendem bestimmt ist. Ein und dasselbe zu Denkende bestünde für alle Denkenden. In ihrer Verschiedenheit (numerisch) nähmen sie identifizierend auf dasselbe Bezug. Diese Öffentlichkeit schließt Plotin durch die Einzigartigkeit des Denkens und durch die Nichtäußerlichkeit des zu Denkenden für das Denken aus. Sollen wir dann im Gegenzug von einer esoterischen Öffentlichkeit sprechen, von der Wahrheit im Denken? Ist von einer Öffentlichkeit zu reden, die als reine Unmittelbarkeit bestimmt ist und dabei von einer Öffentlichkeit der wirklichen Wahrheit, die im Denken als die Sache selbst besteht") ? Ich möchte der Plotinischen Konzeption in der Tat einen Begriff von Öffentlichkeit entnehmen: das Denken, das sich selber evident ist, ist sich selbst öffentlich; die Wahrheit, die rein mit sich selber zusammenstimmt und rein sich selbst aussagt, ist sich selbst öffentlich. Im Unterschied 15 zur verzeitlichten Öffentlichkeit verstehe ich sie als Öffentlichkeit des Augenblicks. In einer Öffentlichkeit des Augenblicks von der gezeigten Art sehe ich die grundlegende Bestimmung des Esoterischen der Philosophie. Philosophieren ist dann aber nicht länger darum ein esoterisches Geschäft, weil es durch Schulen bestimmt, weil es ein gesellschaftliches und wissenschaftliches Randgruppenphänomen wäre. Plotins Konzeption des wahren und wirklichen Denkens ist die eines «großen Gottes». Plotin verfügt aber mit der Konzeption eines großen Gottes nicht schon selber über die diesem Wesen zugedachte glückselige Praxis. Das Esoterische der Philosophie stellt insofern kein unmittelbar praktisches und dabei gar gesellschaftliches Problem dar. Ich verstehe Plotins Nuskonzeption als grundlegendes Stück einer philosophischen Esoterik (Esoterologie). Nachdem die Richtung verdeutlicht ist, in der die Überlegungen zum gestellten Thema gehen, sind Platon und Aristoteles genauer nach einem möglichen Verhältnis philosophischer Esoterik und Exoterik zu befragen. 4. Wer denkt? Was ist zu denken? Der Platonische Sokrates zeichnet sich als Philosoph durch die Bemühung um Selbsterkenntnis aus. «Ich weiß, daß ich nichts weiß» ist Ausdruck der lebensgeschichtlich-philosophisch grundlegenden Selbsterkenntnis. Von dieser Selbsterkenntnis zu unterscheiden ist die philosophische Selbstbesinnung auf das Denken: auf seine Grundlagen, Elemente, Ziele, Gefährdungen. Im Rahmen der Untersuchungen zur philosophischen Esoterik und Exoterik ist nur dies Denken über das Denken in Betracht zu ziehen. Wir suchen dafür bei Platon nach den Grundzügen einer Theorie philosophischer Verantwortung. Das zu Denkende erhält die allgemeine einfache Bestimmung, das vom Philosophen als solchem zu Verantwortende zu sein. Wie will der Platonische Philosoph diese Usurpation vernünftig einholen, womit rechtfertigt er seinen allgemeinen Verantwortungsanspruch? Das, was zu denken und philosophisch zu verantworten ist, sind nach Platon die Ideen und dabei grundlegend die Idee des Guten bzw. Einen. Diese Idee nämlich ist der Grund aller Wahrheit und damit von allem, was öffentlich zu verantworten ist. Der signifikant nicht Denkende und nicht philosophisch verantwortlich Handelnde ist der Sophist. Er ist wesentlich 16 dadurch bestimmt, öffentlich zu sein. Seine Öffentlichkeit ist aber diejenige, die grundsätzlich nicht wahrheitsfähig ist. Als Aspekte der signifikanten Nichtwahrheit des Sophisten lassen sich bei Platon vornehmlich drei herausstellen: die pädagogische, die politologische und die epistemologische Nichtwahrheit. Der Sophist als der falsche Erzieher gefährdet die philosophisch veranlagten Jünglinge. Der Sophist als der falsche Rhetor gefährdet die Gerechtigkeit. Der Sophist als der falsche Wissenschaftler gefährdet die Einsicht in das Seiende, wie es sich mit ihm in Wahrheit verhält. Diese Aspekte durchdringen einander. Die Gefährdung der Wahrheit ist je durch den besonderen Charakter ihrer Nichtgegenwart («Ferne») bedingt: ontogenetisch (die Jünglinge sind als solche von der Wahrheit des Seienden noch entfernt"), durch Triebnatur (die Wächter sind als Mitstreiter der Vernunft an die Auseinandersetzung mit der Zügellosigkeit im Staate gebunden, die Zügellosen sind in ihrer Zügellosigkeit befangen) und durch beschränkte Ansicht des Guten (der Koch denkt nur an gute Speisen, der Arzt an die Erhaltung des Lebens — ohne Einsicht in das, was wirklich und letztlich gut ist für Menschen und was Grund aller Wahrheit ist). Allein die Sophisten sind von der wahrheitsfähigen Öffentlichkeit ausgeschlossen. Für sie kommt Wahrheit weder esoterisch noch exoterisch in Betracht. Um alle anderen aber bemüht sich der Philosoph: Jünglinge, Wächter, Banausen, Astronomen, Mathematiker sollen ins Verhältnis der wahrheitsfähigen Öffentlichkeit gebracht werden. Dieses Verhältnis besteht als die Spannung deS Esoterischen (woraus der Philosoph seinen Anspruch auf Verantwortung bezieht) und Exoterischen (wo der Philosoph seinem Anspruch auf Verantwortung gerecht zu werden hat). Platon wird Demokedes und Theätet nicht einfach wegen ihres Arzt- und Mathematikerseins von der Wahrheit ausschließen, aber er wird darauf sehen, ob sie in einem Verhältnis zu der Wahrheit stehen, die im Guten selbst ihren Grund hat. Der Sophist dagegen wird nicht eigentlich von philosophischen Zirkeln ausgeschlossen und rein im Exoterischen angesiedelt, weil ihm Öffentlichkeit überhaupt zu bestreiten ist. Öffentlichkeit ist dann — philosophisch gesehen — als solche durch Wahrheitsfähigkeit bestimmt, durch mögliche Nichtwahrheit aber als solche gefährdet. Wo Verführung, Verstellung, Überredung und Beschränktheit herrschen, sind die verbleibenden Möglichkeiten menschlichen Verhaltens und Verkehrs nicht mehr durch wirkliche Öffentlichkeit bestimmt. Neben der esoterischen und exoterischen Öffentlichkeit als Spannweite der wahrheitsfähigen Öffentlichkeit ist von 17 einer Scheinötfentlichkeit zu reden, in der sich Sophisten und ihresgleichen ohne jeden wahren Bezug bewegen. 5. Augenblicklichkeit und esoterische Öffentlichkeit Alkibiades erscheint beim Symposion des Agathon für die Anwesenden plötzlich'', und ebenso plötzlich ist für Alkibiades das Erscheinen des Sokrates, als er ihn zur eigenen Überraschung neben sich entdeckt, nachdem er unter den Trinkern Platz genommen hat' 3 . Dieses Plötzliche im Erscheinen ist wie ein Nachklang auf das Plötzliche, das einem Erkennenden widerfährt, wenn er die Erkenntnis des Schönen, die er von der individuellen schönen Gestalt her vorbereitet hat, mit der Schau eines wunderbaren und schlechthin Schönen vollendet". In diesem Plötzlichen (gaicpvig) herrscht Unmittelbarkeit" des Wahren: der Schauende ist mit dem Geschauten vereint". Eine Schau wie diese entsteht jeweils aus langer Bemühung und aus dem Zusammenleben mit der Sache selbst plötzlich wie ein Licht in der Seele". Sie hat — je nachdem — den Charakter der Wiederholung". Und wo ist der Denkende im Augenblick der Schau? Im Sinne der Betroffenheit durch Außergewöhnliches im Gewöhnlichen ist er außer sich". Im Sinne des Durchbruchs der zeitlichen Anstrengung dialektisch-ideenorientierten Zusammenschauens und Ineinssehens ist er über dem HimmeP°. Im Sinne des Rückgangs auf den letzten Grund alles Seienden und Erkennbaren ist er jenseits des Seins 21 . Er ist also «weg», aber er ist auch ((da», zumal er nicht in der Art der Dichter enthusiastisch ist (nämlich nicht verbunden mit Unbesonnenheit und Erinnerungsunfähigkeit) 22 . Aber wo ist er genau? Hat sein augenblicklicher «Aufenthalt» öffentlichen Charakter? Im Dialog «Parmenides» bestimmt Platon das Zeitlose (%v xpifivq) oiiScvi) und «Ortlose» (tcrortov) des Augenblicks genauer mit Bezug auf das Umschlagen (Ruhe in Bewegung, Sein in Vergehen) 23 . Im Augenblick hat jeweils ein einzigartiges Weder-Noch statt: weder ruht es, noch ist es in Bewegung; weder ist es, noch ist es nicht. Auf die Schau des Schönen angewandt, heißt das: der Denkende ist als der augenblicklich Schauende der Idee weder zugewandt noch nicht zugewandt; es heißt zugleich: er ist weder auf sich und andere als der Unmittelbarkeit des Denkens Bedürftige bezogen, noch steht er nicht in diesem Bezug. Der «Augenblick der Wahrheit» hat keine Orientierung, weil er unmittelbar ist. Das schlechthin (itavraiög) Schöne ist als solches nur aspektfrei zu sehen: ein Sehen ohne Di18 stanz. Ich möchte diesen Augenblick, in dem die Wahrheit einfach sie selbst ist, als esoterische Öffentlichkeit verstehen (sc. als eine Bestimmung Platonischer Esoterik). Ich ergänze damit die Schwierigkeit, den Augenblick zeitlos zu denken, durch die Schwierigkeit, eine Öffentlichkeit distanz- und dimensionslos zu denken. Den Augenblick, in dem Wahrheit einfach sie selbst ist, als esoterische Öffentlichkeit zu bestimmen, rechtfertigt sich fürs erste daraus, daß in diesem Augenblick das unmittelbare Denken des Wahren und das Wahre als Unmittelbarkeit des Gedachten nicht unterschiedslos zusammenfallen. Das Verhältnis der denkenden Seele und des Seienden als des ihr Verwandten bleibt als Verhältnis auch in dieser Unmittelbarkeit gewahrt. Das WederNoch ist ja ein signifikantes. Das augenblickliche Schauen ist jeweils von zeitlicher Wirkung:' die Seele nährt sich, wird genährt (durch Wahres); das Wahre als das Geschaute zeugt wahre Tugend'''. Die Schau des Wahren ist so — in ihrer Zeitlichkeit gesehen — eine Art Neubelebung dieser Verwandtschaft, eine Wiederholung der Wahrheit selbst. Man kann Platon auf keinen Fall nachsagen, das Sokratische Programm der Selbsterkenntnis vollende sich somit in einer individuellen Selbstverwirklichung. Wer als Einzelner zur Schau des Wahren gelangt, ist in einer Weise betroffen, daß die Fortwirkung im Zeitlichen von allgemeiner Bedeutung ist. Eingesehenhaben als Wissen zeugt Tugend 25. Wer weiß, handelt auch schon danach; Wissen und entsprechend Wollen sind bei Platon prinzipiell nicht unterschieden 26. Wahrheit selbst, wie sie unmittelbar theoretisch ist, ist zeitlich ohne weiteres praktisch. Die esoterische Öffentlichkeit hat einen doppelten Zeitbezug: sie ist Resultat einer langen eigenen Bemühung und zugleich Beginn einer allgemeinen Verantwortung. Der Schauende vollendet als solcher eine dialektischdianoetische Bemühung um die Idee und steht zugleich im Anfang seiner pädagogischen, politischen und wissenschaftlichen Verantwortung. Die esoterische Öffentlichkeit ist Grundlage und Grundlegung für die wahrheitsfähige exoterische Öffentlichkeit. Der Schauende verbringt, wie gesagt, nicht seine Zeit, sondern seinen Augenblick bei der Idee. In diesem genauen Sinne wäre eine «andauernde Kontemplation» ein widersinniges Konzept. Die esoterische Öffentlichkeit wird von keiner Zeitgestalt menschlichen Handelns geteilt. Das Verhältnis der Vielen und der Wenigen, die Unterschiedenheit der Stände, das unterschiedliche Wirken der Kräfte der Seele (als Zweiteilung formuliert: Vernunft und Trieb), die Aufteilung in Herr19 schende und Beherrschte — äll das sind zeithafte Gestaltungen menschlichen Seins. Aus diesen Verhältnissen ist keine Kritik der esoterischen Öffentlichkeit, wie wir sie bei Platon deuten, abzuleiten. Die esoterische Öffentlichkeit ist, streng genommen, keine wahrheitsfähige Öffentlichkeit, sondern Öffentlichkeit der Wahrheit selbst. Daraus bestimmt sich maßgeblich die Schwierigkeit, sie überhaupt als Öffentlichkeit zu denken. Wir verstehen Öffentlichkeit gewöhnlich als Spielraum menschlicher Kommunikation. Die rein unmittelbare Öffentlichkeit des Wahren ist jedoch mit einer entscheidenden Negation der kommunikativen menschlichen Möglichkeiten verbunden. Das Wahre, das in seinem unmittelbaren Verhältnis zur denkenden Seele diese nährt, ist nicht mitteilbar — von einer denkenden Seele der anderen. Das Wahre als Mitgeteiltes wäre nicht mehr dasselbe. Was Platon im «Phaidros» und «Siebten Brief» gegen die Veröffentlichung von Wahrem, insbesondere gegen die schriftliche, sagt, entspringt der Einsicht, daß der Sache selbst (irpityuct airo5) nur unmittelbar, nicht mittelbar gerecht zu werden ist. Die Sache selbst ist das ja nicht zu Sagende. Sie ist zwar zu sagen, aber nur so, daß sie den Vielen als denen eröffnet wird, die nicht in der ihr angemessenen Öffentlichkeit sind. Die Frage ist nicht, ob man die Sache selbst bloß nennen soll (mit dem Namen) oder ob man «anderes» sagen soll (Allgemeineres und Spezielleres), sondern ob man ihre Augenblicklichkeit teilt oder sich ihrer Zeitgestalt zuwendet. Die Sache selbst ist die Öffentlichkeit der vollendet Philosophierenden. Diese aber haben keine Zeitgestalt, sondern sind durch den Augenblick bestimmt. Wird Öffentlichkeit als kommunikative Öffentlichkeit verstanden, dann ist esoterische «Öffentlichkeit» genau weder öffentlich noch nichtöffentlich. Sie ist der Augenblick, in dem das Sagen an sich hält, in dem kein Urteil zu vollziehen ist: es ist der Übergang (ucturioXfi) von Sehen in Sagen und insofern die Grundlegung jeder wahrheitsfähigen Öffentlichkeit. 6. Zeitlichkeit und exoterische Öffentlichkeit Die Schwierigkeit, die der Platonische Philosoph mit der von ihm in der exoterischen Öffentlichkeit zu verantwortenden Wahrheit hat, ist nicht das Sagen und Vernehmlichwerden, sondern das Urteilen. Der Philosoph spricht nur dann mit Anspruch auf Wahrheit, wenn er begründet spricht (?6yov Soi;vui). Seine Begründungen beziehen sich aber nicht auf die Tatsächlichkeit beliebiger Vorfälle. Allein die Verhältnisse von Ideen als Ver20 hältnisse ein und derselben 'Idee und als Verhältnisse von Ideen untereinander sind begründbare Verhältnisse. «Was mir mit dem als stärksten beurteilten Logos zusammenzustimmen scheint», erklärt der Platonische Sokrates im «Phaidon«, «setze ich als wahr.»" Doch die «symphonischen» Logoi sind darum nicht schon als solche wahr. Für ihre Wahrheit muß sich der stärkste Logos als solcher bewähren und schließlich als der erweisen, der nicht zu Fall kommen kann". Zwar gewinnt schon Platon eine allgemeine Bestimmung des wahren Logos: die Verbindung von Subjekt und Prädikat bzw. die Verknüpfung von Ideen ist wahr, wenn dasselbe («Theätet sitzt» als identifizierbares Faktum) als dasselbe (daß Theätet sitzt) und das Seiende («Theätet sitzt» als wirklicher Vorfall) als das Seiende (daß Theätet sitzt) ausgesagt wird". Doch die allgemeine Bestimmung des wahren Logos im «Sophistes» hat die alleinige Funktion, die Möglichkeiten des falschen Logos — gegen die Sophisten — zu erklären. Philosophisches Wissen ist für Platon niemals Wissen uni ein zeitbestimmtes Sitzen leibhaftiger Mathematiker. Das Vermögen des Dialektikers ist auch und gerade im «Sophistes» als Ideenwissen bestimmt". Und wenn selbst «Theätet» als Idee, nämlich als komplexe Idee qua spontaner Ineinssetzung verschiedener Vermögen zu verstehen ist, dann ist das keine Idee, die der Dialektiker als solcher erkennt. Philosophisches Wissen als zu verantwortende Wahrheit ist bei Platon durchgängig rückgebunden an ein Wissen des Guten selbst. Wahrheit (und Erkenntnis) bestimmt sich als solche durch ihre Gründung in der Idee des Guten". Daß Theätet — jetzt — sitzt, ist beurteilt — wahr nur dann, wenn es gut ist, daß Theätet jetzt—philos phisch sitzt und dieses Gutsein erkannt ist. Die wahrheitsfähige exoterische Öffentlichkeit als Verantwortungsbereich des Philosophen ist nicht die Welt der Tatsachen als die Welt der jeweiligen wirklichen Vorfälle. Das Falsche und Wahre des ganzen Seins, wie es der Philosoph kennt, besteht nicht als die Fülle einzelner Vorfälle. sondern als grundsätzliche Unterscheidung von Schein und Wahrheit. Darum ist diese ganzheitliche Kenntnis wesentlich mit der Kenntnis der Wahrheit des Guten und Schlechten verbunden". Die Welt des Sichtbaren und des Scheins (Söge) belangt nicht die wahrheitsfähige Öffentlichkeit, wie sie vom Philosophen als solche verantwortet wird. Philosophische Begründungen haben bei Platon niemals die Form «Schau doch hin!»" Wahrheit gründet bei Platon nicht in der — gleichsam abgeschnittenen — Tatsächlichkeit von Tatsachen. Wahrheitsverhältnisse sind auch und gerade 21 als dargestellte (ausgesagte) Begründungsverhältnisse (Begründen # Feststellen). Indem der Grund, den der Philosoph für sein Begründen letztlich notwendig in Anspruch nimmt, das Gute selbst ist, gerät allerdings Platon die philosophische Verantwortung nicht zu einer bedenkenlosen Agathodizee des Tatsächlichen. Daß Theätet sitzt, kann — philosophisch beurteilt — auch schlecht sein". Das philosophische Wissen bewahrt gegenüber dem bloß Tatsächlichen stets einen kritischen Standpunkt. Alle philosophische Kritik beruht aber auf der Unterscheidung von Gut und Schlecht (was nicht heißt, der Philosoph könne nicht auch logische Fehler kritisieren). Es ist eine müßige, überstrapazierte und irreführende Frage, was Platon mündlich mehr und eher als wahr mitgeteilt haben möge. Platons Dialoge sind sicherlich als gorrEpticol kort zu werten, dies aber — in dem von uns modifizierten Verständnis des Exoterischen — nicht wesentlich darum, weil sie unter anderem protreptische Funktion haben und weil sie sich in ihren Argumenten gelegentlich in demonstrationes ad hominem üben, sondern weil sie Wahrheit zur Sprache bringen. Platon übt sich ja nicht nur in Scherzen, Bildern und Mythen, er sagt auch das Wahre: wie es sich verhält, selbst wenn er dafür noch Bilder gebraucht". Platon hält dieses Sagen allemal für ein Wagnis (toXjiäv keineswegs als fnon de parier), und das ist die philosophische Kennzeichnung seines Sagens. Andere garcpitcol köyot wie Reden, Gedichte, Gesetze sind von ihren Autoren zumeist nicht in ihrem problematischen Wahrheitsverhältnis durchschaut". Diese «Exoteriken) sind — wegen der Verantwortung der Wahrheit — zu belehren. Für Platon wäre es überraschend, gerade einen Dichter etwas sagen zu hören wie: «Ein DRÖHNEN: es ist / die Wahrheit selbst / unter die Menschen / getreten / mitten ins / Metapherngestöber» (Paul Celan"). Daß der Philosoph das Wahre sagt (zu sagen wagt), bestimmt sich aus der Zeitgestalt seiner öffentlichen Verantwortung. Das Wahre als etwas, das exoterisch-öffentlich zu verantworten ist, kann grundsätzlich nichts Deskriptives, sondern nur Präskriptives sein. In seiner mitteilenden (aussagenden) Verantwortung des Ideenwissens trifft der Platonische Philosoph niemals die Feststellung «So ist es nun einmal». Er spricht vielmehr jederzeit ein dem Wissen entsprechendes Wollen an. Ist das erste Wissen das «ich weiß, daß ich nichts weiß», dann ist das erste — wissentliche — Wollen das Wissenwollen (methodisches Fragen). In der exoterischen Verantwortung des Wahren entdeckt der Philosoph nicht Tatsachen, sondern Ziele. Das Wahre ist jeweils insoweit gesagt, als die 22 je eigene Bemühung um das Wahre (als Grund der philosophischen Verantwortung) initiiert wird. Die Einheit von Ideentheorie und Handlungstheorie ist bei Platon kein Trick, keine Art von Atavismus, sondern der einfache Ausdruck des differenzierten Verstehens der wahrheitsfähigen Öffentlichkeit (differenziert als Grund und als Bereich der Verantwortung). Platons Gedanke der philosophischen Verantwortung wird schon lange durch einen falschen Utopiebegriff verkehrt. Man versteht Utopie als — vertagte — Zeitgestalt ideal-wahrer Verhältnisse. Doch das im Grunde Wahre ist augenblicklich wahr, nicht zeithaft. Wenn eine Athenische Arch4 einmal zu Recht gerecht genannt werden könnte, dann wäre wahre Gerechtigkeit nicht -- endlich — vom Idealen zum Realen geworden, sondern dann würde — gut platonisch — Ideenwissen kritisch gebraucht. So ist auch etwa Charmides, ein Jüngling, schön zu nennen — nicht weil er wirklich schön ist, sondern weil das wirklich Schöne diese Beurteilung (Benennung) begründen läßt. Philosophische Verantwortung bedeutet so jeweils die Verspannung von esoterischer und exoterischer Öffentlichkeit, von Augenblicklichkeit und Zeitlichkeit durch die Ausrichtung im zu Sagenden auf zu Sehendes. In seiner pädagogischen Verantwortung gebraucht der Philosoph Wahrheit als Grundlage der Ontogenese 38 . Er hat einer philosophisch veranlagten Seele nichts beizubringen (mit-zuteilen), z.B. keine intellektuellen Fertigkeiten, sondern hat sie in die Grundausrichtung des Wahren zu bringen. Auch in seiner politischen Verantwortung hat der Philosoph nichts anderes als die Wahrheit selbst im Sinn. Die wahre Rhetorik ist die philosophische, die um das Wahre selbst und die beschränkten Möglichkeiten des Logos in Sachen Wahrheit weiß". Der Philosoph überredet nicht, sondern überzeugt. Er benutzt das Wahre selbst als Argument". Anstatt auf die vielberedeten Philosophenherrscher und ihr politisches Auftreten ad kalendas graecas zu starren, hätte man besser auf die philosophisch-politische Verantwortung sehen sollen, wie sie Platon als gegebene Möglichkeit und Wirklichkeit anzeigt: wenn schon geredet, geschrieben, gedichtet wird, dann soll die Wahrheit zu Wort kommen, insoweit sie zu Wort kommen kann. Und wenn man schon Platons Konzeption der Philosophenherrscher ernst nimmt, dann muß man sie mit ihm auch so verstehen, daß hier nicht Menschen als Herrscher über Menschen gesetzt werden, sondern die augenblickliche Wahrheit als kritischer Maßstab zeitlich-wahrer Verhältnisse. Der «faschistische Platon» ist, gemessen an Platons Bestimmung philosophischer Verantwortung, ein recht zwielichtiger Anachronismus. 23 Platons Philosoph ist kein letztlich Entrückter und Weiser'". Darum kann man ihn auch nicht fragen, warum er ihn nicht im Licht der Wahrheit belasse, was Philosophen denn eigentlich dazu bringe, als Aufklärer zu wirken. Zum Dialektiker gehört: bis zum Unvoraussetzbaren als Grund von allem zu gehen und von ihm herzukommen 42, aus der Höhle heraus in den wahren Tag zu schauen und zum Zwecke der Aufklärung — in sie zurückzukehren 43 . Wie die exoterische Öffentlichkeit nicht der Bereich des Geschehens, sondern der der Verantwortung ist, so ist auch die esoterische Öffentlichkeit fü r den Philosophen keine Monade des Wahren, sondern Grund der Verantwortung. Platons Philosoph wird bisweilen ein göttlicher Mann genannt, aber er ist kein Gott. Er ist daran gehalten, den wahren Logos zu wagen (zu gefährden) und sich selbst". Fragen (methodisches Nichtwissen bzw. Wissenwollen), Prüfen, Ableiten, Widerlegen, von vorn Anfangen (im Fragen usw.), Aussagen (Darstellen) — das sind philosophische Versuche vermittelter und verhältnismäßiger Währheit. Diese Versuche sind jeweils als das Wagnis zu verstehen, die exoterische Öffentlichkeit als wahrheitsfähige an die Esoterik der Wahrheit selbst zurückzubinden. Alle Wahrheit bzw. die Wahrheit des Ganzen hängt von einer Wahrheit als dem Grund der Wahrheit ab. Esoterik und Exoterik sind (wie Augenblick und Zeit, wie Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit) ohne zeitliche Differenz. Der Philosoph hat ((immer» ein Auge für das Überraschende im Zeitlichen und Sichtbaren, ein Ohr für das Anmaßende und Irrtümliche in den vorherrschenden Meinungen. Der Philosoph geht in seiner Überraschung und Skepsis methodisch so weit, daß er plötzlich anderswoher kommt. Das ist das Überraschende und Gewagte, zugleich aber kritisch Potente des Platonischen Philosophen. Das Überraschende (als das Plötzliche und als das Erstaunliche), das Gewagte und das Skeptische sind die Schlüsselworte für die von Platon konzipierte fruchtbare Spannung philosophischer Esoterik und Exoterik, die dem gewöhnlichen Esoterikverdacht und auch -vorwurf gegen die Philosophie zumindest bei Platon keine echte Chance geben. — 7. Theoretische Wahrheit Was wäre nach Aristoteles als wahrheitsfähige Öffentlichkeit zu verstehen? Zuvor: Wie bestimmt er Wahrheit? Eine bekannte, zumeist unvollständig zitierte Bestimmung in der «Metaphysik» lautet: «Denn das Falsche und das 24 Wahre liegt nicht in den Dingen (wie etwa das Gute «wahr» und das Schlechte sogleich *falsch» wäre), sondern im Urteil»". Mit dem ontologisch gemeinten «sogleich» 46 hat Aristoteles die Distanzierung von Platon im Sinn, für den — in der Einheit von Ontologie und Ethik — Gutes auch schon Wahres, Schlechtes auch schon Falsches ist. Wird nämlich Wahrheit — fälschlich — in den «Dingen» gesehen, dann ist Wahrheit von besonderer Qualität: sie versteht sich als Wertung, nicht als Feststellung. Sind wir damit —gut aristotelisch — im auch uns wissenschaftlich Gewohnten und Plausiblen — fern von Platon? Alfred Tarski zitiert eine entsprechende Aristotelische Wahrheitsbestimmung: White to say of what is that it is, or of what is not that it is not, is true 47 . Sitzt z.B. Theätet, dann ist dies Seiendes. Der wahre Logos sagt von diesem Seienden, daß es ist, also: «Theätet sitzt.» Fliegt Theätet nicht, dann ist von diesem Nichtseienden mit dem wahren Logos zu sagen, daß es nicht ist: «Theätet fliegt nicht.» Diese allgemeine Bestimmung des wahren Logos ist nicht sehr verschieden von der, die Platon im «Sophistes» gibt. Eigens festzuhalten ist noch, daß mit dieser Bestimmung Wahrheit nicht etwa dem bloß Subjektiven ausgeliefert wird: «Nicht darum, weil wir auf wahre Weise meinen, daß du weiß bist, bist du weiß, sondern darum, weil du weiß bist, sagen wir, die wir dies sagen, Wahres.» 48 Auch dieser Ergänzung werden wir ohne Bedenken zustimmen. Nun kommt aber für Aristoteles auch Wahres in Betracht, das einfach (CtÄlig) und das heißt nicht-zusammengesetzt ist. Das sind die reinen Wesen (eiela°, die Wirklichkeit und nicht Möglichkeit, die Form und nicht Stoff sind". Wahrheit ist hier — ausdrücklich — nicht im Urteil, sondern im Berühren und Sagen (e Aussagen). Doch hierbei steht überhaupt kein Unmittelbares im Blick, das eine esoterische Öffentlichkeit erforderte. Haus z.B. als stoffgebundene Form ist Wesen, ist das, was als Haus zu definieren ist. Dieses Wesen kann ich wissen oder nicht wissen, das heißt treffen oder nicht treffen. Hier ist also schon einfach das Treffen bzw. Wissen «wahr». Auch diese Ansicht wird im Rahmen der theoretischen Bestimmung von Wahrheit allgemein zu akzeptieren sein. Interessant wird es für uns erst, wenn diese Wahrheitsbestimmung als maßgebliche, ja einzige angesetzt wird. Dies geschieht besonders klar in der «Nikomachischen Ethik». In ihr bestimmt Aristoteles zunächst das wahrheitsfähige Handeln der Seele dreifach": als Wahrnehmen. Denken und Begehren, um dann — endgültig — die praktische von der theoretischen 25 Wahrheit zu unterscheiden: Gut und Schlecht ist eine Sache der Praxis, Wahr und Falsch eine Sache der Theorie bzw. allen Denkvermögens. Der wahre Logos ist vom richtigen Begehren unterschieden, das Sagen vom Verfolgen. Aristoteles ist keineswegs nachzusagen, er habe in seiner Philosophie die Angelegenheit menschlicher Praxis vernachlässigt. Seine Bestimmung des Menschen als des sprachfähigen Wesens (fähig, das Gerechte und Ungerechte zu verhandeln) in eins mit seiner Bestimmung des Menschen als eines von Natur politischen Wesens" belegt das überzeugend. Für uns jedoch. wird bei der Frage nach der wahrheitsfähigen Öffentlichkeit entscheidend, daß Wahrheit einzig eine Sache der Theorie ist. Das hängt bei Aristoteles maßgeblich mit seiner Unterscheidung von Wissen und Wollen zusammen". 8. Glückseligkeit und anthropologische Reduktion «Nur dem, der das Glück verachtet, wird Erkenntnis.»" Trakt ist im Jahre 1908 offenbar nicht auf der Höhe philosophischer Spekulation. Er weiß nicht, daß Glückseligkeit als äußerste menschliche Möglichkeit gerade im Erkennen liegt. Nun ist das philosophisch konzipierte Erkenntnisglück allerdings durch eine radikale anthropologische Reduktion erkauft: das Menschliche des Menschen wird so weit reduziert, bis allein das Göttliche des Menschen übrig bleibt, das, was Aristoteles zufolge «am meisten» Mensch ist". (Wenn dagegen Plinius der Jüngere jemandem schreibt, er sei zu den Griechen als ad homines maxime homines geschickt, dann ist in der Vorstellung des ausgezeichnet Menschlichen keine Reduktion im Spiel.) Die anthropologische Reduktion zeigt sich bei Aristoteles schon als ontogenetische: ein Kind ist, ganz wie Ochs und Pferd, der Glückseligkeit als einer besonderen seelischen Tätigkeit nicht fähig". Schließlich hat ja auch ein Mann menschliche Wesensform, nicht ein Kind". Die Eliminierung des Stoff- und Möglichkeitsprinzips von dem, was «am meisten» Mensch ist, kündet sich an. Die Fähigkeit, glückselig zu sein, wird des weiteren — politologisch — auf den Freien reduziert. Wer wie der Sklave nicht sein eigenes Leben lebt, insofern er nicht Mensch seiner selbst, sondern eines anderen ist, bleibt vom wahren menschlichen Glück notwendig ausgeschlossen". Mit einer deutlichen Spitze gegen Platon wird das eigentlich Menschliche auch physiologisch reduziert: der glückliche Mensch schläft nicht, sondern ist wach". Wach ist dann aber nicht der ganze Mensch in der Fülle seiner 26 menschlichen Bezüge, sondern der von aller Ethik entbundene Mensch: der glückselige Mensch ist als solcher unmöglich gerecht, tapfer, triebunterdrükkend, freigebig". Wahrer Mensch zu sein, erfordert: Mensch seiner selbst, vollends Mensch, tätiger Mensch, denkender Mensch zu sein. Hat dieser — reduzierte, «vergöttlichte» — Mensch eine Öffentlichkeit und gar eine wahrheitsfähige? 9. Theoretisches Selbstsein Theorie als menschenmögliche Tätigkeit ist die beste, die am meisten anhaltende, lustvolle, autarke 60. Mit ihr entdeckt sich das Göttliche im Menschen als sein wahres Selbst 61 : das Denken (wörtlich: voi4 62. Der Weise (nicht der Philosoph) als wahrer Gottliebling ist am meisten Mensch und in eins am meisten glückselig". Aristoteles konzipiert mit der höchstmöglichen menschlichen Glückseligkeit in der Theorie nicht den lebensfähigen Menschen unter Menschen, sondern den gottgleich «lebenden» Menschen. Es ist darum sinnlos zu fragen, ob es diesen Menschen überhaupt gibt, und gegebenenfalls wie häufig, wie lange. Bedeutsam sind aber weitere Bestimmungen des nicht-mehrmenschlichen wahren Menschen als Konsequenzen der anthropologischen Reduktion auf theoretisches ( = denkendes) Selbstsein. Im Zuge der anthropologischen Reduktion auf Göttlichkeit hat eine Verselbständigung und Vereinzelung menschlicher Denk- und Vernunfttätigkeit statt. Im Wahrnehmen seines göttlichen wahren Selbst ergreift jeder sein eigenes Leben: jeder will dann sein Leben leben, nicht das eines Anderen 64. Als äußerste Formel für das Nicht-mehr-Menschliche (und Schon-Göttliche) findet sich bei Aristoteles die Bestimmung der Theorie, daß sie Wert und Würde in sich selbst habe'. In der Theorie schätzt das wahre menschliche Selbst sich selbst. Es muß von keinem Anderen akzeptiert werden, muß mit niemandem interagieren, verwendet sich unmöglich für Andere (Glückseligkeit als eine Art Selbstgenuß, aber in keiner Weise als Caritas). Was für gewöhnlich völlige Lebensunfähigkeit bedeutet, wird hier als wahres menschliches Selbstsein proklamiert. Die vereinzelte, verselbständigte, «narzißtische» Vernunft, in der Erwachsener und Kind, Herr und Knecht, Wachender und Schlafender, Denkender und Handelnder «aufgehoben» sind zugunsten eines möglichst reinen Selbstverhältnisses des Denkens — das ist die unüberholbare philosophische Proklamation des Esoterischen für die Bestimmung des Menschen. Bliebe der theoretische Mensch nicht doch ir27 gendwie der gewöhnlichen menschlichen Natur verhaftet und auf zu Denkendes (zur Initiation des Denkens) angewiesen, dann wäre er gleich Gott vollends und ausschließlich Wirklichkeit, die in sich rein sich selbst zum «Gegenstand» hat". Ist es schon schwierig bei Aristoteles auszumachen, was Gott eigentlich denkt, wenn er im Denken sich rein auf sich selbst beziehto, so ist das für den göttlichen Menschen so gut wie unmöglich, da er ja weder als Kausal- noch als Finalursache für alles in Frage kommt und für sein Selbstwissen die Vereinbarkeit von Unveränderlichkeit und Alleswissen kein logisches Problem darstellt. Der göttliche Mensch erblickt auch nicht das Wesen des Menschen (als eine Art theoretisches Ereignis von Humanität), sondern er denkt offensichtlich Gott nach, indem er ein denkendes Selbstverhältnis (als vermittelte Identität von Denken und zu Denkendem) eingeht. Sokratische Selbsterkenntnis, Cartesische Selbstgewißheit, Hegelsches Selbstbewußtsein sind als Deutungen dieses Selbstverhältnisses mit Sicherheit auszuschließen. Es ist Selbstschau im Sinne von Monotheorie (analog zu Monolog) und Autotheorie. Das theoretische menschliche Selbst ist ohne Möglichkeit des Wollens; es hat keine Handlungsziele. Als wahres Selbst und Denken trägt der Mensch für nichts Verantwortung. Nicht der Schauend-Sichwissende, nur der Philosoph ist auf das Zusammenstimmen von Logos und Leben (und Werken) hin zu überprüfen". Der Philosoph Aristoteles gibt zu verstehen, was einem Gott am Menschen eigentlich gefällt und als was der Mensch an der Glückseligkeit teilhat. Grundlegend für Aristoteles ist dabei die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Wahrheit, von ethischen und dianoetischen Tugenden, von Wissen und Wollen. Sich selbst zu wissen, ohne möglichen Bezug zu einem praktisch bedeutsamen Gut und Schlecht — das ist Esoterik, die sich vom Exoterischen vollends gelöst hat. In der philosophischen Konzeption wird der Sophos absolut. Der Weise stellt — vom gewöhnlich Menschlichen her gesehen — Öffentlichkeit rein für sich selbst her: er schaut sich. Nur insofern er nicht Gott ist, läßt sich weiterhin Denken und Gedachtes komparativisch als göttlich und göttlicher unterscheiden". Wahrheit, wie sie hier in der Selbstberührung getroffen ist", hat keine philosophische Bedeutung für Pädagogik und Rhetorik. Die exoterische wahrheitsfähige Öffentlichkeit, in der die Zeitgestaltungen menschlichen Handelns auftreten, wird von dieser Schau nicht belangt — auch im nachhinein nicht. Aristoteles denkt — anders 28 als Platon — nicht das Augenblickliche, das als das Plötzliche das Verhältnis von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit des Denkens markiert. Das Stets (üni) der göttlichen Selbstschau ist ausschließlicher Maßstab für den gelegentlichen (rro:r0 göttlichen Selbstvollzug des Menschen". 10. Platon und Aristoteles Es ist leicht, Aristoteles Esoterik zum Vorwurf zu machen. Der Mensch ist bei ihm seinem höchsten, schon nicht mehr menschlichen Wesen nach bestimmt, tätige Vernunft zu sein. Diese tätige Vernunft ist theoretische. nicht praktische Vernunft. Ihre Wahrheit ist ihre Glückseligkeit. Als Bestes (iiptcrrov) ist sie nichts praktisch Gutes: kein Wollen findet in ihr sein wahres Ziel und seinen wahren Anfang. Wer sich mit solchen Konzeptionen beschäftigt und gar ihnen gemäß ist — was sollte mit dem noch «realistisch» anzufangen sein? Auch Platon, der ja hier nicht systematisch von Aristoteles zu unterscheiden war, wird von diesem Vorwurf nicht auszunehmen sein. Man denke nur an sein Bekenntnis politischer Resignation im Siebten Brief. Ist es nicht — «positiv» — ein letztes Bekenntnis wissentlicher Esoterik? Oder man erinnere sich an den Dialog «Gorgias», wo Platon mit Hilfe eines Mythos die Nichtöffentlichkeit des Philosophen ausdrücklich bejaht. Diesem Mythos zufolge treten auch Seelen vor ihren Richter, die philosophisch ihre Tage fromm und in Wahrheit verbracht haben, Seelen von Menschen, die «das Ihre» taten, indem sie für sich lebten und nicht durch öffentliche Geschäftigkeit hervortraten und die dafür belohnt werden". Der Vorwurf des Esoterischen, etwa als Vorwurf individueller Überheblichkeit und gesellschaftlicher Nichtsnutzigkeit, wäre hier dennoch bloß äußerlich, weil er in nichts auf die jeweilige Esoterologie einginge. Kein heutiger Philosoph wird sich darum gegen ihn mit einem Gedanken zu verteidigen haben, etwa mit dem — problematischen — Gedanken allgemeiner vernünftiger Finalität. Er wird auch zu diesem Zweck keine Art Vorwärtsverteidigung üben können, etwa durch das Assimilationsprogramm, Philosophie in der Gestalt der Rhetorik gesellschaftlich für — «kritische» — Rationalität werben zu lassen oder sie empirischen Handlungstheorien als letzte Vernunftinstanz zu offerieren. Philosophie ist eine Möglichkeit menschlicher Selbstverständigung über den Menschen. Die Vernunftbestimmtheit des Menschen, wie sie auf je 29 eigene Weise bei Platon und Aristoteles zu finden ist, ist Resultat einer solchen Selbstverständigung. Jede wahrgenommene Möglichkeit menschlicher Selbstverständigung ist ein Moment menschlicher Geschichte. Wer der Philosophie heute (oder einst) bestreitet, an «wirklichen» menschlichen Selbstverständigungen teilzuhaben, der übersieht allein schon, welche allgemeine Herausforderung jede Art von Vernunftbestimmtheit des Menschen für den Menschen darstellt. Andere Möglichkeiten menschlicher Selbstverständigung können sich von der Philosophie nur äußerlich und vermeintlich distanzieren, insoweit sie von der Herausforderung durch menschliche Vernunftbestimmtheit mitbetroffen sind. Die plötzliche Schau des Guten, des Schönen und des Gerechten selbst und die gelegentliche Einheit von Denken und zu Denkendem sind geschichtliche Momente dieser Herausforderung. Esoterik und Exoterik, Wahrheit und Öffentlichkeit — das ist ein interpretatorischer Ansatz, sie als diese Momente zu konkretisieren. Anmerkungen ' De vita Pythagorica, ed. A. Nauck (Leipzig 1884) 17, 72. Jamblich, ebd. 32, 226. 3 Met. M I. 1076 a 28; EN A 13. 1102 a 26; Pol. F 4. 1278 b 31; H 1. 1323 a 22. 4 EE A 8. 1217 b 23. 5 Rp 111 389 a; vgl. 11 378 a. 6 Enn. V, 5, 2, 18f.; vgl. 111, 7, 4, I lf. V, 5, 1, 39. 8 V, 5, 2, 19. 9 V, 5, 1, 8: aürnacv airrCp 12 V, 5, 1, 18f.: airrä sä icpäypa. 11 Sph 234 c. 12 Smp 212 c 6. Smp213c I. 14 Smp 21013 4. 15 Smp 212 a 5: Berührung. "Smp 212 a 2. I 7 Ep VH 341 c. Phr 247 d 3: Ölet xpnvot). 19 Zur Unkgig siehe u. a. Smp 211 d 5. 20 Phr 248 a 2; vgl. 247 c 3. 21 Rp VI 509 b 9. 22 Phr 249 d-250 a; vgl. 263 d 2. 156d-157a. 23 156 24 Siehe Ep VII 341 d 2; Phr 247 d 4; Smp 212 a 5. 25 Smp ebd. 26 Grg 460 b, c. 23 Phd 100 a. '3 30 Rp VII 534 c 3; vgl. Phd 100 e I. 29 Sph 263 d I ff. Sph 253 d. 11 Rp VI 508 e. 11 Ep VII 344 a 8ff. 1 3 Siehe u.a. Plt 285 e-286 a. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen § 66. 34 Vgl. Phd 98 e. Phr 247 c 4ff. Phr 278 b-d. 37 Atemwende (Frankfurt a. M. 1967) 85. 38 Siehe u.a. Plt 278 d 8ff. " Phr 277 a--c. 40 Grg 471 e 7f.; vgl. 472 b 6; 473 b 10; 458 a. 41 Phr 278 d 3. 42 RpVI511b,c. 47 Rp VH 516 b-5I7 a. " Rp VII 517 a. 45 Met. E 4. 1027 b 25ff. 46 Vgl. Met. r 2. 1004 a 5. 47 A. Tarski: The semantic conception of truth and the foundations of semantics, in: Feigl/ Sellars (ed.): Readings in philosophical analysis (New York 1949) 54, zit. Aristoteles Met. C 7. 1011 b 27. 48 Met. 0 10. 1051 b 6ff. 49 Met. E 4. 1027 b 27f.; 0 10. 1051 b 27. "Z2.1139 a 18. " Pol. A 1. 1253 a. 72 EN K 8. 1178 a 30f. et al. " Georg Trakt: Aus goldenem Kelch (Salzburg 1939) 2. " EN K 10. 1178 a 7. " EN A 10. 1100 a 1ff. 76 Met. 0 8. 1050 a 5ff. " EN K 6. 1177a 8ff. " EN K6. 1176 a 34; vgl. A 13. 1102 b 5. "EN K 8. 1178 b 7ff. 6 ° EN K 7. 1177 a 20ff. 6 ' EN K 7. 1178 a 2. 62 EN K7. 1178 a 8. 67 EN K e 1179 a 30ff. 64 ENK 7.1178a 2. 67 EN K 8. 1178 b 31: uiirri " Met. A 7. 1072 b 18ff.; A 9. 1074 b 33ff. 67 Siehe Klaus Oehler: Aristotle an Self-Knowledge, in: Proceedings of the American Philosophical Society 118 (1974) 501ff., zu A 9. 6 ° EN K 9. 1179 a20ff. 69 Met. A 7. 1072 b 23 - Lesart von Hermann Bonitz und W. D. Ross' zweiter Vorschlag. '° Met. A 7. 1072 b 21. 71 Met. A 7. 1072 b 25; b 14f. 72 Grg 526 c. 28 31