Rätselhaft und gefährlich

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WISSENSCHAFT
ARTIFIZIELLE STÖRUNGEN
Rätselhaft und gefährlich
Wenn Patienten regelmäßig Symptome und Erkrankungen vortäuschen,
liegt dem oft eine psychische Erkrankung zugrunde. Diese sind jedoch
schwer zu erkennen und schwierig zu behandeln.
aum eine psychische Erkrankung bringt Ärzte und Psychotherapeuten so sehr an ihre
Grenzen wie die artifizielle Störung.
Denn sie basiert im Grunde auf Täuschung und Betrug und führt mit hoher Wahrscheinlichkeit in ein ethisches Dilemma. Bei der artifiziellen
Störung (auch: vorgetäuschte Störung) handelt es sich eigentlich um
eine Störungsgruppe, zu der die artifizielle Störung im engeren Sinne,
das Münchhausen-Syndrom und das
Münchhausen-by-proxy-Syndrom
gerechnet werden.
K
Symptome werden simuliert
Gemeinsames Merkmal dieser Störungen ist das absichtliche Erzeugen oder Vortäuschen körperlicher
oder psychischer Symptome und
Behinderungen, und zwar an der eigenen Person oder an anderen Personen. Das selbst- oder fremdverletzende Verhalten wird heimlich
durchgeführt und erfolgt vermutlich
in einem dissoziativen Bewusstseinszustand. Anschließend werden medizinische Behandlungen und Eingriffe eingefordert.
Da die Betroffenen keinen leicht
erkennbaren Nutzen, wie zum Beispiel finanzielle Vorteile oder erhöh-
tes körperliches Wohlbefinden, aus
ihrem Verhalten ziehen, erscheint die
Motivlage zunächst rätselhaft. In der
Fachliteratur sind verschiedene Vermutungen zu finden, die allerdings
bisher kaum empirisch belegt wurden. So wird beispielsweise angenommen, dass Patienten mit artifiziellen Störungen sich mit Hilfe
ihres Verhaltens Einzigartigkeitsgefühle, Aufmerksamkeit und Fürsorge
verschaffen. Möglicherweise dient
es auch dazu, Affekte und Spannungen zu regulieren. Psychodynamische Deutungen gehen von Reinszenierungen traumatischer Erfahrungen aus, familiendynamisch orientierte Ansätze vermuten, dass die Fokussierung auf ein vermeintlich
krankes Kind der Regulierung und
Stabilisierung konfliktreicher Paarbeziehungen dient.
Patienten mit artifizieller Störung im engeren Sinn sind überwiegend weiblich, überzufällig häufig
allein oder getrennt lebend und
durchschnittlich gebildet. Zusätzlich leiden sie unter Persönlichkeits- und psychischen Störungen.
Häufig üben sie einen medizinischen Assistenzberuf aus.
Beim Münchhausen-Syndrom ziehen die Patienten mit erfundenen
oder inszenierten Beschwerden von
einer Praxis oder Klinik in die
nächste („Behandlungswandern“)
und provozieren mit dramatischen
und fantasievoll ausgeschmückten
Krankheitsgeschichten diagnostische
und therapeutische Interventionen.
Es handelt sich vorwiegend um sozial desintegrierte Patienten männlichen Geschlechts.
Kinder sind häufig die Opfer
Ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom liegt vor, wenn eine Person anstelle einer Selbstschädigung einer
anderen Person Schaden zufügt. Betroffen sind meistens Mütter, Großmütter und weibliche Babysitter, ihre
Opfer sind in der Regel Säuglinge
und Kleinkinder. Diese Frauen fühlen
sich oft minderwertig, einsam und
isoliert, führen distanzierte Beziehungen, die sie jedoch dominieren, erfahren wenig Unterstützung und zeigen
auch selbstdestruktive Aggressionen.
Es gibt aber ebenso Erwachsene, die
stellvertretend anderen Erwachsenen
Verletzungen zufügen.
Patienten mit artifiziellen Störungen haben in der Kindheit oft
Traumatisierungen durch Gewalt,
Missbrauch, Vernachlässigung und
soziale Deprivation erfahren und
HINWEISE AUF MÜNCHHAUSEN-BY-PROXY-SYNDROM
● Anhaltende und immer wiederkehrende Symptomatik
beim Kind ohne plausible Erklärung beziehungsweise organische Ursache
● Keine Besserung trotz fachgerechter Behandlung; häufige
Komplikationen
● Prinzipiell reversible Symptome und Beschwerden verschwinden während des Klinikaufenthalts oder wenn das
Kind von der Bezugsperson getrennt wird, treten jedoch
im häuslichen Umfeld immer wieder (sogar verstärkt oder
mit zusätzlicher Symptomatik) auf.
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 9 | September 2010
● Es gelingt keine Zuordnung zu einem bekannten Krankheitsbild; Diskrepanz zwischen Anamnese und Befunden;
Diskrepanz zwischen mütterlichen Berichten und direkten
Beobachtungen.
● Das Kind wurde bereits verschiedentlich anderen Ärzten vorgestellt; die Eltern waren jedoch mit der Therapie meist nicht
einverstanden; häufiger Ärzte- und Therapeutenwechsel.
● Auch andere Kinder in der Familie werden häufig Ärzten
und Therapeuten vorgestellt; es gab bereits Todesfälle bei
Kindern in der Familie.
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Münchhausen
Syndrom – statt
sich selbst schädigen manche Betroffene andere Personen. Opfer sind
meist Kleinkinder
und Säuglinge.
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unter einer feindseligen und unzuverlässigen Familienatmosphäre
gelitten. Unter anderem aus diesem
Grund tragen ihre Beziehungen zu
anderen Menschen oft Züge von
Misstrauen, Täuschung und Verrat,
und die Betroffenen sind kaum in
der Lage, emotional tragfähige und
vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Viele mussten zudem zahlreiche medizinische Behandlungen
über sich ergehen lassen oder haben
miterlebt, dass Familienangehörige
häufig krank und behandlungsbedürftig waren. Ihr Verhältnis zu ihrem Körper ist aufgrund solcher Erfahrungen gestört, gespalten und
eher negativ. Der Körper ist für sie
weder ein Zuhause noch ein Teil
des Selbst, sondern dient ihnen lediglich als Mittel, um ihre Ziele zu
erreichen, auch wenn diese meist
unbewusst sind. Obwohl sie oft
selbst viele Schmerzen im Leben
erfahren haben, reagieren sie auffällig empathie- und mitleidslos auf
den Leidensausdruck anderer Menschen, selbst auf den ihrer Kinder.
Die Bagatellisierung von Leiden
und die Empathielosigkeit kann damit erklärt werden, dass ihnen
selbst nach eigenem Empfinden
auch keine Empathie entgegengebracht wurde, als sie Schmerzen ertragen mussten; hier bestehen Parallelen zum ignorierenden, empathielosen Verhalten von Müttern,
die den Missbrauch ihrer Kinder
durch männliche Täter dulden.
Oft treten Komorbiditäten auf
Auffällig ist auch die hohe Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen. Das Münchhausen-Syndrom
ist beispielsweise häufig mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen assoziiert, wohingegen Patienten mit
artifizieller Störung im engeren
Sinn und Münchhausen-by-proxySyndrom häufiger depressive Syndrome sowie Ess-, Borderline-, narzisstische und histrionische Persönlichkeitsstörungen aufweisen.
Patienten mit artifiziellen Störungen auf die Schliche zu kommen, ist
nicht einfach. Sie sind Meister der
Täuschung und verstehen es, selbst
Spezialisten über Jahre hinters Licht
zu führen. Da sie großes Interesse an
der Medizin zeigen und oft sogar
entsprechende Berufe ergriffen haben, kennen sie sich hinsichtlich der
Symptome sehr gut aus und können
diese überzeugend simulieren. Ihnen
kommt zugute, dass es zahlreiche
körperliche Erkrankungen gibt, die
nicht objektiv messbar sind wie beispielsweise Kopfschmerzen; auch
psychische Symptome lassen sich
mitunter leicht vorspielen oder behaupten. Darüber hinaus profitieren
sie von der allgemeinen Einstellung,
Kranken Glauben zu schenken, ihnen zu helfen, sie zu schonen und
mit ihnen Mitleid zu haben. Ihre
Täuschungen werden zudem durch
die Angst von Ärzten begünstigt,
vielleicht eine seltene Krankheit zu
übersehen, sowie durch ein Gesundheitssystem, in dem eine hohe fachliche Spezialisierung üblich und das
SUBTYPEN BEI MÜNCHEN
● Hilfesuchende (help seekers): Sie stellen ihre
●
Kinder seltener als die anderen Typen in Praxen
und Kliniken vor. Nach Konfrontation mit dem
Verdacht sind sie eher kommunikationsbereit
und gehen leichter auf Hilfs- und Behandlungsangebote ein als die beiden anderen Subtypen.
Aktiv Induzierende (active inducers): Häufigster
Typ. Charakteristisch sind wiederholte dramatische Symptominszenierungen und hoher Verleug-
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häufige Wechseln von Ärzten und
Kliniken leicht möglich ist. Auf diese Weise können die Patienten ausweichen, sobald ein Verdacht auf sie
fällt, und jeder Konfrontation aus
dem Weg gehen. Verräterisch ist oft
nur, dass sich für die Beschwerden
meist keine organischen Ursachen
nachweisen lassen, dass ein „Unfall“ oder „Versehen“ nicht plausibel
ist und dass sehr viele verschiedene
Behandler in Anspruch genommen
und häufig gewechselt werden.
Erhärtet sich der Verdacht, dass
ein Patient oder Angehöriger Krankheiten und Behinderungen nur vortäuscht oder selbst erzeugt hat, löst
dies zunächst bei den Behandlern
Verärgerung aus. Der Gedanke, viel
Zeit und Mühe investiert zu haben
und nur belogen und getäuscht
worden zu sein, untergräbt die
Freude und Motivation am Beruf.
Meistens kommt es auch zu erheblichen Spannungen und Differenzen in den Behandlungsteams, weil
ein Teil dem Patienten glaubt, der
andere hingegen nicht. Hinzu kommen Selbstzweifel, weil man sich
trotz der eigenen Expertise hat täuschen lassen. Auch muss bedacht
werden, dass Patienten mit artifiziellen Störungen das Gesundheitssystem erheblich belasten und anderen Patienten Behandlungsplätze
wegnehmen.
Trotz der eigenen Enttäuschung
und Kränkung ist zu berücksichtigen, dass Patienten mit artifiziellen
Störungen krank sind und Hilfe
brauchen, aber eben mit anderen
Mitteln als den von den Patienten
eingeforderten. In der Konsequenz
ergibt sich, dass die Patienten für ihr
Verhalten eventuell nicht oder nur
teilweise moralisch verantwortlich
gemacht werden können. Da sie
aber in der Regel weder Unrechtsbewusstsein oder Leidensdruck aufweisen noch einsichtsfähig sind, ist
es äußerst schwierig, sie für eine
Psychotherapie zu gewinnen.
Konfrontation vermeiden
Gelingt es dennoch, besteht der wesentliche Schritt im Aufbau einer stabilen Arzt-Patient-Beziehung. Beim
psychotherapeutischen Erstkontakt
ist von einer anklagenden Haltung
und direkten Konfrontation, zum
Beispiel durch Offenlegung von Betrugsbeweisen, abzuraten. „Häufig
führt dies zu einem plötzlichen Beziehungsabbruch durch den Patienten, zumindest aber zu einer erheblich verminderten Bereitschaft zu
seiner Mitarbeit“, so Prof. Dr. Harald Freyberger von der Universität
Greifswald und Prof. Dr. Rolf-Dieter Stieglitz von der Psychiatrischen
Universitätspoliklinik Basel. In einer Art indirekter Konfrontationsarbeit sollte stattdessen versucht werden, die Symptome ohne nachdrückliche Erwähnung der Vortäuschung zu thematisieren. Der Patient sollte die Empathie des Psychotherapeuten für seine schwierige, leidvolle Lebenssituation und
Vorgeschichte spüren können und
lernen, die intrapsychischen Mechanismen der Störung und ihre biografische Einbettung zu verstehen.
Wenn möglich, sollten Patienten
mit artifiziellen Störungen stationär
behandelt werden. Ein einmaliger
stationärer Aufenthalt reicht erfahrungsgemäß jedoch nicht aus, um
das Krankheitsbild zu verändern. Effektiver scheint eine Intervallthera-
HAUSEN-BY-PROXY-SYNDROM
●
nungsgrad, so dass Manipulationen selbst
unter Androhung von Strafe nicht eingestanden werden. Nach Konfrontation sind Beziehungsabbrüche zu den Behandlern die Regel. Die Opfer sind meistens jüngere Kinder.
Arztsüchtige (doctor addicts): Sie verhalten
sich wenig freundlich und kooperativ, sondern eher argwöhnisch. Sie produzieren
nicht oder eher selten aktiv Symptome, be-
stehen aber nachdrücklich auf der Behandlung nichtexistierender Krankheiten. Sie dramatisieren geringfügige Auffälligkeiten bei
Kindern und bestehen auf nachhaltiger Behandlung beziehungsweise schonen die
Kinder, so dass diese durch Isolation eine
Außenseiterposition oder erhebliche Verhaltensauffälligkeiten entwickeln. Die betroffenen Kinder sind eher älter.
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pie mit wiederholten stationären
Aufnahmen und zwischengeschalteten ambulanten Therapiephasen zu
sein. Eine maßgeschneiderte Therapie für die affektive Störung gibt es
bisher allerdings nicht. Es liegen unter anderem Erfahrungsberichte zu
verhaltenstherapeutischen Ansätzen
vor, bei denen die Funktionalität des
Krankheitsverhaltens bearbeitet und
positive Verstärker eingesetzt wurden. Auch einsichtsorientierte Psychotherapie und psychoedukativ
stützende Verhaltenstherapie wurden
vorgeschlagen. Darüber hinaus kann
konfliktorientierte Therapiearbeit eine Behandlungsoption sein; allerdings erfüllt nur etwa ein Viertel der
Betroffenen die Eingangsvoraussetzungen für stationäre konfliktbearbeitende psychotherapeutische Verfahren. Der wesentlich größere Teil
muss im Rahmen psychiatrisch-psychotherapeutischer Krisenintervention behandelt werden, da diese Patientengruppe oft mit akuten Krankheitszuständen eingeliefert wird und
zur Selbsttötung oder Tötung anderer
tendiert. Insgesamt wird die Prognose als eher ungünstig eingeschätzt, da
es durch die zahlreichen Klinikaufenthalte mit invasiven Eingriffen zu
einer zunehmenden Invalidisierung
sowie schweren Beeinträchtigungen
der sozialen und beruflichen Leistungsfähigkeit kommt. Komorbidität
mit Persönlichkeitsstörungen und
Suchterkrankungen verschlechtern
die Prognose zusätzlich.
Betroffene sind überfürsorglich
Die Behandlung gestaltet sich auch
deshalb als Herausforderung, weil
Patienten mit artifiziellen Störungen dazu neigen, Ärzte und Psychotherapeuten in ein komplexes Beziehungsgeflecht zu verwickeln.
Sie präsentieren sich als ideale Patienten, indem sie fachliche Versiertheit, hohe Duldsamkeit und Toleranz und stets volle, unkritische
Zustimmung selbst zu aufwendigen
Untersuchungen und schweren Eingriffen an den Tag legen. Mütter
mit Münchhausen-by-proxy-Syndrom geben sich darüber hinaus einerseits besonders fürsorglich, aufopferungsvoll und symbiotisch mit
ihren Kindern und stellen sich mit
den Behandlern gut (vor allem mit
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Krankenschwestern). Sie gehen
rasch innige Beziehungen zum
Pflegepersonal und zu anderen Eltern ein und fühlen sich auf der
Krankenstation offensichtlich wohl.
Andererseits machen sie sich deutlich weniger Sorgen wegen schwerer Eingriffe an ihren Kindern als
das Behandlungsteam – im Gegenteil, sie fordern geradezu invasive
Behandlungen und werden ärgerlich, wenn deshalb Bedenken angebracht werden; auffällig ist auch ihre Gefühlskälte und Gleichgültigkeit, wenn ein Kind verstirbt.
Hinterfragt ein Arzt oder Psychotherapeut jedoch das vermeintlich idealtypische, überangepasste
Verhalten, reagieren Patienten mit
artifiziellen Störungen durch starke
Beziehungsspannungen, sofortigen
Beziehungsabbruch oder Konfrontationsverleugnung im Sinne eines
Ungeschehenmachens. Die abgespaltenen, dem bewussten Erleben
nicht oder kaum zugänglichen
Selbst- oder Fremdschädigungstendenzen können dabei für die Patienten kaum fassbar bleiben, so dass
sie sich vom Arzt oder Psychotherapeuten missverstanden, abgelehnt
oder gedemütigt fühlen. In der Regel suchen sie gleich nach dem Beziehungsabbruch einen neuen Kontakt mit einem anderen Behandler,
und das Beziehungsmuster wiederholt sich hier in ähnlicher Abfolge.
Eine Form der Misshandlung
Insbesondere der Umgang mit Patienten mit Münchhausen-by-proxySyndrom kann nicht nur in eine ethische Zwickmühle führen, sondern
auch forensische Fragestellungen
aufwerfen sowie juristische Konsequenzen erfordern. Denn die Betroffenen begehen durch das Erzeugen
von Symptomen und Zufügen ernsthafter Verletzungen eine Form der
Kindesmisshandlung, die bis zur
Kindstötung gehen kann. Wird ihnen
das Kind entzogen, gehen sie dazu
über, ihre anderen Kinder zu schädigen; manchmal finden Misshandlungen auch an mehreren Kindern
gleichzeitig oder nacheinander statt.
Die Täuschungen und Manipulationen reichen von der Schilderung
nicht vorhandener Symptome (zum
Beispiel Herz- und Atemstillstände,
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epileptische Anfälle), über die Verfälschung von Körpersubstraten und
Messdaten (zum Beispiel Fieberkurven) bis hin zur Erzeugung realer
Symptome (zum Beispiel durch Medikamente, Gifte oder Erstickung).
In der Regel handelt es sich bei den
Tätern um Frauen, die sich als besonders gute Mütter darstellen, aber
teilweise die wahnhafte Vorstellung
hegen, dass ihre Kinder krank seien
und nur durch sie überleben könnten. Sie sind sich trotz vermutlich intermittierend beeinträchtigter Realitätswahrnehmung oft bewusst, dass
sie ihre Kinder schädigen, kennen
aber ihre eigenen Motive nicht und
verspüren einen Drang, das Verhalten auszuführen. Bei einer Konfrontation mit dem Verdacht auf gezielte
Kindesmisshandlung wechseln sie
rasch den Behandler und entziehen
sich somit einer weiteren kritischen
Beobachtung und Verfolgung.
Sollte es einem Arzt, Psychotherapeuten oder Behandlungsteam in einer Klinik doch gelingen, Beweise für
gezielte Fremdschädigung zu sammeln, beispielsweise durch den Nachweis nichtverordneter Medikamente
im Körper des Kindes oder durch direkte Beobachtungen, kommt es vor
allem darauf an, das betroffene Kind
zu schützen und den Verdacht mit
weiteren Beweisen zu erhärten. Dazu sollte das Jugendamt eingeschaltet, Anzeige erstattet sowie eine juristisch herbeigeführte Trennung
des Kindes von der verursachenden Person wegen Kindeswohlgefährdung und seine Unterbringung
in einer Pflegefamilie veranlasst
werden. „Die Mütter dürfen dabei
nicht zu früh mit dem Missbrauchsvorwurf konfrontiert werden, da sie die Manipulationen häufig leugnen und versuchen, das
Kind zügig der medizinischen Obhut zu entziehen“, meint Prof. Dr.
Martin Krupinski von der Universitätsnervenklinik Würzburg. Darüber hinaus kann die Konfrontation bei den Müttern zur psychischen Dekompensation führen, die
nicht selten mit Suizidversuchen
und Selbstverletzungshandlungen
einhergeht. Die Mütter benötigen
in dieser Situation psychotherapeutische Hilfestellung, die, wenn
möglich, in eine Therapie münden
sollte. Vor allem aber müssen die
betroffenen Kinder wirksam und
langfristig mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln geschützt werden.
Auch wenn es hart erscheint, ein
Kind von der Ursprungsfamilie für
lange Zeit zu trennen und in einer
Pflegefamilie unterzubringen, so ist
dies jedoch damit zu rechtfertigen,
dass die Mütter die Misshandlungen
an dem betroffenen Kind und an
Geschwisterkindern fortsetzen, sofern sie (wieder) uneingeschränkten
Zugang zu den Kindern haben und
keine psychiatrisch-psychotherapeutische Intervention erfolgt. Kinder
von Müttern mit Münchhausen-byproxy-Syndrom haben darüber hinaus ein relativ hohes Sterberisiko
und tragen durch die Misshandlungen meistens bleibende körperliche
und psychische Schäden und Traumatisierungen davon.
Ein Rest an Zweifeln bleibt
Auch wenn genügend Beweise gesammelt werden konnten, bleibt
meistens ein Rest an Zweifeln. Das
Dilemma besteht einerseits darin,
den Eltern möglicherweise Unrecht
zu tun und der Familie und den
Kindern durch eine Trennung großen Schaden zuzufügen, andererseits führt die Nichtverfolgung eines Münchhausen-by-proxy-Missbrauchs dazu, dass das kindliche
Opfer wieder in eine gefährliche
und schädigende Familiensituation
zurückkehren muss, jahrelange folterähnliche Manipulationen ertragen muss und dadurch eventuell sogar zu Tode kommt. Hinzu kommt,
dass Ärzte sich oft als Mitmisshandler und Mittäter fühlen und
deshalb Scham, Schuldgefühle und
Resignation empfinden.
Artifizielle Störungen, vor allem
aber das Münchhausen-by-proxySyndrom, erfordern daher nicht nur
eine Therapie, sondern immer auch
ein sorgfältiges Beobachten und Abwägen der menschlichen, sozialen
und juristischen Folgen.
■
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
Kontakt: Prof. Dr. Martin Krupinski, Abt. für Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Würzburg,
Füchsleinstraße 15, 97080 Würzburg, E-Mail:
[email protected]
@
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt/pp/lit0910
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 9 | September 2010
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LITERATURVERZEICHNIS HEFT PP 9/2010, ZU:
ARTIFIZIELLE STÖRUNGEN
Rätselhaft und gefährlich
Wenn Patienten regelmäßig Symptome und Erkrankungen vortäuschen,
liegt dem oft eine psychische Erkrankung zu Grunde. Diese sind jedoch
schwer zu erkennen und schwierig zu behandeln.
LITERATUR
1. Freyberger H, Stieglitz RD: Artifizielle Störungen. In: Berger M: Psychische Erkrankungen. München: Urban & Fischer:
986–93.
2. Häßler F, Zamorski H, Weirich S: Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen
plötzlichem Säuglingstod (SIDS), Münchhausen-Syndrom by proxy (MSBP) mit
tödlichem Ausgang und Infantizid. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie 2007; 35(4):
237–46.
3. Kapfhammer HP et al.: Artifizielle Störungen – zwischen Täuschung und Selbstschädigung. Nervenarzt 1998; 69(5):
401–9.
4. Keller KM et al: Münchhausen-by-proxySyndrom. Monatsschrift Kinderheilkunde
1997; 145(11): 1156–62.
5. Krupinski M: Wenn Mediziner ungewollt
zur Kindesmisshandlung verführt werden:
Münchhausen-by-proxy-Syndrom. Wiener
Medizinische Wochenschrift 2006;
156(15–16): 441–7.
6. Libow JA, Schreier HA: Three forms of
factitious illness in children: When is it
Munchhausen syndrome by proxy? Am
Orthopsychiatry 1986; 56: 602–11.
7. Noeker M, Mußhoff F, Franke I, Madea B:
Münchhausen-by-Proxy-Syndrom.
Rechtsmedizin 2010; 20(3): 223–37.
8. Nowara S: Das Münchhausen-by-proxySyndrom. In: Deegener G, Körner W
(Hrsg.): Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Göttingen: Hogrefe 2005:
128–40.
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