Mit der Borderline-Störung im Berufsleben. Eine

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DEUTSCHLANDFUNK
Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel
Redaktion: Ulrike Bajohr
Dossier
Mit der Borderline-Störung im Berufsleben
Eine Fallstudie
Von Johannes Kulms
Sprecher: Jean Paul Baeck und Kerstin Fischer
Regie: Ulrike Bajohr
Ton und Technik: Ernst Hartmann/ Petra Pelloth
Erstsendung
Urheberrechtlicher Hinweis
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geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
- unkorrigiertes Exemplar Sendung: Freitag, 04. Januar 2013, 19.15 - 20.00 Uhr
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M 3: CD Lola rennt, Soundtr. Track 2: Introduction. Arch.nr. 91-20696, LC 0116
01 Jana
Da gab es eine Situation im Job, da habe ich gemeinsam mit einem Kollegen im
Büro gesessen und wir haben uns auch über die Projektteilnehmer unterhalten. Und
da erzählte er, da wäre ja alles dabei, also Vorbestrafte, Borderliner und alles. Ich
musste dann auch da etwas grinsen, weil ich dachte, OK, die Borderliner kommen
also noch hinter den Vorbestraften. Ja, also, in so einem Umfeld kommt man dann
wahrscheinlich nicht auf die Idee zu sagen, ach übrigens, ich bin auch betroffen.
02 Andreas Also, in Deutschland darf man gerne mit einem Gips am Knie oder am
Arm rumlaufen. Aber irgendeinen Gips im Gehirn darf man lieber nicht haben. Das
führt dann halt zur Aussortierung.
Ansage
Mit der Borderline-Störung im Berufsleben.
Eine Fallstudie von Johannes Kulms
Sprecher
Begriffe wie Depression oder Posttraumatische Belastungsstörung sind über
Medien, Mediziner und Selbsthilfegruppen inzwischen in der Öffentlichkeit
angekommen. Menschen, die darunter leiden, können auf ein gewisses
Verständnis hoffen - und das Burnout-Syndrom droht gar zum ModeSynonym für übermäßiges Engagement im Job zu werden. Auch die
Unfallversicherungen, die Gesundheitsgefahren am Arbeitsplatz beobachten,
machen Arbeitgeber mehr und mehr auf psychische Erkrankungen
aufmerksam, die etwa durch Mobbing, ein steigendes Arbeitstempo oder
zunehmenden Mobilitätsdruck befördert werden können. Doch heißt das, dass
Vorgesetzte und Kollegen generell sensibler auf Menschen mit psychischen
Störungen in der Berufswelt reagieren?
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03 Breutmann Ja. Da kann man schon mit Fug und Recht ja sagen. Ob die
ausreicht, das ist eine andere Frage.
Sprecherin
sagt Norbert Breutmann von der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände. In der dortigen Stabsstelle Arbeitswissenschaft
beschäftigt sich der studierte Ingenieur auch mit den Einflüssen der Berufswelt
auf die Psyche.
03f Breutmann Ich denke, wir werden uns dieser ganzen Thematik weiter öffnen
müssen, das ist ganz klar.
04 Gaumert Ich bin mir aber nicht so sicher, ob es zu dem Thema wirklich eine
größere Offenheit gibt.
Sprecherin
meint Claudia Gaumert, Reha-Beraterin bei der Arbeitsagentur Hamburg
04 f Ob zwar nicht die Information darüber größer geworden ist, aber der Umgang
damit, die Toleranz gegenüber Menschen, ob die so gewachsen ist. Also, die
Bereitschaft, sich auf Leute einzustellen, die anders sind – egal ob krank oder nicht
krank – finde ich tendenziell eher sinkend.
05 Breutmann Da gibt es noch so viele Dinge, die im Allgemeinverständnis einfach
nicht vorhanden sind. Weil wir das Thema eben über Generationen aus der Nische
nicht raus gelassen haben. Wenn einer einen Hinkefuß hat, hat keiner ein Problem,
mit ihm umzugehen. Aber wenn einer eine psychische Störung hat, weiß keiner, wie
er darauf reagieren soll.
Zäsur aus M3
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Sprecher
Bis heute gibt es psychische Störungen, über die die Betroffenen schon
deshalb am liebsten nicht sprechen, weil sie befürchten, dann ihren
Arbeitsplatz zu verlieren – oder gar nicht erst einen zu bekommen. Störungen,
die in den Medien mindestens als rätselhaft dargestellt werden. Die
Borderline-Persönlichkeitsstörung- kurz: BPS – gehört dazu.
07a Jana Also, entweder sind es die Emo-Mädchen, die sich schneiden, die sich
selbst verletzen. Und es gab mal einen Tatort wo irgendwie Borderline auch ein
Thema war. Da war es dann letztendlich die Mörderin. Also ein total überspitztes
Bild.
Sprecherin
Borderline-Persönlichkeitsstörung, kurz BPS. Die Betroffenen durchleben
immer wieder extreme Gefühlsschwankungen; Euphorie, totale Anspannung,
das Gefühl der inneren Leere können rasch aufeinander folgen. Damit einher
geht oft eine gestörte Selbstwahrnehmung. Ihre Beziehungen zu anderen
pendeln zwischen Idealisierung und Entwertung.
In der Öffenlichkeit wird vor allem der Drang zu Selbstverletzungen und
Suizidalität mit BPS in Verbindung gebracht.
Die Entstehung der Borderline-Störung ist nach wie vor unklar. Die
Wissenschaft geht von einer genetischen Belastung aus, auch hält sie als
Auslöser traumatische Erlebnisse für möglich.
Sprecher
Von der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind in Deutschland
schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Bevölkerung betroffen
– so viele Menschen, wie in Köln leben, in Stuttgart oder in München.
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Einen Kölner, Stuttgarter oder Münchner kennt fast jeder. Borderliner machen
sich oft unsichtbar. Auch Jana und Andreas, die hier über sich berichten,
heißen in Wirklichkeit anders.
(Atmo Straße unter 0-Ton)
08 Jana Also, uns hat man das damals in der Therapie so erklärt, dass auch unter
Künstlern oder unter kreativen Menschen sehr viele Borderliner zu finden sind, man
also eigentlich einen sehr starken Antrieb hat also z.B. im Gegensatz zu
Depressiven. Dass man gleichzeitig aber auch einen ganz starken Zweifel hat, also
was das Leben für einen Sinn hat, Zweifel an sich selbst. Ein weiterer Punkt sind halt
Spannungsmomente. Also unter Strom stehen und nicht wissen, wie man da raus
kommt, wie man da runter kommt. Impulsives Verhalten, das ist bei jedem, glaube
ich, auch anders. Also impulsiv im Sinne von, ich raste beim Streit total aus, knalle
die Türen oder ob es halt eher impulsiv im Sinne von ich kann Situationen nicht
ertragen und verletze mich dann selbst...
09 Andreas Ja, also das Klischee hat ein Fünkchen Wahrheit. Also, von mir aus
gesehen, klar, sehr anstrengend, auch egozentrisch, das würde ich einfach mal so in
den Raum stellen. Aber andererseits sind das auch unglaublich kreative und loyale
Leute, wenn man so will. Aber es kann nicht jeder Borderliner, selbst wenn es nur ein
bis zwei Prozent der Bevölkerung sind, Theaterregisseur werden oder irgendwie
Charakterdarsteller für einen Film.
Sprecherin
Es gibt wenige konkrete Zahlen über Borderline-Betroffene im Berufsleben.
Eine stammt aus Baden- Württemberg. Dort sind 65 bis 70 Prozent aller Frauen
berufstätig – unter weiblichen BPS-Patienten sind es 25 bis 30 Prozent. Das
ergaben Erhebungen an den Universitätskliniken Freiburg und am
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim.
Sprecher
Was nicht erhoben wurde: wo die Frauen – und Männer - mit BorderlineStörungen arbeiten. Die wenigsten auf dem ersten Arbeitsmarkt. Eine Gruppe
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ist auf dem zweiten Arbeitsmarkt untergekommen, zu dem auch Einrichtungen
für Menschen mit körperlicher oder psychischer Behinderung gehören.
Wiederum andere absolvieren Rehabilitationsprogramme oder sind
frühverrentet. Dabei sind viele BPS- Betroffene bestens ausgebildet und
intellektuell hoch leistungsfähig.
Musikakzent aus:
M 4: CD 21 Grams, Track 1: Do we lose 21 Grams, Arch.nr. 6084083, LC06083
10 Jana Und ich habe bisher eigentlich immer die Reaktion bekommen, krass, du
bist ungefähr der letzte Mensch, von dem ich das gedacht hätte. Ich habe mich
mittlerweile etwas dran gewöhnt. Und trotzdem ist es so, dass ich nach wie vor
denke, wow, du scheinst so anders auf Leute zu wirken. Also, auch in Momenten, wo
es mir überhaupt nicht gut geht, wo mir Leute sagen, du bist immer so fröhlich, du
wirkst immer so fröhlich.
Sprecherin
Jana ist Anfang 30. Im Herbst 2008 – sie hatte ihren dritten Suizidversuch
hinter sich – wurde bei Jana eine BPS diagnostiziert.
11 Jana Also, so in der Rückschau betrachtet, glaube ich, dass ich das das erste
Mal in der Pubertät wahrgenommen habe. Ich reite seit meiner frühen Kindheit. Und
ich hatte ein Pflegepferd für ganz viele Jahre und das ist verkauft worden. Und
danach bin ich in so ein totales Loch gefallen. Vorher war ich ein Mensch, der jeden
Tag draußen war, bei den Pferden, mit den Freunden, der jeden Tag unterwegs war.
Da war es so das erste Mal, dass ich einfach irgendwie überhaupt nicht mehr raus
wollte und wo ich auch das erste Mal Suizidgedanken entwickelt habe.
Sprecherin
Ihren ersten Suizidversuch unternahm Jana mit 18, einen zweiten als
Studentin. Ihr Studium der Kommunikationswissenschaft hat Jana mit 1,1
abgeschlossen. Danach wollte sie eigentlich promovieren. Sie hospitierte
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vorher bei einem sozialen Unternehmen in Nordrhein-Westfalen – und blieb. Im
Auftrag der Job-Center organisiert das Unternehmen Projekte – vor allem für
arbeitslose Jugendliche, aber auch für ältere Erwachsene. Ziel ist es, die
Teilnehmer für Ausbildung und Beruf zu ertüchtigen. Anders als bei Praktika
davor hatte Jana hier erstmals das Gefühl, mit ihrer Arbeit etwas bewegen zu
können
12 Jana Und ich verbinde mit Beruf eben sehr stark dieses Sinnthema. Also, ich
fange sehr schnell an zu zweifeln und leider dann auch nicht nur am Beruf, sondern
an allen Dingen, wenn ich das Gefühl habe, das, was ich tue, hat irgendwie gar
keinen Sinn. Ich stehe da dann nicht hinter, erlebe mich dann nicht selber nicht
wirklich. Ich habe keinen Bezug.
Sprecherin
Jana trägt in der Firma viel Verantwortung. Sie ist in der
Unternehmensentwicklung tätig, arbeitet neue Mitarbeiter ein und leitet
mehrere theaterpädagogische Projekte.
13 Jana Ich habe auch immer einen sehr guten Zugang zu den Leuten gehabt, weil
ich von vornerein davon ausgegangen bin, dass jeder irgendwie eine Chance
verdient hat. Und dass jeder irgendwie auch das Potenzial hat, etwas zu leisten,
egal, was er für eine Einschränkung hat. Ich habe halt auch immer sehr gute
Rückmeldungen von den Teilnehmern bekommen, wenn die halt eine Perspektive
bekommen haben, Ausbildungsplatz gefunden haben. Wenn die vor Publikum
aufgetreten sind in ihren Stücken, wie stolz sie auf sich sind und wie dankbar sie für
die Unterstützung sind.
Sprecherin
Janas Berufsalltag ist durch häufige Ortswechsel geprägt. Sie arbeitet in ihrem
Wohnort, fährt aber auch zu Besprechungen in die Geschäftsstelle und zu den
Projekten in der Umgebung. Zusätzlich arbeitet sie regelmäßig auch zu Hause.
Einen reinen Büroalltag fände Jana langweilig.
14 Jana Ich glaube, dass ich eigentlich sehr gut mit Stress umgehen kann und das
irgendwie auch brauche. Und so das Gefühl habe, so permanenten Stress und
permanentes Machen und Tun, dass ich mich dann irgendwie auch lebendig fühle
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und mich spüre und das irgendwie auch suche. Und dass ich aber gleichzeitig auch
weiß, dass wenn ich zu sehr rotiere, ich in so eine Spirale komme, wo ich einfach
selber überhaupt nicht mehr weiß, was bei mir los ist. Also, wie es mir geht und was
ich brauche.
Musik M2 CD Technochillout, Track 1 Teardrop, Arch.nr. 6054724, LC03708
15 Andreas Flight Radar 24 ist so ein Softwareprogramm – eines von mehreren –
mit dem man in Echtzeit sehen kann, welche Flugzeuge sich in gewissen
Luftraumabschnitten bewegen, also Zivilflugzeuge natürlich. Und dann kann man
sehen, welches gerade im Landeanflug ist auf einen Flughafen. Hier zum Beispiel,
wenn man das anklickt, wird angezeigt, welches Flugzeug das ist…
Sprecher (weiter auf Atmo)
Andreas ist Mitte 40. Rund 17 Jahre hat er in Reisebüros gearbeitet. Seit 2007
weiß Andreas um seine Borderline-Diagnose. Die letzten Jahre hat er mehrfach
den Arbeitgeber gewechselt.
16 Andreas Bei der Luftfahrt fasziniert mich, dass man immer unterwegs ist und an
einem Ort ankommt, der mich zumindest nicht beängstigt. Weil die Abläufe der
Prozesse an Flughäfen weltweit ja standardisiert sind…
Sprecher
Ein Jahr war Andreas arbeitslos - vor wenigen Wochen hat er wieder einen Job
gefunden. Der erste Arbeitsmarkt, der „harte“ Arbeitsmarkt, wie er sagt, ist
stets Andreas‘ Ziel gewesen:
17 Andreas Ja, als ich zehn, war ist mein Vater mit uns als Familie nach Südkorea
gezogen, weil er dort geschäftlich einen Posten aufgenommen hat. Und ich habe
dieses Luxusleben, was sich daraus ergab, als Kind natürlich genossen. Ich habe
nicht so mitgekriegt, dass er dafür seine Nerven sehr lange für hinhalten musste.
Aber da habe ich gemerkt: Wenn man hart arbeitet dann bekommt man auch
irgendwie die Möglichkeit, ein gutes Leben geschenkt zu kriegen. Und dass das ein
harter Arbeitsmarkt ist, weiß ich inzwischen, aber dass das ein Ziel ist, ja, in der
geschäftlichen Abteilung des ersten Arbeitsmarktes zu landen, das ist mir doch da
mitgegeben worden.
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Sprecher
Andreas hat in Hamburg und in Südkorea internationale Schulen besucht und
nach dem Abitur in Cambridge Soziologie studiert. Aufgewachsen unweit des
Hamburger Flughafens, faszinierte ihn aber ein anderer Beruf – der des Piloten.
Noch während des Studiums bewarb sich Andreas bei British Airways für eine
Pilotenausbildung, scheiterte jedoch bei der Aufnahmeprüfung. Heute glaubt
er, dass die Belastung als Pilot für ihn zu hoch gewesen wäre.
18 Andreas Auf jeden Fall ist es gut, dass ich nicht Pilot geworden bin. Ich merke ja,
dass mir es schwer fällt, Aufgaben zu priorisieren und vernünftig einzuschätzen, wie
lange ich für eine Aufgabe brauche. Und das ist natürlich, wenn man in einer
Notsituation im Cockpit sitzt und den Überblick verliert und die Fassung gleich mit,
und sich gleich in fatalistischer Propaganda ergeht, dann ist das tödlich für die
Fluggäste.
Sprecher
Andreas kehrte nach Hamburg zurück und fand in der Zeitung eine Anzeige für
ein Reisebüro-Volontariat. Der Chef war erstaunt über die Bewerbung:
19 Andreas Weil er sagte, mit dem Lebenslauf und mit dem Schul- und
Studienabschluss eigentlich schon eine Menge Kohle scheffeln müsste. Aber er hat
mich trotzdem eingestellt. Vielleicht hat er diesen Enthusiasmus für das Fliegen in
mir gespürt.
Sprecher
Sein Ausbilder müsse etwas geahnt haben, glaubt Andreas, denn er schickte
ihn in die Firmenreisebranche, wo es weniger direkten Kundenkontakt gibt,
Anfragen werden vor allem telefonisch oder per Mail bearbeitet. Für Andreas
war der erste Auftrag ein magischer Moment.
20 Andreas Damals gab es ja noch diese Flugtickets, die rot gummiert wurden auf
der Rückseite und dann abgerissen wurden am Flughafen. Und das war für mich
immer etwas besonderes, in der Hand zu haben. Und das jetzt selber produzieren, in
der Hand zu halten und selber erwirkt zu haben – das war schon irgendwie ein
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Glücksgefühl: Jetzt bin ich da, wo ich das machen kann, wo ich früher mit geflogen
bin. Jetzt produziere ich das selbst.
Sprecher
Andreas‘ Arbeitsalltag ist das Büro. Er möchte jeden Auftrag perfekt erfüllen,
doch es fällt ihm schwer, Ruhe zu bewahren, eine sinnvolle Reihenfolge
festzulegen, etwa wenn binnen kurzer Zeit mehrere Aufträge eingehen. So
gerät er immer wieder in Zustände starker emotionaler Anspannung und
motorischer Unruhe.
21 Andreas Und dann fange ich nicht an, die Arbeit abzuwickeln, sondern mit den
Händen in der Luft rumzufuchteln, mir am Nacken zu kratzen und Grimassen ziehen.
Also, eine große motorische Unruhe an den Tag zu legen. Also, nach so einem Anfall
bin ich immer erschöpft. Und habe auch allerhöchstens marginal mehr Klarheit, was
als nächstes, in nächstes Minute oder Sekunde anzupacken ist, also den
Arbeitsfluss. Und das ist dann wirklich blockiert. Ich fange dann was an und falle
denn, wenn ich Glück habe, wieder in die Routine rein, habe dann natürlich aber
wertvolle Zeit verloren.
Sprecher
Bis zu seiner Borderline-Diagnose achtete Andreas nicht darauf, ob Kollegen
sein Verhalten wahrnehmen.
22 Andreas Erst auf der letzten Arbeitsstelle dann, da habe ich, nachdem ich das auf
der vorigen Arbeitsstelle im Kündigungsgespräch gemerkt hatte, da hat mir dieser
Chef das quasi auch motorisch nachgeäfft. Und gesagt, wenn du hier überfordert
bist, dann geht das wieder so los. Und dann fing er auch an, mit den Armen in der
Luft zu fuchteln. Und dann ist es natürlich für mich, ganz tödlich, eine ziemliche
Zurückweisung gewesen…
Zäsur M4
Sprecherin
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Momente inhaltlicher Überforderung und Probleme mit den Vorgesetzten erlebt
Jana seltener – das Gefühl, permanent am Limit zu arbeiten, verursacht sie vor
allem sich selbst.
23 Jana Mich hat mal eine Arbeitskollegin Speedy Gonzales getauft. Weil ich es alles
immer so schnell mache und immer irgendwie rotiere und irgendwie alles immer ganz
schnell abhake und dann das nächste. Ja, ich spreche halt immer vom
Funktionsmodus. Weil ich immer, egal wie schlecht es mir geht, im Job eigentlich
immer funktioniert habe. Das außen läuft gut: Ich gehe arbeiten, ich mache Dinge,
ich kriege meinen Alltag ganz gut geregelt. Und gleichzeitig findet halt mein
emotionales Leben nicht statt, ist irgendwie abgespalten.
Sprecherin
Jana versucht, durch Perfektionismus und die Vermeidung von Freiräumen die
eigenen Gefühle aus dem Alltag fernzuhalten, insbesondere das Gefühl, das
sie am meisten fürchtet: innere Leere.
24 Jana .. wie so wiederkehrende Wellen. Ich habe Phasen, in denen ich sehr viel
mache, in denen ich arbeite und nach der Arbeit Sport mache und abends mit
Freunden telefoniere oder noch weggehe. Und könnte eigentlich den ganzen Tag
von morgens bis abends Dinge tun und unterwegs sein und das strengt mich dann
auch nicht an in solchen Momenten. Und dann gibt es halt das andere Extrem, dass
ich Phasen habe, in denen komme ich nicht aus dem Bett, da klingelt mein Wecker
irgendwie um 7 und ich schaffe es irgendwie nicht, aufzustehen. Und dass ist dann
manchmal auch so, dass ich eine Woche krank geschrieben bin, weil ich so banale
Dinge wie mich morgens anziehen, nicht hinkriege. Ich stehe dann vor meinem
Kleiderschrank morgens und bin damit restlos überfordert, mir zu überlegen, was ich
anziehen soll.
Zäsur M3
25 Armbrust wenn man erwartet, dass es bei einer so schweren Störung eigentlich
gar nicht funktioniert mit dem Arbeiten, da staunt man dann schon, dass da vieles
möglich ist an Leistungsfähigkeit .
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Sprecher
Michael Armbrust behandelt seit über 20 Jahren Borderline-Patienten. Er ist
Chefarzt der auf psychische Störungen spezialisierten Schön-Klinik Bad
Bramstedt. Dort trafen sich Betroffene, Angehörige und Therapeuten zum
Gespräch über Borderline und Arbeitsmarkt:
26 Armbrust Und das ging wirklich um die dauerhafte Leistungsfähigkeit, die halt
eben oft nur sechs oder 12 Monate ausgehalten wird. Und der Grund war nicht die
emotionale Instabilität, sondern eben dieses perfektionistische Gegensteuern. Also,
es darf keiner merken, dass ich heute einen schlechten Tag habe.
Zäsur M2
Sprecherin
Jana glaubt, dass ihre Erkrankung sie im Berufsalltag wenig einschränkt,
Sprecher
Andreas erlebt manche Symptome am Arbeitsplatz nahezu täglich. Er regt sich
schnell auf und reagiert impulsiv. Er erinnert sich noch gut an eine Situation
während seiner Ausbildung, als er alleine im Büro war und ein
Ticketgroßhändler ungefragt ein Angebot geschickt hatte:
27 Andreas Und da habe ich mich so geärgert, dass sie einfach so für ihre
ungefragte Werbung zehn Seiten von den teuren Faxrollen mit ihren blöden
Preislisten bedrucken lassen, dass ich die rausgerissen habe aus der Schale des
Faxgerätes und auf jedes einzelne Blatt ein Wort geschrieben habe: Schade-um-dasPapier-wir-können-bei-Ihnen-nicht-buchen! Und das postwendend an diese
Lieferantenfirma zurückgefaxt habe, alle 10 Bögen. Es hat glücklicherweise zu
keinen Konsequenzen geführt.
Sprecher
Wenn ein Firmenkunde eine Reservierung zurückzieht, nimmt Andreas das oft
persönlich. Zeichen von Überforderung, Ärger, emotionaler Anspannung
versucht Andreas zu verbergen.
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28 Andreas Und bei der letzten Stelle, wenn ich merkte, dass es über mich
hereinbricht oder hereinbrach, dann bin ich eben auf die Herrentoilette
verschwunden und habe diesen Anfall dort über mich ergehen lassen. Dann bin ich
hinterher ans Waschbecken getreten, habe in den Spiegel geschaut und versucht,
das Gesicht wieder gerade zu ziehen, dass die Röte wieder aus dem Gesicht
entweicht, weil das mit Herzklopfen verbunden ist. Und dann, als wenn nichts
gewesen sei, wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Und dann ging das auch
irgendwie.
Sprecher
Acht Jahre arbeitete Andreas in einem Firmenreisebüro, das 2008 wegen der
Wirtschaftskrise geschlossen wurde.
29 Andreas Also, der Chef, den ich auf dem Arbeitsplatz hatte, den ich acht Jahre
bekleidet hab, der hat das immer mit einem Lachen hingenommen und gesagt, seine
Lebenserfahrung sei, dass Leute, die so einen Kopf voller Fakten hatten, immer
negativ denken und immer negativ reden. Und da sollte ich mir keine Sorgen machen
und das einfach mal lassen. Und dann hat er drüber gelacht.
Sprecher
In den nächsten beiden Reisebüros, in denen Andreas angestellt wurde, hatte
er weniger Glück. Er empfand die Arbeitsatmosphäre als hektischer – und
nach der kurz zuvor erhaltenen Borderline-Diagnose versuchte Andreas, die
Symptome erst recht zu unterdrücken. Bei der Kündigung listete ein Chef
Andreas‘ Verhaltensweisen als geschäftsschädigend auf:
30 Andreas Ja, also er hatte eben gesagt, dass ich sehr viel rede mit den Kunden,
über alles mögliche, aus der Unsicherheit heraus, das hat er ganz richtig vermutet,
das konnte ich ihm auch bestätigen. Oder auch, dass ich kiebig werde, wie man so
schön in Norddeutschland sagt, also die Kunden glasklar argumentativ versucht
habe, nachzuweisen, dass der Wunsch, den sie haben, so überhaupt nicht erfüllbar
sei und was sie sich denn überhaupt dächten.
Zäsur M4
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Sprecherin
Auch Jana kennt diese innere Hochspannung: Nur entlädt die sich bei ihr meist
nach Phasen intensiver Arbeit, am Wochenende oder im Urlaub.
31 Jana Und an solchen Tagen, wo ich halt die ganze Zeit rotiere und keine Zeit
habe, inne zu halten, dann ist es oft so, dass ich abends denke, ich habe mich
irgendwie im Laufe des Tages verloren, ich bin irgendwie abhanden gekommen. Und
oft war es früher so, dass wenn ich dann zu Hause war, das Gefühl hatte, zu platzen.
Dass diese Anspannung irgendwo hin muss und ich wusste nicht, wohin.
Sprecherin
Früher hat sich Jana in solchen Momenten oft verletzt, sie hat sich in die
Unterarme geschnitten.
32 Jana Also, wenn ich mich selbst verletze, dann ist es in dem Moment eine totale
Erleichterung. Also, ich glaube, dass ist ja auch das Absurde, was vermutlich
Außenstehende nicht nachvollziehen können. Also, diese innere Anspannung, diese
innere Unruhe, das ist irgendwie wie so ein Schnellkochtopf. Und in dem Moment, wo
man sich selbst verletzt, ist es eine totale, kehrt irgendwie eine totale Ruhe ein.
Sprecherin
Spätestens am nächsten Morgen fühle sie sich schlecht bei dem Gedanken,
dass sie sich nicht anders zu helfen wusste, sagt Jana. Obendrein hinterlässt
jeder Schnitt eine Narbe auf der Innenseite der Arme.
33 Jana Besonders schwierig ist es, wenn man dann zurück in die Normalität geht
und weiß, man hat halt unter seinem Pullover Schnitte. Und wenn der Ärmel
hochgeht, dann sieht es jemand. Also, ich fühle mich dann immer wie ein
Hochstapler, also ich habe das Gefühl, ich habe ein Geheimnis, was keiner sehen
darf und fühle mich dann immer wie, ja, also wirklich wie so ein Lügner!
M3
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Sprecher
Bei der Therapie von BPS habe es derweil große Fortschritte gegeben, erklärt
Klaus Höschel, leitender Psychologe in der vom Landschaftsverband
Westfalen-Lippe getragenen Klinik Lengerich. Spezielle auf die BorderlineStörung zugeschnittene Therapieformen konnten die früher sehr hohe Zahl von
Behandlungsabbrüchen deutlich senken.
34 Höschel Mit diesem speziellen Wissen und diesem speziellem TherapieVerfahren ist die BPS allerdings genauso gut behandelbar wie andere psychische
Störungen. Also, es ist keine Horror-Störung oder die schlimmste psychische
Störung.
Sprecher
Ambulante Behandlungsangebote sind allerdings weiterhin rar. Viele
Therapeuten fürchten die Tendenz zu Selbstverletzungen und zu Suizidalität
bei Borderline-Patienten.
35 Höschel Erstaunlicherweise ist das eigentlich nur ein halbrationales Argument.
Weil die tatsächlichen Suizide bei Borderline-Patienten sind deutlich weniger, als es
bei schwer depressiven Patienten der Fall ist. Es sind aber gut die Hälfte der
Therapeuten, die es ablehnen, Borderline-Patienten zu behandeln.
Zäsur M4
Sprecherin
Jana besucht heute regelmäßig eine Therapeutin. Erst mit einem
mehrmonatigen Klinikaufenthalt nach ihrem dritten Selbstmordversuch
begannt Jana damit, sich wirklich mit ihrer Erkrankung auseinander zu setzen.
Die Therapeuten in der Klinik waren erstaunt, dass sie bis dahin immer um eine
stationäre Behandlung herumgekommen war.
36 Jana .. haben halt gesagt, das hätte halt viel damit zu tun, dass ich immer
wüsste, was ich sagen muss, dass ich immer einen recht klaren Eindruck mache,
egal was ich eigentlich real tue. Aber der Zeitpunkt hier, wo ich in die Klinik gegangen
bin, war, glaube ich, der letzte Ausweg. Ich glaube nicht, dass ich das Jahr überlebt
hätte ohne diesen Klinikaufenthalt.
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M4
37 Jana Bei Borderlinern, wo das Thema Suizid vorhanden ist, oder zumindest
Suizidgedanken, Suizidpläne, ist der wichtigste Punkt irgendwie eine Entscheidung
zu treffen für das Leben. Ich glaube, man kann ganz lange rumdoktorn und viele
Dinge machen, wenn man im Hinterkopf immer hat, eigentlich will ich gar nicht leben
und eigentlich will ich das alles gar nicht. Und das war bei mir sehr, sehr lange ein
Thema. Also, dass ich im tiefsten Inneren gesagt habe, ich mache das jetzt erst mal,
aber ich kann mir nicht vorstellen, wirklich alt zu werden.
Sprecherin
In der Therapie hat Jana gelernt, die eigenen Gefühle stärken wahrzunehmen,
mit der emotionalen Anspannung besser zurechtzukommen, ihre Impulsivität
zu beherrschen.
38 Jana Und in der Klinikzeit war halt ein Thema auch Wutbahnung. Also, dieses
Gefühl von Ärger auch mal spüren und spüren dürfen. Und ich habe dann zusammen
mit meiner Therapeutin mit einem Knüppel auf einen Sandsack eingeschlagen und
das war auch ganz lustig, weil der Knüppel ist dann durchgebrochen, also war da
vielleicht doch irgendwie Wut.
39 Jana Egal ob in Hochspannungssituationen oder in depressiven Situationen:
Spazieren gehen, laufen, joggen, also irgendwie an die frische Luft gehen und
Bewegung, das hilft…also, in beiden Phasen hilft mir das irgendwie sehr gut.
Sprecherin
Früher war für Jana ein voller Terminkalender lange Zeit normal und notwendig
– beruflich und privat. Heute weiß sie, dass sie mehr Zeit für sich selber
braucht und versucht, Auszeiten und Entspannung mehr einzuplanen. Das fällt
ihr nicht leicht.
40 Jana Ich bin erstmal ein sehr disziplinierter Mensch. Ich bin sehr ehrgeizig. Und
wenn ich eine Aufgabe habe, ein Ziel habe, dann verfolge ich das auch, klemme
mich dahinter. Ich… glaube aber auch, dass ich gelernt habe, an manchen Stellen
Fünfe gerade zu lassen, dass das auch total wichtig war, Dinge, die von außen
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kommen, nicht wichtiger zu empfinden, als mich selbst und meine Bedürfnisse. Ganz
lange Zeit habe ich das als völlig irrelevant empfunden.
Sprecherin
Auf Druck ihrer Therapeutin meldet sich Jana an Tagen, an denen ihr das
Aufstehen unmöglich erscheint, nun häufiger krank.
41 Jana Ich hatte jetzt vor kurzem wieder so eine Phase, wo ich eben an einem Tag
die Woche partout nicht arbeiten konnte und wo ich mich aber an den anderen
Tagen irgendwie hingeschleppt habe und mich getreten habe. Und ich habe aber
irgendwie gemerkt, das wird von Woche zu Woche schlechter. Dann hat mich der
Arzt halt eine Woche krank geschrieben, weil er gesagt hat, na ja, die Strategie
weitermachen hat ja irgendwie nicht funktioniert, dann bleiben Sie jetzt einfach mal
eine Woche zu Hause. Und das war letztendlich aber auch gut.
Sprecherin
Ein Jahr nach ihrem Klinikaufenthalt nahm Jana wieder eine Überdosis
Medikamente. Trotzdem will sie eine weitere stationäre Therapie lieber
vermeiden - zu groß wäre der Schritt raus dem Alltag.
Zäsur M2
42 Breutmann Also, Arbeit ist grundsätzlich eine extrem stabilisierende Funktion für
die Seele. Also, jeder, der in dieser Gesellschaft lebt, sollte auch die Möglichkeit
besitzen, zu arbeiten. Weil über die Arbeit hat er soziale Kontakte, wird das
Selbstwertgefühl stark beeinflusst, positiv beeinflusst.
Sprecher
Norbert Breutmann, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.
43 Breutmann Arbeit zu verlieren ist eine große Bedrohung, und wenn einer merkt,
er hat hier eine Störung, die er alleine nicht in den Griff bekommt, wo er längere
Auszeiten bekommt, kann ich mir gut vorstellen, dass hier enorme Ängste in dem
Menschen wachsen, den Arbeitsplatz zu verlieren und damit im Prinzip, ja, die Basis
für sein bisheriges Leben mit Einkunftsmöglichkeiten, mit einem gewissen
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Lebensstandard, mit sozialen Kontakten, mit Freunden und Kollegen und so weiter
zu verlieren.
44 Andreas Jetzt ist natürlich jede erfüllte Buchung wie ein Test in der Schule: Wenn
man keine Fehler macht, dann gibt es eine Eins, das heißt, er stimmt dem Angebot
zu, dann bin ich wieder der Musterschüler gewesen oder Musterarbeitnehmer. Es
wäre auch bis heute noch so, dass ich dann in dem Moment, wenn ich ein Angebot
ausgearbeitet habe und der Kunde annimmt, dass ich dann sage, ich kann ja doch
was, ich habe ja doch was auf die Beine gestellt!
Zäsur M2
Sprecher
Andreas weiß, dass ihm trotz seines Perfektionismus immer wieder Fehler
unterlaufen können. Aus Angst vor Kritik hält er sein Umfeld stets im Blick.
45 Andreas Also, das versuche ich, seitdem mir der Chef deswegen gekündigt hat,
sehr genau wahrzunehmen, wie ich jetzt wohl in diesem Moment auf die Kollegen
wirke. Also, insbesondere auch in Momenten erhöhter Anforderung und
Anspannung. Also, vor Fehlern habe ich jetzt nach drei Mal den Job verlieren
insofern Angst, als dass ich denke, jeder Fehler wird mir die Kündigung bescheren.
Sprecher
Andreas möchte sein Umfeld mit Fachwissen und Schnelligkeit beeindrucken.
Das kommt nicht bei allen Kollegen gut an.
46/47 Andreas Und dann habe ich die Strategie entwickelt, dass ich so, wie man im
Fußball sagt, Blutgrätsche, dass ich meine Augen überall habe, auf den anderen
Schreibtischen auch und sehe, was die mit den Kunden gerade besprochen haben
und dann völlig ungefragt reingeplatzt bin und gefragt habe, du weißt doch, dass für
diesen Weg, den der Kunde angefragt hat, auch dieser und jener per Schiene oder
Luft möglich ist. Also, mich da einfach einzumischen.
Und irgendwann hat es dann bei mir Klick gemacht, dass die Stille von den Kollegen
vielleicht irgendeinen Sinn hat. Und dann habe ich mich zurückgezogen. Aber dieses
Zurückziehen hat auch, zunächst mal, bevor es reflektiert wurde von mir, in so eine
Art, dieses alte Fahrwasser von totaler Selbstabwertung geführt. Also, ich kann ja
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doch nicht genug für die Kollegen, mal sehen, wie lange ich hier überhaupt noch
bleiben kann.
Zäsur M4
48 Jana Also, ich kriege im Beruf recht oft positives Feedback und werde gelobt.
Und merke das aber auch einfach an der Art und Weise, wie Menschen mit mir
umgehen; dass ich halt geschätzt werde auf der Arbeit und bekomme das auch
gesagt. Ja, mein Chef hat irgendwann mal zu mir gesagt…genau, du bist schlau, du
bist kommunikativ, du bist genau die richtige für diesen Job, als es halt um den
Wechsel von Positionen ging. Und das hat mich natürlich stolz gemacht.
Sprecherin
Auch Jana möchte keine Fehler machen und freut sich über Lob. Aber gerade
Lob macht sie - andererseits – auch unsicher. Denn an ihren beruflichen
Kompetenzen zweifelt sie ja nicht.
49 Jana Weil ich denke, ich habe halt, ich habe halt diese funktionierende Seite und
die wird auch geschätzt, diese funktionierende Seite. Und das zeigt mir aber noch
umso mehr, dass es einen anderen Teil gibt, wo ich nicht weiß, ob der auch
wertgeschätzt wird… Was wäre denn, wenn ich irgendwann meinen Job nicht mehr
so gut ausfüllen könnte, was bliebe dann?
Sprecher
Auf Andreas Arbeitsstelle weiß niemand um seine Borderline-Diagnose.
Sprecherin
Auch Jana redet im Berufsumfeld nicht über BPS. Trotzdem gibt es
Situationen, in denen die Diagnose plötzlich auftaucht.
52 Jana Ich kam in ein Büro rein und da saßen zwei Kollegen und die waren gerade
sehr ins Gespräch vertieft und ich habe gefragt, „Stör ich?“ und die meinten, „Nein,
gar nicht, wir machen gerade Urlaubsübergabe“. Und dann sagte halt der eine
Kollege zur Kollegin, ja, die Gruppe da vor Ort wäre so schwierig, da wären ja auch
zwei Borderliner in der Gruppe und die hätten ja eh keine Perspektive auf einen
Job… Und gerade, weil das Kollegen waren, also Leute, die in dem gleichen Umfeld
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arbeiten wie ich, hat mich das so geärgert, ich war so, so wütend, irgendwie ist das
halt aus mir herausgeplatzt, ich weiß nicht, so etwas passiert mir eigentlich nicht.
Und dann habe ich mich umgedreht und gesagt, ja, ich bin übrigens auch eine
diagnostizierte Borderlinerin. Und die beiden haben mich angeguckt wie Autos und
haben dann ganz schnell versucht, diese peinliche Situation zu überspielen und der
Kollege meinte, ja, ein bisschen psycho sind wir ja alle.
Sprecherin
Da scheint der Rat des Psychotherapeuten Michael Armbrust nur zu
verständlich: Vorsicht mit der Offenbarung einer Borderline-Störung am
Arbeitsplatz, Betroffene sollten ihre Probleme lieber umschreiben.
51 Armbrust Also, dass man durchaus seinem Vorgesetzten erklären kann, dass
man impulsiv ist, dass man Probleme hat, die Gefühle zu kontrollieren, dass es
manchmal dazu kommen kann, dass man sehr stark gefühlsmäßig reagiert in
bestimmten Situationen, und man kann dann auch solche Begriffe verwenden wie
jähzornig oder impulsiv, das sind Alltagsbegriffe, das sind keine pathologischen
Begriffe.
Sprecherin
Nach ihrer Offenbarung schämte sich Jana, sie schrieb der Kollegin eine Mail.
53 Jana Und dann hat sie mir zurückgeschrieben, dass sie das völlig in Ordnung
fand. Und dass sie mich als Mensch und als Kollegin schätzt und meine Arbeit gut
findet und dass das für sie überhaupt keine Rolle spielt. Und das fand ich natürlich
toll.
Zäsur M2
54 Breutmann Wenn man eben auch sieht, als Betroffener, so wie es jetzt ist, kann
ich nicht weiterarbeiten mit meinem Zustand, dann muss man eben auch andere
Wege finden, wie man sein Leben weiterführen kann. Also, das ist auch eine Frage
der Offenheit, dass man sich selbst einschätzt und auch der Arbeitgeber hier eben
auch zum Teil akzeptieren muss, dass nicht immer 100 % Leistung der Regelfall ist,
sondern auch mit Einschränkungen gelebt werden muss. Das muss man Strukturen
im Betrieb einführen, um so etwas auch sensibel einzuführen. Führungskräfte
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müssen hier auf einen gewissen Stand gebracht werden, dass man hier diese
wesentlich filigranere, stark personenbezogene Personalarbeit auch leisten kann.
Sprecherin
Solange Mitarbeiter bei ihren Chefs nicht auf Verständnis hoffen können,
werden sie sich schwerlich offenbaren. Eine Sackgasse, die nur durch neutrale
Information zu öffnen ist – und durch praktikable Therapien. Norbert
Breutmann vom Bundesverband der Arbeitgeber sieht Handlungsbedarf vor
allem bei Patienten und Gesundheitsbehörden.
55 Breutmann Wenn man weiß, dass oft psychische Störungen sieben Jahre
unbehandelt bleiben, wie sie dann wirklich behandelt werden, weil entweder der
Patient nicht bereit war, sich selbst dazu zu stellen oder eben in
Behandlungsstrukturen zu gehen. Oder eben unser Gesundheitswesen derart
abschreckt, weil man keine Psychotherapieplätze kriegt, weil man Schwierigkeiten
hat, sein eigenes Gesundheitsrouting sehr eigenverantwortlich zu machen, vor allem,
wenn man ohnehin schon Störungen hat, ist es umso schwerer, wenn man diese
Menschen nicht an die Hand nimmt und versucht so optimal zu versorgen, dass
nachher letztendlich die Zufriedenheit wieder das Ergebnis ist.
56 Höschel Also, ich würde auf keinem Fall einem Patienten empfehlen, der sein
Arbeitsverhältnis schafft und so gut funktioniert bei der Arbeit, dass er das
durchhalten kann, würde ich nicht empfehlen, dann auch noch eine stationäre
Therapie zu machen – zumindest nicht im Borderline-Bereich.
57 Höschel Es gibt einfach ein paar Dinge, die etwas Zeit brauchen. Wenn ich in
einem Beruf feststelle, dass ich mit anderen Erwartungen dort hinein gestartet bin
und mich jetzt diesen Überlegungen stelle, muss ich mich jetzt diesen beruflichen
Forderungen anpassen, vielleicht auch ein Interesse erst daran entwickeln an den
Dingen in diesem Beruf. Dann ist es eine Entscheidung, die sicherlich nicht in sechs
oder acht Wochen stationärer Therapie erreicht werden kann, sondern das braucht
laufende Erfahrungen.
Sprecher
Begleitet von einer guten ambulanten Therapie, so Klaus Höschel, sollten von
Borderline-Störung Betroffene unbedingt am Berufsleben teilnehmen.
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58 Höschel
und dann aber mit einer Behandlung begleitend auf dem ersten Arbeitsmarkt die
Skills, die Fertigkeiten, zu üben, im sozialen Bereich, im Emotionsregulationsbereich
um dort zu bestehen. Das Problem ist auf dem zweiten oder dritten Arbeitsmarkt
häufig, dass es überhaupt keine störungsspezifischen Angebote gibt.
Zäsur M2
Sprecher
Andreas stand kurz vor einer mehrmonatigen stationären Therapie. Er
entschied sich dagegen. Die Klinik, die ihm die Deutsche Rentenversicherung
zugewiesen hatte, war nicht auf Borderline spezialisiert. Und: fast zeitgleich
erhielt er seinen jetzigen Job– nach einem Jahr Arbeitslosigkeit und vielen
erfolglosen Bewerbungen wollte er diese Chance wahrnehmen. Aber
inzwischen empfindet er die neue Arbeit wieder als sehr belastend.
59 Andreas Ich merke, dass ich auch die faktischen Sachen, also, wer heute was
und wo haben wollte an Buchungen, mit nach Hause nehme und immer
Einschlafschwierigkeiten habe. Also, ich empfinde das, da fachlich reinzukommen, im
Moment sehr schwierig. Das ist natürlich schwer, weil ich da dachte, jetzt komme ich
an einen Arbeitsplatz, der mir zusagt. Immerhin hat mich endlich mal wieder jemand
genommen!
Sprecher
Andreas hofft, seinen Arbeitsplatz zu behalten. – Eine Arbeit auf dem zweiten
Arbeitsmarkt, in irgendeiner geschützten Einrichtung, erscheint ihm nicht
vollwertig, sie entspräche nicht seiner Vorstellung von sich selbst und der
eigenen intellektuellen Fähigkeit. Dieses Denken, das weiß er selbst, hat etwas
Zwanghaftes.
60 Andreas Irgendwie ist das etwas, was ich von klein auf mitgenommen habe. So
mein richtiger Vater geht ins Büro mit Schlips und Kragen und am Ende kommt ein
luxuriöses Leben unten raus, wie so ein Kaugummiautomat. Und diese Schwelle ist
in mir drin. Dieses andere… Sehen des Lebens, also etwas relaxter oder so, dann
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wäre ich ja nicht mehr ich selbst, dann wäre ich ja eben nicht mehr der Mensch, der
ich bin, dann wäre ich ja der Mensch, der ich gerne wäre, nämlich ein gesunder. Aber
eben nicht so einer mit diesem Erfolgszwang belasteter Borderliner.
M2 auf Ende
Sprecherin
Es ist eine Frage der Zeit, bis sich die gesellschaftliche Sicht auf die
Borderline-Störung ändert. Das hofft auch Angelique Hinn, Sozialpädagogin
am Beruflichen Trainingszentrum Hamburg. Die Einrichtung unterstützt
Menschen, die aus psychischen Gründen berufsunfähig sind und bietet
Einstiegs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt an.
61 Hinn Also, ich habe letztens mal gelesen, dass in den USA bis irgendwann in den
80er Jahren war Homosexualität in den USA unter dem ICD 10 psychische
Störungen, klassifiziert. Homosexualität, ist für uns heute ein Knaller, ne? Also, eine
schwere psychische Erkrankung. Und über Nacht hat man das Gesetz natürlich
nach langer Erarbeitung abgeschafft. Das würde drastisch heißen: Über Nacht
waren Millionen Menschen geheilt.
Sprecher
Andreas sieht in der Mediendebatte über Burnout und Depression Zeichen
einer stärkeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit für psychische
Erkrankungen. Gleichzeitig ist er von Vorurteilen auch nicht frei.
62 Andreas Mit Burnout kann man protzen, da kann man mit in den After-Workclub
gehen mit seinen Business-Klamotten und sagen, mein Chef mutet mir soviel zu und
ich habe jetzt noch ein Projekt bekommen und muss dafür so oft nach Übersee
reisen, da muss ich ja echt aufpassen, dass ich da kein Burnout bekomme! Aber
wenn man dahin geht und sagt, hey, ich bin Borderliner, ich bin heute nur zwei Mal
auf der Herrentoilette durchgedreht und habe deswegen eine halbe Stunde
Arbeitszeit verloren und der Kunde hat deshalb fast nicht mehr seinen Flug erreicht,
dann ist das, glaube ich. nicht so sexy.
63 Jana Ich glaube, generell muss man weg von dieser Dichotomie krank oder
gesund. Ich meine, wer ist schon komplett gesund, wer ist komplett krank? Also, ich
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glaube, dass viele Menschen Einschränkungen haben, sei es physische, sei es
psychische. Und dass aber auch nicht, der eine psychische Einschränkung hat,
gleich arbeitsunfähig ist und nie wieder arbeiten kann. Vielleicht gibt es Phasen, in
denen das so ist.
64 Breutmann Also, wir haben hier eher die Sicht, dass man eigentlich schon die
Hände über dem Kopf zusammenschlägt, welche Ressourcen hier in unserer
Gesellschaft vergeudet werden. Also, Ressourcen für den einzelnen an
Wohlbefinden, an Lebensqualität. Oder Ressourcen für die Gesellschaft, weil diese
Menschen eben auch, wenn sie sich dann eben wieder wohlfühlen, auch sehr gut
ihre Leistung unternehmerisch einbringen können.
Sprecherin
Der Arbeitswissenschaftler Norbert Breutmann meint, dass auch in der
deutschen Wirtschaft ein Umdenken beginnt. Der Fachkräftemangel in einer
alternden Gesellschaft erhöht die Chancen für alle gut Ausgebildeten auf dem
Arbeitsmarkt Auch für Menschen, deren psychische Eigenarten man in der
Zukunft zu akzeptieren lernt, vielleicht sogar zu schätzen.
65 Breutmann Wir haben eine immer stärkere Individualisierung der Personalarbeit.
Weil es gibt Fähigkeitsprofile, es gibt eben auch Dinge, die sich nicht mehr so stark
abrufen lassen, insofern muss man sehen, wo kann ich den Menschen, mit dem
Profil, am besten einsetzen, dass er zufrieden ist und das Ergebnis gut ist. Und
insofern, diese verstärkte Individualisierung der Personalarbeit kommt den Leuten mit
psychischen Einschränkungen eher zu Gute. Weil man dann eben auch die Stärken
erkennt und gucken kann, haben wir da nicht ein Fenster, wo wir die einsetzen kann.
66 Hinn Also, wir können ja jetzt nicht auf einmal auf alle diese Leute, die psychisch
krank sind, verzichten.
auf M3
67 Jana In meinem Freundeskreis arbeiten alle und meist auch sehr erfolgreich. Ja,
das wäre schon krass, wenn ich arbeitslos wäre. Ich glaube, das wäre eine totale
Katastrophe. Weil Arbeit für mich irgendwie alles ist, also das hört sich irgendwie
total armselig an. Weil Arbeit ist für mich… Struktur. Und der Grund irgendwie
aufzustehen. Es ist für mich Sinn und es hält halt mein Leben irgendwie in so einem
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Rahmen. Und wenn ich jetzt komplett mir selber überlegen müsste, was will ich
eigentlich, ohne diesen Rahmen zu haben, wäre ich glaube ich völlig überfordert, ich
hätte panische Angst davor.
Absage
Mit der Borderline-Störung im Berufsleben. Sie hörten ein Feature von
Johannes Kulms
Es sprachen: Kerstin Fischer und Jean Paul Baeck
Ton und Technik: Ernst Hartmann und Petra Pelloth
Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2013
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