Thomas Heinemann / Hans-Georg Dederer / Tobias

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Thomas Heinemann / Hans-Georg Dederer /
Tobias Cantz (Hg.)
Entwicklungsbiologische Totipotenz
in Ethik und Recht
Zur normativen Bewertung von totipotenten
menschlichen Zellen
Mit 3 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8471-0342-4
ISBN 978-3-8470-0342-7 (E-Book)
Redaktion: Kathrin Rottländer unter Mitarbeit von Corina Charalambous und Birte Wienen
Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen
schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Printed in Germany.
Titelbild: Susan Sgodda
Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
I Entwicklungsbiologische Totipotenz – Zwischen Historie und
neuen Konzepten
Susan Sgodda
Das Kriterium der Totipotenz aus naturwissenschaftlicher Perspektive
.
13
Tobias Cantz
Die Erzeugung von Gameten aus pluripotenten Stammzellen . . . . . . .
57
Michael Ott
Bewertung von artifiziellen »totipotenten« Stammzellen aus
naturwissenschaftlicher und medizinischer Sicht . . . . . . . . . . . . .
67
II Totipotenz im Recht – Adäquates oder ergänzungsbedürftiges
Kriterium?
Lena Laimböck
Qualifizierte Entwicklungsfähigkeit als statusbegründendes Kriterium
des menschlichen Embryos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Hans-Georg Dederer / Katharina Böhm / Tobias Endrich /
Franziska Enghofer / Benjamin Jung / Lena Laimböck
»Natürlichkeit« als (Zusatz-)Kriterium für die Statusbestimmung des
Embryos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Jens Kersten
Der rechtliche Status totipotenter menschlicher Artefakte – Transiente
Totipotenz vs. totipotente Transienz – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
6
Inhalt
III Totipotenz im philosophischen Kontext – Überlegungen zur
Potentialität, Zweckbestimmungen und Natürlichkeit
Heike Baranzke
Der menschliche Embryo – Naturzweck oder Handlungszweck? Eine
Kritik an Totipotenz und Potentialitätsargument in der
Embryonenschutzdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Barbara Advena-Regnery
Natürlicher Embryo – geeignetes Wertprädikat für die Bioethik? . . . . . 223
Geert Keil
Ein bisschen Embryo? Begriffliche, ontologische und normative
Überlegungen zur totipotenzbasierten Legaldefinition von »Embryo« . . 251
Thomas Heinemann
»Keimbahn-Totipotenz«: Ethische Überlegungen zu einer
Differenzierung und Verwendung von Gameten aus menschlichen
induzierten pluripotenten Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Autoreninformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
Vorwort
Als im Jahre 2006 die Forschergruppe um den japanischen Wissenschaftler
Shinya Yamanaka zunächst für Zellen der Maus und im darauffolgenden Jahr
auch für Zellen des Menschen zeigte, dass die Reprogrammierung von ausdifferenzierten, adulten Körperzellen in ein embryonales Stadium mit erstaunlich
geringen Mitteln möglich ist, stellte dies nicht nur einen Durchbruch in der
Entwicklungsbiologie dar. Auch aus ethischer Perspektive zeichnete sich damit
ein Ausweg aus der zutiefst kontrovers geführten gesellschaftlichen Debatte ab,
die der erfolgreichen Kultivierung von embryonalen Stammzellen des Menschen
(hES-Zellen) im Jahre 1998 wegen der dafür notwendigen Zerstörung von
menschlichen Embryonen folgte. Die Reprogrammierung von adulten somatischen Körperzellen in induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) erschien in ethischer Perspektive als »Königsweg«, weil die Ausgangszellen hierfür
nicht aus einem Embryo stammen, sondern bereits ausdifferenzierte Körperzellen verwendet werden. iPS-Zellen sind in ihren phänotypischen Eigenschaften den ES-Zellen, die aus menschlichen Embryonen gewonnen werden, sehr
ähnlich und bieten sich daher auch aus naturwissenschaftlicher Sicht für viele
Anwendungsabereiche als Alternative an.
Gegenwärtig ist allerdings weitgehend unbekannt, welche Mechanismen bei
der Reprogrammierung von Körperzellen zu iPS-Zellen zum Tragen kommen
und was überhaupt letztlich das embryonale Stadium oder genauer den pluripotenten Phänotyp von Zellen auf molekularer Ebene ausmacht. Vor dem Hintergrund dieser Unbestimmtheit lässt sich als Gedankenexperiment die hypothetische Frage formulieren, wie es normativ in Ethik und Recht zu bewerten
wäre, wenn die Zellen bei der Reprogrammierung temporär ein Stadium der
entwicklungsbiologischen Totipotenz durchlaufen würden. Auch wenn dieses
Szenario nach gegenwärtigem naturwissenschaftlichem Kenntnisstand unwahrscheinlich erscheint, ist es doch keineswegs gänzlich ausgeschlossen, dass
sich zu irgendeinem Zeitpunkt bei der Reprogrammierung von adulten
menschlichen Zellen eine molekulare Konstellation ergeben könnte, die es einer
solchen Zelle erlauben würde, »sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen
8
Thomas Heinemann / Hans-Georg Dederer / Tobias Cantz
weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln«.
Dies ist der Wortlaut des § 8 Abs. 1 des deutschen Embryonenschutzgesetzes
sowie des § 3 Abs. 4 des Stammzellgesetzes, in denen jeweils in einer Legaldefinition der menschliche Embryo unter Rückgriff auf das Kriterium der Totipotenz bestimmt wird.
Das Szenario dieses Gedankenexperiments stand im Zentrum des Forschungsverbundprojekts »Entwicklungsbiologische Totipotenz: Bestimmung
als normatives Kriterium in Ethik und Recht unter Berücksichtigung neuer
entwicklungsbiologischer Erkenntnisse«, das in den Jahren 2011 – 2014 vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Förderung von »Forschung zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten
hochaktueller Fragen in den Lebenswissenschaften« gefördert wurde. Das interdisziplinäre Verbundprojekt bestand aus einem philosophischen Teilprojekt,
das an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar unter Leitung
von Thomas Heinemann durchgeführt wurde, einem rechtswissenschaftlichen
Teilprojekt, das an der Universität Passau angesiedelt war und unter der Leitung
von Hans-Georg Dederer stand, sowie einem naturwissenschaftlichen Teilprojekt, das an der Medizinischen Hochschule Hannover von Tobias Cantz geleitet
wurde. Am 21. März 2014 fand in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften ein Symposium dieses Verbundprojekts statt, in dem die Ergebnisse der drei Teilprojekte von Barbara Advena-Regnery, Heike Baranzke,
Lena Laimböck und Susan Sgodda vorgestellt und von Geert Keil, Jens Kersten
und Michael Ott aus den jeweiligen fachwissenschaftlichen Perspektiven kommentiert wurden.
Das vorliegende Buch fasst Ergebnisse der Projektarbeit und Beiträge des
Symposiums der drei beteiligten Disziplinen zusammen. Es folgt dabei dem
interdisziplinären Ansatz, der dem Forschungsprojekt zugrunde lag, und beleuchtet vor diesem Hintergrund, welche normativen Probleme entstehen, wenn
der menschliche Embryo mittels einer einzigen Eigenschaft – der Totipotenz –
bestimmt wird. Diese Probleme verschärfen sich, wenn zur Erklärung dieser
Eigenschaft ausschließlich auf die Mittel der Naturwissenschaften zurückgegriffen wird, um dem Anspruch moderner Wissenschaftlichkeit gerecht zu
werden. Sind nicht vielmehr mit dem Begriff des menschlichen Embryos implizit
Zweckbestimmungen verbunden, die sich in dem Begriff der Totipotenz – in
einem ausschließlich entwicklungsbiologischen Sinne verstanden – gar nicht
wiederfinden, nämlich Vorstellungen von einem sinnvollen menschlichen
Leben? Wie verhalten sich solche unausgesprochenen Zweckbestimmungen zu
der Zweckbestimmung, die ganz offenbar im entwicklungsbiologischen Begriff
der Totipotenz enthalten ist, nämlich dem Zweck, potentiell einen adulten Organismus hervorbringen zu können? Und welche Fragen stellen sich in diesem
Zusammenhang angesichts der »Keimbahntotipotenz« von iPS-Zellen, nämlich
Vorwort
9
ihrer Fähigkeit, sich in individualspezifische Ei- und Samenzellen zu differenzieren, deren Verwendung im reproduktionsmedizinischen Kontext völlig neue,
in der Natur nicht abgebildete Konstellationen zuließe? Inwieweit lassen die
Natürlichkeit bzw. Artifizialität der jeweiligen Genesebedingungen den
menschlichen Embryo von einem totipotenten Artefakt unterscheiden und
unterschiedliche Schutzniveaus rechtfertigen?
Die Klärung der verwendeten Begriffe und ihrer impliziten Verhältnisse stellt
eine Bedingung für eine interdisziplinäre Verständigung dar. Denn davon hängt
u. a. ab, auf welche Weise die Rechtswissenschaft, die primär an der Normierung
von Handlungen interessiert ist, diese Begriffe versteht, und was genau der
Gesetzgeber in und mit diesen Begriffen aus der Biologie in das Recht transportiert. Wie verhält sich Totipotenz als das Potential einer Zelle, sich zu einem
harmonischen Ganzen zu entwickeln, zum ethischen Potentialitätsargument?
Welche Rolle spielt die Normalität von Naturprozessen für die ethische Bewertung – oder anders gefragt: wie verhalten sich Normalität und Normativität
zueinander? Welche Rolle spielen Forschungs- oder andere Zwecke für den
ontologischen, moralischen und rechtlichen Status von möglicherweise totipotenten menschlichen Entitäten? Die Artikel in dem vorliegenden Buch beleuchten in unterschiedlicher Perspektive Fragen dieser Art und leisten so einen
Beitrag zu der Klärung der normativen Bedeutung von entwicklungsbiologischer Totipotenz.
Die Herausgeber danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Förderung des Verbundprojekts, ohne die das vorliegende Buch
nicht entstanden wäre, und dem Projektträger im DLR, insbesondere Herrn Dr.
Detlef Böcking und Frau Dr. Marina Schindel, für die hervorragende administrative Begleitung und Beratung des Forschungsprojekts. Großer Dank gebührt
Frau Kathrin Rottländer für die umfassende und kompetente redaktionelle Bearbeitung des Buches sowie Frau Corina Charalambous und Frau Birte Wienen
für ihre Hilfe hierbei. Der Dank der Herausgeber geht überdies an den Verlag
V& R unipress, insbesondere an Frau Ruth Vachek, Frau Dr. Imke Heuer und
Frau Anke Moseberg, für die exzellente Zusammenarbeit bei der Verlegung des
Buches.
Thomas Heinemann, Hans-Georg Dederer, Tobias Cantz
I Entwicklungsbiologische Totipotenz – Zwischen Historie
und neuen Konzepten
Susan Sgodda
Das Kriterium der Totipotenz aus naturwissenschaftlicher
Perspektive
1.
Problemexposition im aktuellen Kontext
Der deutsche Gesetzgeber wollte mit der Einführung des Embryonenschutzgesetzes von 1990 die Regelung von Reproduktionstechniken wie der In-vitroFertilisation festlegen. Im Zuge des Aufkommens neuer naturwissenschaftlicher
Errungenschaften, insbesondere der Isolation von embryonalen Stammzellen
(ES-Zellen) aus der inneren Zellmasse des Blastozystenstadiums und der Erhalt
dieser Zellen in einer Zellkultur,1 sollte mit dem Rückgriff auf das Kriterium der
Totipotenz ein größtmöglicher Schutz für Embryonen vor einer fremdnützigen
Verwendung, beispielsweise zu Forschungszwecken, sichergestellt werden.2
Damit begann aber auch eine interdisziplinäre Debatte darüber, ob Totipotenz
als Eigenschaft eines jeden Embryos aufzufassen sei und ob auch nichtembryonale Entitäten totipotent sein können. In der medizinischen Definition
eines Embryos wird Totipotenz nicht als Kriterium herangezogen.3 Totipotenz in
seiner entwicklungsbiologischen Definition ist dadurch gekennzeichnet, dass es
sich um eine Eigenschaft von Einzelzellen handelt, die durch experimentelle
Induktion (im Speziellen durch Blastomerensplitting4) in der Lage sind, sich zu
einem ganzen Organismus entwickeln zu können.5 Der Begriff kann auch auf
Bereiche ohne experimentelle Induktion und Intention ausgedehnt werden: so
entsteht zum Beispiel bei der In-vitro-Fertilisation6 oder der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion7 in der Regel auch ein lebender Mensch aus einer
1
2
3
4
Thomson et al. 1998; Evans/Kaufman 1981.
ESchG.
Moore/Persaud/Viebahn 2013.
Blastomerensplitting: Teilung eines frühen Blastomerenverbandes in genetisch identische
Einzelzellen.
5 Roux et al. 1912, 409 – 410.
6 Steptoe/Edwards 1978; In-vitro-Fertilisation (IVF): räumliches Zusammenführen von Ei- und
Samenzelle in einer in vitro-Umgebung.
7 Palermo et al. 1992; Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI): Injektion eines ein-
14
Susan Sgodda
befruchteten Eizelle, so dass auf eine totipotente Entität rückgeschlossen werden
kann.
Die Erlangung von Totipotenz als Fähigkeit aus sich selbst heraus ein ganzes
Lebewesen zu bilden, beruht auf einer retrospektiven experimentellen Beobachtung. Erst mit dem Erreichen eines lebenden »organismusganzen« Entwicklungsstadiums lässt sich die Eigenschaft der Totipotenz nachträglich einer
Einzelzelle zuordnen. Bis dato ist die Vereinzelung, Implantation in einen Uterus
und Beobachtung der Entwicklungsfähigkeit die einzige experimentelle Nachweismöglichkeit von Totipotenz bei Säugetieren und beim Menschen.
Während der pluripotente Zustand8 einer Zelle auf molekularer Ebene in
embryonalen oder induzierten pluripotenten Stammzellen durch Stammzellmarker sehr gut nachweisbar ist, ist dies für Totipotenz bislang nicht möglich.9 Obwohl schon einige Publikationen über vergleichende Metaanalysen10
von Eizellen, Zygoten und frühen Blastomerenstadien existieren, konnten noch
keine konkreten Totipotenzmarker analog zu den Zellmarkern für embryonale
Stammzellen identifiziert werden.11 Mögliche Ursachen hierfür könnten in der
Komplexität des zugrunde liegenden biologischen Vorganges liegen: die in der
Eizelle vorliegenden maternalen Faktoren werden im Zuge der zygotischen
Genaktivierung12 schrittweise, in einem speziesabhängigen Tempo durch die
embryoeigenen ersetzt.13
Auch der klassische experimentelle Nachweis von Totipotenz mittels Implantation und Beobachtung der Entwicklungsfähigkeit bis zur Geburt kann nur
im Tierreich angewandt werden. Die Verwendung des Totipotenzbegriffes für
artifiziell generierte Zellen beziehungsweise Entitäten in neueren experimentellen Arbeiten mit humanen Zellen ist daher kritisch in Frage zu stellen.
Tachibana aus der Arbeitsgruppe Mitalipov erzeugte beispielsweise 2013 mittels
somatischen Zellkerntransfers14 in vitro menschliche Embryonen und kulti-
8
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10
11
12
13
14
zelnen Spermiums unter mikroskopischer Sicht in eine vorbereitete Eizelle mit Hilfe eines
Mikromanipulators.
Pluripotenz ist die Fähigkeit einer Zelle, alle Zelltypen des Organismus zu bilden.
Thomson et al. 1998; Takahashi/Yamanaka 2006; Takahashi et al. 2007.
Metaanalyse: ist die Zusammenfassung mehrerer Einzelexperimente unter Einbezug statistischer Analysen.
Galan et al. 2013.
Zygotische Genaktivierung (ZGA): erstmaliges Anschalten der embryoeigenen zygotischen
Gene nach dem Befruchtungsvorgang während der frühen Embryonalentwicklung, verbunden mit gleichzeitiger Degradation maternaler RNAs.
Schultz 1993; Wang et al. 2004.
Somatischer Zellkerntransfer (SCNT): Einbringen eines somatischen Zellkerns in eine entkernte Eizelle, um einen Embryo zu generieren, der genetisch identisch mit dem eingebrachten Zellkern mit Ausnahme der Mitochondrien-DNA ist. Dieser Embryo kann sich bei
Verpflanzung in einen Uterus zu einem ganzen Organismus entwickeln.
Das Kriterium der Totipotenz aus naturwissenschaftlicher Perspektive
15
vierte diese bis zum Blastozystenstadium.15 Da eine Beobachtung der weiteren
Entwicklungsfähigkeit aufgrund des damit verbundenen unzulässigen Humanexperimentes nicht möglich ist, bleibt es fraglich, ob diese Embryonen aus
totipotenten Zygoten hervorgegangen sind.
Die nicht einheitliche Anwendung des Totipotenzbegriffs selbst in streng
naturwissenschaftlichen Publikationen hat zur Folge, dass auch im Rahmen
bioethischer und populärwissenschaftlicher Publikationen eine diffuse Interpretation des Totipotenzbegriffes erfolgt.16 Dies schließt sogar experimentelle
Arbeiten mit nichthumanen Entitäten ein, bei denen eine Beweisbarkeit möglich
wäre. So berichtet Abad aus der Arbeitsgruppe Serrano 2013 über murine17 in
vivo-iPS-Zellen18 mit totipotenzähnlichen Eigenschaften.19 Diese Eigenschaften
gehen über das normale Maß an Pluripotenz hinaus, indem sie in vivo neben
embryonalem auch zu extraembryonalem Gewebe beitragen können. Dieses
gemeinsame Hervorbringen von embryonalem sowie extraembryonalem Gewebe ist eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines lebenden Individuums aus einer Zelle. Fälschlicherweise bezeichnen Jung in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung dieses Potential als »induzierte Totipotenz« und Caesar in
der Deutschen Apotheker Zeitung dies als Eigenschaft von totipotenten
Stammzellen.20 Unstrittig ist sicher, dass die Wortbedeutung von »totipotent«
eine andere als die von »totipotenzähnlich« ist. Dennoch führen auch diese von
der Bedeutung her »abgeschwächten« Varianten des Totipotenzbegriffes wie
»totipotenzähnlich« oder »totipotency features« oder auch der Begriff »induzierte« Totipotenz zu Verunsicherungen, denn der biologische Sachverhalt, auf
dem diese Begriffe beruhen, wird nicht definiert. So bleibt unklar, in welchem
Ausmaß sie tatsächlich der Wortbedeutung von Totipotenz entsprechen wollen
oder sollen.
Aber auch naturwissenschaftliche Publikationen zeigen, dass der Begriff der
Totipotenz ideen- und begriffshistorisch in den letzten 100 Jahren nicht immer
eindeutige Anwendung fand.21 Mit zunehmender Anzahl neuer experimenteller
Techniken entstanden ab der Mitte des letzten Jahrhunderts immer neue Variationen der Totipotenzdefinition, z. B. Kerntotipotenz22, »assistierte« Totipotenz via carrier-Blastomere23 oder tetraploide Embryoaggregation24, Gameten15
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21
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24
Tachibana et al. 2013.
Jung 2013; Caesar 2013.
Murin: die Maus betreffend.
IPS: induzierte pluripotente Stammzellen; Takahashi/Yamanaka 2006.
Abad et al. 2013.
Jung 2013; Caesar 2013.
Gurdon/Byrne 2003; Tarkowski/Ozdzenski/Czolowska 2005; Van de Velde et al. 2008.
Gurdon/Byrne 2003.
Kelly 1977.
Nagy et al. 1993.
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