Europa-Universität Viadrina 02.05.2007 Seminar: Electoral Politics; Lecturer: Prof. Dr. Timm Beichelt Speaker: Georgia Franzius, [email protected] Frankfurt (Oder), Case-Study: Demokratie in Polen auf dem Prüfstand 1. Regierungssystem: Semipräsidentielles Regierungssystem (RS) Haupteigenschaften: Abberufbarkeit der Regierung durch den Sejm (Konstruktives Misstrauensvotum) und direkte Wahl des Präsidenten durchs Volk Besondere Eigenschaften des polnischen Regierungssystems ¾ Auswirkungen des Regierungssystems auf die Demokratie in Polen hinsichtlich - Stabilität des Regimes: abhängig von Mandatsträgern Partizipation/Inklusion: Durch parlamentarische Elemente des RS eher hoch Wettbewerb/Verantwortlichkeit: eher niedrig 2. Parteiensystem Polens (PS): polarisiertes und fragmentiertes Mehrparteiensystem Tabelle: Parteifamilien des postsozialistischen Europa mit Einordnung polnischer Parteien (Vorrangig) sozio-ökonomische Parteien (Vorrangig) Sozi-kulturelle Parteien Auf einem Kontinuum marktorientiert – umverteilungsorientiert Parteien mit Schwerpunkt auf werte- und identitäsbezogenen Themen (Wirtschafts-) Liberale Parteien (UW) (PO) Ethnische Parteien (-) Sozialliberale Parteien (SLD) Nationalistische Parteien (LPR) (PiS?) Zentristische Parteien (Häufig Agrarparteien) (PSL)(Samoobrona) Ökologische Parteien (Zielony 2004)* Frauenparteien (Partia Kobiet)* Postsozialistische Parteien (kommunistische Nachfolgeparteien) (-) Konfessionelle Parteien (-) Quelle: Eigene Darstellung nach Beichelt (2001: 230). Parteiensystem *Spielen marginale Rolle im Im Sejm nach den Parlamentswahlen 2005 vertretene Parteien SLD Sojusz Lewicy Demokratycznej (Demokratische Linksallianz) PO Platforma Obywatelska (Bürgerplattform) PiS Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit) SO Samoobrona Rzeczpospolitej Polskiej (Selbstverteidigung der Republik Polen) 1 PSL Polskie Stronnictwo Ludowe UP Unia Pracy (Arbeitsunion) (Polnische Bauernpartei) LPR Liga Polskich Rodzin (Liga Polnischer Familien) Andere Parteien und politische Gruppierungen die keine Vertretung im Sejm haben UW SDPL PD PK LiD Unia Wolności Zielony 2004 Socjaldemoracja Polska Partia Demokratyczna Partia Kobiet Lewica i Demokracja SDPL, UP, PD (Freiheitsunion) (Die Grünen 2004) (Soziale Demokratie Polens) (Demokratische Partei) (Frauenpartei) (Linke und Demokraten), neuer Zusammenschluss aus SLD, • Als günstig für die Konsolidierung des Parteiensystems angesehene Eigenschaften des PS: (a) Minimum an Extremismus (b) klare Cleavage-Struktur (c) geringes Maß an Wählerfluktuation (vgl. von Beyme 1997: 34) - Polarisierung: nach Wahlen rechtsnationaler Partei - Volatilität (= Wählerfluktuation) im polnischen Parteiensystem sehr hoch - Fragmentierung: Mehrparteiensystem; Anzahl der im Sejm vertretenen Parteien: 7; in Vergangenheit m.o.w. stabile Koalitionen 2005 stark durch Koalitionsbildung mit ¾ Anforderungen von Repräsentation, Konzentration und Partizipation an das Parteiensystem 3. - Repräsentation: (a) positiv: Viele Parteien repräsentieren breites Wählerspektrum; (b) negativ: Geringer Frauenanteil im Parlament: 20,4% im Sejm, 13% im Senat (vgl. IPU); (c) Problem: Geringe Wahlbeteiligung (2005: 40,6%) – repräsentieren Parteien Interessen und Probleme der Bevölkerung nicht? - Konzentration: Ja - durch Sperrklausel; Nein: Parteiabspaltungen/Neugründungen - Partizipation: Ja – (a) offene Parteilisten (b) Schnelle/häufige Gründung neuer Parteien bieten rel. offene Partizipationsmöglichkeiten; nein – Parteien sind elitär, kaum bei Bevölkerung verankert (geringe Parteimitgliedschaften), Skandale führen zu politischer Apathie Wahlsystem • Sejm: Verhältniswahl in 41 Mehrpersonenwahlkreisen (7-19 Mandate). BürgerInnen verfügen über eine Stimme, die sie einer Liste geben 2 • Senat: Relative Mehrheitswahl in 40 kleinen Mehrpersonenwahlkreisen (2-4 Mandate) • Individuelle Elemente des Wahlsystems seit 2001: - Wahlkreisgröße: 41 Mehrpersonenwahlkreise (7-19 Mandate) - Aufstellung der KandidatInnen: Liste - Sperrklausel: 5% für Parteien(gilt nicht für Deutsche Minderheit), 8% für Wahlbündnisse • - Empirische Effekte des Verhältniswahlsystems: Sperrklausel führt zu Konzentration Über- und Untergewichtungen der Stimmen durch Anwendung verschiedener Mandatsberechnungsverfahren hat teils signifikante Auswirkungen (für Regierungsbildung) 4. Politische Kultur in Polen • Politische Apathie: Sehr geringe Wahlbeteiligung • Geringe Unterstützung und Vertrauen in politische FunktionsträgerInnen • Unzufriedenheit mit aktueller Regierung • Geringe Zufriedenheit mit der Demokratie 5. Fazit Tabelle: Hypothesen zum Einfluss der institutionellen Parameter auf die Qualität der Demokratie in Polen Spezifische Eigenschaften der Demokratie Stabilität des Regimes Partizipation/ Inklusion Wettbewerb/ Verantwortlichkeit Regierungssyst em Semipräsidentielles System 0 + _ Parteiensystem Hohe Polarisierung _ _ + Eher hohe Fragmentierung 0 + + _ + + Wahlsystem (Sejm) Verhältniswahl Quelle: Eigene Darstellung (und eigene Deutung) Legende: „+“ „_„ = Überwiegend positiver Einfluss = Überwiegend negativer Einfluss 3 „0“ = Kein dominanter Einfluss oder sowohl positiver als auch negativer Einfluss Thesen 1. Für die gegenwärtige politische Krise in Polen erscheint weniger das institutionelle Gefüge die Ursache zu sein, als eine weitgehende Verunsicherung der Gesellschaft sowie politischer Eliten. Generell scheint das Argument der „Kontextsensibilität“ (Grotz 2000), dass Institutionen wie Wahlsysteme und Parteiensysteme meist nur im Kontext mit anderen Faktoren einen Unterschied machen, überzeugender als ein streng institutioneller Ansatz. 2. Für die Einschätzung der Qualität der Demokratie in Polen kann auf lange Sicht kaum Pessimismus herrschen, da Polen international stark eingebettet ist und sich ein Entfernen von demokratischen Grundsätzen kaum erlauben kann. Zudem ist anzunehmen, dass die WählerInnen ihre Unzufriedenheit bei den nächsten Wahlen zum Ausdruck bringen werden. Umfragen zeigen, dass die rechtsnationale LPR bei Neuwahlen nicht mehr ins Parlament einziehen würde. Literatur Bachmann, Klaus (2006): Die List der Vernunft. Populismus und Modernisierung in Polen. In: Osteuropa Jg. 56, 11/12: 13-32. Beichelt, Timm (2001): Demokratische Konsolidierung im postsozialistischen Europa. Opladen. Beyme, Klaus von (1997): Parteien im Prozeß der demokratischen Konsolidierung. In: Wolfgang Merkel /Eberhard Sandschneider (Hrsg.): Systemwechsel 3. Parteien im Transformationsprozeß. Opladen: 23-56. Grotz, Florian (2000): Politische Institutionen und post-sozialistische Parteiensysteme in Ostmitteleuropa. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei im Vergleich. Opladen. Ismayr, Wolfgang (Hrsg.) (2004): Die politischen Systeme Osteuropas. 2. Aktualisierte Auflage. Opladen. Linz, Juan (1994): Presidential or Parliamentary Democracy. Does it make a Difference? In: Linz, Juan/Valenzuela, Arturo (Hrsg.): The Failure of Presidential Democracy. Baltimore: 3-87. Loew, Peter Oliver (2006): Feinde, überall Feinde. Psychogramm eines Problems in Polen. In: Osteuropa Jg. 56, 11/12: 3352. Raciborski, Jacek/ Jerzy J. Wiatr (2005): Demokratie in Polen. Elemente des politischen Systems. Opladen. Sartori, Giovanni (1994): Neither Presidentialism nor Parliamentarism. In: Linz, Juan/Valenzuela, Arturo (Hrsg.): The Failure of Presidential Democracy. Baltimore: 106-118. Internetquellen CBOS (Centrum Badania Opinii Spolecznej) Meinungsforschungsinstitut http://www.cbos.pl (01.05.2007). IPU, Interparliamentary Union: Women in national Parliaments: http://www.ipu.org/wmn-e/classif.htm (1.05.2007). Polen Analysen http://www.polen-analysen.de (01.05.2007). 4