21 KULTUR MZ Mittwoch, 21. Juli 2010 Stromae: Der flämische Mozart Musik «made in Belgium» ist auf dem Vormarsch. Mit «Alors On Danse» liefert der junge Rapper und Produzent Stromae einen der erfolgreichsten Sommerhits. R E N Z O WE L L I N G E R Belgien gilt nicht unbedingt als Inbegriff einer pulsierenden Musikszene. Doch das kleine Land hat schon einige musikalische Talente hervorgebracht. Einer der erfolgreichsten belgischen Musikexporte ist die Formation Technotronic, deren Party-Stampfer «Pump Up The Jam» 1989 international die Charts stürmte. 20 Jahre später sorgt ein junger Rapper und Produzent aus Brüssel mit seinem Dance-Pop für volle Tanzflächen in den Klubs. MIT «ALORS ON DANSE» avancierte Stromae – dessen Künstlername sich vom Wort «Maestro» ableitet – innerhalb kurzer Zeit vom UndergroundStar zum Chartkönig. Der Track mit der markanten Hookline wurde erstmals von Radio NRJ in Belgien gespielt, Internet und DJs erledigten den Rest und machten den Newcomer im Frühjahr dieses Jahres europaweit bekannt. Allein in der Schweiz hielt sich der Song vier Wochen in Folge auf Platz 1 und ist inzwischen seit 23 Wochen in der Single-Hitparade. «Ich hätte nie gedacht, dass ich von Leuten, die kein Französisch sprechen, wie etwa in Deutschland, Skandinavien oder Griechenland, Unterstützung erhalten würde», erzählt der 25-Jährige mit ruandischen Wurzeln dieser Zeitung etwas perplex . Während Europas Partyszene seinen Hit feiert, hat Stromae keine Zeit mehr für ausgiebige Streifzüge durch die Klubs. Inzwischen trifft er sich mit seinen Freunden lieber in Pubs. «Klubs verbinde ich momentan mehr mit Arbeit», schmunzelt er. DAVON KANN WOHL auch Singer/ Songwriter Milow ein (Schmuse-)Lied singen. Er ist der Posterboy des Gitarren-Pop: Im vergangenen Jahr eroberte der 28-jährige Belgier mit seiner Kuschel-Version des 50-Cent-Tracks «Ayo «Belgien ist ein kleines Land. Um Erfolg zu haben, muss man ins Ausland gehen.» Technology» die Charts. In der Schweiz schaffte er es bis auf den Spitzenplatz, das dazugehörige selbstbetitelte Album hielt sich über ein Jahr im Ranking und im Februar wurde er an den Swiss Music Awards Sieger in der Kategorie «Best Newcomer International». Doch bereits vor Milow und Stromae machten verschiedene belgische Musiker ihrem Land alle Ehre. Allen voran der legendäre Chansonnier Jacques Brel, der mit Liedern wie «Ne me quitte pas» nach wie vor Kultstatus geniesst. Die Band Vaya Con Dios, mittlerweile in Vergessenheit geraten, landete 1992 mit «Heading For A Fall» auf Platz fünf der Schweizer Hitparade, ihr Song «Nah Neh Nah» gehört heute zum Standard-Mitgröl-Repertoire. Weitere belgische Acts, die vor allem in Indie-Kreisen bekannt sein dürften, sind die Rockband dEUS, die Elektro-RockCombo Soulwax sowie K’s Choice um Sängerin Sarah Bettens. LÄUFT BELGIEN DEM Pop-Export-Europameister Schweden bald den Rang ab? Stromae lacht. «Belgien ist ein kleines Land, in dem verschiedene Kulturen aufeinandertreffen. Wir hören französische und flämische, aber auch englische oder deutsche Musik», erklärt er. «Um Erfolg zu haben, muss man aber ins Ausland gehen.» Der Senkrechtstarter arbeitet schon lange an seiner Karriere. Im Alter von zwölf Jahren lernte Paul Van Vaher, so der bürgerliche Name des Musikers, Schlagzeug spielen. Später entdeckte er Hip-Hop – und Jacques Brel. «Meine wichtigste Inspirationsquelle», verrät Stromae. «Als ich 15 war, hörte ich ein Lied von Brel und dachte mir, das ist wie Hip-Hop, Chanson ist wie Rap-Musik.» Terry Gilliam The Imaginarium of Dr. Parnassus. Warner Home ★★★★✩ Video. ALLES WIRD GUT Anfang der 90er-Jahre wurden die Zugreisenden in Zürich mit der Parole «Alles wird gut» begrüsst. Wie es dazu kam, zeigt Mischa Brutschin in «Allein machen sie dich ein». Die gut 6-stündige Dokumentation zeichnet mit umfassendem Bildund Tonmaterial die Geschichte der Häuserbewegung in Zürich nach: vom Kampf ums AJZ und den Jugendunruhen in den 70ern über das Elend am Platzspitz bis zur Besetzung des Wohlgroth-Areals beim Hauptbahnhof. Durch die subjektive Betrachtung ist die Collage weniger eine neutrale Analyse als vielmehr eine persönliche Chronik der Szene. Dadurch ist sie nicht weniger eindrücklich und aufschlussreich. Die Kommentare sind zwar oft wohlwollend bis unterstützend, sparen aber auch nicht an Kritik an einigen Strömungen innerhalb der BeTHOMAS HUNZIKER wegung. Mischa Brutschin Allein machen sie dich ein. Praesens★★★★✩ Film AG. STROMAE Chansonnier Jacques Brel ist seine Inspirationsquelle. KEYSTONE Über die Hingabe an die Literatur Daniel Kehlmann, dem mit «Die Vermessung der Welt» der grosse Durchbruch gelang, schreibt auch über die Bücher anderer Autoren. Daraus ist ein Sammelband entstanden, ein «Lob. Über Literatur». C H R I S T I N A H O R S TE N , D P A Daniel Kehlmann liebt die Literatur. Genauso gerne, wie er selber Bücher schreibt, verfasst er auch Kritiken über Bücher anderer Autoren – und kommt dabei immer wieder zu dem fast schon pathetischen Schluss, «dass das Schreiben zu den wichtigsten Unterfangen gehört, denen ein Mensch sich in seinem kurzen Leben hingeben kann, dass in dieser gefallenen Welt kaum etwas so viel Hingabe verdient wie die Literatur.» 15 SEINER JÜNGSTEN Kritiken, Aufsätze, Festreden und Vorlesungen hat der RowohltVerlag jetzt unter dem Titel «Lob. Über Literatur» herausgegeben. Darunter ist auch die Eröffnungsrede bei den Salzburger Festspielen 2009, in der Kehlmann mit einer harschen Kritik am deutschen Regietheater für Wirbel in der Kulturszene sorgte. Es ist der zweite solche Sammelband, nachdem 2005 bereits «Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher» erschienen ist. AUCH DIESMAL geht es wieder um die Grossen der Literaturgeschichte: von Thomas Bernhard über Samuel Beckett und Thomas Mann bis zu Shakespeare – und der ist für Kehlmann der Allergrösste: «Shakespeare ist so absurd gut, dass das eigene Literatendasein gemessen an ihm sofort fraglich erscheint.» Klug und belesen, scheut sich Kehl- FÜR IMMER JUNG Die fantastischen Traumwelten von Terry Gilliam entfalten vor allem auf der grossen Leinwand ihre Wirkung. Doch irgendwie sind sie ebenso fürs Heimkino geschaffen. Auch «The Imaginarium of Dr. Parnassus» verlangt geradezu nach wiederholter Betrachtung. Ein ehemaliger Mönch (Christopher Plummer), der sich auf eine Wette mit dem Teufel (Tom Waits) eingelassen hat, irrt mit einem Zirkuswagen durch die Welt und ermöglicht Reisen ins Unterbewusstsein. Besondere Aufmerksamkeit erlangte das opulente Werk, weil Hauptdarsteller Heath Ledger während der Dreharbeiten viel zu jung gestorben ist. Seine Figur wurde anschliessend von Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell verkörpert. Das Bonusmaterial besteht – wenig überraschend – hauptsächlich aus Beiträgen zu Ledger. THOMAS HUNZIKER AUCH KONGOLESISCHER Rumba, Eurodance und Folk laufen auf seinem iPod. All diese Einflüsse verarbeitete Stromae auf seinem Majordebütalbum «Cheese», das auch schon seit vier Wochen in der Schweizer Album-Hitparade steht. Die Produktion der elf Songs übernahm der studierte Soundtechniker selbst. Dafür legte er sich ein weiteres Pseudonym, angelehnt an die französische Jugendsprache Verlan, bei der einzelne Silben vertauscht werden, zu: Mosaert – eine Anspielung auf den grossen Komponisten. «Der flämische Mozart», lacht Stromae. Doch während sich Wolfgang Amadeus Mozart über seinen Tod hinaus einen festen Platz in der Musikgeschichte gesichert hat, muss sich Stromae erst noch beweisen. Auch er will auf keinen Fall nur als One-Hit-Wonder enden. So oder so, der nächste belgische Shootingstar steht bereits in den Startlöchern: Tom Dice, der mit seinem Song «Me and my Guitar» Ende Mai beim Eurovision Song Contest für sein Heimatland antrat, hat sein Debütalbum «Teardrops» veröffentlicht. Stromae Cheese. Universal. Tom Dice Teardrops. Universal. dvd-film mann nicht, über grosse Schriftsteller zu schreiben und zu urteilen. Meistens fallen die Urteile aber positiv und wenig überraschend aus. So ist der «Roman eines Schicksallosen» des Nobelpreisträgers Imre Kertész auch für Kehlmann ein «Werk, das nicht untergehen wird, solange Menschen Bücher lesen». Der 1975 in München geborene Kehlmann erzählt auch von seinen Schwierigkeiten mit der Schriftstellerei. «Es ist ein seltsamer Beruf. Ein wenig lächerlich für einen erwachsenen Menschen. Sie sitzen daheim und denken sich Geschichten aus, die nie passiert sind.» Dass für ihn trotzdem nie etwas anderes infrage kam, versteht sich von selbst, aber unverstanden fühlt sich Kehlmann immer noch: «In meinen Romanen ging es mir immer um das Spiel mit der Wirklichkeit . . . und es gehörte zu meinen bedrückendsten Erlebnissen als Schriftsteller, dass so etwas in Deutschland einfach nicht verstanden wird.» ÜBERHAUPT KOMME man in Deutschland als Schriftsteller so gut wie nie zum Schreiben, weil man ständig interviewt werde. «Das deutsche Literaturmilieu ist in ingeniösester Weise darauf ausgerichtet, Menschen von der Literaturproduktion abzuhalten», klagt Kehlmann. Und sind es nicht die Journalisten, dann sind es die Leser, die beispiels- weise falsch angewendete Konjunktive kritisieren, so wie sie in Filmen falsche Uniformen kritisieren. «Uniformen und Konjunktive, da kommt der deutsche Kulturkonsument in Rage.» Kehlmann gelang der Durchbruch mit «Die Vermessung der Welt». Über seine Popularität sagt er: «Der Ruhm ist (. . .) eine Glückskatastrophe, die bewirkt, dass man es dann, zumindest für eine Weile, weniger mit Freuden und Qualen der Formulierung zu tun hat als mit chinesischen Raubdrucken, mit katalanischen Fehlübersetzungen und mit Steuerprüfern.» Daniel Kehlmann Lob. Über Literatur. Rowohlt, 192 S., Fr. 25.–. LAST DES ALLTAGS 1999 legte Mike Judge mit «Office Space» eine genüssliche Komödie über die Banalität des Bürodaseins vor. Zehn Jahre später wirft er jetzt in «Extract» einen liebevoll schrägen Blick auf die Absurdität des Alltags an einem anderen Arbeitsplatz. Der Fabrikbesitzer Joel (Jason Bateman) würde die von ihm gegründete Firma gerne verkaufen und sich zur Ruhe setzen. Da ereignet sich ein Arbeitsunfall, der finanziell bedrohliche Folgen haben könnte. Gleichzeitig kreuzt eine hübsche Trickbetrügerin (Mila Kunis) den Weg von Joel, der in seiner Ehe nicht mehr wirklich glücklich ist und von seinem Freund (Ben Affleck) seltsame Ratschläge erhält. Der Humor rutscht zwar zwischendurch unter die Gürtellinie, wird aber von Judge sehr subtil und treffend inszeTHOMAS HUNZIKER niert. Mike Judge Extract. Auch auf Blu-ray-Disc. Impuls Home En★★★★✩ tertainment.