Dokumentation: Das Pulverfass

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23. – 25., 29. – 31. Oktober 2008 dAs pulverfass
das
pulverfass
von Dejan Dukovski Regie Dimiter Gotscheff
Bühne und Kostüme Anri Kulev
Dramaturgie Bettina Schültke
Musik Sandy Lopicic & Orkestar
Mit Margit Bendokat, Birgit Minichmayr,
Valery Tscheplanowa, Sebastian
Blomberg, Magne-Håvard Brekke, Samuel
Finzi, Alexander Khuon, Wolfram Koch
Koproduktion
spielzeit’europa I Berliner Festspiele und
Deutsches Theater Berlin
Gefördert von ENPARTS – European Network
of Performing Arts
Sebastian Blomberg, Magne-Håvard Brekke, Birgit Minichmayr, Samuel Finzi, Alexander Khuon,Wolfram Koch (v. l.) Foto Iko Freese, DRAMA
Totentanz mit Blasmusik
Dimiter Gotscheff inszeniert Dejan Dukovskis Balkandrama „Das Pulverfass“, und am Ende des
zweieinhalbstündigen Abends steht fest: Hier hat ein Thema sich nicht nur einen Autor gesucht,
sondern auch einen Regisseur und ein Ensemble, so lichterloh brennen Gotscheff und seine Spieler
für ihre Sache und so zündend haben sie das Publikum im Haus der Berliner Festspiele mit ihrer
Begeisterung angesteckt. […]
Als gebürtige Bulgaren sind Gotscheff und sein Spielmacher Samuel Finzi, die für dieses Remake das
Stück neu übersetzt haben, naturgemäß entflammbarer für die Balkanfrage als das deutsche Publikum.
Dass die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens aus der Aufmerksamkeit gerutscht sind,
sei für sie der Grund gewesen, Gotscheff auf das Thema anzusetzen, sagt Brigitte Fürle, die Leiterin
von Spielzeit Europa, zur Eröffnung des Festivals. Und Justizministerin Brigitte Zypries beklagte das
verständnislose Desinteresse für den Völkermord, der uns doch aus der deutschen Geschichte
bekannt vorkommen müsste. […] Gotscheff macht aus dem kleinen Stück, das in der Vergangenheit
gerne auf dem Betroffenheitsfriedhof der Nischenspielstätten verscharrt wurde, die ganz große Show.
Es geht um die Sache […] eine verschworene Gemeinschaft weitet den schmalen Raum zwischen
den Zeilen zum Seelenabgrund. Und findet auf jede Szene die bessere Antwort, immer gleich nah
an Komik und Entsetzen. Manches ist platt und reine Verfremdungseffekthascherei, aber nicht nur
Samuel Finzi, der die Posen des Jugo-Prolls im Dutzend listiger auf Lager hat, unterläuft die Klischees.
Was zunächst aussieht nach Migrantenstadl mit soziologischer Folklore und herbeigrimmasierter
Street-credibility, zeigt bald sein wahres Gesicht: nicht Bomberjacke und Blaskapelle machen den
Balkan, sondern das heiße Herz.
Süddeutsche Zeitung, Christopher Schmidt, 25. Oktober 2008
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das Pulverfass
Er nagelt sie alle
Der zärtlich aufgekochte Balkan-Blues
Gotscheff und seine Truppe eröffnen mit der Balkan-Groteske
„Das Pulverfass“ die Spielzeiteuropa
[…] Dejan Dukovski bringt in seiner Balkan-Groteske „Das
Pulverfass“ (Uraufführung 1996) elf dreckige Witze in den
lockeren Zusammenhang eines Reigens. Ein übler Rutsch von
Vergewaltigungen, Morden, Totschlägen, Unfällen, verübt und
erlitten von sexistischen, rassistischen und sonst wie moralisch
degenerierten Gestalten. Mit Hingabe und meisterlicher
ästhetischer Sicherheit hat der Regisseur Dimiter Gotscheff
dieses Zoten-Kompendium auf die leere, schwarze, abschüssige
Bühne im Haus der Berliner Festspiele gebracht, zur Eröffnung
der diesjährigen Spielzeiteuropa. […]
Der Abend beginnt furios mit einer Ladung Äpfel, die donnernd
aus dem Schnürboden fällt, den langen Weg über die Bühne
rollt und mit kusszartem Spritzen in das Wasser klatscht, das im
Orchestergraben steht. Ruhe, Ruhe, noch ein bisschen Ruhe. Und
dann scheppert die Balkan-Kapelle (Musik: Sandy Lopicic) los,
schüttelt das Ensemble durch und bringt es auf Spielhitze. […]
Dass diese Explosionen überhaupt zünden, hat mit der Kraft, der
ungeheuren Konzentration und Sicherheit der Schauspieler zu tun.
Die Spiellust dieses Ensembles hat fast etwas Verbrecherisches,
ist zumindest verdächtig. Doch sie alle bleiben Clowns, Artisten
des verpatzten Daseins, Genießer des Spiels. Das Schmutzigste,
was Menschen sich einander antun können, wird theatralisch
übersetzt, aber mit umso größerem, heißerem Genuss vollzogen.
[…] Dukovski und Gotscheff zeigen aber auch die unterdrückte
Sehnsucht, die in diesem Blick liegt, die Sehnsucht nach intensiven
Erfahrungen und rücksichtslosen Kontakten, wie sie der Frieden
nicht bietet. Höchstens im Theater.
Berliner Zeitung, Ulrich Seidler, 25./26. Oktober 2008
[…] Die Aufnahme von Gotscheffs zweitem Versuch am nämlichen
Stück, das von ihm 2000 in Graz beim steirischen herbst vorgestellt
worden war, fiel lokal verheerend aus. […] Der Generalvorwurf
lautet: So brav sich die Schauspieler – darunter Samuel Finzi
und Birgit Minichmayr – auch ins Zeug gelegt hätten, das Stück
sei politisch unbedarft. Zum Thema Serbien hätten Zugereiste
gefälligst zu schweigen. Die Festplatte der Festivalmacherin
droht bereits zu überhitzen: Empörte E-Mail-Schreiber machen
der Künstlerischen Leiterin, die im Programmheft einen linken
Dagegen-Denker wie Jürgen Elsässer zu Wort kommen lässt,
„fehlende Objektivität“ zum Vorwurf. Es ist, mit Blick auf die heikle
Intervention der rot-grünen Bundesregierung von 1999, zum
Aus-dem-Handke-Fahren.
Dabei ist Gotscheffs Wiederinstrumentierung eines scheinbar
aus der Zeit gefallenen Stoffes nichts Geringeres als ein Kleinod.
Mit vor Bluthochdruck rotgeschwollenen Köpfen feixen und
fletschen einander die Schauspieler an: Sie könnten sich in ihren
Penny-Marktklamotten in Aserbeidschan an die Gurgel fahren,
oder in einem brennenden Vorort von Paris. Sie stemmen förmlich
die Tonnenlasten, die auf sie wirken und sie tollwütig machen. Sie
tauschen in fliegendem Wechsel die Herr-und-Knecht-Rollen.
Zärtlichkeit fließt in ihre Gewaltentladungen ein. Und eine stumme
Alte (Margit Bendokat) liest im Wassergraben grüne Äpfel in ihre
Kittelschürze, die wie in Hagelgewittern aus dem Schnürboden
herunterprasseln, um nach gemächlicher Talfahrt in den Graben
zu fallen. Mit jedem Vornüberneigen plumpst das Obst zurück
ins Nass. Die Menschen in den von aller Zuwendung, von aller
Kaufkraft entblößten Weltgegenden entspringen dem unseligen
Geschlecht des Sisyphos.
Der Standard, Ronald Pohl, 4. November 2008
Dimiter Gotscheff bei der Probe
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das pulverfass
Dejan Dukovski, Samuel Finzi, Dimiter Gotscheff (v. l.)
24. Oktober 2008 Publikumsgespräch
„Ich war Jahrzehnte lang auf der Suche nach einem Stoff, der konkret aus dem Balkan kommt,
und war sehr glücklich, als ich vor acht Jahren Dejan Dukovskis Text kennen lernte. Ich habe
sofort zugeschnappt – oder der Text hat mich geschnappt. Wir haben das dann vor acht Jahren
in Graz inszeniert. Samuel Finzi und Magne-Håvard Brekke waren auch schon dabei – und
Sandy Lopicic.
Warum ich das wieder mache? Es ist nicht so, dass ich etwas wiederhole, sondern es ist ein
Thema, das mich bewegt, nicht nur was das Stück betrifft, sondern einfach der Text, der hat
mich aufgewühlt. Ein anderer Aspekt, warum ich das Stück mache, ist, dass dieser Krieg in
Jugoslawien sehr schnell verdrängt wurde – oder vergessen, und ich finde, dass der da weiterläuft. Und als eine kurze Erinnerung, dass da noch Völker sind, Menschen, die sich nicht nur
gegenseitig umbringen, sondern in gewisser Hinsicht auch Opfer einer westeuropäischen
Politik sind, und Menschen, die sozial kaum eine Zukunft haben. Natürlich, diese Enge, diese
Ausgestoßenheit produziert ja auch Ungeheuer…“
[…]
„Also, wenn ich Klischees höre… Ich bin heute ein paar Kritiken begegnet und habe sie auch
weggeschmissen, weil, es wird uns vorgeworfen, dass wir Klischees zeigten. Ja, wir arbeiten
mit Klischees, aber Moment mal, wo ist da Klischee eigentlich? Da ist eine ungeheuer verdichtete Sprache – wir nutzen das Klischee, aber es ist unser Zitat. Wir suchen eine körperliche
Übersetzung von diesem Text. Aber dass dem Autor vorgeworfen wird, dass diese Sprache nur
ein Klischee sei, finde ich empörend. Boom!“ Dimiter Gotscheff
25. Oktober 2008 Diskussion DER BALKAN, DER EUROPA HEISST
“The problem with clichés is that they are partly true. […] Without clichés the drama is impossible, […] What is permitted on a high level in art, to treat the clichés, is something we have to
struggle against in politics, in sociology, and in everyday life. Clichés, many clichés are the basis
of different nationalistic and very aggressive treatments of other nations.”
Jovan Ćirilov (Künstlerischer Leiter Festival Bitef, Belgrad)
„Und noch einmal zur Erinnerung, dass diese Mauer, die hier gefallen ist, auf die Köpfe, auf
einen anderen Teil der Welt gefallen ist. Also die sind auch durch uns auch da zugeschüttet!
Es ist pathetisch ausgedrückt, aber eine Kernwahrheit ist da drin, dass diese Menschen dort
überhaupt keine anderen Ausweg haben, keine andere Perspektive“ […]
„Das haben wir auch versucht hier mit der Musik. Wenn das Publikum oder die Kritiker, nicht alle
natürlich, wenn die das nicht mitkriegen, das es einfach dazu gehört, dass es auch ein Ritual ist,
und natürlich von uns organisiert, dann merke ich wirklich einen ungeheueren Riss und zwar von
Leute, die über Theater schreiben, und wenn sie das nicht notieren für sich oder sich einfach
mal kurz gehen lassen, dass der Balkan singt und nicht nur mordet, also dann frage ich mich, wo
die größere Finsternis ist, in Westeuropa oder auf dem Balkan“ Dimiter Gotscheff
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