Deutsches Ärzteblatt 1988: A-142

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Bedeutung
des Nachweises einer
HIV-Infektion
bei Erwachsenen
Empfehlung
des Wissenschaftlichen
Beirates der
Bundesärztekammer
Diagnostische
Maßnahmen und ärztliche
Beratung in der Praxis
(Stand: Dezember 1987)
ie vielleicht lebenslang
persistierende
HIV-Infektion wird
durch die Inokulation
von Blut sowie beim
Sexualkontakt auf andere Menschen
übertragen. Die Zahl der beobachteten HIV-Infektionen nach vorausgegangener Übertragung von HIVhaltigem Blut oder nach Verabreichung von HIV-haltigen Blutprodukten wird wegen der in der Bundesrepublik getroffenen Maßnahmen in Zukunft vermutlich nur noch
in geringem Umfang zunehmen.
Personen, bei denen Antikörper
gegen das humanpathogene Retrovirus HIV (Serotypen HIV-1, HIV-2)
nachgewiesen werden, sind HIV-infiziert und damit kontagiös.
Welche anamnestischen Angaben über Krankheitssymptome oder
welche klinischen Symptome sollten
den Arzt veranlassen, nach einer
HIV-Infektion zu fahnden und welche klinischen und welche Laboruntersuchungen sind zur Klärung dieser Frage anzustellen?
Ablauf der HIV-Infektion
Eine HIV-Infektion gilt als erwiesen, wenn mit den vom Bundesamt für Sera und Impfstoffe (PaulA-142
Ehrlich-Institut) zugelassenen
1. Such- und
2. Bestätigungstests
Antikörper gegen HIV im Serum
nachgewiesen wurden. Vor der Mitteilung eines positiven Testergebnisses soll dieses durch Untersuchung
einer zweiten Serumprobe bestätigt
werden.
Im Ablauf der HIV-Infektion
sind beim Erwachsenen klinischchronologisch mehrere Phasen zu
unterscheiden:
1. Inkubationszeit
2. Akute HIV-Krankheit
3. Inapparenzphase
4. Lymphadenopathie-Syndrom
(LAS),. AIDS related complex
(ARC)
5. HIV-bedingte Schäden des
zentralen und peripheren Nervensystems
6. AIDS
Die Inkubationszeit verläuft
1.
asymptomatisch und beträgt
meist zwei bis sechs Wochen, kann
aber in Ausnahmefällen auch wesentlich länger sein. Während dieser
Zeit lassen sich keine HIV-Antikörper im Serum nachweisen.
Die akute HIV-Krankheit
. tritt bei nur etwa 20 Prozent
2
der Infizierten auf und markiert zu-
(30) Dt. Ärztebl. 85, Heft 4, 28. Januar 1988
gleich das Ende der Inkubationszeit.
Dieses kurz dauernde uncharakteristische und spontan abklingende
Krankheitsbild weist folgende Symptome auf:
a. Inappetenz, Fieber
b. Meist makulöses Exanthem
(auch andere, zum Beispiel
papulöse Exantheme kommen
vor)
c. Myalgien, Arthralgien
d. Kopfschmerzen (in Ausnahmefällen: Meningoenzephalitis)
e. Lymphknotenschwellungen
f. Diarrhoe
Diese Symptome können einzeln
oder kombiniert auftreten, das
Krankheitsbild wird häufig als
„grippaler Infekt" oder als „Mononukleose-ähnliche Erkrankung" angesehen.
Die Inapparenzphase ist
3
. durch die Nachweisbarkeit
von HIV-Antikörpern im Serum gekennzeichnet. Sie kann Monate bis
Jahre dauern. Der Betroffene ist in
dieser Zeit klinisch gesund, aber ansteckungsfähig.
Das Lymphadenopathie-Syn4
. drom (LAS) und der AIDS
related complex (ARC) sind unscharf definiert und weisen sich
überlappende klinische Erscheinun-
gen auf, die als unmittelbare Folgen
der persistierenden, fortschreitenden HIV-Infektion anzusehen sind.
LAS ist eine häufig beobachtete
aber keine obligate Folge der HIVInfektion. Dieses Syndrom geht
auch nicht zwangsläufig in ARC
oder AIDS über, die Symptome
können sich spontan zurückbilden.
Die Infektion kann erneut in eine
Phase der Inapparenz übergehen.
Gelegentlich wird das charakteristische Vollbild von AIDS auch ohne
vorangehende LAS- beziehungsweise ARC-Symptome beobachtet, das
dann anscheinend aus voller Gesundheit einsetzt.
Das LAS ist gekennzeichnet
durch persistierende Lymphknotenschwellungen (extrainguinal), daneben können folgende Symptome
auftreten:
1. Fieber (anhaltend oder schubweise)
2. Gewichtsverlust von mehr als
10 Prozent des Körpergewichtes
oder von mehr als 7 kg
3. Nachtschweiß
4. Diarrhoe
Bei dem ARC werden entweder serologisch (1. bis 4.) oder klinisch (5.)
faßbare Störungen des Immunsystems nachgewiesen. Dem ARC
werden unter anderem zugerechnet:
1. Verminderung der T4-Lymphozyten
2. Verringerung des T4/T8Lymphozyten-Quotienten
3. Anstieg der IgG-Konzentration im Serum
4. Verminderung bzw. Verlust
der Hautreaktionen auf sogenannte recall-Antigene
5. orale Candidiasis, Haarleukoplakie , Zoster
Keines dieser Symptome beziehungsweise Syndrome ist allein für
ARC beweisend.
HIV-bedingte Schäden des
zentralen und peripheren
5
Nervensystems (Enzephalitis, Myelopathie , periphere Neuropathie)
können parallel zu oder auch vorangehend den Symptomen von LAS
oder ARC auftreten.
Die Symptomatik von AIDS
. (Infektionen durch opportunistische Mikroorganismen, Tumo-
ren) wird durch die Art, die Lokalisation und die Ausdehnung der jeweiligen Manifestationen bestimmt.
Da mehrere pathogenetische Abläufe gleichzeitig vorhanden sein können, ist die Diagnostik häufig
schwierig. Im Verdachtsfall ist die
Klärung in einer auf diesem Gebiet
erfahrenen Klinik angezeigt.
Bei einem HIV-Infizierten müssen folgende Symptome den Verdacht auf AIDS erwecken:
ZNS: anhaltende Kopfschmerzen, meningeale Reizerscheinungen, fokale oder generalisierte Krampfanfälle,
neurologische Ausfälle, Sehstörungen, organisch bedingte psychiatrische Syndrome
(Funktionspsychosen)
Lunge:
Belastungsdyspnoe,
trockener Reizhusten, eventuell diskrete radiologische Veränderungen, darum frühzeitige
radiologische Diagnostik
Abdomen: Länger als vier Wochen anhaltende Diarrhoe,
Leibschmerzen (kolikähnlich),
Meteorismus, Hepatomegalie,
Splenomegalie
Haut: Kaposi-Sarkom, Herpes
simplex ulcerans, Zoster generalisatus, disseminiertes Molluscum contagiosum. KaposiSarkome werden auch in frühen Stadien der HIV-Infektion, unabhängig von der Immunlage, beobachtet.
Untersuchungsprogramm zur Verlaufskontrolle:
zum
Laboruntersuchungen
Nachweis einer HIV-Infektion sind
Bestandteil der ärztlichen Maßnahmen zur Klärung eines unklaren
Krankheitsbildes. Die Aufklärungsund Einwilligungsnotwendigkeiten
sollen sich an den Grundsätzen des
geltenden Arztrechts orientieren.
Vor der Entwicklung eines Sonderrechts für HIV ist dringend zu warnen.*)
Anti-HIV-positive, beschwerdefreie
Personen:
BSG, Blutbild (quantitativ, qualitativ) einschließlich Thrombozytenzählung, SGOT, SGPT, GammaGT, Serum-Elektrophorese, quantitative Bestimmung der Immunglobuline, Syphilis-Serologie, Harnstatus, Messung der Vitalkapazität.
Liegen die genannten Parameter im Bereich der Norm, so werden
routinemäßige Kontrollen aller Parameter nach jeweils sechs Monaten
vorgenommen; eine Wiedervorstellung des Patienten ist außerdem
beim Auftreten von Beschwerden
erforderlich. Einmal im Jahr sollte
eine Bestimmung der T-Zell-Subpopulationen vorgenommen sowie eine
Oberbauchsonographie und eine Thorax-Röntgenuntersuchung
durchgeführt werden.
Anti-HIV-positive Personen mit
Krankheitssymptomen und/oder pathologischen Befunden in dem oben
genannten Laborprogramm:
Ist die BSG erhöht und liegt eine
quantitative Vermehrung von IgG
vor, sollen das Laborprogramm
durch Hauttests mit recall-Antigenen
und/oder die T-Zell-Bestimmung erweitert werden. Die Wiedereinbestellung des Patienten erfolgt in Abhängigkeit von der Symptomatik;
routinemäßige Laborkontrollen einschließlich der Messung der Vitalkapazität sollen regelmäßig alle drei
Monate erfolgen. Die T-Zell-Bestimmung wird in der Regel zweimal im
Jahr vorgenommen. Bei organspezifischen Beschwerden richtet sich die
weitere Diagnostik nach der jeweiligen Symptomatik.
*) (aus: H. Narr: Einverständnis bei HIVTests. Hautarzt 38 [1987] 569):
1. Unzulässig ist eine Ausforschungsdiagnose,
bei der es nur darum geht, routinemäßig und
ohne irgendeinen Verdacht eine AIDS-Kontrolle aus Anlaß einer Blutentnahme durchzuführen.
2. Zulässig ist die Durchführung einer AIDSUntersuchung, wenn sich dies aufgrund eines
medizinischen Verdachtes als notwendig erweist. Zu einer solchen Diagnostik ist der Arzt
nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet.
3. Ausreichend als Verdacht ist auch die Zugehörigkeit eines Patienten zu einer Risikogruppe. Die bloße Wahrscheinlichkeit reicht nicht
aus. Eine solche Wahrscheinlichkeit sollte anamnestisch eindeutig geklärt werden, bevor eine
AIDS-Untersuchung stattfindet.
Dt. Ärztebl. 85, Heft 4, 28. Januar 1988 (33)
A-143
Information der HIV-Infizierten
durch den Arzt:
Der behandelnde Arzt hat jeden
HIV-Infizierten über die erwiesene
Infektion und die sich hieraus ergebenden Konsequenzen für seine weitere Lebensführung zu informieren:
• Die Infizierten sind darüber aufzuklären, daß sie die Infektion durch
— homosexuellen und heterosexuellen — Geschlechtsverkehr übertragen
und daß sie für eine solche Übertragung auf einen Partner, der das konkrete Risiko nicht kennt und akzeptiert, strafrechtlich und zivilrechtlich
haften. Die Verwendung von Kondomen kann das Ansteckungsrisiko
vermindern, nicht jedoch aufheben.
© Die Infizierten sind darüber zu
unterrichten, daß in ihrem Blut infektiöse Viren vorhanden sind, und
daß durch eine Inokulation ihres
Blutes die Infektion auf einen anderen Menschen übertragen werden
kann.
• Der behandelnde Arzt hat HIVInfizierte außerdem darauf hinzuweisen, daß sie sich unaufgefordert
jedem Arzt und Zahnarzt als HIVinfiziert zu erkennen geben, damit
gegebenenfalls bei der Durchführung ärztlicher und zahnärztlicher
Eingriffe entsprechende zusätzliche
Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz
des medizinischen Personals getroffen werden können.
• HIV-Infizierte sind als Blut-, Samen- oder Organspender auszuschließen.
• Eine HIV-infizierte Wöchnerin
darf nicht stillen und ihre Milch
nicht zu einer Milch-Sammelstelle
geben.
O HIV-infizierten Frauen ist wegen
der zu erwartenden Erregerübertragung auf das Kind und wegen der
möglichen Verschlechterung ihres
eigenen Befindens infolge der graviditätsbedingten physiologischen Immunschwäche nachdrücklich von einer Schwangerschaft abzuraten.
Der Infizierte soll die erfolgte
Information schriftlich bestätigen.
Information von Dritten:
Der Arzt muß den HIV-Infizierten auffordern, seinen Ehepartner
und gegebenenfalls seinen Sexualpartner über die Infektion und die
A-144
daraus resultierende Ansteckungsgefahr unverzüglich zu unterrichten.
Kommt der Infizierte dieser Aufforderung erkennbar nicht nach, und
wird jemand dadurch konkret gefährdet, dann ist der Arzt nicht nur
berechtigt, sondern unter Umständen sogar verpflichtet, Gefährdete
zu warnen.**) Im übrigen ist die
ärztliche Schweigepflicht besonders
sorgfältig zu beachten.
Information HIV-infizierter
Schwangerer durch den Arzt:
Erweist sich eine Schwangere
bei der Untersuchung zum Nachweis
von anti-HIV im Rahmen der Mutterschaftsvorsorge-Richtlinien als
HIV-infiziert, so muß sie über die
ungünstige Prognose für das Kind
und das erhöhte Risiko einer Exazerbation ihrer eigenen Krankheitssymptome informiert werden.
Diese Schwangeren sind auf die
Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruches hinzuweisen.
AMMII•ex•
Mitglieder des Arbeitskreises „AIDS"
des Wissenschaftlichen Beirates der
Bundesärztekammer:
Prof. Dr. F. Deinhardt
Direktor des Max von PettenkoferInstituts für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie der Universität
München
Prof. Dr. H. J. Eggers
Direktor des Instituts für Virologie
der Universität zu Köln
Dr. rned. G. Flatten
Ärztlicher Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche
Versorgung in der Bundesrepublik
Deutschland, Köln
Prof. Dr. F.-D. Goebel
Medizinische Poliklinik der Universität München
Frau Prof. Dr. I. Grosch-Wörner
Kinderklinik und Poliklinik der
Universität, Berlin
Prof. Dr. R. Gross
Leiter der Medizinisch-Wissenschaftlichen Redaktion des Deutschen Ärzteblattes, Köln
Prof. Dr. K.-O. Habermehl
Direktor des Instituts für klinische
und experimentelle Virologie der
Universität, Berlin
Dr. jur. R. Hess
Justitiar der Bundesärztekammer,
Köln
Prof. Dr. G. Kindermann
Ärztlicher Direktor der I. Medizinischen Frauenklinik und Hebammenschule, München
Prof. Dr. G. Maass (federführend)
Direktor des Hygienisch-Bakteriologischen Untersuchungsamtes
„Westfalen", Münster
Prof. Dr. H. D. Pohle
Chefarzt am Rudolf-Virchow-Krankenhaus, II. Med. Klinik, Berlin
**) Die einschlägigen, im Zusammenhang mit
der HIV-Infektion anstehenden juristischen
Probleme werden zur Zeit im „Ausschuß für
medizinisch-juristische Grundsatzfragen" der
Bundesärztekammer beraten. Mit einer Publikation der Ergebnisse kann in Kürze gerechnet
werden.
Hinweis:
Die Centers for Disease Control, Atlanta, haben ihre bisherigen AIDS-Stadien-Einteilung
überarbeitet (Morbidity and Mortality Weekly
Report — MMWR 36, 1987, 1-15). Da auch das
Nationale Referenzzentrum für die Epidemiologie von AIDS am Bundesgesundheitsamt mit
dieser neuesten internationalen Klassifikation
arbeitet, wird sie demnächst im Deutschen
Ärzteblatt mitgeteilt werden.
(34) Dt. Ärztebl. 85, Heft 4, 28. Januar 1988
Dr. H. Rasokat
Universitäts-Hautklinik Köln
Dr. A. Schäfer
Frauenklinik und Poliklinik des
Universitätsklinikums Charlottenburg, Berlin
Prof. Dr. G. K. Steigleder
Direktor der Universitäts-Hau linik, Köln
Als Gast:
Frau Dr. Barbara Sickmüller
Leiterin der Abteilung Tierpharmazie des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e. V. (BPI),
Frankfurt/Main
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