VL Arzneimittel- und Medizinproduktehaftungsrecht SS 2008

Werbung
PROFESSOR DR. WOLFGANG VOIT
VL Arzneimittel- und Medizinproduktehaftungsrecht
SS 2008
ARZNEIMITTELHAFTUNGSRECHT
Fall 1 (OLG FRANKFURT NJW 1993, 2388)
1985 gebar die F einen Sohn, der seit frühester Kindheit krank ist. Um eine weitere Schwangerschaft zu verhindern, nahm sie die Antibabypille. Am 12.1.1987 musste bei der F ein operativer Eingriff am Ohr vorgenommen
werden. Zur Nachbehandlung verordnete ihr der Arzt A neben Schmerzmitteln ein von AM-Pharma hergestelltes
Antibiotikum. Während des folgenden Kuraufenthaltes ergab eine Untersuchung am 20.3.1987, dass die F
schwanger war. Nach neunmonatiger Schwangerschaft gebar sie am 4.11.1987 ihre Tochter T.
F führt ihre ungewollt eingetretene – ausgetragene – Schwangerschaft darauf zurück, dass infolge zeitgleicher
Einnahme sowohl der Antibabypille als auch des Penicillin-Präparats von AM-Pharma im Zeitraum vom 12.1.
bis zum 20.3.1987 der Schutz vor Empfängnis durch die Pille nicht mehr gegeben gewesen sei. Denn das Antibiotikum habe deren kontrazeptive Wirkung entscheidend beeinträchtigt.
F macht hierfür AM-Pharma verantwortlich, denn obwohl eine solche Wechsel- bzw. Nebenwirkung bereits
1986 in der medizinischen Wissenschaft diskutiert worden sei, habe sich im Beipackzettel des Präparats – unstreitig – keinerlei Hinweis darauf gefunden. Sie und ihr Ehemann nehmen deshalb AM-Pharma wegen der ihnen für das Kind entstandenen Unterhaltspflicht auf Schadensersatz in Anspruch. Ferner begehrt F für ihre mit
der – normal verlaufenen – Schwangerschaft verbundenen Beschwerden von AM-Pharma ein angemessenes
Schmerzensgeld.
AM-Pharma hält dem entgegen, dass die Schwangerschaft eher darauf zurückzuführen sei, dass F im betr. Zeitraum einmal oder mehrmals die Einnahme der Antibabypille vergessen habe, was erfahrungsgemäß immer wieder vorkomme. Schlechthin absoluten Schutz vor ungewollter Empfängnis biete zudem die Pille bekanntermaßen
ohnehin nicht.
Fall 2 (BGH JZ 1971, 507 ff.)
Die Firma Chemie Grünenthal stellte das Medikament Contergan her, ein aus Thalidomid bestehendes Schlafmittel. Die thalidomidhaltigen Präparate waren 1957 in den Handel gekommen. In den Jahren 1958 und 1959
trafen einzelne und in den Jahren 1960 und 1961 mehrere Meldungen über Nebenwirkungen bei der Herstellerfirma ein. Insbesondere wurden Nervenschäden in Form von sensibler Polyneuritis gemeldet. Im Mai 1961 ließ
die Herstellerfirma Contergan unter Rezeptpflicht stellen. Im November 1961 kam der Verdacht auf, Contergan
verursache Missbildungen. Daraufhin zog die Herstellerfirma alle thalodomidhaltigen Präparate aus dem Handel.
Kurz danach meldeten sich mehrere hundert Mütter, die Kinder mit schweren Missbildungen geboren hatten.
Den Säuglingen fehlten Beine, Arme, Ohren oder Zwischenglieder. In der Bundesrepublik sollen mehrere tausend Kinder missgebildet zur Welt gekommen und etwa tausend lebensunfähige inzwischen verstorben sein.
Fall 3 (LG FRANKFURT/MAIN, AZ. 2-22 O 360/98)
K leidet an einer seltenen Blutgerinnungsstörung. Sie muss nicht ständig, aber bei akuten Verletzungen mit Blutgerinnungspräparaten behandelt werden. Im August 1984 stürzte K und zog sich einen Bluterguss zu. Aus diesem Grund wurde sie vom 2. bis 9.8.1984 in der Universitätsklinik Frankfurt stationär behandelt. In dieser Zeit
erhielt sie insgesamt 17.000 Einheiten BL der Β-AG. Dieses Medikament wird aus menschlichem Spenderblut,
und zwar aus einem Pool von bis zu zehn Spendern, hergestellt. Das Blut wurde zumindest bis 1984 nicht hitzesterilisiert. Das der K verabreichte Arzneimittel stammte aus verschiedenen Produktchargen. Wenige Tage nach
der Klinikentlassung musste K sich wieder in stationäre Behandlung begeben, weil in der am Entlassungstag
entnommenen Blutprobe auffällige Leberwerte festgestellt worden waren. Im weiteren Verlauf der Behandlung
bestätigte sich der ursprüngliche Verdacht einer HCV-Infektion.
1986 wurde K darüber informiert, dass bei ihr schon 1984 auch eine HIV-Infektion festgestellt worden war. Die
Infektion war eine Folge der Behandlung mit BL im August 1984.
Die B-AG bestreitet eine Infektion der K mit HCV durch ihr Blutgerinnungspräparat und verweist auf andere
Ansteckungsmöglichkeiten wie Bluttransfusionen, infiziertes Krankenhauspersonal, nicht sterile Instrumente
usw.
Fall 4 (BGH NJW 1989, 1542 ff.= BGHZ 106, 273 ff.)
H leidet seit seinem 7. Lebensjahr an Bronchialasthma. Zur Erleichterung der Atmung benutzt H regelmäßig das
von AM-Pharma hergestellte Arzneimittel „AD-Aerosol“. In der dem Arzneimittel beigefügten Gebrauchsinformation wird u. a. ausgeführt: „Dosierung. Bei drohendem oder akutem Asthmaanfall genügt meistens ein Aerosolstoß, um eine sofortige Atmungserleichterung zu erzielen. Hat sich die Atmung nach 5 Minuten nicht spürbar
gebessert, kann ein zweiter Aerosolstoß genommen werden. Wenn bei einem besonders schweren Asthmaanfall
nach weiteren 5 Minuten noch keine befriedigende Atmungserleichterung erzielt wurde, kann eine dritte und für
diesen Anfall letzte Inhalation vorgenommen werden. Die nächste Inhalation (1-3 Atemzüge) soll dann frühestens nach 2 Stunden vorgenommen werden. Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen. [...] Bei besonderer
1
PROFESSOR DR. WOLFGANG VOIT
VL Arzneimittel- und Medizinproduktehaftungsrecht
SS 2008
Empfindlichkeit und/oder höherer Dosierung können feines Fingerzittern, Unruhegefühl oder Herzklopfen auftreten. Auch Schwindel, Kopfdruck oder Schwitzen sind vereinzelt beobachtet worden. Beim Vorkommen dieser
Erscheinungen soll die Dosis verringert werden [...] Besondere Hinweise. Bringt die Behandlung in der empfohlenen Dosierung nicht den gewünschten Erfolg, so spricht der Krankheitszustand auf die Behandlung ungenügend an, weil andere Krankheitsursachen daran beteiligt sind. Es ist daher unverzüglich ärztliche Beratung
erforderlich, damit der Behandlungsplan neu festgelegt wird.“ Während seines letzten Asthmaanfalles benutzt
H, weil er keine Wirkung feststellen konnte, das Mittel sehr häufig. H verstirbt. Die genaue Anzahl der Aerosolstöße ist nicht bekannt. Es können jedoch 50 oder mehr in Abständen von wenigen Sekunden gewesen sein. Die
Ehefrau des H behauptet, der Tod ihres Ehemannes sei auf eine Alupent-Intoxikation zurückzuführen. Sie verlangt deshalb als Hinterbliebene des im Alter von 24 Jahren im Verlauf eines schweren Asthmaanfalles verstorbenen H von dem Arzneimittelhersteller AM-Pharma Schadensersatz wegen des ihr entgehenden Unterhalts.
Fall 5 (BGH NJW 1972, 2217)
Zur Vorbereitung eines kleinen gynäkologischen Eingriffs injizierte der Assistenzarzt A der Patientin P das
Kurznarkosemittel ESTIL in die Ellenbeuge ihres linken Arms. Dabei geriet das für eine Injektion in eine Vene
vorgesehene Narkosemittel versehentlich in eine Arterie. Dadurch wurden bei P heftige Gefäßreaktionen ausgelöst, die eine Oberarmamputation notwendig werden ließen. Gleiche Amputationsfälle waren schon vorher aufgetreten. In der Packungsbeilage des pharmazeutischen Unternehmens AM-Pharma ist unter der Überschrift
„Kontraindikationen“ durch Fettdruck hervorgehoben aufgeführt: „Eine intraarterielle Injektion muss mit Sicherheit vermieden werden.“ P nimmt U auf Ersatz des ihr entstandenen Schadens in Anspruch.
VERTIEFUNGSHINWEISE
BGH NJW 1987, 1009 (Hondafall)
BGH NJW 1981, 1603; 1606 (Apfelschorffall)
BGHZ 116, 60 ff. (Nuckelflaschenfall)
BGHZ 51, 91 ff. (Hühnerpestfall)
OLG Frankfurt NJW-RR 1995, 406 ff.
LG Frankfurt NJW 1977, 1108 (PLS-Fall)
BGH NJW 1980, 1452 (fehlerhafter ärztlicher Sterilisationseingriff)
2
Herunterladen