Modul 3.3. „Geschichte und Politik III: Massenbewegungen und Revolutionen der Neuzeit“ Leistungsnachweis von David Shriqui bei Dr. Francis Cheneval 1991 - Der Zusammenbruch der UdSSR und die Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Entwicklungen, Zusammenhänge und Wechselwirkungen _________________________________________________________________________________________________________________ 1.1. Einleitung Im Jahr 1991 erlangten die damaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen zum zweiten Mal in der jüngeren Geschichte die Unabhängigkeit als selbstständige Republiken. Ihr Freiheitskampf und die anschliessende Rückgewinnung der eigenen Staatlichkeit stehen in einem engen Zusammenhang mit der Revolution von 1985 bis 1991 in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR)1. In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts befand sich die UdSSR in einem Zustand politischer Stagnation und wirtschaftlichen Niedergangs. Reformen wurden unumgänglich. Der 1985 zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gewählte Michail Gorbatschow stellte der Krise seine Reformprogramme Glasnost und Perestroika entgegen. Die Reaktionen innerhalb der Sowjetunion auf die angeschobenen Reformprozesse lösten einen Kollaps der UdSSR mit weitreichenden Folgen für die politische und gesellschaftliche Ordnung in den Folgestaaten aus. Die vorliegende Arbeit beschreibt die Ereignisse und Entwicklungen zwischen 1985 und 1991 und zeigt auf, wie Gorbatschow die Kontrolle über die Umsetzung seiner eigenen Reformen und schlussendlich über die Staatsmacht entglitt. Diese Beschreibung dient dem Zweck der Untersuchung, welchen Einfluss die Freiheitsbestrebungen der baltischen Teilrepubliken auf die Entwicklungen und Ereignisse im Machtzentrum der Sowjetunion während der Revolution ausübten. Weiter soll aufgezeigt werden, wie die baltischen Freiheitsbewegungen von den revolutionären Entwicklungen für die Erlangung der Unabhängigkeit ihrer Staaten profitieren konnten. Während die drei baltischen Länder 1991 ihre Eigenstaatlichkeit der Zeit zwischen 1920 und 1940 wiederherstellen konnten, handelt es sich im Gesamtzusammenhang aller Vorgänge in der Sowjetunion um eine echte Revolution mit tief greifenden Veränderungen. Mehr als sieben Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft waren vorbei. Eine militärische Supermacht trat von der Weltbühne ab. Die bisher allein herrschende KPdSU verlor ihre Macht und wurde auf dem Hoheitsgebiet Russlands per Dekret verboten. Aus der zentral regierten Union entstanden fünfzehn unabhängige Nachfolgestaaten mit eigenen Regierungen und Behörden. Die kommunistische Planwirtschaft war am Ende, Staatsbetriebe wurden Schritt für Schritt privatisiert. Eigene Landeswährungen lösten den sowjetischen Rubel als Zahlungsmittel ab. Die Rote Armee musste in verschiedene nationale Streitkräfte aufgeteilt werden. Dies, um nur einige ausgewählte Folgen der Revolution zu nennen. Eine vollständige Behandlung der Neuordnung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 2.1. Zerfallserscheinungen in der UdSSR in der Ära Breschnew, Andropow und Tschernenko Der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Michail Gorbatschow, schildert 1987 in seinem Werk «Perestroika» den Zustand und die Entwicklungen in der Sowjetunion unter seinen Vorgängern Leonid Breschnew, Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko. Er analysiert die Fehlentwicklungen und ihre Auswirkungen in den Bereichen der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Politik. Staatliche Fehlplanungen, eine aufgeblähte Bürokratie und fehlende Motivation für technologische Innovationen in den Siebzigerund Achtzigerjahren hatten zur Folge, dass die UdSSR den Anschluss an die Weltmärkte verpasste. Auch konnten, so Gorbatschow, wissenschaftliche Errungenschaften für den Alltagsbedarf nicht nutzbar gemacht werden2. Die Produktionsanlagen waren marode und überaltert, so dass Arbeitskraft, Energie und Rohstoffe nicht effizient eingesetzt werden konnten. Stattdessen präsentierte sich vor allem die überdimensionierte Schwer- und Rüstungsindustrie verschwenderisch. In den Achtzigerjahren verschlang das Militärbudget 1 2 Vgl. Schmidt, Thomas: Die Aussenpolitik der baltischen Staaten – Im Spannungsfeld zwischen Ost und West, Wiesbaden, 1. Auflage 2003, S. 62 – 63 Vgl. Gorbatschow, Michail: Perestroika – Die zweite russische Revolution – Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987, S. 22 1 Modul 3.3. „Geschichte und Politik III: Massenbewegungen und Revolutionen der Neuzeit“ Leistungsnachweis von David Shriqui bei Dr. Francis Cheneval der UdSSR 70 Prozent des Staatshaushaltes3. Das Wettrüsten mit den USA und das militärische Engagement in Afghanistan waren Gründe dafür. Zwischen 1972 und 1987 schrumpfte die Wachstumsrate des Nationaleinkommens um mehr als die Hälfte4. Der Lebensstandard stagnierte, die Nachfrage nach Nahrungsmitteln, Wohnungen, Konsumgütern und Dienstleistungen konnte nicht befriedigt werden5. Die politische Führung der Sowjetunion gaukelte in Reden und Zeitungsberichten indessen eine „problemfreie[n] Realität“6 vor und büsste damit ihre Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung ein. Funktionäre der KPdSU waren an Machtmissbrauch, Korruption und Verbrechen beteiligt 7 . Die Probleme des Alltags konnten nicht mehr schön geredet werden. „Die Probleme mehrten sich schneller, als sie gelöst werden konnten. Die Gesellschaft als Ganzes geriet immer mehr ausser Kontrolle. Wir dachten, wir hätten alles im Griff [...]“8 In Tat und Wahrheit steckte die UdSSR bereits tief in der Krise. Die Weltmacht wurde in den letzten Jahren vor Gorbatschows Wahl von schwerkranken, weitgehend handlungsunfähigen, greisen Männern regiert. 1985 wurde der Reformer Michail Gorbatschow Präsident des Zentralkomitees der KPdSU. Mit ihm begann eine neue Ära, ein Umbruch kündigte sich an. 2.2. Gorbatschows Reformen Glasnost und Perestroika Gorbatschow war klar geworden, dass die „chronische Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und politischen Erklärungen zu beseitigen“9 war. Glasnost und Perestroika waren Schlüsselbegriffe für Gorbatschows Reformen, um die Krise zu überwinden und die UdSSR aus der Stagnation zu führen. Glasnost stand für freien Zugang zu Informationen, offenere Diskussion von Problemen und Missständen, Transparenz von Entscheidungen in Wirtschaft und Politik. Es sollte eine kritisch-loyale Gesellschaft gebildet werden10. Der Begriff der Perestroika bedeutete Umbau/Umgestaltung, Modernisierung und Veränderung des gesamten staatlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Systems11. Gorbatschows Zielsetzung war, „den Rückstand aufzuholen, dem konservativen Morast zu entsteigen und die Trägheit der Stagnation abzuschütteln “12. Mit der Politik von Glasnost und Perestroika beabsichtigte Gorbatschow, einen friedlichen Demokratisierungsprozess und einen grundlegenden Umbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in die Wege zu leiten. 2.3. Das Baltikum im politischen Spannungsfeld zwischen Ost und West Durch seine geopolitische Lage zwischen Ost und West war das Baltikum seit Jahrhunderten ein strategisch und wirtschaftlich begehrtes Territorium. Dies zeigen die wechselnden Fremdherrschaften: Deutsche, Dänen, Schweden, Polen und Russen hatten das Gebiet im Laufe der Geschichte beherrscht. Der Untergang des Zarenreichs 1917 und der nachfolgende Bürgerkrieg in Russland, sowie die Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg, ermöglichten den Balten 1918 zum ersten Mal die Ausrufung der Unabhängigkeit der drei baltischen Republiken. Sie nutzten dabei geschickt ein Machtvakuum aus13. Die Truppen des Deutschen Reiches waren abgezogen, die Bolschewisten standen noch vor dem Einmarsch ins Baltikum. Die Balten konnten auf die Unterstützung der Westalliierten zählen, denn die 3 4 5 6 7 8 9 Vgl. Kogelfranz, Siegfried: Das Imperium expandiert - Herrschaft der Greise, in: Spiegel Special Geschichte 4/2007 <http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecialgeschichte/d-54841321.html> [Stand: 02.01.2013] Vgl. Gorbatschow, Michail: Perestroika – Die zweite russische Revolution, S. 19 Vgl. Ebd., S. 23 Ebd., S. 23 Vgl. Ebd., S. 24 - 25 Ebd., S. 25 Ebd., S. 93 10 Vgl. Altrichter, Helmut: Glasnost’, in: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991, 1993, S. 98 - 99 11 Vgl. Schröder, Hans-Henning: Perestrojka, in: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991, 1993, S. 240 12 Gorbatschow, Michail: Perestroika – Die zweite russische Revolution, S. 61 13 Vgl. Schmidt, Thomas: Die Aussenpolitik der baltischen Staaten, S. 35 2 Modul 3.3. „Geschichte und Politik III: Massenbewegungen und Revolutionen der Neuzeit“ Leistungsnachweis von David Shriqui bei Dr. Francis Cheneval Expansion des Kommunismus Richtung Westen sollte durch die Schaffung unabhängiger Staaten im Baltikum erschwert werden14. Estland, Lettland und Litauen wurden deshalb schon 1917 vom Deutschen Reich unabhängig erklärt. Nach den Friedensverträgen mit Russland bauten die baltischen Staaten zwischen 1920 und 1940 ein eigenständiges Staatswesen auf und waren Mitglieder des Völkerbundes. 1939 schlossen die Sowjetunion und Deutschland einen Nichtangriffs-Vertrag, den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt, bzw. MolotowRibbentrop-Pakt. In geheimen Zusatzprotokollen dieses Vertrags sicherten sich die Sowjets die Herrschaft über die baltischen Staaten. Schon 1940 marschierte die Rote Armee im Baltikum ein. Estland, Lettland und Litauen wurden Teilrepubliken der Sowjetunion. Die Balten nannten es eine Besetzung, die Sowjets beharrten darauf, die baltischen Staaten hätten sich aufgrund einer freien Abstimmung der UdSSR angeschlossen. In der Folge litt die Bevölkerung unter Repressionen, Unterdrückung der nationalen Identität, Deportationen und Russifizierung. Die angesiedelte sowjetische Schwerindustrie verschmutzte Städte und Landschaft. 2.4. Baltische Reaktionen auf Glasnost und Perestroika Ermutigt durch die neue sowjetische Politik der Information und freien Meinungsäusserung wehrte sich die baltische Bevölkerung ab 1985 in Massenkundgebungen gegen Umwelt unverträgliche Bauprojekte (Ausbau des AKW Ignalina, Flusskraftwerk an der Düna, Phosphat-Abbau in Estland)15. Aufgrund der heftigen Proteste sah sich Moskau gezwungen, die Projekte aufzugeben. Dieser Sieg der Umweltorganisationen wirkte als Initialzündung für weitere Proteste gegen die Sowjetherrschaft. Das Volk forderte nun die Aufarbeitung der Verbrechen des Stalin-Regimes. Historische Gedenktage wurden eingeführt, etwa für die Unterzeichnung des Molotow-Ribbentropp-Paktes, den Jahrestag der Massendeportationen und die Ausrufung der unabhängigen Republiken in der Zwischenkriegszeit. Die entstehenden Demokratie-Bewegungen verfolgten bald das Ziel der nationalen Wiedergeburt 16 . Die baltischen Sprachen und die Literatur wurden wieder öffentlich gepflegt, die traditionellen Sängerfeste wieder abgehalten, religiöse Traditionen wieder aufgenommen. Neu gegründete Volksfronten in Estland (Rahvarinne), Lettland (Latvijas Tautas Fronte) und Litauen (Lietuvos Persit Parkymo Sajūdis) unterstützten zunächst die Perestroika in der Hoffnung auf mehr Freiheit. Es gelang ihnen, konservativ-kommunistische Regierungsvertreter aus dem Parlament zu verdrängen. Der Einfluss der Volksfronten auf die Republikführungen wuchs 1989 beträchtlich. Sie rangen Moskau ein Zugeständnis nach dem anderen ab. Nach Estland, 1988, verabschiedeten auch Litauen und Lettland 1989 Souveränitätserklärungen17 und erzwangen damit Hoheitsrechte über lokale Gesetze und Behörden. Die Volksfronten und inzwischen entstandene baltische Nationalbewegungen erreichten eine grosse Mobilisierungskraft. Als Symbol und Demonstration des Unabhängigkeitswillens steht der „Baltische Weg“, eine Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius am 23. August 1989, an der sich zwei Millionen Menschen beteiligten. Die Reformen der sowjetischen Führung liefen der Entwicklung in den baltischen Teilrepubliken hinterher. Moskau reagierte auf die Forderungen aus dem Baltikum zunehmend mit Ablehnung, die baltischen Volksfronten wurden zu den erklärten Hauptgegnern der Reformpolitik. Am 20. Dezember 1989 trat die litauische KP unter dem Druck der Volksfront Sajūdis aus der KPdSU aus und verzichtete auf den alleinigen Anspruch der Regierungsgewalt18. Gorbatschow entglitt damit nicht nur die politische Kontrolle über Litauen, auch die gesamte KPdSU als einzige zusammenhaltende Kraft der Sowjetunion begann ab diesem Moment zu zerfallen. 3.1. Die Ereignisse 1990 und 1991 Gorbatschow erkannte die Gefahr für die Union und den Ernst der Lage. Er reiste im Januar 1990 nach Vilnius, um die abtrünnigen Genossen zurück in die Mutterpartei zu holen, hatte jedoch keinen Erfolg. Litauen übernahm eine Vorreiterrolle in den 14 15 16 17 18 Vgl. Schmidt, Thomas: Die Aussenpolitik der baltischen Staaten, S. 34 Vgl. Ebd., S. 63 Vgl. Ebd., S. 63 Vgl. Ebd., S. 65 Vgl. Ebd., S. 65 3 Modul 3.3. „Geschichte und Politik III: Massenbewegungen und Revolutionen der Neuzeit“ Leistungsnachweis von David Shriqui bei Dr. Francis Cheneval Freiheitsbestrebungen zahlreicher sowjetischer Teilrepubliken. Am 11. März 1990 rief der Oberste Rat Litauens die einseitige Wiederherstellung der vollen Unabhängigkeit aus. Damit lag Litauen auf direktem Konfrontationskurs mit Moskau19. Die anderen baltischen Staaten zogen mit Erklärungen einer Übergangsphase zur Unabhängigkeit rasch nach. Gorbatschow verurteilte diese Schritte aufs Schärfste und verlangte deren Rücknahme. Auf die Weigerung Litauens verhängte er eine Blockade, Litauens Wirtschaft brach zusammen. Im Herbst 1990 verbündete sich Gorbatschow verzweifelt mit reformfeindlichen kommunistischen Kräften, um die Union unter allen Umständen erhalten zu können20. Die Balten indessen suchten eine Allianz innerhalb der Sowjetunion und fanden sie im Reformer und Rivalen Gorbatschows, Boris Jelzin. Dieser war nach seiner Kritik an Gorbatschows Reformen 1987 aus allen politischen Ämtern entlassen worden und bekämpfte nun Gorbatschow erbittert21. Mit Jelzin an ihrer Seite hofften die Balten, gewaltlos, aber aktiv an der Auflösung der Sowjetunion mitwirken zu können22. Am 13. Januar 1991 stürmten sowjetische Truppen in Vilnius den Fernsehturm mit der Sendezentrale. Regierungsgebäude konnten nicht besetzt werden, da diese von der Bevölkerung geschützt wurden. Vierzehn Menschen fanden den Tod. In Estland und Lettland gab es ähnliche Besetzungsversuche23. Daraufhin fanden in den grossen sowjetischen Städten Massenkundgebungen der Solidarität mit Litauen statt24. Unter dem Druck der Öffentlichkeit musste sich die sowjetische Armee zurückziehen. Am 13. Juni 1991 wurde Jelzin in einer demokratischen Wahl zum Präsidenten der souveränen Russischen Sowjetrepublik gewählt und schloss im Juli 1991 einen Vertrag mit Litauen, in dem die beiden Länder sich gegenseitig „ihre Unabhängigkeit und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen“25 anerkannten. Gorbatschow erkannte, dass die baltischen Staaten innerhalb der Sowjetunion, aber auch im Westen zunehmend Unterstützung für ihre Unabhängigkeit gewannen 26 . Deshalb schlug er am 1. Februar 1991 sämtlichen sowjetischen Republiken einen neuen Unionsvertrag vor, an dem jedoch die Balten nicht mehr interessiert waren, da die Unabhängigkeitsbestrebungen bereits zu weit fortgeschritten waren. 3.2. Der gescheiterte Augustputsch und der Zusammenbruch der Sowjetunion Einen Tag, bevor der neue Unionsvertrag unterzeichnet werden sollte, kam es am 19. August 1991 zum Putschversuch durch konservativ-kommunistische Kräfte, welche die UdSSR vor dem Zerfall retten wollten. Ein achtköpfiges „Notstandskomitee“, bestehend aus Gennadi Janajew (Vizepräsident), Walentin Pawlow (Ministerpräsident), Dmitri Jasow (Verteidigungsminister), Boris Pugo (Innenminister), Oleg Baklanow (Mitglied des ZK der KPdSU), Wladimir Krjutschkow (Chef des KGB), Vasilij Starodubcev (Vorsitzender des Kolchosbauern-Verbandes), Aleksandr Tizjakov (Vorsitzender der Vereinigung der Staatsbetriebe), hielt Gorbatschow an seinem Urlaubsort auf der Krim fest27. Die Gruppe verkündete, Gorbatschow sei erkrankt und von allen politischen Ämtern befreit. Über die gesamte Sowjetunion wurde der Ausnahmezustand verhängt, die Armee in die grossen Städte entsandt. In Moskau und Leningrad kam es trotz Verbot zu Demonstrationen gegen die Putschisten. Auch die Armee verweigerte ihnen die Loyalität. Boris Jelzin verurteilte den Umsturz wirkungsvoll in einer Rede mit einem Megaphon auf einem Armeepanzer. Er rief die 19 20 21 22 23 24 25 26 27 Vgl. Schmidt, Thomas: Die Aussenpolitik der baltischen Staaten, S. 66 Vgl. Ebd., S. 66 Vgl. Günsche, Karl-Ludwig: Auslöser war Jelzins Haß auf Gorbatschow „...In die Politik lasse ich Dich nie wieder rein.“, in: DIE WELT <http://www.welt.de/print-welt/article625647/Ausloeser-war-Jelzins-Hass-auf-Gorbatschow.html> [Stand: 03.02.2013] Vgl. Schmidt, Thomas: Die Aussenpolitik der baltischen Staaten, S. 67 Vgl. Ebd., S. 67 Vgl. Ebd., S. 68 Schmidt, Thomas: Die Aussenpolitik der baltischen Staaten, S. 70 Vgl. Herrmann, Arthur: Die Phasen des baltischen Unabhängigkeitskampfes 1985 – 1991, in: Annaberger Annalen Nr. 2, 1994, S.126 Vgl. Altrichter, Helmut: Putschversuch, in: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991, 1993, S. 259 4 Modul 3.3. „Geschichte und Politik III: Massenbewegungen und Revolutionen der Neuzeit“ Leistungsnachweis von David Shriqui bei Dr. Francis Cheneval Bürger Russlands zum Widerstand gegen die Putschisten auf, forderte einen Generalstreik und erklärte, er übernehme die Kontrolle über das russische Territorium28. Damit war seine Position gestärkt. Gorbatschow kehrte politisch geschwächt nach Moskau zurück und trat als Generalsekretär der KPdSU zurück, blieb aber noch formell Präsident der Sowjetunion. Estland erklärte sich am 20., Lettland am 21. August 1991 zur unabhängigen Republik. Russland anerkannte unter Jelzin die Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten am 23. August 1991. Am 6. September 1991 zog auch Gorbatschow mit einer Anerkennung durch die UdSSR nach. Jelzin entmachtete Gorbatschow schrittweise. Zusammen mit dem Präsidenten der Ukraine, Leonid Krawtschuk, und dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets von Belarus, Stanislaw Schuschkjewitsch, unterzeichnete er die Gründungsvereinbarung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GUS. Darin wurde das Ende der Existenz der UdSSR schriftlich formuliert. Ihre Nachfolge trat die Russische Föderation unter Boris Jelzin an. Gorbatschow trat am 25. Dezember 1991 als Präsident der Sowjetunion zurück. Im Gegensatz zu Jelzin hatte Gorbatschow zu spät erkannt, dass die UdSSR in ihrer bestehenden Staatsform nicht mehr zu retten war. 4.1. Schlussfolgerungen Wie bereits bei ihrer ersten Unabhängigkeit profitierten die Balten geschickt von einer für sie günstigen politischen Konstellation. Ihr entschlossenes Eintreten für die eigene Sache erwies sich als Stärke. In vier Punkten können Einflüsse aus dem Baltikum auf die Entwicklungen sowie Auslöser für Wechselwirkungen innerhalb der Revolution nachgewiesen werden. 4.1.1. Die Balten waren eine treibende Kraft im Auflösungsprozess der UdSSR Mit seinen Reformen Glasnost und Perestroika öffnete Gorbatschow die Türen zu einem Spielraum der freien Äusserung. Die Toleranzgrenzen waren von Seiten der sowjetischen Führung unter Gorbatschow wenig klar definiert. Nach ersten Erfolgen der Umweltbewegungen verstanden es die Balten, diesen Spielraum bis aufs Äusserste auszuloten und für die Erreichung ihrer Ziele einzusetzen. Noch unterstützten sie Gorbatschow und seine Reformen. Die Möglichkeit, die eigenen Kulturen wieder offen zu leben, stärkte das Bewusstsein der nationalen Eigenheiten und liess nationale Gefühle wieder aufflammen. Der Wunsch nach Unabhängigkeit weckte Mobilisierungskraft in Bevölkerung und Oppositionsführung. Mit Beharrlichkeit verfolgten die Balten kompromisslos ihr Ziel. Dabei nutzten sie geschickt die Schwäche der Staatsführung der UdSSR aus. Die baltischen Staaten waren damit nicht Auslöser, wohl aber stark treibende Kraft, die zur Auflösung der UdSSR beitrug. 4.1.2. Der Zerfall der KPdSU begann in Litauen Gorbatschows Ziel war, Reformen innerhalb der bestehenden UdSSR einzuführen. Mit dem erklärten Ziel der Unabhängigkeit und damit dem Austritt aus der Sowjetunion wurden die baltischen Staaten zu Kontrahenten Gorbatschows. Die litauische KP setzte mit dem Austritt aus der Mutterpartei und dem Rückzug aus der Regierung den Zerfallprozess der KPdSU in Gang. Damit hatte Litauen den Bogen überspannt, Gorbatschow konnte dies nicht mehr dulden und wurde spätestens mit dem Armee-Einsatz vom 13. Januar 1991 in Vilnius zum offenen Gegner Litauens und der Balten. 4.1.3. Die Allianz Jelzins mit den baltischen Staaten schwächte Gorbatschow Um die Union zu retten, verbündete sich Gorbatschow verzweifelt mit konservativ-kommunistischen Kräften. Die Balten erhielten hingegen von Gorbatschows Erzrivalen Jelzin Unterstützung und diplomatische Anerkennung. Es muss gefolgert werden, dass Jelzin sich von dieser Allianz einen hohen Druck auf Gorbatschows Regierung versprach, und damit deren Schwächung. Die Entwicklungen der Reformen liefen insbesondere im Baltikum schneller ab als in Gorbatschows Planung. Dieser Umstand gab Jelzin stets 28 Vgl. Mrozek, Gisbert: August-Putsch: die Chronologie, in: Russland-Aktuell <http://www.aktuell.ru/russland/hintergrund_information/august-putsch_die_chronologie_12.html> [Stand: 12.02.2013] 5 Modul 3.3. „Geschichte und Politik III: Massenbewegungen und Revolutionen der Neuzeit“ Leistungsnachweis von David Shriqui bei Dr. Francis Cheneval Gelegenheit, Gorbatschow zu kritisieren, und dessen Machtstellung zu demontieren. Sowohl die Baltischen Länder, wie auch Boris Jelzin, zogen einen Nutzen aus dieser Allianz. Jelzin gewann an Macht, die baltischen Staaten eine Absicherung ihrer Unabhängigkeit. 4.1.4. Jelzins Machtergreifung besiegelte die Unabhängigkeit der baltischen Staaten Die Putschisten wollten im August 1991 die bereits zerfallende UdSSR um jeden Preis in die Ära vor Gorbatschow zurückversetzen. Ihr Umsturzversuch misslang allerdings, weil der Prozess der Demokratisierung bereits zu weit fortgeschritten war, und die Menschen keine Rückkehr zum autokratischen Herrschaftssystem der KPdSU wünschten. Die Armee verweigerte den Gehorsam und solidarisierte sich mit der Bevölkerung. Im Wissen um die Zielsetzung des Putschversuchs kann davon ausgegangen werden, dass im Falle eines Erfolges die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit nicht erreicht hätten. Der baltische Widerstand wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit blutig niedergeschlagen worden. Stattdessen ergriff Boris Jelzin die Macht und anerkannte die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens umgehend nach deren Ausrufung. 5.0. Bibliographie 5.1. Quellen Altrichter, Helmut: Glasnost’, in: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991, 1993, S. 98 – 99 Altrichter, Helmut: Putschversuch, in: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991, 1993, S. 259 Gorbatschow, Michail: Perestroika – Die zweite russische Revolution – Eine neue Politik für Europa und die Welt, München 1987 S. 19, 22 – 25, 61, 93 Herrmann, Arthur: Die Phasen des baltischen Unabhängigkeitskampfes 1985 – 1991, in: Annaberger Annalen Nr. 2, 1994. S. 126 Schmidt, Thomas: Die Aussenpolitik der baltischen Staaten – Im Spannungsfeld zwischen Ost und West, Wiesbaden, 1. Auflage 2003 S. 34, 35, 62, 63, 65 – 68, 70 Schröder, Hans-Henning: Perestrojka, in: Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991, 1993, S. 240 Günsche, Karl-Ludwig: Auslöser war Jelzins Haß auf Gorbatschow „...In die Politik lasse ich Dich nie wieder rein.“, in: DIE WELT <http://www.welt.de/print-welt/article625647/Ausloeser-war-Jelzins-Hass-auf-Gorbatschow.html> [Stand: 03.02.2013] Kogelfranz, Siegfried: Das Imperium expandiert - Herrschaft der Greise, in: Spiegel Special Geschichte 4/2007 <http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecialgeschichte/d-54841321.html> [Stand: 02.01.2013] Mrozek, Gisbert: August-Putsch: die Chronologie, in: Russland-Aktuell <http://www.aktuell.ru/russland/hintergrund_information/august-putsch_die_chronologie_12.html> [Stand: 12.02.2013] 5.2. Sekundärliteratur Erler, Gernot, Schulze, Peter W. (Hg.): Die Europäisierung Russlands. Moskau zwischen Modernisierungspartnerschaft und Großmachtkontrolle, Frankfurt am Main, New York 2012 Landsbergis, Vytautas: Jahre der Entscheidung. Litauen auf dem Weg in die Freiheit. Eine politische Autobiographie, Ostfildern vor Stuttgart 1997 6