Grigory Sokolov Montag 27. April 2015 20:00 Bitte beachten Sie: Ihr Husten stört Besucher und Künstler. Wir halten daher für Sie an den Garderoben Ricola-Kräuterbonbons bereit und händigen Ihnen Stofftaschentücher des Hauses Franz Sauer aus. Sollten Sie elektronische Geräte, insbesondere Mobiltelefone, bei sich haben: Bitte schalten Sie diese unbedingt zur Vermeidung akustischer Störungen aus. Wir bitten um Ihr Verständnis, dass Bild- und Tonaufnahmen aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet sind. Wenn Sie einmal zu spät zum Konzert kommen sollten, bitten wir Sie um Verständnis, dass wir Sie nicht sofort einlassen können. Wir bemühen uns, Ihnen so schnell wie möglich Zugang zum Konzertsaal zu gewähren. Ihre Plätze können Sie spätestens in der Pause einnehmen. Bitte warten Sie den Schlussapplaus ab, bevor Sie den Konzertsaal verlassen. Es ist eine schöne und respektvolle Geste gegenüber den Künstlern und den anderen Gästen. Mit dem Kauf der Eintrittskarte erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihr Bild möglicherweise im Fernsehen oder in anderen Medien ausgestrahlt oder veröffentlicht wird. Grigory Sokolov Klavier Montag 27. April 2015 20:00 Pause gegen 20:45 Ende gegen 22:00 19:00 Einführung in das Konzert durch Christoph Vratz PROGRAMM Johann Sebastian Bach 1685 – 1750 Partita für Klavier B-Dur BWV 825 (1726) aus: Klavierübung Teil I Praeludium Allemande Corrente Sarabande Menuet I Menuet II Giga Ludwig van Beethoven 1770 – 1827 Sonate für Klavier Nr. 7 D-Dur op. 10,3 (1796 – 98) Presto Largo e mesto Menuetto. Allegro Rondo. Allegro Pause Franz Schubert 1797 – 1828 Sonate für Klavier a-Moll op. post. 143 D 784 (1823) Allegro giusto Andante Allegro vivace Franz Schubert Moments musicaux op. 94 D 780 (1823 – 28) für Klavier Nr. 1 C-Dur. Moderato Nr. 2 As-Dur. Andantino Nr. 3 f-Moll. Allegro moderato Nr. 4 cis-Moll. Moderato Nr. 5 f-Moll. Allegro vivace Nr. 6 As-Dur. Allegretto – Trio 2 ZU DEN WERKEN Der vermischte Geschmack – Johann Sebastian Bachs Partita B-Dur BWV 825 »Ein Klavier, ein Klavier«, heißt es in einem berühmten TVSketch von Loriot. Jeder weiß sofort, was damit gemeint ist. Anfang des 18. Jahrhunderts bezeichnet dieser Begriff jedoch ganz verschiedene Tasteninstrumente wie Cembalo, Spinett, Virginal, Klavichord und sogar Orgel. Wie der Klang erzeugt wurde, ob durch Zupfen beziehungsweise Anschlagen der Saiten oder einen Luftstrom in Pfeifen, war zunächst zweitrangig. Hauptsache das Instrument wurde über Tasten bedient (von lateinisch »claves« für Schlüssel oder Riegel). Johann Sebastian Bach verwendete die berühmte Sammelbezeichnung Clavierübung erstmals für seine sechs Partiten BWV 825 bis 830, die er 1731 im Eigenverlag als »Opus 1« drucken ließ. Er übernahm die Wortschöpfung offenbar von seinem Leipziger Amtsvorgänger Johann Kuhnau, der mit seinen gleichnamigen Klavierbüchern 1689 regelrechte Bestseller vorgelegt hatte. Auch die monatlich publizierten Clavir Früchte des Kollegen Christoph Graupner mögen ein Ansporn für Bach gewesen sein, sich auf diesem Gebiet zu beweisen. Klaviermusik für den Hausgebrauch und zu Studienzwecken war damals gefragt. Bach wollte zeigen, dass er auf diesem Gebiet zu den führenden Musikern seiner Zeit gehörte. Insgesamt vier Bände Clavierübungen publizierte er bis zu seinem Tod. Die Partiten verfasste Bach als frisch ernannter Thomaskantor, sie folgen unmittelbar den Englischen und den Französischen Suiten. Solche Tanzfolgen galten – wie später die Sonate – als wichtigste Musik für Klavier spielende Dilettanten. Der Erstdruck nennt ausdrücklich die »Liebhaber« als Adressaten der Werke. Ihnen sei diese Clavierübung »zur Gemüths Ergoetzung verfertigt«, so das Titelblatt. Allerdings: Die Werke erwiesen sich für musikalische Laien dann doch als zu anspruchsvoll. So berichtete die Frau des Dichters Johann Christoph Gottsched, nachdem sie die neuen Stücke ausprobiert hatte, die Partiten seien »ebenso schwer als sie schön sind. Wenn ich sie zehnmal gespielet habe, scheine ich mir noch immer eine Anfängerin darinnen.« 3 Für seine neue Serie wählte Bach den deutsch-italienischen Begriff Partiten. Dieser taucht als Bezeichnung verschiedener Drucke der Zeit vor allem für eine außerhöfische, also bürgerliche Musik auf. Zwar orientieren sich diese Werke noch am strengen Grundaufbau der aus Tänzen bestehenden Suite, doch weisen sie mit neuen Formmodellen und einer unglaublichen Gestaltungsvielfalt bereits in Richtung Charakterstücke wie sie auch Jean-Philippe Rameau gerne schrieb. Darin wie in der Verschmelzung von italienischen und französischen Stilelementen im Sinne des »vermischten Geschmacks« steckt die Bedeutung dieser Sammlung. Bereits der erste Bach-Biograf Johann Nikolaus Forkel lobte: »Dieses Werk machte zu seiner Zeit in der musikalischen Welt großes Aufsehen; man hatte noch nie so vortreffliche Clavierkompositionen gesehen und gehört.« Die erste Partita B-Dur BWV 825 erschien bereits 1726 separat im Druck. An ihr erstaunt die Auflösung der Melodielinie mittels Verzierungen, die der Musik einen galanten Zug verleihen, so bereits im dreistimmig angelegten Praeludium. Dabei wechselt das verschnörkelte Thema geschickt zwischen Diskant und Bass. Von dem gemäßigten Typus des stilisierten deutschen Tanzes entfernt sich die folgende Allemande. Sie ist nicht nur entsprechend der italienischen Spielart beschleunigt, sondern nutzt in ihren zerlegten Akkordpassagen auch den in Frankreich beliebten »Style brisé«. Auf engstem Raum finden sich so verschiedene nationale Eigenheiten, wobei als deutsche Tugend der konstruierte Unterbau gelten kann: Dieser findet sich etwa in der Gegenüberstellung von triolischer Ober- und punktierter Unterstimme in der rhythmisch vertrackten Corrente. Als konzertant ausgeschmückte Arie ist die Sarabande gestaltet, danach werden zwei gegensätzliche Menuette als zeitgemäße »Galanterien« eingeschoben. Kuriosum der Suite ist freilich die abschließende Giga, ein pointiert-minimalistisches Charakterstück, dessen sich rasant überkreuzende Pianistenhände auf Rameaus Suitensatz Les C ­ yclopes aus den Pièces de Clavessin (1724) verweisen. 4 Das aufstrebende Genie – Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 7 D-Dur op. 10 Nr. 3 Mit seinen 32 Klaviersonaten hat Ludwig van Beethoven die Gattung in alle erdenkliche Richtungen ausprobiert und dadurch auch erschöpft. Auf nachfolgende Generationen wirkte das geradezu erschlagend. Kein zweiter Komponist widmete sich nach Beethoven so häufig der Klaviersonate, denn für viele war hier bereits alles gesagt. Kühn voranpreschend sind bereits drei Werke, die der junge Beethoven 1798 unter der Opuszahl 10 veröffentlichte. Damals gehörte er zu »den besten Klavierkomponisten und Spielern unserer Zeit«, bemerkte ein Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung in einer ausführlichen Besprechung des folgenden Jahres. Die »Fülle von Ideen«, so bemängelte er allerdings, veranlasse dieses »aufstrebende Genie« jedoch, »Gedanken wild aufeinander zu häufen und sie mitunter vermittelst einer bizarren Manier dergestalt zu gruppieren, dass dadurch nicht selten eine dunkle Künstlichkeit oder eine künstliche Dunkelheit hervorgebracht wird, die dem Effekt des Ganzen eher Nachteil als Vortheil bringt.« Diese Kritik macht deutlich, wie modern Beethovens Werke auf die Zeitgenossen wirkten. Es gab für sie einfach kein Vorbild. Ratlos und staunend wurden die Hörer mit dieser Musik konfrontiert. Extrem in ihren Gesichtern ist die dritte Sonate D-Dur aus op. 10, das pianistisch wirkungsvollste Stück der Sammlung. Im kurzatmigen Presto eilt der Kopfsatz dahin. Die stürmische Aufeinanderfolge der Themen und Motive gleicht eher einem brillanten Schlusssatz als dem geordneten Einstieg in eine Sonate. Staccato-Läufe werden gegen geschlossene Melodien gesetzt, spitze Einzeltöne gegen kraftvolle Oktaven. In turbulenter Spielmanier werden so ganz unterschiedliche Register der damaligen Hammerflügel ausgekostet, den Vorläufern des heutigen Konzertflügels. Neugierde und Experimentierlust ist aus dem Stück herauszulauschen. Pure Ausdrucksmusik, von melancholischen Stimmungen durchzogen, ist das nach d-Moll gerückte Largo e mesto an 5 zweiter Stelle. Es klingt wie ein Reflex auf jene Empfindsamkeit, die auch die Musik im Anschluss an die Literatur des späteren 18. Jahrhunderts nachhaltig prägte. Im Mittelteil treten erhabene Momente in der Art eines Trauermarsches hinzu. Es kommt zu schmerzerfüllten Dissonanzen. Ganz am Ende drängt das Thema aus Basstiefen hervor, getragen von rauschenden Begleitfiguren. Ähnlich suggestiv haben erst wieder Chopin oder Liszt komponiert. Das graziöse Menuetto und auch das Schluss-Rondo setzen danach wieder auf das spielerische Moment, doch vor allem im Finale durchkreuzen stockende Pausen, Trugschlüsse und groteske Chromatik die Musizierfreude. Der 28-jährige Beethoven biegt sich den vom Lehrer Joseph Haydn übernommenen Humor gekonnt um und präsentiert sich als pianistischer Vordenker. Der ungewöhnliche Klang – Franz Schuberts Klaviersonate a-Moll D 784 Sich neben Beethoven in Wien zu behaupten, war für jeden Komponisten eine Herausforderung. Auch der junge Franz Schubert hatte damit seine liebe Not. Wer konnte diesem Titan noch etwas Gleichwertiges zur Seite stellen? Den eigenen Weg vertraute er am 16. Juni 1816 seinem Tagebuch an. Anlass war das 50-jährige Dienstjubiläum seines Lehrers Antonio Salieri in Wien, der einst auch Beethoven unterrichtet hatte. Darin sagt sich Schubert von dessen häufig nachgeahmter »Bizarrerie« frei, »welche bey den meisten Tonsetzern jetzt zu herrschen pflegt, u. einem unserer größten deutschen Künstler [also Beethoven] beynahe allein zu verdanken ist, von dieser Bizarrerie, welche das Tragische mit dem Komischen, das Angenehme mit dem Widrigen, das Heroische mit Heulerey, das Heiligste mit dem Harlequin vereint, verwechselt, nicht unterscheidet – den Menschen in Raserey versetzt statt in Liebe auflöst – zum Lachen reizt, anstatt zum Gott erhebt«. Egal ob hier nun eher Vokalkompositionen gemeint sein mögen oder nicht. Die Aussagen treffen ebenso für Schuberts Klaviermusik zu, die in vielerlei Hinsichten derjenigen Beethovens diametral gegenübersteht. 6 In der von Franz Liszt gerühmten Wandererfantasie hatte Schubert sein virtuoses Temperament offenbart. Die folgende Klaviersonate a-Moll D 784 von 1823 taucht nun in eine poetische Klangwelt ein. Der suchende Anfang gehört zu seinen eigenwilligsten Einfällen. Der Tonsatz lässt bisweilen an einen Orchesterauszug denken. Aus dem Unisono-Beginn löst sich eine einsame Melodie, dann leiten raunende Tremoli eine Art massiven TuttiBlock ein. Die Nähe zu seinen Sinfonien, besonders zur parallel konzipierten Unvollendeten, ist an vielen Stellen spürbar. Die Abschnitte sind oft unterschiedlich ›registriert‹ (häufige Lagenwechsel der Pianistenhände) und setzen auf extreme dynamische Kontraste. Man hört schimmernde Streichermelodien, filigrane Holzbläsersätze, kräftige Bläserakkorde, Paukenakzente. Hinzu kommt eine Reduktion der musikalischen Substanz, die den Musikwissenschaftler Andreas Krause sogar an eine »Kompositionsetüde« denken lassen. Hervorstechend außerdem die raffinierte Metrik. Ein absolut ungewöhnlicher Sonatenbeginn. Mittelstück dieser dreisätzigen Sonate ist ein episches, fantasieartiges F-Dur-Andante. Aus der sonoren Anfangspassage heraus entsteht ein in irisierendes Licht gesetztes Musikstück. Auch darin komponiert Schubert ziemlich orchestral, entlockt dem Flügel unentdeckte Farbwerte. Die Melodiestimme entgleitet in ferne Höhen, am Ende wirken zahlreiche Triller gar barockisierend. Ebenso erinnert das Finale mit seinen hellen Triolenläufen zunächst an Klaviermusik des 18. Jahrhunderts oder auch an eine Etüde. Doch sogleich wird kraftvoll in die romantische Zeit geschwenkt. Ungewöhnlich die Form dieses Allegro vivace in seiner Mischung aus Sonatensatz, Rondo und Menuett-Trio. Das zweite Thema ist unüberhörbar verwandt mit dem wenig später entstandenen Deutschen Tanz D 790 Nr. 1. In vielerlei Hinsicht entpuppt sich diese Sonate als Pionierwerk in einer vielschichtigen Stilistik. Der neue Weg des Klavierkomponisten Schubert war damit gefunden. 7 Der musikalische Augenblick – Franz Schuberts Moments musicaux op. 94 D 780 Vielleicht erklingen in heutigen Konzerten zu selten alle sechs von Schuberts Moment musicaux. Gleichwohl gehört der Zyklus zu seinen bekanntesten. Die dritte Nummer wanderte als »Air russe« sofort in die Hausmusik-Sammlungen populärer Pianostücke und wird bis heute gerne als Zugabe gespielt. Der für ambitionierte Klavierschüler zu meisternde Anspruch und der griffige Titel (Moments musicaux = musikalische Augenblicke) bescherten dem Zyklus einen Verkaufserfolg. Zu Schuberts Zeiten war neben der dritten auch die sechste Nummer sehr beliebt – sie bekam den pittoresken Beinamen »Plaintes d’un Troubadour« (Die Klagen eines Troubadours). Unter diesen Titeln waren beide Stücke bereits einzeln 1823 und 1824 in Sammelbänden des Wiener Verlegers Leidesdorf erschienen. In der kompletten Ausgabe aus Schuberts Todesjahr 1828 verzichteten die Herausgeber auf diese Beinamen. Die Stücke wurden nun in zwei Hefte unterteilt und schlicht durchnummeriert. Wann genau sie komponiert wurden, ist nicht auszumachen. Es wird spekuliert, ob es sich um Studien oder Nebenprodukte der Klaviersonaten handeln könnte oder aussortierte Stücke der benachbarten Impromptus-Serien. Ein Meisterwerk ist bereits die Eröffnungsnummer C-Dur. Der markante ›Hornruf‹ – zunächst unisono vorgestellt – wandert in seine Bestandteile zerlegt durch verschiedene Tonstufen. Ungemein klangvoll der Mittelteil mit seiner fließenden Triolenbegleitung. Die Nr. 2 steht in der »Schubert-Tonart« As-Dur, in der auch zwei seiner berühmtesten Impromptus stehen. Eine gewisse Nähe ist besonders zum populären Impromtu D 935 Nr. 2 auszumachen. Entsprechungen gibt es im gehenden AndantinoZeitmaß und der akkordisch weichen Einbettung der Melodie. Zwei Mal unterbricht ein traurig singendes fis-Moll-Thema die Anfangsmelodie, beim zweiten Auftritt wirkungsvoll intensiviert. Das erste Heft beschließt das erwähnte »Air russe«, eine sofort einprägsame Marsch-Melodie in f-Moll. Dafür sorgen charmante Vorschläge und eine federnde Staccato-Begleitung der linken 8 Hand. Auch dieses Stück ist bis zur Dur-Auflösung in der Coda überaus raffiniert. Das zweite Heft der Moments musicaux beginnt mit einem cisMoll-Stück, das auch in Bachs Wohltemperierten Klavier als Präludium seinen Platz hätte – hier schließt sich also der Kreis zur Anfangs von Grigory Sokolov gespielten Partita. In den Rahmenteilen herrscht strenge Zweistimmigkeit. Der Mittelteil ist Wienerischer, setzt den Akzent keck auf die Taktmitte und verschleiert dadurch das Metrum. Es schließt sich als Nr. 5 ein ›Galopp‹ in f-Moll an. Vollgriffige Passagen wechseln mit harmonischen Irrfahrten und einem majestätischen Dur-Schluss. Die lange Schlussnummer schließlich ist ein mit seufzenden Vorhalten gespickter, akkordisch fülliger Gesang. Er ist reich harmonisiert und kostet auch die tiefe Lage des Klaviers schön aus. Erneut nutzt dieses Moment musicaux die »Schubert-Tonart« As-Dur mit ihrer charakteristischen Helldunkel-Stimmung, der Mittelteil wirkt wie ein Hoffnung spendender Choral in Des-Dur. Der ganze Epilog ist ohne Zweifel ein Klagegesang. Ob nun der eines Troubadours – wie der Erstdruck meinte – sei einmal dahingestellt. Schubert galt schon damals als Liederfürst und konnte auch ohne Worte die Herzen erwärmen. Matthias Corvin 9 Wirklich russisch? – Ein Nachschlag zu Schuberts Moment musicaux D 780 Nr. 3 Die Frage liegt einfach auf der Hand: Was an Schuberts »Air russe« (Moment musicaux D 780 Nr. 3) ist bitteschön russisch? Das Stück wurde so betitelt erstmals 1823 beim Wiener Verlag Sauer & Leidesdorf publiziert – ob mit Schuberts Einverständnis ist nicht bekannt. Der Musikwissenschaftler Walther Dürr behauptet zwar im Vorwort der Neuen Schubert-Ausgabe, diese Bezeichnung gehe »vermutlich auf den Komponisten selbst zurück«. Allerdings ohne schlüssige Beweise. Ein solcher Titel lag damals in der Luft. Wenige Jahre zuvor hatte Beethoven nationale Volkslieder bearbeitet und zwar in einer Sammlung Variationszyklen op. 107 für Klavier sowie Flöte oder Violine ad libitum (1820). Dort gibt es zwei russische beziehungsweise ukrainische Melodien. Die zweite (Nr. 7) als »Air russe« bezeichnet, steht in Moll und wie bei Schubert im 2/4-Takt. Hier sind es Tonrepetitionen und Kurzgliedrigkeit, die den russischen Charakter ausmachen. Dieses Volkslied »Schöne Minka« stammt aus der russischen Volksliedsammlung von Ivan Prác, die 1815 neuaufgelegt wurde. Schuberts Melodie ist darin aber nicht zu finden. Vermutlich erkannte also erst der Verleger die Nähe zur slawischen Musik und wollte das Stück entsprechen vermarkten. Die Nachwirkung von Schuberts »Air russe« war so groß, dass sich der Pariser Klaviervirtuose Friedrich Wilhelm Kalkbrenner 1838 einem ausgedehnten Marche et air russe varié ebenfalls in f-Moll widmete. Für Verwirrung sorgt eine vom deutschen Pianisten und Pädagogen Max von Pauer 1928 für den Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel herausgegebene (und in der DDR bis zum Mauerfall nachgedruckte) Edition. Sie bezeichnet die Melodie eigenmächtig abweichend mit »a l’ongarese« (auf ungarische Art). Eine interessante These, denn der Einfluss der ungarisch-magyarischen Volksmusik wird in Schuberts Werken ja an vielen Stellen ganz konkret benannt – die der russischen sonst nicht. So populär das kurze Stück also ist, es gibt bis heute Rätsel auf. Matthias Corvin 10 WEITERHÖREN Rätsel-Welten in sechs Abschnitten – Diskographische Anmerkungen zu Schuberts Moments musicaux Schuberts Musik scheint uns so nahe und vertraut, und dennoch entzieht sie sich oft jeder Wahrscheinlichkeit. Obwohl sie so herzlich und unmittelbar wirkt, bleibt sie doch oft ein großes Rätsel. Sie führt uns sogar in die Irre. Einer der schwierigsten Fälle ist die Nummer sechs aus den Moments musicaux von Franz Schubert. Das Schlussstück ist mit Allegretto überschrieben. Ehedem hatte Schubert sogar den Titel Plaintes d’un Troubadour ausgewählt. Was aber ist mit diesem Allegretto gemeint? Was gibt den Puls vor? Ein ganzer Takt? Oder aber die wenigen Achtelnoten, die hier oft nur wie Bindeglieder eingesetzt werden? Schaut man sich die Diskographie genauer an, so gibt es schier unglaubliche Unterschiede. Svjatoslav Richter etwa braucht für diesen Satz 13 Minuten (Melodiya), Michael Krstick im Jahr 2010 sogar 14 (cpo). Dagegen ist ein Paul Lewis mit sechseinhalb Minuten vergleichsweise wie ein Sprinter unterwegs (harmonia mundi). Ihm ähnlich agiert in den 1930er Jahren Artur Schnabel, der wahrlich nicht als flüchtig-oberflächlicher Schubert-Interpret bekannt ist (Music&Arts). Vergleichbar heikel ist die Tempo-Frage im vierten Stück: Moderato. Spielt man diesen Satz eher zügig, wird er spieltechnisch sogar einfacher. Was aber ist mit dem Mittelteil? Grenzt man ihn ab, indem man ihn bedeutend langsamer nimmt? Im Trio der A-Dur-Sonate D 959 reduziert Schubert das Tempo deutlich, während er im gleichen Satz der B-Dur-Sonate D 960 in etwa das Tempo beibehält. In diesem Moment musical hat Schubert keine zusätzliche Spiel- und Tempovorgabe für uns parat. Darf man also den Mittelteil deutlich langsamer nehmen? Auch hier bietet die Aufnahmegeschichte genügend Beispiele. Valery Afanassiev etwa spielt 2010 diesen Satz anfangs eher verhalten, aber auch mit einer bewussten monochromen Ausrichtung (ECM), wogegen Maria João Pires 1988 dieses Moderato etwas zügiger wählt, gleichzeitig dynamisch variabler. Sie tastet sich beinahe vorsichtig lauernd in diesen Satz, um dann peu-à-peu immer mehr auf ein entschlossenes Forte zuzusteuern (DG). Martin 11 Helmchen, ebenfalls nicht der Effekthascherei verdächtig, nimmt diesen Satz noch eine Spur zügiger, ohne jedoch zu rasen. Dennoch spiegelt sich in seinem Verständnis von »Moderato« eine gewisse Rast- und Ruhelosigkeit – auch das ein durchaus stimmiger, legitimer Ansatz (Pentatone classics). Die Aufnahmegeschichte dieser sechs Moments musicaux ist lang und bunt. Man begegnet so manchem Schubert-Verehrer wie Wilhelm Kempff (DG), Alfred Brendel (Philips) oder Mitsuko Uchida (beide Philips), die übrigens das »Moderato« in Nr. 4 eher versonnen-zurückhaltend nimmt und keineswegs von Rastlosigkeit getrieben – und im Forte klingt ihr Spiel weniger auflehnend, weltkämpferisch. Auch David Fray hat sich in seiner bislang eher schmalen Diskographie intensiv mit Schubert auseinandergesetzt. Seine Deutung der Moments von 2009 (Warner) verrät seine Vorliebe für ein eher weiches, aber nie wattiges Schubert-Klangbild. Er bewegt sich durch die leisen und sehr leisen Welten mit einer Sicherheit, die staunen macht. Schubert als Meister der Schattierungen, der Zwischentöne und, natürlich, als Meister der gesungenen Linien. Evgeny Koroliov (Tacet, 1994), Edwin Fischer (Testament), Yves Nat (membran, 1952), Tzimon Barto (Capriccio), Gerhard Oppitz (hänssler, 2007), Imogen Cooper (Avie, 2009), Paul Badura-Skoda (Genuin) – man kann sich durch die Aufnahmegeschichte kreuz und quer bewegen; gerade bei diesen Miniaturen zeigt sich, wie unterschiedlich die Wege zu Schubert sein können. Man begegnet oft genug auch weniger bekannten Pianisten wie Peter Katin, Anthony Goldstone, John O’Conor, Daniel Blumenthal – sie alle haben es jedoch schwer, sich gegen die zuvor Genannten zu behaupten. Keine Schubert-Diskographie, ohne dass nicht zumindest die Einspielungen von Ingrid Haebler mit ihrer ganzen Klang-Grazie (Philips), Clifford Curzon mit seiner Zielgerichtetheit (Decca) und Radu Lupu mit seiner Neigung zum sanften Eindunkeln, aber auch mit dem leuchtenden f-Moll-Tänzchen (Decca) genannt werden. Erstaunlich mager nimmt sich bislang die Auswahl unter den Einspielungen auf einem Hammerflügel aus: Jan Vermeulen hat die Moments 2008 auf einem Instrument von Nannette Streicher 12 aus dem Jahr 1826 (Etcetera) aufgenommen, und erst vor wenigen Wochen wurde András Schiffs zweite diskographische Auseinandersetzung mit diesen Werken veröffentlicht. Nachdem er sich 1990 für einen modernen Bösendorfer entschieden hatte (Decca), zeigt er nun auf Brodmann-Flügel, Baujahr ca. 1820, wie diese Musik auf einem Instrument der Schubert-Zeit klingen kann. Im Beiheft schreibt Schiff: »In seinem Timbre hat es etwas typisch Wienerisches, eine sanfte, melancholische Gesanglichkeit.« Stimmt. Dieser Flügel kann aber auch dunkel brodeln und hell singen, vor allem aber: Er deckt eine, für die damalige Zeit, enorme dynamische Bandbreite ab. So beginnt diese Musik ganz anders zu leuchten (ECM). Christoph Vratz 13 BIOGRAPHIEN Grigory Sokolov »Für mich ist der Flügel ein gleichwertiger Partner mit eigenem Charakter, und wir müssen eine gemeinsame Sprache finden.« Grigory Sokolov, Fono Forum, Februar 2015 Grigory Sokolov ist zweifelsohne einer der größten Pianisten unserer Tage. Anti-Star par excellence, zurückhaltend und fern von Exzentrik und Glamour, wird Sokolov heute von einer begeisterten und geradezu frenetischen Anhängerschaft gefeiert. Die internationale Kritik rühmt besonders die unendliche Tiefe seiner musikalischen Welt, seine absolute technische Kontrolle sowie die immer wieder überraschende Originalität seiner Interpretationen. In Leningrad geboren, begann Grigory Sokolov das Klavierstudium als Fünfjähriger. Schon im Alter von sechzehn Jahren erregte er internationale Aufmerksamkeit, als er den Ersten Preis des Tschaikowsky-Wettbewerbs in Moskau gewann. In all den Jahren seiner Karriere war Grigory Sokolov in den wichtigsten Konzertsälen der Welt zu Gast und er blickt auf eine 14 Zusammenarbeit mit bedeutenden Orchestern wie dem London Philharmonic, dem Königlichen Concertgebouworchester Amsterdam, dem New York Philharmonic, den Münchner Philharmonikern, den Wiener Symphonikern, dem Montreal Symphony Orchestra, dem Orchestra del Teatro alla Scala und den Philharmonikern in Moskau und St. Petersburg zurück. Über 200 Dirigenten sind Sokolov während seiner Laufbahn begegnet, darunter Myung-Whung Chung, Valery Gergiev, Herbert Blomstedt, Neeme Järvi, Sakari Oramo, Trevor Pinnock, Andrew Litton, Walter Weller sowie Moshe Atzmon. Vor einigen Jahren hat Grigory Sokolov beschlossen, sich ausschließlich auf Soloabende zu konzentrieren. Er gehört inzwischen zu den wenigen Pianisten, die von den großen europäischen Konzertsälen regelmäßig jede Saison eingeladen werden. Im Sommer 2014 gastierte Grigory Sokolov u. a. beim Kissinger Sommer, beim Schleswig-Holstein Musik Festival, beim Rheingau Musik Festival, beim Klavier-Festival Ruhr, bei den Salzburger Festspielen und beim Verbier Festival. Während dieser Saison ist bzw. war der Künstler in Deutschland wieder in der Berliner Philharmonie, im Herkulessaal München, in der Laeiszhalle Hamburg, in der Kölner Philharmonie, der Alten Oper Frankfurt, im Festspielhaus Baden-Baden, in der Liederhalle Stuttgart, im Gewandhaus Leipzig sowie erneut beim Heidelberger Frühling zu Gast. Bei uns war Grigory Sokolov zuletzt im April vergangenen Jahres zu hören. 15 KölnMusik-Vorschau April Mai DO fr 30 01 20:00 20:00 Maifeiertag New York Philharmonic Alan Gilbert Dirigent ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln Anne Sofie von Otter Mezzosopran Russell Braun Bariton Igor Strawinsky Pétrouchka Burleske in vier Bildern für Orchester New York Philharmonic Alan Gilbert Dirigent Maurice Ravel Valse nobles et sentimentales für Klavier. Bearbeitung für Orchester Esa-Pekka Salonen Nyx für Orchester Richard Strauss Suite aus der Oper »Der Rosenkavalier« für Orchester Béla Bartók Der wunderbare Mandarin Sz 73 op.19 Konzertsuite für Orchester Gefördert durch das Kuratorium KölnMusik e.V. Peter Eötvös Senza sangue Oper in einem Akt für zwei Sänger und Orchester nach der gleichnamigen Novelle von Alessandro Baricco Kompositionsauftrag von KölnMusik und New York Philharmonic Uraufführung Internationale Orchester 5 19:00 Einführung in das Konzert durch Stefan Fricke 17 MO MI 06 04 20:00 20:00 ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln Schola Heidelberg Klaus Florian Vogt Tenor Matthias Goerne Bariton Ensemble Modern Orchestra Ingo Metzmacher Dirigent Wiener Philharmoniker Daniel Harding Dirigent Porträtkonzert Louis Andriessen 1 Olga Neuwirth Masaot / Clocks without Hands für Orchester Kompositionsauftrag der KölnMusik, Wiener Festwochen, Wiener Konzerthaus und Carnegie Hall Uraufführung Michael Gordon No Anthem für Ensemble Kompositionsauftrag von ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln finanziert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung Uraufführung Gustav Mahler Das Lied von der Erde für Tenor, Bariton und Orchester Louis Andriessen De Snelheid (Velocity) für großes Ensemble KölnMusik gemeinsam mit der Westdeutschen Konzertdirektion Köln De Staat für vier Frauenstimmen und großes Ensemble 19:00 Einführung in das Konzert durch Tilmann Claus DI 05 21:00 ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln Susana Baca voc Ana Tijoux voc In Zusammenarbeit mit c/o pop Unterstützt durch die DEG – Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH 20:00 Einführung in das Konzert durch Jochen Voit 18 Das Kleine Wiener 2 Köln-Zyklus der Wiener Philharmoniker 4 Dienstag 26. Mai 2015 20:00 Hélène Grimaud Klavier Seit 13 Jahren ist Hélène Grimaud regelmäßig zu Gast in Köln und beweist ihre Klasse als leidenschaftliche, ausdrucksstarke Musikerin, die neben CD-Aufnahmen und ausgedehnten Konzertreisen noch Zeit und Energie findet, sich für Menschenrechte und den Naturschutz zu engagieren und daneben noch Bücher schreibt. Ihr neues Buch »Das Lied der Natur« handelt von einer Spurensuche zu Johannes Brahms, dessen Sonate für Klavier Nr. 2 fis-Moll sie im zweiten Konzertteil spielen wird. Um 19 Uhr hält Christoph Vratz eine Einführung in das Konzert. Werke von Berio, Takemitsu, Fauré, Ravel, Albéniz, Liszt, Janáček, Debussy und Brahms Foto: Deutsche Grammophon/Mat Hennek Philharmonie-Hotline 0221 280 280 ­koelner-­philharmonie.de Informationen & Tickets zu allen Konzerten in der Kölner ­Philharmonie! Kulturpartner der Kölner Philharmonie Herausgeber: KölnMusik GmbH Louwrens Langevoort Intendant der Kölner Philharmonie und Geschäftsführer der KölnMusik GmbH Postfach 102163, 50461 Köln ­koelner-­philharmonie.de Redaktion: Sebastian Loelgen Corporate Design: hauser lacour kommunikationsgestaltung GmbH Textnachweis: Die Texte von Matthias Corvin und Christoph Vratz sind Original­­­ beiträge für dieses Heft. Fotonachweise: Heike Fischer S. 14 Gesamtherstellung: adHOC ­Printproduktion GmbH Mittwoch 6. Mai 2015 20:00 Olga Neuwirth Masaot / Clocks without Hands (2013 – 14) für Orchester Kompositionsauftrag von KölnMusik, Wiener Festwochen, Wiener Konzerthaus und Carnegie Hall Uraufführung koelner-philharmonie.de 0221 280 280 Foto: Julian Hargreaves Gustav Mahler Das Lied von der Erde (1908 – 09) für Tenor, Alt/Bariton und Orchester Klaus Florian Vogt Tenor Matthias Goerne Bariton Wiener Philharmoniker Daniel Harding Dirigent