MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES DENKEN

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HINFÜHRUNG
MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES
DENKEN
Stellen Sie sich Folgendes vor.
Ein großes, auf Philosophie, Theologie und Religionsgeschichte spezialisiertes Verlagshaus, organisiert für seine
Autoren eine Kreuzfahrt im Mittelmeer... oder wo immer es
Ihnen gefallen würde!
Das Programm umfasst für die Zeit an Bord einige Vorträge
zum sehr offenen Thema „Die Zukunft der Religionen“; und wo
das Schiff anlegen wird, werden Städtebesichtigungen
angeboten. Der eigentliche Sinn dieser kulturellen Kreuzfahrt
besteht jedoch darin, den Meinungsaustausch zu fördern, die
interdisziplinäre Forschung anzuregen, und in Gruppen, deren
Arbeiten später einmal publiziert werden könnten, Gedankenaustausch zu pflegen.
Zudem steht den Teilnehmern viel Freizeit zur Verfügung, um
sich, ihrem Interesse an dieser oder jener gedanklichen
Auseinandersetzung folgend, außerprogrammlich zu treffen.
Bei seiner Ansprache zur Begrüßung hatte der Leiter dieser
kulturellen Kreuzfahrt verschiedene Themen vorgeschlagen:
Soziale Einrichtungen der verschiedenen Religionen.
Antike und moderne religiöse Mythen.
Die religiöse Archäologie im Mittelmeerraum.
Die ägyptischen und mesopotamischen Quellen der Bibel.
Die Entstehung des Christentums und des rabbinischen
Judentums.
Die Buchreligionen! „Welches Buch?“
Die Religionen in der naturwissenschaftlichen und
technischen Welt.
Religiöse Moralsysteme und die Moral der Menschenrechte.
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DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Die Religionen und Gott.
Glaube und Vernunft: ihr Wesen und ihre Geschichtlichkeit.
[...]
Die Teilnehmer können auch andere Themen vorschlagen,
unterstrich der Leiter der Kreuzfahrt... und machte noch darauf
aufmerksam, dass sich einige Themen überschneiden und
zusammengelegt werden könnten. Die Einteilung der Gruppen
ist den Teilnehmern überlassen... Jeder darf sich einer oder
mehreren Werkstätten anschließen.
Im großen Empfangssaal des Passagierschiffs kam schnell ein
erster ungezwungener Austausch zustande; durch Gruppenleiter
unaufdringlich angeregt. Diese alles offen lassende Anleitung
hätte zwangsläufig zum Chaos geführt, wären die Teilnehmer
nicht dermaßen kultiviert und motiviert gewesen...
DAS NEBENEINANDER DER DREI MONOTHEISTISCHEN RELIGIONEN
IST EIN REINER SKANDAL FÜR DIE VERNUNFT
Eine erste Gruppe bildete sich also, um kritisch über die
jeweiligen Vorstellungen von Glauben und Offenbarung in den
monotheistischen Religionen nachzudenken. Jede von ihnen
beruft sich durch ihren Gründer auf das eine archaische Urbild
des Glaubens: Abraham. Das Judentum macht sich dieses Urbild
durch Mose zu eigen, das Christentum durch Jesus und der
Islam durch Mohammed. Dieser kurze geschichtliche Abriss
wirft für jeden, der sich nicht ausschließlich innerhalb der
religiösen Überzeugungen seiner Gemeinschaft bewegt, einige
ernstzunehmende philosophische Fragen auf bezüglich:
1°) der Einmaligkeit Gottes und der Einmaligkeit des Ideals
des Gläubigen,
2°) der Verschiedenheit der Offenbarungen: Drei – mit
vielfältigen auseinanderstrebenden Verzweigungen – die jeweils
die Natur Gottes und die menschliche Existenz betreffen,
3°) des Universalitätsanspruchs einer jeder von ihnen.
Mit seiner inneren Widersprüchlichkeit fordert dieser religiöshistorische Tatbestand die menschliche Vernunft, die stets um
Kohärenz bemüht ist, zu einer dreifachen Überlegung heraus.
Erstens bezüglich des Glaubens, einer Haltung, die in den
Religionen in der Gestalt Abrahams greifbar wird; zweitens
bezüglich der Offenbarung, die von den Religionen auf
verschiedene Weise konkretisiert wird, nämlich (a) im Judentum
durch die biblischen Texte, (b) im Christentum in einer durch
MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES DENKEN
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das Zeugnis der Evangelien bekannten Person; (c) im Islam
durch „den Koran“, ein rezitiertes Diktat. Drittens auch
bezüglich der Untersuchung der Universalität der Botschaft, die
sie unterbreiten.
Nun ist aber die philosophisch denkende menschliche
Vernunft selbst nicht kohärent gegenüber der erschütternden
Verschiedenheit der Monotheismen. Stattdessen ist sie wie
durch Lichtbrechung in verschiedene Philosophien aufgeteilt.
Diese innere Unstimmigkeit kann wiederum nur ihre
Ratlosigkeit gegenüber der durch die Verschiedenheit der
Monotheismen hervorgebrachten Unstimmigkeit vertiefen.
Natürlich sind nicht alle Menschen in der Lage, diese
zweifache Unstimmigkeit wahrzunehmen. Es gibt erstens
diejenigen, die die innere Sensibilität für eine Wahrheitssuche
betreffs der Natur des Glaubens, der Offenbarung und deren
jeweiligen Universalitätsansprüchen verloren haben, weil sie
sich ganz und gar auf die Glaubensüberzeugungen ihrer
jeweiligen Gruppe einschränken und begrenzen. Das, was an
ihren Glaubensinhalten wahr sein könnte, wird weder formal als
Wahrheit erkannt noch vom dem, was daran irrig ist,
unterschieden. Sie behaupten die Wahrheit der Ganzheit ihrer
Glaubensinhalte, Irrtümer inbegriffen. Dann gibt es jene, die
dafür unempfänglich sind wegen fehlender Bildung oder aus
Mangel an Fähigkeit zu philosophischen Überlegungen, die ja
tatsächlich intellektuell sehr anspruchsvoll sind und viel Zeit
fordern. Man kann also niemandem vorwerfen, er komme damit
nicht ausreichend voran, genauso wenig, wie man die nicht
wahrgenommene
und
sogar
bequeme
intellektuelle
Gefangenschaft in den religiösen Überzeugungen einer Gruppe
als Fehler anrechnen kann. Man kann diese Tatsachen nur
bedauern oder beklagen, und eine Hilfe anbieten, die
demjenigen, der gut daran täte, sie anzunehmen, oft lächerlich
erscheinen mag.
DIESER SKANDAL KANN DURCH EINE KRITIK DER REINEN
GLAUBENDEN VERNUNFT ÜBERWUNDEN WERDEN
Die erste so gebildete Gruppe stellt sich also einer zweifachen
Herausforderung: eine reflexive philosophische Kohärenz
erarbeiten – dies hat logische Priorität –, und in Folge darauf
auch eine epistemologische Kohärenz, die alle drei
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DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
monotheistischen Religionen deutet und in ihrer jeweiligen
objektiven Wirklichkeit betrachtet.
Was ist „glauben“? Warum und wie? Was glauben? Handelt
es sich um ein einfaches kulturelles Phänomen? Ist die
Wirklichkeitsweise des Glaubens zu vergleichen mit derjenigen
einer literarischen Mode, oder mit derjenigen einer besonderen
Sprache? Mit der Wirklichkeitsweise der menschlichen Sprache
an sich oder mit derjenigen des Denkens an sich?
Der Mensch ist ein „politisches Lebewesen“ und ein
„familiäres Lebewesen“, sagte Aristoteles. Aber seine
wirtschaftlichen und politischen Organisationen sowie auch die
konkreten Gestaltungsweisen seines Familienlebens sind oft
weit davon entfernt, seine Wünsche zu erfüllen. Die daraus
entstehenden Konflikte sind vielfältig. Sie vertiefen sein
Verlangen, anstatt es zu unterdrücken. Ist dies bei den
Religionen, diesen „Formen des Glaubens“ des „religiösen
Lebewesens“, genauso? Glaubt der religiöse Mensch immer auf
authentische Weise? Sicherlich nicht! Die Religionskriege,
angeblich heilig, oder eben antireligiös, sind ein klarer Beweis
dafür. Zeigt aber dieser verirrte Eifer nicht auch, dass die
Menschen in ihrem Innersten ein gewisses „Ideal des Glaubens“
haben, dessen Wurzeln bis ins Tiefste ihres wahrhaftigen und
unveränderlichen Seins reichen? Gut zu glauben ist genauso
wesentlich wie sich gut zu ernähren.
Ist der Mensch in seinem Wesen nicht wesentlich „ein
Glaubender“;
„ein
vertrauendes,
glaubenschaftliches
Lebewesen“? Ist glauben nicht das Eigentliche des Menschen?
Gewiss mindestens so sehr wie Mathematik betreiben, nach den
Gesetzen der Materie und des Lebens suchen, wie das
mannigfache Fragen nach seiner Existenz! Wenn „glauben“ also
ein lebendiger Seinsvollzug des menschlichen Bewusstseins ist,
dann muss es auch eine rationale, eine echte rationale
Methodologie geben, die für den „Glauben“ normativ ist. Der
Mensch ist also befähigt, über die Echtheit oder Abwegigkeit,
und auch über mögliche Verbesserungen seiner Glaubensüberzeugungen zu urteilen. Nun muss man sich dessen jedoch
bewusst werden! Das heißt allerdings nicht, dass jeder dies täte.
Schade! Aber diese Unzulänglichkeit ist ja so menschlich...
Eine philosophische Analyse der biblischen, evangelischen
und koranischen Form seines „menschlichen Glaubens“ ist also
möglich. Die innere Dynamik der biblischen und evangelischen
Glaubensformen verlangt dies sogar. Ihre Vergangenheit hat
MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES DENKEN
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sich bereits dafür geöffnet. Ein ähnliches methodologisches
Vorgehen kann auch auf den Islam angewendet werden. Aber
seine Vergangenheit ist dafür weitaus weniger empfänglich. Der
Islam meidet die Geschichtsforschung und philosophische
Kritik. Er beschäftigt sich lieber mit jenen Denkformen, die sich
nicht zur religiösen Dimension des Menschen äußern, wie etwa
die Mathematik oder jene Wissenschaften, die die Materie zum
Gegenstand haben. Aber dennoch ist der muslimisch glaubende
Mensch in erster Linie ein „Mensch“, und die Ansprüche seiner
menschlichen Vernunft werden sich eines Tages Geltung
verschaffen.
Eine zweite Gruppe fühlt sich zum Thema „Die Religionen
und Gott“ hingezogen. Die Teilnehmer würden allerdings diese
Überschrift gerne noch etwas genauer fassen, zum Beispiel:
„Der offenbarende Gott und die geschichtliche Entstehung der
religiösen Lehrmeinungen“.
Andere Gruppen haben sich eher psychologische oder
soziologische Gesichtspunkte ausgesucht. Alle gewählten
Richtungen und Themen ergänzen sich gegenseitig und können
einander bereichern. Auch steht es den Teilnehmern dieser
verschiedenen Arbeitsgruppen frei, sich bei den anderen
einzuschalten, so wie es sich aus dem Verlauf der Diskussionen
ergibt.
Nur auf eines kommt es bei diesem allgemeinen
Meinungsaustausch an: auf geistige Offenheit und das Suchen
nach der Wahrheit. Unsere Aufmerksamkeit soll nur den
Gedanken gelten.
Angenehme Lektüre!
ERSTE BEGEGNUNG
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER
REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
Nach einem oberflächlichen Kennenlernen unter Angabe der
Identitäten und beruflichen Tätigkeiten hatten die Teilnehmer
der ersten Gruppe um einen großen runden Tisch herum Platz
genommen... Christen, mehrheitlich Katholiken, einige
Protestanten, ein Jude, aber kein Muslim in dieser Gruppe...
(Man wird die aus den anderen Gruppen einladen...)
Ein kurzer Vortrag diente als Einleitung. Ein Soziologe
entwirft mit Humor vor dieser kleinen, aber vielseitigen
Zuhörerschaft ein sehr zutreffendes Bild der Probleme, auf die
die katholische Kirche stößt. Einige der Anwesenden sehen
darin eine düstere Diagnose, stillschweigend gutgeheißen, aber
im Innersten des Bewusstseins zum Teil auch abgelehnt oder
etwas differenziert. Andere erkennen darin einen Ausblick der
Hoffnung, allerdings mit vielen Unklarheiten: Hoffnung auf die
Wiederherstellung eines Glaubenslebens der althergebrachten
Art oder auf die erneuernde Vertiefung der evangelischen
Botschaft?
Der Initiator der Zusammenkunft dankt dem Vortragenden;
dann übergibt er die Verantwortung für die Debatte dem
Gruppenältesten: einem emeritierten Professor, einem
zurückhaltenden Menschen, der bekannt ist für seine gelehrten
Werke über die großen Philosophen der Geschichte.
„Ihre Kompetenz bestimmt Sie ganz selbstverständlich zum
Moderator dieser Gruppe“.
Danach fordert er die Teilnehmer auf, Beiträge zu leisten:
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DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
„Keine falschen Hemmungen! Stellt nicht nur Fragen,
sondern konfrontiert auch eure Meinungen, damit die
verschiedenen Vorstellungen sich gegenseitig erleuchten.
Unsere Kreuzfahrt hat gerade erst begonnen... Die nächste
Zusammenkunft findet diesen Nachmittag wieder in diesem
Raum statt... Die Termine für die folgenden Tage müssen Sie
selbst festlegen... Nun seid ihr unter euch... Viel Erfolg!
Der Leiter verlässt den Raum. Nun wendet sich der
Moderator, ein emeritierter Professor für Philosophiegeschichte,
an die Gruppe:
„Meine Damen und Herren, ich übergebe Euch das Wort... Sie
kennen das sehr offene Thema unserer Woche: „Glaube,
Vernunft und Offenbarung“. Müssen diese Worte im Singular
oder im Plural geschrieben werden? Haben sie für Sie dieselbe
Bedeutung? Welche Art von Tatsachen bilden ihren
Bedeutungsumfang? Wie fügen sie sich in unsere menschliche
Existenz ein, in unsere Familien und unsere Gesellschaft? Und
viele andere Fragen könnten hier aufkommen...“
DER KATECHISMUS DER KATHOLISCHEN KIRCHE
UND DIE THEOLOGISCHE FORSCHUNG
Stille. Ohne seinen Namen zu nennen, bricht EIN TEILNEHMER
das Schweigen:
Ich bin Architekt. Ich wüsste gerne, wie man über den neuen
Katechismus denken soll. Liege ich richtig in der Annahme,
dass er das Standardwerk zum katholischen Glauben ist? Ich
habe ihn zwar gekauft, muss aber eingestehen, dass ich ihn noch
nicht gelesen habe..., nur durchgeblättert. Und ich bin sicher
nicht der Einzige, dem es so geht! Ich erwarte, dass man ihn
allgemeinverständlicher darstellt... Warum nicht als Comic? ...
Und da die aktuelle Situation seine Lektüre nicht unabdinglich
macht, kann ich ja ruhig noch ein paar Jahre verstreichen
lassen … Immerhin habe ich aber seit seinem Erscheinen im
Jahr 1992 zahlreiche Kommentare im Fernsehen und Radio
angehört. Aus den Überschriften der Tageszeitung „Heute“ ging
hervor, dass er zum Zeitpunkt seines Erscheinens sogar in
kirchlichen Kreisen Diskussionsgegenstand und heftig
umstritten war! Was denkt ihr davon?
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
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DER SOZIOLOGE, nachdem er einen fragenden Blick auf die
Historiker, Philosophen und Theologen geworfen hat:
Ich sähe es gerne, wenn einer der hier anwesenden Priester –
ich zähle vier – auf diese Frage antworten würde. In der Tat,
wie Sie, kann ich als Soziologe lediglich feststellen, dass dieses
Dokument sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen hat.
In meiner einführenden Darstellung habe ich den Katechismus
erwähnt, insofern er einen Versuch darstellt, das Wesentliche
des katholischen Glaubens auf den Punkt zu bringen und zu
umreißen. Ich kann versuchen, einerseits die Art und
Wichtigkeit der befürwortenden Meinungen zu bewerten;
andererseits die Intensität des Widerstandes abzuschätzen. Aber
leider kann ich mich nicht zum Eigentlichen dieses Dokumentes
äußern, zu seinem theologischen Wert und seiner
philosophischen Stimmigkeit.
Ich möchte nur Folgendes feststellen – nichts Neues übrigens
–, dass das, was sich seit dem Erscheinen des „Katechismus des
Johannes Paul II“ abgespielt hat, eine kollektive Seinsweise
kennzeichnet, die für die katholische Kirche ziemlich typisch ist.
Auf der einen Seite haben wir eine zentralisierte Institution: die
Päpste und die römische Kurie mit einer ganzen Hierarchie von
Bischöfen; auf der anderen Seite christliche Denker,
Intellektuelle, Philosophen und Theologen von großer
Originalität. Zwischen beiden Seiten besteht eine dauerhafte
Spannung, so dass die zentrale Autorität – besorgt um strikte
Einheit in der Lehre – es noch nie geschafft hat, sich mit ihrer
Lehrautorität vollkommen durchzusetzen. Ihre Organe haben
doch zweifellos in der Kirche die „verwaltende Gewalt“ inne?
Diese hat gegenüber der Masse der Gläubigen eine Vormachtstellung inne, die aber gleichzeitig „zerbrechlich“ ist... nein, das
ist vielleicht nicht das richtige Wort... sagen wir „beeinflussbar“.
Beeinflussbar natürlich nicht in dem Sinn wie ein Schwamm,
sondern wie durch Osmose. Sie ist beeinflussbar durch die
weitverbreitete erfinderische Vitalität des christlichen Denkens.
Die Frohe Botschaft ist tatsächlich so etwas wie ein Sauerteig
der intellektuellen Erneuerung und der geistigen Befreiung. –
Ich denke, die hier anwesenden Historiker werden mir
zustimmen!
Ist auch die verwaltende Gewalt der Kirche, trotz ihrer selbst,
zur Weiterentwicklung gezwungen... gezwungen dazu, sich in
positiver und gerechtfertigter Weise weiterzuentwickeln?
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DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Natürlich... . Sie sagt ja von sich selbst, dass sie sich neuen
Wegweisungen, die ihr der Heilige Geist eingibt, fügen will.
Ich sehe eine umwölkte Stirn bei unserem Theologen! ... Ah,
sie glättet sich... Jetzt ist es ein wohlwollendes Lächeln...
Ist es, weil ich die Eingebung des Heiligen Geistes mit
denjenigen Ideen verglichen habe, an die sich die katholischen
Gläubigen seit langem gewöhnt haben?
DER ERSTE PRIESTER, ein Theologieprofessor an einem
katholischen Institut
Sagen wir, dass dies ein etwas voreiliger Vergleich war... Er
müsste genauer formuliert werden.
DER SOZIOLOGE ergreift wieder das Wort:
Um ihre Weiterentwicklung zu begründen, muss die
verwaltende Gewalt einer Religion – das lässt sich bei jeder
religiösen Organisation feststellen – einen Ansatz finden, der
ihrer selbstgegebenen religiösen Natur angemessen ist, und der –
im Fall der katholischen Gewalt – ihren unmittelbar göttlichen
Ursprung unterstreicht. Es ist Gott und niemand sonst der sie
leiten soll... Nicht die Gläubigen zeigen ihr den Weg... Ihre von
Christus empfangene Macht wird innerhalb der von Papst und
Bischöfen abhängigen Hierarchie weitergegeben. Diese Gewalt
kann mit einer demokratischen Auffassung, die vom Diesseits
und Weltlichkeit geprägt ist, also von einer Gesellschaft, die
sich deutlich von der Kirche unterscheidet, keine Kompromisse
eingehen.
Die kirchliche Redeweise sagt das „salbungsvoller“ als ich,
Soziologe der ich bin... Jedenfalls hat diese Erklärung den
Vorteil, dass sie Weiterentwicklungen der Lehre und Disziplin
zulässt. Das ist im Islam nicht der Fall. Für ihn ist der Koran
unantastbar, und seinen Vorschriften kann nicht widersprochen
werden, ohne dass dadurch die Offenbarung, deren Stimme
Mohammed ist, in Frage gestellt wird... Dort sind einzig und
allein „Auslegungen“ möglich.
Und ein Letztes... Wie auch immer man die Dinge formuliert:
Der Soziologe stellt in der katholischen Kirche eine dauerhafte,
über lange Sicht letztendlich verhältnismäßig ausgeglichene
Spannung fest, und zwar zwischen einerseits einer zentralen
Gewalt, die eine Lehre zusammenstellt und eine Lebensweise
regelt, und andererseits einer erneuernden Kraft, die in der
Gesamtheit der sozialen Körperschaft der Kirche aufblüht. Ich
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
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würde sogar sagen – so paradox es klingt – dass die
Zentralisierung im Falle der katholischen Kirche in ihren
Randregionen das erfinderische Potential der Gläubigen anregt.
Die Versuche, die christliche Botschaft zu fixieren und in starre
Formeln zu fassen, setzen sie in Wirklichkeit in Bewegung.
Warum? Es obliegt einem Theologen oder Philosophen, mir dies
zu erklären, wenn es wenigstens eine Erklärung gibt... Sie gehört
jedenfalls nicht mehr zu meinem Gebiet, der Soziologie. Aber
besteht sie vielleicht darin, dass die Grundausrichtung des
Christentums sich auf die Zukunft richtet und nicht nur eine
Nachbildung einer als endgültig angesehenen Vergangenheit ist,
wie im Islam... Aber andere werden vielleicht eine andere
Diagnose stellen... und andere Erklärungen geben.
Nach all dem, was ich gesagt habe, muss ich zugeben, dass
ich auf ihre Frage nicht in dem Maß, wie Sie es sicherlich
wünschten, geantwortet habe... Ich sehe, dass einer von uns, ein
Priester, zu Worte kommen will. Damit übergebe ich ihm das
Wort. Sicherlich sieht er die Dinge von einem anderen
Standpunkt aus als ich.
EIN ZWEITER PRIESTER, Domherr und Mitglied eines
Seelsorgeteams in einer großen Stadt, Autor zahlreicher
weitverbreiteter Werke
Wenn mein Theologenkollege vor einigen Augenblicken die
Stirn gerunzelt hat, dann war das auch deswegen, weil wir die
Gewalt des Papstes und der Bischöfe gewöhnlich nicht als
administrative Gewalt betrachten. In den modernen
demokratischen Staaten leben wir unter der Herrschaft der
Gewaltenteilung: der gesetzgebenden, der ausführenden und der
richterlichen Gewalt. Die administrative Gewalt ist allgemein
eine Verlängerung der ausführenden Gewalt. In der katholischen
Kirche kennen wir keine Gewaltenteilung, und während es wohl
administrative Organe und eine vatikanische Verwaltung gibt,
so hängen diese aber keineswegs von einer selbständigen
ausführenden Gewalt ab. Und außerdem: Wenn man von einer
„administrativen Gewalt spricht“, schildert man eine gegenüber
den anderen irgendwie geringere Gewalt, wie etwa die
gesetzgebende. Die „weltliche“ Terminologie lässt sich nicht in
angemessener Weise auf die kirchliche übertragen... Aber das ist
nun genug zu dieser Einzelheit.
Zurück zur Frage unseres Teilnehmers: „Was soll man vom
neuen Katechismus halten?“ Ich denke, dass in der
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DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
apostolischen Konstitution „Fidei depositum“, welche die
Veröffentlichung des Katechismus begleitet, Bausteine für eine
Antwort zu finden sind. Damals habe ich dazu eine kleine
Informationsbroschüre geschrieben.
Lesen wir darin: „Der Herr hat seiner Kirche die Aufgabe
anvertraut, das Glaubensgut zu hüten, und sie erfüllt diese
Aufgabe zu allen Zeiten.“ Das sagt uns Papst Johannes Paul II.
Im folgenden Abschnitt sagt er, dass Johannes XXIII dem
Konzil „ als Hauptaufgabe aufgetragen hatte, das kostbare Gut
der christlichen Lehre besser zu hüten und auszulegen... Daher
sollte das Konzil (...) sich in Gelassenheit vor allem um eine
klare Darlegung der Kraft und der Schönheit der Glaubenslehre
bemühen. “Die Absicht ist also klar. Zwanzig Jahre nach dem
Abschluss des Konzils hat eine Bischofssynode den folgenden
Wunsch formuliert: „Sehr einmütig wird ein Katechismus bzw.
Kompendium der ganzen katholischen Glaubens– und
Sittenlehre gewünscht, sozusagen als Bezugspunkt für die
Katechismen bzw. Kompendien, die in den verschiedenen
Regionen zu erstellen sind.“
Erlauben Sie mir ein letztes Zitat: „Der Katechismus der
katholischen Kirche (...) ist eine Darlegung des Glaubens der
Kirche und der katholischen Lehre, wie sie von der Heiligen
Schrift, der apostolischen Überlieferung und vom Lehramt der
Kirche bezeugt oder erleuchtet wird.“
Diese paar Zitate sagen im Grunde genommen alle dasselbe:
Der Katechismus ist eine durch den Papst gutgeheißene
Darstellung der Lehre des Glaubens der katholischen Kirche. Er
hat daher einen sehr hohen Stellenwert. Das ist meine kurze
Antwort auf Ihre Frage.
DER ARCHITEKT dankt dem Domherrn, stellt dann aber seine
Frage erneut:
Ihre Antwort, Herr Pfarrer, lässt mich ebenso unbefriedigt.
Der Soziologe kann mir weiter nichts bieten als eine Analyse
der durch das Werk hervorgerufenen Meinungsäußerungen und
Kommentare, aber er kann sich nicht zum Wert des
Katechismus äußern. Ich verstehe seine Reserviertheit und
Zurückhaltung als Wissenschaftler. Aber Sie, Herr Pfarrer, Sie
müssten ein Urteil über das Eigentliche fällen, doch sie tun
nichts weiter als die Meinung des Papstes, der dieses Werk
gutgeheißen hat, zu „wiederholen“. Vielleicht hat er ja recht!
Weiß ich nicht... Steht dieses Werk auf einem festen Unterbau?
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
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Der Soziologe bleibt irgendwie „außerhalb“ des Katechismus
stehen, und Sie, Herr Pfarrer, schließen sich ganz in dessen
„Inneres“ ein. Ich würde gerne – um mich in der Sprache eines
Architekten auszudrücken – seine Grundmauern auf die Probe
stellen... Die ständige Wiederholung derselben Aussage ist
keineswegs ein Beweis für deren Gültigkeit. Auch Irrtümer
werden weitergereicht...
DER DOMHERR, zögernd und ein wenig beschämt:
Sie werden verstehen, dass meine Meinung mit der des
Papstes im Einklang stehen muss, da ich Kleriker bin, und auch
aufgrund meines seelsorgerischen Auftrags. Außerdem wünscht
der Papst in seiner apostolischen Konstitution, dass „der
Katechismus die Bande der Einheit in demselben apostolischen
Glauben stärken möge.“
Nun kommt DER ARCHITEKT auf seine Frage zurück:
Auch Sie sind also an eine „Schweigepflicht“ gebunden. Sie
gehört zu Ihrer beruflichen Rolle, so wie die Schweigepflicht
eines Armeeangehörigen aufgrund seiner Eingliederung in die
Armee. Sie sind in die Kirche eingegliedert. Die Zurückhaltung
des Soziologen ist etwas anderes. Sie ist methodologischer Art,
gebunden an die Ausübung einer intellektuellen und
wissenschaftlichen Disziplin. Sie ist nicht durch die
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe bestimmt.
Was mich betrifft, in meinem Beruf, ganz unabhängig davon,
welche Firma mich beauftragt, kann ich nicht „im Abseits“ einer
meiner Verantwortung unterliegenden Baustelle stehenbleiben.
Und genauso wenig darf ich mich damit zufriedengeben, mich
„innerhalb“ eines Bauvorhabens zu platzieren, ohne mich von
seiner Durchführbarkeit überzeugt zu haben... Ich muss mich
von der Dauerhaftigkeit der Materialien und ihrer guten
Verarbeitung überzeugen, und das sogar unabhängig vom guten
Ansehen, das meine Firma genießt.
Daher meine allgemeine Frage: Was hat man vom
„Katechismus der katholischen Kirche“ zu halten? Ist alles, was
darin steht, wahr? Ist es wirklich die katholische Lehre, und ist
diese in sich wahr, wenigstens gemessen an der Offenbarung
Jesu?
LEHRAUTORITÄT UND DAS MISSTRAUEN BEIM GLAUBEN
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DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
EIN WEITERER ANONYMER TEILNEHMER fasst Mut und führt
die Gedanken des Architekten weiter:
Ich stelle mir genau dieselbe Frage. Ich bin praktizierender
Katholik und PHYSIKPROFESSOR, und keineswegs besonders
bewandert im Gebiet der Theologie. Ich denke lediglich wie
jedermann über die Fragen des Daseins nach. Ich bemühe mich,
dies mit möglichst viel gesundem Menschenverstand zu tun...
Aber wenn man Familienvater ist und erwachsene Kinder hat,
reicht der „gesunde Menschenverstand“ einfach nicht mehr aus,
um ihnen etwas über „Religion“ zu sagen. Wenn wir
miteinander darüber reden – und das kommt durchaus vor und
man sollte die Gelegenheiten dazu nicht ungenutzt lassen... –
und ich dabei auf den Katechismus verweise, dann ernte ich
damit die folgende Erwiderung: „Ja das! Das ist „deine“
Religion, Papi!“ Da kann ich mir lange sagen, dass das, was sie
„meine“ Religion nennen, nicht eine Erfindung meiner
Phantasie, sondern „der wahre Glaube“ an Gott ist, aber ich
fühle mich entwaffnet... Ich muss also meine Redeweise ändern
und andere Argumente suchen, flexiblere, die noch in
irgendeiner Weise umstritten werden können, ohne die
Kontrolle einer außenstehenden Autorität, die gleichzeitig eine
der Parteien und deren Richter ist. Wenn meine Kinder – und
das gilt vor allem für die bereits verheirateten – nicht die
Möglichkeit haben, meine Argumente zu hinterfragen, zu
kritisieren und auseinanderzunehmen, dann lehnen sie sie ab und
entkräften sie gewissermaßen, indem sie sie als „meine“
Meinung brandmarken, obwohl es doch die Argumente der
Kirche sind... Was hat man also vom Katechismus zu halten?
Wie kann man seinen Wert aufzeigen, ohne dass die Argumente
dazu wiederum ihm entnommen sind oder von denen stammen,
die ihn erstellt haben?
„Das ist eine interessante Situation für die Psychoanalyse!“
ruft jemand aus.
„Was wollen Sie damit sagen?“ fährt der PHYSIKPROFESSOR
fort.
Wir haben es hier mit einem unbewussten Phänomen der
Identifikation zu tun, fährt DER PSYCHOANALYTIKER fort. Nicht
der Identifikation des Kindes mit dem Vater, aber im
Unbewussten der Kinder wird der Vater mit der katholischen
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
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Religion – oder umgekehrt – identifiziert. Der Vatermord ist
nicht nur im Sinne des Ödipuskomplexes zu verstehen, sondern
er bezieht sich für die Kinder auch auf ihre Identität. Der Vater
muss sterben, damit sie schließlich ihren vollumfänglichen Platz
erhalten. Wenn der Vater, mit der Kirche identifiziert, oder die
Kirche identifiziert mit dem Vater, sich vor ihnen „aufpflanzt“,
dann „töten“ sie ihn... Sie schieben Ihr Argument beiseite. Und
folglich existiert er für sie nicht mehr. Er ist tot. Verfahren Sie
mit dem Katechismus so wie mit Ihren Argumenten des
„gesunden Menschenverstandes“. Stellen Sie ihn zur Debatte,
öffnen Sie ihn der Kritik und erlauben Sie ihren Kindern, „selbst
zu urteilen“. Ich weiß, dass die Lehren der katholischen Kirche
sich gegen derartige Behandlungen sträuben... Entweder – oder
... Damit will ich sagen: Wenn die Kirche, also die kirchliche
Macht, in diesem und in einigen anderen Punkten der
Psychoanalyse keine Beachtung schenken will, dann ist es die
Kirche selbst, die man „verlassen“ wird... Und ihre Leiter
werden indirekt und gegen ihre eigene Absicht dazu beigetragen
haben, dass sie verlassen wird... Sie wird die „Verlassene“
sein... Wünschen wir derweil, dass sie die „Verlassene“ der
Bibel sein wird... jene „Verlassene“, die schlussendlich
auserwählt ist...
( Jes 54, 6: Ja, als verlassene und niedergedrückte Frau hat Jaweh dich gerufen)
DER PHYSIKPROFESSOR:
Tatsächlich... Gleichzeitig sagen mir dieselben Kinder
nämlich auch, dass die Pfarrer ihnen nichts mehr beibringen...,
außer „korrektes Sozialverhalten“. Und sie bedauern diese
Situation der inneren Leere... Sie sind also dem Glauben
gegenüber nicht gleichgültig... Auch denke ich, sie wollen nicht
mehr glauben, ohne zu verstehen,... so wie unsere Generation es
in der Vergangenheit zu oft getan hat... als wir fälschlicherweise
dachten, dass der Glaube seinen Platz verlieren würde, sobald
wir verstehen würden... Das ist zumindest das, was man uns
sagte...
DER PSYCHOANALYTIKER:
Was Sie sagen, ist zweifellos wahr..., genau wie unser
Soziologe, äußere auch ich mich nicht zur Grundsubstanz, also
zum inneren Wert des Katechismus. Ich stelle mir übrigens nicht
ernsthaft die Frage nach seinem Wert... Aber wenn seine
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DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Grundsubstanz seine Darstellungsweise bestimmt, dann ist
diese, so wie sie ist, ein schlechtes Omen für den Wert der
Grundsubstanz... Ein solches Urteil ändert nichts an der
Tatsache, dass Glaube oder religiöse Überzeugung ein alle
Kulturen umfassendes psychologisches Phänomen ist... Und sie
bemerken das bei ihren Kindern... die ihrerseits wiederum
Erzieher sind... Die Psychoanalyse täte übrigens gut daran, sich
für dieses Phänomen etwas mehr zu interessieren... Sie ist ein
bisschen zu sehr auf Sexualität fixiert. Natürlich darf man die
Sexualität nicht beiseitelassen – ohne sie keine Psychoanalyse –;
aber die Psychoanalyse will alles durch Sexualität erklären,
während doch die Sexualität selbst auch erklärt werden muss...
Diese ist übrigens Gegenstand von Glaubensüberzeugungen.
Das
ist
in
der
Mythologie
offensichtlich,
aber
Glaubensüberzeugungen wirken sich auch auf die Sexualität
aus. Würde uns das nicht die Analyse des Unbewussten des
Glaubenden zeigen? Ist in der Sexualität etwa nicht eine Art
„Glaube“ enthalten?... Haben beide etwa nicht eine gemeinsame
Wurzel, eine verborgene Verbindung? Man kann die Frage
aufwerfen...
DER PHYSIKPROFESSOR:
Danke für Ihre erzieherischen Ratschläge. Aber läuft das nicht
darauf hinaus, Ihnen etwas vorzumachen, also ein doppeltes
Spiel zu spielen? Der Glaube verlangt Ehrlichkeit... Kann man
so tun, als ob man an ihm zweifelt?... Ich werde darüber
nachdenken.
Die etwa zwanzig Teilnehmer schauen einander ratlos an.
Allem Anschein nach befindet man sich nicht auf dem Weg zu
einer Antwort.
EIN DRITTER PRIESTER, Exeget und Theologiegeschichtler in
einem Orden, will die Debatte neu aufrollen:
Was ist nun eigentlich die Frage? – Hier und da macht sich
ein diskretes Lächeln bemerkbar. Ich erkläre mich. In den ersten
Beiträgen habe ich den Wunsch nach einer einwandfrei
begründeten Antwort wahrgenommen... und folglich die
Ablehnung einer Antwort, die unsere Vernunft und ihre
intellektuellen Ansprüche unbefriedigt lassen würde. Als Sie,
meine Herren, danach fragten, was man vom Katechismus der
katholischen Kirche – durch Papst Johannes Paul II initiiert und
gutgeheißen – zu halten hat: In welcher Richtung suchen Sie die
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
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Antwort? Was ist der „Sinn“ Ihrer Frage? Von welchem
Standpunkt aus stellen Sie die Frage? So fragen die
Sprachphilosophen gerne. Ich kann mir die Frage mit denselben
Worten stellen wie Sie, aber mit einer anderen Bedeutung.
Für mich als Theologiegeschichtler läuft die Frage zum
Beispiel letztendlich darauf hinaus, dass ich mich frage, ob der
Katechismus die seit dem Ende des Krieges von den Exegeten
geleistete Arbeit genügend beachtet. Ich kann aber wohl davon
ausgehen, dass dies nicht der Sinn Ihrer Frage war. Ich merke,
dass er tiefer liegt, auf einer existenzielleren Ebene, und nicht
auf die veränderlichen Gegebenheiten einer Epoche hinzielt,
etwa unter anderem auf die Weiterentwicklung der Erscheinungsbilder des katholischen Glaubens, die gekennzeichnet sind
durch niedrige Besucherzahlen bei den Sonntagsgottesdiensten
und Massenauflauf bei Events für die Jugend. Diese äußeren
Umstände können aber für die Herauskristallisierung der
wesentlichen Fragen nach dem Glauben und der Offenbarung
wichtig sein. Übrigens ist die erfolgreiche Organisation dieser
Kreuzfahrt ein anderer Beweis dafür.
Bei den Philosophen machte sich vereinzelt beifälliges Nicken
bemerkbar.
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler, schaltet sich nun
ein, um die Frage des Theologen zu rechtfertigen:
Um eine Frage richtig zu beantworten, ist es sinnvoll, sich in
einem ersten Schritt mit der Frage nach ihrem Sinn
auseinanderzusetzen, und den intellektuellen Rahmen, in dem
man sich mit ihr befindet, genau abzustecken. Ich meinerseits
denke, dass die beiden von unseren Kollegen gestellten Fragen
sich gegenseitig ergänzen. Unser Architekt stellte in seinem
Beitrag bezüglich der Lehre dieses Katechismus die Frage nach
der Wahrheit..., sagen wir nach dem Maß an Wahrheit; und er
tat dies durch den – sehr kartesianischen – Vergleich mit der
Festigkeit seines Unterbaus. Unser Physiker sucht eine
Wahrheit, die nicht als diejenige einer Gruppe in Erscheinung
tritt, sondern als eine Wahrheit, die sich letztendlich als
vernunftbegründet erweisen muss, weil man sie, aus guten oder
ebenso aus schlechten Gründen, in Frage stellen kann. Die
Vernunft ist tatsächlich ein Element unseres dreigliedrigen
Denkvorganges: Vernunft, Glaube und Offenbarung. Die
Vernunft zuerst, dann der Glaube und zuletzt die Offenbarung.
24
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Mit den Augen eines Historikers des menschlichen Denkens
besehen, muss dies die aufsteigende logische Anordnung dieser
Begriffe sein. Im Einklang mit seiner Ausbildung sucht unser
Physiker nach einer katechetischen Unterweisung, die etwas
Allgemeingültiges ausdrückt, und die jeder, im Prinzip
wenigstens, in sich selbst und durch sich selbst anerkennen
kann, dank Diskussion, Kritik und sogar Konfrontation. Was
man der Diskussion, der Debatte, der Kritik entzieht, ist dadurch
gleichzeitig auch der Vernunft entzogen. Das heißt aber ganz
offensichtlich nicht, dass alles, worüber die Leute diskutieren,
deswegen auch vernünftig und rational ist. Davon ist man oft
weit entfernt!
Dann, indem er sich an den Physikprofessor wendet:
Im Grunde genommen zeigen Ihre Kinder instinktiv eine
gesunde Reaktion, und ihr innerer Weg kann vielleicht sogar als
Zeichen eines hohen intellektuellen Anspruches gedeutet
werden, eines Anspruches auf Evidenz und Kohärenz... ein
vielleicht enttäuschter Anspruch...
Dann, indem er sich dem Psychologen zuwendet:
Um selber denken zu können, müssen sie nicht
notwendigerweise „den Vater“ in dem Sinne „töten“, dass sie
ganz und gar anders denken müssten als Sie (Sie ] Er), aber sie
müssen „die Autorität des Vaters töten“, nicht jene, die der
Vaterschaft eigen ist, sondern jene missbräuchliche, die sich
anmaßt, die Wahrheit vorzuschreiben. Es ist nötig, dass sie –
und im Grunde genommen suchen sie genau das – die Wahrheit
des Glaubens entdecken; aus Gründen, die nicht mehr die
Ihrigen (die Ihrigen ] die des Vaters) sind, oder wenigstens nicht
mehr nur die Ihrigen (die Ihrigen ] seine), sondern – wenn auch
noch nicht allgemeingültige Gründe zum Glauben – so doch
wenigstens subjektiv gültige.
Es handelt sich hier also nicht mehr um ein doppeltes Spiel,
und auch nicht um einen Mangel an Ehrlichkeit ihrerseits
(ihrerseits ] von Seiten des Vaters), wenn Gründe zum Glauben und
Glaubenswahrheiten diskutiert werden. Gewöhnlich hegen auch
Philosophen eine Abneigung gegen das Autoritätsargument,
nicht nur, weil es innerhalb der Philosophie keine Beweiskraft
besitzt, sondern auch, weil es, wie Spinoza uns verstehen lässt,
die Intelligenz unfruchtbar macht, und das sogar bezüglich des
Glaubens.
DER PHYSIKPROFESSOR
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
25
Sie geben mir Unterstützung... Ich hoffe also, dass meine
Kinder mir widersprechen, um zu einem verbesserten
Verständnis des Glaubens zu gelangen... Gott möge Ihnen
zuhören...
DER DOMHERR, Schriftsteller
Die Philosophen lehnen in ihrer Disziplin das
Autoritätsargument ab, genauso wie die Naturwissenschaftler in
ihren. Und das ist sehr gut so. Es sei aber gesagt, dass wir uns
hier im Zuständigkeitsbereich des Glaubens befinden, und nicht
in demjenigen der Vernunft. „Ein Katechismus muss“, so
schreibt Johannes Paul II, „getreu und organisch die Lehre der
Heiligen Schrift, der lebendigen Überlieferung in der Kirche
und des authentischen Lehramtes, ebenso wie das geistliche
Erbe der Väter, der heiligen Männer und Frauen der Kirche
darstellen, um das christliche Geheimnis besser erkennen zu
lassen und den Glauben des Volkes Gottes neu zu
verlebendigen. Er muss die Entfaltung der Lehre
berücksichtigen, die der Heilige Geist im Laufe der Zeit der
Kirche eingegeben hat.“
Ich bin mir bewusst, dass nicht allem in dieser Lehre gleiches
Gewicht zukommt, und dass es unterschiedliche Weisen gibt,
die Wahrheiten des Glaubens wahrzunehmen, aber diese
Wahrheiten sind als solche nicht von der Vernunft abhängig.
Wenn es die Vernunft wäre, die sie hervorbringt, wie das in den
Naturwissenschaften oder in der Philosophie der Fall ist, dann
gäbe es keinen Grund mehr, sie zu glauben. Das
Autoritätsargument kann also nicht allgemein abgelehnt werden.
Im Bereich des Glaubens müsste man vielmehr von einer
„Unterscheidung der Autorität“ sprechen, und von einer
„Anerkennung der echten Autorität, nämlich des römischen
Lehramtes“. Selbstverständlich ist diese „lehrende Autorität“
ihrerseits an die Heilige Schrift und an die vom Heiligen Geist
inspirierte
Tradition
der
Kirche
gebunden.
Das
Autoritätsargument unterdrückt die Vernunft nicht. Es ist sogar
vernünftig, auf es zurückzugreifen. Wie denken Sie darüber?
DER PHYSIKPROFESSOR
Über was? Über das Autoritätsargument oder den
Katechismus?... In den Naturwissenschaften ist unsere Praxis
dem Autoritätsargument diametral entgegengesetzt. Sobald
Kollegen einen Artikel über die eine oder andere ihrer
26
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Entdeckungen veröffentlichen, reagieren wir instinktiv damit,
dass wir dasselbe Resultat auch herbeiführen wollen, falls wir
die nötigen Mittel dazu besitzen, um so die Gültigkeit seiner
Resultate
zu
überprüfen.
Wenn
unsere
Resultate
übereinstimmen, dann zeigen wir uns Einverständnis... bis zum
Beweis des Gegenteils... Naturwissenschaftler sind bei der
Aussage von Wahrheiten weitaus vorsichtiger, als dies
gemeiniglich angenommen wird... Und übrigens kommt die
Naturwissenschaft genau deswegen vorwärts... Weil es keine ein
für alle Mal aufgestellten Wahrheiten gibt... damit will ich
sagen: Wahre, vollständig und endgültig erarbeitete Theorien
können immer noch verbessert
werden.
In den
Naturwissenschaften kennen wir nur eine Art der endgültigen
Erkenntnis: die unserer Irrtümer, aus denen wir zu lernen haben.
Was soll man nun vom Katechismus halten? Wenn ich mit
meinen Kindern darüber rede, so wie Sie, dann habe ich allen
Grund, zu erwarten, dass sie mich abweisen werden mit einem:
„Das da ist die Meinung des Papstes..., aber da wir nicht der
Papst sind und nicht vom Heiligen Geist inspiriert sind,
interessiert uns das nicht...“ Obschon...
DER PSYCHOANALYTIKER, in barschen Tonfall
Das Drama wird immer verwickelter! Nun ist es nicht mehr
nur der Tod des Vaters, sondern der „Tod Gottes“! Es gibt für
Sie, mein Herr, mit Ihren Kindern nur noch einen einzigen
Ausweg: Stellen Sie Gott zur Diskussion...
Schweigen in der Gruppe...
DAS MISSTRAUEN ZU GLAUBEN DURCH EINEN INTERPERSONALEN
RATIONALEN PROZESS ÜBERWINDEN
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler
Gott zur Diskussion stellen... Einzig die Philosophie, denke
ich, kann diese Herausforderung annehmen... zur Ehre Gottes
und zum Heil des Glaubenden... So hoffe ich...
EIN ERSTER PHILOSOPH
Eigentliche Philosophen beschäftigen sich meistens nicht mit
Religion. Es gibt Philosophen, die die Existenz Gottes
bestreiten. Diese nennt man Atheisten. Andere sind der
Meinung, sich nicht zu der Frage äußern zu können. Diese nennt
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
27
man Agnostiker. Wieder andere, und dies sind die meisten und
auch die Ernsthaftesten, bejahen Gottes Existenz. Aber wenn sie
von Gott reden, dann haben sie weit auseinanderstrebende
Vorstellungen.
Unser Moderator, in seiner Qualität als Philosophiegeschichtler, könnte eine glänzende Darstellung des
Unterschiedes zwischen dem Gott des Aristoteles und jenem der
Stoiker beitragen. Für Aristoteles ist Gott das absolute Sein,
dessen ganze Aktivität darin besteht, gemäß der Fülle seiner
Vollkommenheit sich selbst zu denken und zu wollen. Er ist
gänzlich von der Welt getrennt. Er kann sich nicht um sie
kümmern und sie nicht einmal erkennen. Denn eine von ihm
selbst unterschiedene Wirklichkeit zu erkennen würde
tatsächlich bedeuten, dass er etwas erwerben würde, was ihm
noch fehlt. Er wäre dann also nicht mehr in sich selbst die
absolute Vollkommenheit. Er wäre nicht Gott. Zweifellos
könnte er dann immer noch ein Gott neben anderen sein,
vielleicht sogar der mächtigste. Aber das wäre nicht der einzige
Gott, den die menschliche Intelligenz notwendigerweise bejahen
muss, weil sie notwendigerweise auf ihn zustrebt. Der Gott der
Stoiker ist im Gegensatz dazu mit der Gesamtheit der Welt
gleichgesetzt. Alle ihre Bestandteile sind göttlich, Gott ist das
Ganze.
Man kann sagen, dass Plotin und seine Schüler einen
dazwischenliegenden Standpunkt einnehmen. Gott in seinem
absoluten Sein ist der Eine, doch diese in sich eine Wirklichkeit
weitet sich derweil durch Grade oder Hypostasen aus. Deren
erste wird als Intelligenz benannt, die zweite ist die Seele. Diese
bricht sich wie Licht in der Vielfalt der individuellen Seelen
eines jeden. Diese Hypostasen sind Wirklichkeiten, die
diejenigen unserer Erfahrung übersteigen. Sie sind in sich selbst
konsistent, aber „niedriger als das Eine“. Sie vermitteln die
Energie des Einen bis hin in die materielle Vielfalt der Welt.
Die philosophierenden Theologen des Mittelalters und einige
ihrer idealistischen Nachfolger haben dieses sogenannte
„emanationistische“ Weltbild in eine kreationistische
Weltanschauung umgeformt. Sie haben die philosophische oder
rationale Idee vom absoluten Sein mit der biblischen Idee vom
Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, in Einklang
gebracht... Sobald dieser Einklang verwirklicht war, sind sie
stehengeblieben, da sie die Grenzen der Möglichkeiten der
Vernunft erreicht haben. Das ist alles, was die Vernunft über
28
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Gott aussagen kann. Sie kann in keiner Weise über den Gott der
Offenbarung reden...
Was die Religionsphilosophien anbelangt: Sie begnügen sich
damit, für die religiösen Meinungen und Praktiken,
verschiedene, mehr oder weniger systematisch eingeordnete und
durchdachte epistemologische Interpretationen vorzuschlagen.
Sie zeigen deren Bedeutung, Nutzen und Auswirkung im Leben
der verschiedenen Gesellschaften, ohne dabei zu beanspruchen,
sie in der Wahrheit zu begründen.
Ich persönlich sehe daher nicht, wie die Philosophie sich zur
Verteidigerin des Gottes des Glaubens machen könnte, und die
Herausforderung, die die Psychoanalyse an ihn richtet,
annehmen könnte...
DER DOMHERR, Schriftsteller
Aus dem, was Sie in ihrer Eigenschaft als Philosoph geäußert
haben, muss ich also unter anderem schließen, dass die Lehren
des Glaubens, die definitionsgemäß die Vernunft übersteigen,
durch nichts anderes verbürgt werden können als durch eine
Autorität im Glauben. Der Papst und die Bischöfe sind also sehr
wohl die Garanten für die Wahrheit des Katechismus. Dies ist
sehr wohl ein Zirkel, aber es ist nicht der Zirkelschluss, aus dem
einige von Euch auszubrechen versuchten. Wer andere
Wahrheitskriterien als diejenigen der Kirche sucht, wird niemals
fündig werden. Sind solche Menschen überhaupt noch
Glaubende? Aus diesem Zirkel auszubrechen ist Ausbrechen aus
der Kirche. Was ich in meinem Dienst in der Pfarrei sehr
bedauere...
DER MODERATOR DER GRUPPE
Liebe Kollegen, es herrscht wieder einmal Schweigen... Was
könnte die Psychoanalyse hier noch anfügen, damit wir aus
dieser Sackgasse herausfinden?
DER PSYCHOANALYTIKER
Nichts... Es tut mir leid... Ich habe lediglich gesagt, dass die
Kirche gewissen intellektuellen und affektiven Ansprüchen
mehr Gehöhr schenken sollte... Aber wie?... Mit dieser Frage
verlassen wir meinen Kompetenzbereich... Für alle Fälle
übergebe ich das Wort meinem Nachbar, der auch Philosoph ist.
In metaphysischen Fragen kennt er sich besser aus als ich,
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
29
soweit ich dies seit unseren ersten Begegnungen auf diesem
Passagierschiff beurteilen kann...
BESSERE PHILOSOPHISCHE HILFSMITTEL AUSFINDIG MACHEN,
UM EINE BESSERE THEOLOGIE ZU ERARBEITEN
DER ANDERE PHILOSOPH:
Danke für die wohlgesonnene Vorstellung...
Ich habe all eure Beiträge aufmerksam verfolgt. Vor allem
verstehe ich die Enttäuschung, die der Herr Kanonikus in
seinem sehr harten und wenig dankbaren seelsorgerischen
Dienst erfährt. Seine sehr lobenswerte und höchst
verdienstreiche Besorgtheit um Treue zur Kirche grenzt ihn
heutzutage aus... Aber am meisten bedauere ich, dass er sich auf
eine Philosophie stützt, die ich als „klassisch“ einstufen würde.
Es ist die, von der mein Kollege spricht. Zweifellos werde ich
später noch die Gelegenheit haben, mein Verständnis des
Begriffs „klassisch“ zu erläutern...
Wir stecken in einer Sackgasse fest, und was uns in sie
hineingeführt hat, ist der Einfluss dieser Philosophie auf die
Deutung der grundlegenden heiligen Texte; das heißt: die
Aneignung dieser Philosophie seitens der Kirche, um dem
Glauben und der Offenbarung gegenüber der Vernunft ihren
Platz zu verschaffen; und ihre Anwendung durch die Theologen,
um auf rationale Weise über diese Offenbarung Rechenschaft
abzulegen... Ich spreche nicht nur von der Sackgasse, in die die
Runde um diesen Tisch geraten ist... Sie bringt jedoch eine noch
weiter reichende Festgefahrenheit der Kirche in der modernen
Welt an den Tag, und auch der modernen Welt selber in ihrer
Anerkennung einer göttlichen Transzendenz... Festgefahrenheit
einer der Welt entleerten Kirche und einer Gottes beraubten
Welt.
Ich schuldige niemanden an. Kann man etwa die
Meteorologen für die zerstörerischen Folgen eines Orkans
verantwortlich machen? Ich mache lediglich eine Feststellung.
Aber diese muss man als Meteorologe des menschlichen
Denkens machen. Die derzeitige Schwäche, mit der die
Theologie dem stürmischen Wetter der religiösen
Gleichgültigkeit entgegentritt, ist das konkrete Endergebnis
einer Philosophie, die den Glauben außerhalb ihres
Untersuchungsbereiches ansiedelt, und einer Offenbarungslehre,
die, während sie ebendieser Philosophie die Hand reicht, sich
30
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
über die Vernunft stellt... Verstehen Sie mich richtig. Die
Theologen, Priester, Pastoren und Rabbiner haben die
Entwicklung der Denkweisen nicht vollständig im Griff. In den
vergangenen Jahrhunderten war der gegenüber den Kräften der
Natur wehrlose und verwundbare Mensch eher dazu geneigt,
den Himmel um Hilfe zu bitten. Das war nicht Glaube an Gott,
aber es war Religion. Und diese religiöse Psychologie war
gesellschaftlich eher empfänglich für eine Botschaft, die sich als
offenbart darstellte... Diese wurde dann als eine fortdauernde
Hilfe vom Himmel empfunden... In dem Maß, wie der Mensch
mehr und mehr Mittel entdeckt, mit denen er seine Existenz
absichern kann, wird die Inbrunst seines Gebetes zum Himmel
schwächer... Das ist ein stürmisches Wetter oder Windstille, wie
Sie wollen, für die Verkündigung einer geoffenbarten Botschaft.
Anmaßende Botschaften, auf unechte Weise geoffenbart,
gedeihen, kentern und gehen unter... Aber die echt offenbarten
Botschaften leiden gleichermaßen... Und sie leiden gemäß dem
Umfang ihrer Anpassungsversuche, durch die sie sich den
erlogenen Offenbarungen angenähert haben. Und die
grundlegendste dieser alles aufs Spiel setzenden Angleichungen
besteht darin, unter dem Vorwand, die Offenbarung komme von
Gott, zu behaupten, sie übersteige die Vernunft und das
menschliche Urteil.
Das ist der Grund, warum ich behaupte, dass die Schwäche
der zeitgenössischen Theologie, – die nicht mehr von einer
gesellschaftlich verankerten Religiosität profitiert, wie es in der
Vergangenheit der Fall war – darin besteht, „infiltriert, entstellt,
zerfressen, behindert“ zu sein – wählen Sie das Bild, das Ihnen
zusagt... – durch eine Philosophie, die unfähig ist, dem Vollzug
des Glaubens einen vernunftgemäßen Platz einzuräumen,
sowohl in ihrer Ontologie als auch in ihrer Ethik und
Erkenntnistheorie.
So verpflichtet diese Philosophie die offenbarte Botschaft,
selbst die echt geoffenbarte, sich der durch eine aus ihrer
ängstlichen und zweideutigen Religiosität auftauchenden
Vernunft ganz natürlicherweise und zu Recht verlangten
Prüfung auf Verständlichkeit zu unterziehen.
DER MODERATOR der Zusammenkunft
Jemand verlangt das Wort... Sie haben mir bereits erzählt,
dass Sie dem BKTF angehören, als unabhängiger Forscher... Ich
übergebe Ihnen das Wort.
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
31
DER VIERTE PRIESTER:
Ja, ich bin als unabhängiger Forscher Mitglied der
„Bischöflichen Kommission für Theologische Forschung“. Mein
Bischof hat mir damit eine sehr besondere Aufgabe anvertraut.
Außerdem passt der Titel eines Theologen überhaupt nicht zu
mir. Er riecht ein bisschen nach „Institution“. Mir wäre jener des
Theologiewissenschaftlers
oder
des
„selbständigen
(selbständigen ] unabhängigen) Theologen“ lieber.
DER MODERATOR
Wenn ich recht verstehe, sind Sie also gewissermaßen hinter
den Kulissen der „Suchkopf“ Ihres Bischofs...
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Durch meine eigenen Forschungen bin ich bereits auf das,
was im letzten Beitrag gesagt wurde, aufmerksam geworden.
Man kann der Kirche nicht vorwerfen, dass sie zuerst im
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert erst die geistige Elite
verloren hat, dann die Arbeiterklasse im zwanzigsten, und
daraufhin nun die ganze naturwissenschaftlich und technisch
denkende Welt, und dass sie zuschaut, wie die sozialen
Kommunikationsmittel das Interesse an ihr verlieren. Diese
Gleichgültigkeit ist ein Befund, das Endergebnis einer
Entwicklung, für das die Kirche nicht allein verantwortlich ist.
Meine Bemühungen gehen dahin, herauszufinden, wie sie einen
Neubeginn finden kann, der in die Tiefe geht und daher fähig ist,
alle Aspekte des menschlichen Daseins zu beleben. Unter
diesem
Gesichtspunkt
sind
die zuletzt geäußerten
philosophischen Überlegungen von großem Interesse.
Erlauben Sie mir noch zu erwähnen, dass ich von Herrn
Debruquels Buch erfahren habe. Es ist ein dicker Band und stellt
eine wirklich erneuernde Ontologie vor, die einige moderne
Einsichten über den „Anderen“, die Alterität – eines der
Leitmotive heutzutage – ineinanderfügt.
Davon ausgehend schlägt er eine neue und sehr verlockende
Sicht der biblischen und evangelischen Botschaft vor. Auch
würde ich ihn gerne bitten, uns sein Denken über eine
Philosophie, die dem Glauben all seinen Platz einräumt, zu
verdeutlichen.
32
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DEN SEINSSTATUS DES „ANDEREN“ DENKEN, UM THEOLOGISCHE
AUSSAGEN BESSER DENKEN ZU KÖNNEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich danke Ihnen von ganzem Herzen... im Anschluss an diese
Zusammenkunft würde ich gerne auf persönlichere Weise mit
Ihnen Kontakt aufnehmen. Aber im Moment versetze ich mich
wieder in die Perspektive dieser Debatte.
Nun, erstens: Welche Philosophie ist das, die dem Glauben
einen Platz einräumt? Sie zu bezeichnen, ist einfach; weitaus
schwieriger ist es, sie unter diesem Blickwinkel zu analysieren...
Es ist jene, die der Philosophiegeschichtler von Parmenides und
Heraklit bis hin zum erst kürzlich erfolgten Aufkommen der
Problematik der Alterität mit Martin Buber, zum Beispiel, oder
Emmanuel Levinas, darlegt. Mit zwei Philosophen, die aus der
jüdischen Spiritualität leben. Oder auch mit Maurice
Nédoncelle, in einem christlichen Umfeld.
Wie etwa Aubenque sagte man, dass Thomas von Aquin
Aristoteles getauft hat... Man kann aber auch auf das Gegenteil
hinweisen: Platon und Aristoteles haben, obwohl sie bereits
verstorben waren, die Bibel und das Evangelium hellenisiert...
Ein offensichtliches historisches Phänomen, welches Nietzsche
erlaubte, zu sagen, dass das „Christentum ein Platonismus für
das Volk war...“. Eine halbe Wahrheit von Nietzsche her
gesehen, natürlich... das Evangelium ist anderswo... und
Nietzsche ist daran vorbeigegangen, ohne es zu sehen...
DER ERSTE THEOLOGE, Theologieprofessor
Sie wollen also, um es kurzzufassen, sagen, dass die
katholische Theologie paganisiert wurde und ihr deshalb
heutzutage die Puste ausgeht... Meine Ansicht ist das jedenfalls
nicht...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich würde sagen: nicht nur der katholischen Theologie,
sondern den anderen christlichen Theologien genauso. Ich sage
nicht, dass der menschlichen Fähigkeit „theologisch zu denken“
der Atem ausgegangen ist. Sie bleibt erhalten und wird sogar
Fortschritte machen. Aber wenn Sie von klassischen Systemen
der dogmatischen Theologie sprechen, dann würde ich Ihnen
antworten, dass sie dabei sind, außer Atem zu geraten. Sie selber
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
33
haben festgestellt, wie wenig Anklang sie noch finden. Warum?
Ich antworte, selbst wenn ich mich dabei wiederholen sollte...
Die ausweglose Situation ihrer „autoritären“ Darstellung, die
jede kritische Diskussion ausschließt, rührt nicht daher, dass sie
sich auf eine offenbarte Botschaft stützen, sondern von dem
Gebrauch, den das theologische Denken herkömmlicherweise
von philosophischen Systemen, die den Glauben außerhalb ihres
Gegenstandsgebietes ansiedeln, macht. Durch diese Gegebenheit
selbst platzieren sie sich außerhalb der Reichweite jeglicher
rationalen Kritik, mit Ausnahme jener einen irrationalen der
totalen Ablehnung.
Nun ist es allerdings so, dass diese theologische
Gepflogenheit unter anderem ein bestimmtes Bild von Gott, der
die höchste Autorität ist, und ein bestimmtes Bild von der
Autorität in der Kirche, und auch ein bestimmtes Bild von der
Autorität in der Familie nach sich zieht oder impliziert. Und alle
diese Bilder beruhen auf dem Begriff „Vater“... Der
Familienvater, der Heilige Vater, Gott, der allmächtige Vater...
Und diese Form des „Paternalismus“ im Glaubenszeugnis ist
ganz einfach „festgefahren“, weil sie sich durch eine herrliche
Isoliertheit auszeichnet.
Daher die Frage: Was ist die wahre „Vaterschaft“? Diejenige,
welche man innerhalb einer Philosophie auffassen kann, die dem
„Glauben“, dem „Glaubensakt“, und nicht einer Lehre des
Glaubens, einen vernunftgemäßen Platz einräumt. Eine
Vaterschaft im Dialog,... in einem Dialog, der nicht nur
gegenseitig, zu zweit, stattfindet, sondern zirkulär, zu dritt...
Also im Grunde genommen und stark zusammengefasst: Der
Vatergott steht in ewigem Dialog mit seinem „Anderen“, dem
Wortgott... Und zu zweit stehen sie in Dialog mit dem Heiligen
Geist, und bilden so zu dritt einen einzigen Gott. Ein Dialog
zwischen Personen, der Seins- und Bewusstseinsmitteilung ist,
und nicht nur Austausch von Worten oder der in drei
Verwirklichungsweisen der Beziehung Gottes zu den Menschen
besteht...
DER DOMHERR, Schriftsteller
Aber die ganze Welt weiß, was der Begriff „Vater“ bedeutet!
Um ihn gebrauchen zu können, muss der Theologe nicht auf die
Philosophie zurückzugreifen.
DER ANDERE PHILOSOPH
34
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Genau deswegen gebraucht ihn dieser Theologe, ohne es zu
wissen, im klassischen Sinn,... der sozusagen unvollkommen ist.
Und heute stellt die psychologische und psychoanalytische
Beobachtung den Befund, dass man sich damit in einer
Sackgasse befindet... dass die „paternalistischen“ Verhaltensweisen auf Ablehnung stoßen... Eine bestimmte solipsistische
Auffassung von „Vater“ ist daher dem Tode geweiht. Mit dem
entgegengesetzten Extrem als Folge, dass einige sich sogar
gegen die biologische Vaterschaft auflehnen... Was natürlich
eine maßlose Übertreibung ist... Es ist nicht zufriedenstellend,
die Vater-Sohn-Beziehung als eine gegenseitige zweigliedrige
Beziehung aufzufassen.
Ich denke, der einzig wirkliche Ausgangspunkt für unsere
Diskussion ist die Infragestellung dieser unvollständigen
Auffassung vom Vater als einzige Autorität und
ausschließlichem Machthaber – selbst wenn er für wohlwollend
angesehen würde –, und jener genauso mangelhaften
Auffassung von Gott als allmächtigem Einsamen – selbst wenn
er sich seinen menschlichen Geschöpfen zuneigt.
Zweifellos, eine Diskussion unter uns, aber vor allem eine
Diskussion in der Kirche, die für die evangelische Offenbarung
verantwortlich ist, und mit den Menschen, die durch ihre Natur
dazu veranlagt sind, an den Gott zu glauben, der in seinem Sein
selbst „Offenbarung und Glaube“ in unendlicher Vollendung
ist...
Und dann muss man sich außerdem irgendetwas ausdenken,
um die im Sterben liegenden Auffassungen, die das Evangelium
verfinstern, zu ersetzen... und auch um den überlieferten
unvermeidbaren Worten, die der Wirklichkeit der Familie
entnommen sind, um dem Evangelium Rückhalt zu verleihen,
eine neue, tiefere, edlere und wahrere Bedeutung zu geben... die
folglich zugunsten des Evangeliums in der Zukunft anziehender
wirkt...
Hier stehen wir also noch vor einer „großen Aufgabe“. Aber
die Krise oder die Schwierigkeiten, in denen die Religionen
stecken, verlangen es. Wenn diese Krise, wie mir scheint, vor
allem im Christentum wahrgenommen wird, dann ist es auch das
Christentum, das zuerst aus ihr herausfinden wird, mit einer
neuen Lebenskraft, und vielleicht mit einem authentischeren
Glauben... dann es trägt den Sauerteig seiner Erneuerung in
sich... in seinen wesentlichen Lehrsätzen...
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
35
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler
„Eine große Aufgabe“? Zum Teufel! Da nehmen Sie den
Mund aber gehörig voll! Ich kenne in der Philosophiegeschichte
große Gottesleugner... Ich kenne aber auch Philosophen, die wie
Platon und Aristoteles und viele andere einen einzigen Gott
bejahten. Ihr Kollege und auch Sie selber haben es erwähnt.
Haben diese Philosophen Gott etwa auf schlechte Weise bejaht?
Haben die Philosophen seit dem Mittelalter etwa jeden Versuch
des Nachdenkens über Gott selbst und sein schöpferisches
Wirken verhindert, indem sie sagten, dass die menschliche
Vernunft die Existenz Gottes bejahen kann, aber sich nicht dazu
äußern kann, was er ist? Wenn ich mich nicht irre, dann
bewegen Sie sich genau in diese Richtung...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja, allerdings mit einigen feinen Unterschieden... und vor
allem unter Ausnahme der äußerst persönlichen und
schöpferischen Werke des Thomas von Aquin... da er sich klar
von Aristoteles’ metaphysischen Standpunkten über das
Problem der Einheit und Vielheit lossagt, und dem „actus
essendi“, also dem in seiner Vollkommenheit betrachteten
Seienden die Aktivität zuerkennt, sich gemäß dem vollen
Umfang seines aktiven Potentials mitzuteilen. Entschuldigen
Sie, dass ich einen lateinischen Fachbegriff benutze: actus
essendi... Vielleicht werde ich später noch Gelegenheit haben,
ihn zu erklären...
DIE IN SICH EINZIGE WAHRHEIT EINER GÖTTLICHEN
OFFENBARUNG UND DIE GESCHICHTLICHE VIELFALT IHRER
MENSCHLICHEN AUSDRUCKSFORMEN
DER THEOLOGIEPROFESSOR, ein Anhänger eher klassischer
Standpunkte
Ich sehe, dass der theologische Standpunkt des Herrn
Kanonikus bereits so gut wie vernichtet ist... Nun möchte ich
aber genau dessen Interesse aufzeigen, auch auf die Gefahr hin,
einige Punkte der Debatte nochmals aufzugreifen... Danach wird
ein besser nach vorne strebender Neubeginn möglich sein...
Mit dem Zitieren einiger bedeutsamer Stellen aus der
Konstitution „Fidei depositum“ antwortete er, so scheint mir,
nicht auf die Frage nach der Wahrheit in sich der Lehre dieses
Katechismus, sondern vielmehr auf jene nach seinem
36
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
lehrmäßigen Stellenwert: „Ist er eine zufriedenstellende
Darstellung der katholischen Lehre?“ Einige Mitbrüder,
Theologen, heißen ihn gut, andere differenzieren ihre
Anerkennung. Wieder andere lehnen ihn ab. Diese
unterschiedlichen Urteile sind beeinflusst von vielfältigen, an
verschiedene theologische Strömungen oder sogar an interne
Intrigen der katholischen Kirche gebundene Erwägungen. Der
Philosoph, und genauso wenig der Soziologe oder der
Psychoanalytiker – was auch immer ihre Standpunkte sein
mögen – sollten es nicht nur unterlassen, in diesem Gerangel um
Einfluss Partei zu ergreifen, sondern sie haben auch keinerlei
Kompetenz, ihre Meinung zur Festlegung dessen, was
„katholische Rechtgläubigkeit“ ausmacht, beizutragen. Diese
Rechtgläubigkeit ist Produkt einer Entscheidung, und ich sage
bewusst „Entscheidung“, durch die leitenden Instanzen der
katholischen Kirche. Mag sie entscheiden «weiß»; oder
„schwarz“; oder „grau“: Das macht eigentlich keinen
Unterschied. Rechtgläubigkeit ist das, was sie entscheidet. Es ist
übrigens unangebracht, sich darüber zu empören. Es ist ganz
normal. Es handelt sich um die interne Organisation der Kirche,
wie bei den Fußballvereinen. Die Spielregeln sind jene, die von
den nationalen und internationalen Fußballverbänden festgelegt
werden. Keine Diskussion! Und bei den politischen
Regierungen der Staaten ist es genauso. Ebenso, wie man sich
fragen kann, ob dieses oder jenes Handeln der Regierung mit
dem Verfassungsrecht dieses Staates übereinstimmt, so kann
man sich auch fragen, ob der Katechismus Johannes Pauls des
Zweiten mit der Lehre der katholischen Kirche übereinstimmt.
Spezialisten in Verfassungsrecht können unterschiedlicher
Meinung sein. Und genauso können Theologen unterschiedliche
Untersuchungen anstellen. Das richtige Verständnis des
Verfassungsrechtes wird jenes sein, das der Entscheidung der
für die Auslegung der Verfassungstexte zuständigen Instanz
entspricht. Und in unserem Fall ist der Katechismus, der die
katholische Lehre darlegt, durch eine zuständige Instanz
gutgeheißen: durch den Papst. Was wir darin lesen, ist also sehr
wohl die „katholische Lehre“. In diesem Sinn habe ich den
Beitrag des Herrn Kanonikus verstanden. Bei dieser Sicht der
Dinge sollte man ihm nicht vorwerfen, dass er sich innerhalb
eines Zirkelschlusses bewege. Der Katechismus repräsentiert
sehr wohl die katholische Lehre.
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
37
Aber die Frage unserer Teilnehmer wurde sehr bald zu jener,
beziehungsweise sie wurde sogar auf Anhieb in dem Sinn
verstanden: „Was ist diese Lehre wert?“, oder „Wie lässt sich
ihre Wahrheit feststellen und aufzeigen?“ Die ganze Diskussion
nahm so, wie man sieht, eine neue Wende. Wir bleiben nicht bei
einer internen Debatte unter Theologen des „Dogma“, im
weitesten Sinne des Begriffs „gelehrte Meinung mit normativem
Wert“, also einer Rechtgläubigkeit für jene, die sich als
„katholisch“ bezeichnen, stehen.
Jedenfalls ist es angebracht, den ins Auge gefassten
Bestandteil der Lehre genauer zu beschreiben, ehe man die
Frage nach der Wahrheit in sich des Katechismus stellt. Handelt
es sich um eine zentrale Aussage oder im Gegenteil um eine von
ihr abgekoppelte Schlussfolgerung, die eben gerade zum
Diskussionsgegenstand unter Theologen geworden ist?
Bezüglich solcher Diskussionsgegenstände, beziehungsweise
Streitpunkte, kann die durch die Autoren des Katechismus
vorgenommene Entscheidung nichts weiter sein als ein
Begleitumstand, empfänglich für zukünftige Weiterentwicklungen.
Jedoch ist es noch nicht ausreichend, die Fragen genau zu
umschreiben, und zu sagen: „Was hat man von dieser oder jener
Aussage des Katechismus – zentral oder nebensächlich – zu
halten? Was ist ihr Wahrheitswert in sich?“ Man muss außerdem
noch unterscheiden zwischen dem Wahrheitswert der
offenbarenden Absicht und dem Wahrheitswert ihrer
menschlichen Ausdrucksweise. Dies ist wichtig, aber nicht leicht
zu verstehen. Wenn man es aber einmal verstanden hat, lässt
man es sehr schnell gelten...
Denn es gibt ihn (ihn ] diesen Wahrheitswert der offenbarenden
Absicht,) und er wird durch alle Zeiten und durch den Raum
zahlreicher
kultureller
Bedeutungssysteme
hindurch
bestehenbleiben. Die Geschichte der Zivilisationen ist besonders
daran interessiert. Nun benutzt die Sprache der Theologie
zwangsläufig das eine oder andere dieser Systeme, um den
einzigen Sinn der Offenbarung auszudrücken. Die
Ausdrucksweise der Offenbarung wird also in Funktion eines
jeden dieser Systeme anders ausfallen. Im äußersten Fall kann
eine theologische Aussage in Bezug auf ein System sinnvoll und
stimmig sein, und innerhalb eines anderen Bezugssystems nicht.
Die Mathematiker wissen, dass bestimmte Beweise in einem
gewissen Axiomensystem möglich sind und in anderen nicht. In
38
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
der Theologie ist es genauso, analog, unter Berücksichtigung
aller Proportionen... Daher muss gedeutet werden... ja, eine
bestimmte Redeweise muss sogar in eine andere innerhalb eines
unterschiedlichen Bezugssystems übersetzt werden. Stellen wir
also eine Hypothese auf: Die klassischen Bezugssysteme, also
jene der griechisch-lateinischen Kultur, erlauben es den Hütern
des Glaubens nicht, die Gesamtheit der Offenbarung
angemessen auszudrücken. In diesem Fall sind sie – um die
Wahrheit der evangelischen Botschaft nicht zu verkürzen –
gezwungen zu sagen, dass der Sinn der Offenbarung die
Vernunft, welche diese Bezugssysteme hervorgebracht hat,
übersteigt.
Hier drängt sich eine Frage auf: Ist diese griechisch-lateinisch
gebildete Vernunft, welche ihren Ausdruck im Wesentlichen in
der klassischen spiritualistischen Philosophie findet, selber der
vollendete geschichtliche Ausdruck der menschlichen Vernunft
als solcher? Wenn ja, wie ich denke, allerdings mit dem Zusatz:
„bis zum Beweis des Gegenteils“, dann muss man der
theologischen Behauptung des Domherrn zustimmen, nämlich
dass die Autorität, welche über die Rechtgläubigkeit entscheidet,
auch über deren Wahrheit-in-sich entscheidet, weil nämlich die
klassisch gebildete Vernunft, die die vollendete Form der
Vernunft darstellt, nicht zur Klarheit der Offenbarung aufsteigen
kann. Durch die Unfähigkeit der Vernunft ist das Lehramt
gezwungen, einzuspringen…
In der Sprache der Informatik könnte man sagen, dass die
Software der Vernunft, welche die Menschheit der Kirche zur
Verarbeitung der Offenbarung gegeben hat, nicht leistungsfähig
genug ist..., nicht genug bewirkt... Könnte aber die Vernunft,
nach all dem Fortschritt, den sie im Gebiet der
Naturwissenschaften, der Mathematik und Philosophie errungen
hat, nicht auch eine leistungsfähigere Software entwickeln und
sie der Kirche anbieten?
Man kann diese Hypothese nicht a priori ausschließen. Der
Standpunkt des Herrn Kanonikus gründet derweil auf...
DER EXEGET UND DOGMENGESCHICHTLER
Als Historiker kann ich nicht anders als der sehr klassischen
Weisheit meines Kollegen zustimmen...
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
39
Wir stellen einen theologischen Fortschritt in Funktion der
Fortschritte der Philosophie fest. Die Bemühung, die
Offenbarung zu verstehen, regt übrigens die Gläubigen an, sich
aktiv an diesem philosophischen Fortschritt zu beteiligen und
sich dafür einzusetzen. Was sich in der Vergangenheit
bewahrheitet hat, könnte in der Zukunft weitergeführt werden...
Aber diese Weiterentwicklung war nie frei von Spannungen...
die gelegentlich sogar in Gewalt ausarteten.
Dies lässt sich bei der Übertragung des Evangeliums vom
jüdischen ins griechische Umfeld, bei den Spannungen zwischen
dem Umfeld der synoptischen Evangelien und der
johanneischen Gemeinde, und bei der Weiterentwicklung der
Vätertheologie von der Beeinflussung erst durch die Stoa hin zu
einer
platonisierenden
und
später
mit
Aristoteles
sympathisierenden Sichtweise feststellen. Dasselbe hat sich
zwischen den theologischen Schulen von Antiochia und
Alexandrien abgespielt..., eine gewalttätige Auseinandersetzung
rund um die Dreifaltigkeit und die zweifache Natur Christi...,
wie der deutsche Theologe Grillmeier gezeigt hat, der am Ende
seines Lebens noch zum Kardinal ernannt wurde... Und heute
muss man, wenn man von der „Inkulturation“ oder vom
„Aufkeimen“ des Evangeliums in einer von der westlichen
Kultur verschiedenen Kultur spricht, zum Beispiel in Indien,
dieselbe Feststellung machen... Ich erwähne lediglich ... in
Kürze ... diese Beispiele...
Es ist also durchaus berechtigt, sich zu fragen, ob alle
dogmatischen Aussagen in dem Sinn „vernünftig“ sind, dass sie
eine erfassbare Bedeutung haben, und ob sie miteinander
vereinbar sind und in Bezug auf ein bereits bestehendes
Bedeutungssystem eine logisch zusammenhängende Lehre
bilden.
Anschließend muss überprüft werden, ob diese dogmatischen
Aussagen nicht etwa in klarem Widerspruch zu einer
wissenschaftlichen und bewährten Rationalität stehen. Wenn ja,
dann muss man daraus schließen, dass diese Behauptungen aus
dem Bereich des Glaubens zu entfernen sind. Es ist angebracht,
sie aus der Darstellung der offenbarten Botschaft zu verbannen,
etwa den zeitlichen Rahmen von sieben Tagen für die
Schöpfung, oder die Ursünde im Paradies.
Und schlussendlich, wenn die besagten Aussagen vernünftig
und logisch zusammenhängend sind und wissenschaftlichen
Untersuchungen nicht widersprechen, dann kann man sich mit
40
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Aussicht auf Erfolg fragen, ob sie in Beziehung zu ihrem
wirklichen Gegenstand, also zu einer „Offenbarung von Gott“,
wahr sind. Für die Kenntnis dieser Offenbarung muss man sich
auf die für sie verantwortlichen Zeugen verlassen: die biblischen
Zeugen, dann Jesus selber, seine Jünger und auch seine anderen
mitmenschlichen Beziehungen, deren Nachfolger, die
Menschheitsfamilie, die die Weitergabe garantiert, und vor
allem die Kirche.
Dann muss aber im theologischen Sprachgebrauch der Kirche
eine Unterscheidung zwischen dem Wahrheitswert der
Offenbarung und der Wahrheit ihres Ausdrucks innerhalb eines
gegebenen Bedeutungssystems – gemäß dem Hinweis meines
Kollegen – geschaffen werden. Die ganze Schwierigkeit liegt in
der Ausführung dieser Unterscheidung, da diese beiden
Wahrheitswerte „materiell, in der Alltagssprache“ kaum
unterschieden werden können. Der Sinn der „Offenbarung“ wird
ausschließlich durch die Bedeutungssysteme hindurch
wahrgenommen, die ermöglichen, ihn auszudrücken. Man
bewegt sich im Kreis... Wir sollten zugeben, dass wir in einem
„hermeneutischen Zirkel“ eingeschlossen sind. Er ist so groß,
dass man darin nicht erstickt.
Wenigstens können wir zwei zusammenhängende, dem
gesunden Menschenverstand entnommene Regeln aufstellen. Da
die für die Weitergabe der Offenbarung zuständige Autorität
verpflichtet ist, sich von der kulturellen Rationalität, innerhalb
derer sie sich ausdrückt, abzugrenzen – in dem sie zum Beispiel
behauptet, dass es sich um ein unfassbares Geheimnis handelt –,
muss man zuerst nach der Fähigkeit dieser besonderen
Rationalität, die gesamte Leuchtkraft der menschlichen Vernunft
darzustellen, fragen – damit räume ich also dem rationalen
Erkennen einen weitaus größeren Platz ein als mein Kollege –,
und dann ist es zweitens nötig, dass die in der Kirche für den
Glauben zuständige Autorität sich nicht dazu hinreißen lässt, die
Wahrheit-in-sich dieser kulturellen und geschichtlichen
Rationalität zu garantieren... Das lehrt uns die Geschichte.
DER ANDERE PHILOSOPH
Sie sprechen wie ein Theologe, der aus der Geschichte lernt...
Sie werden mir sagen, dass das natürlich ist, da ein Theologe ja
die Überlieferung mit einbeziehen muss... Das trifft zu... Sie
sind auch mit den methodologischen Anmerkungen ihres
Mitbruders einverstanden. Ich ebenso. Sie sind „klassisch“.
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
41
Aber sie sind unvollständig – so scheint mir – da sie nichts als
den „zum Ausdruck gebrachten Gehalt der Offenbarung“ in
Betracht ziehen, der ja, wie Sie sagen, bereits mit der Logik, den
Naturwissenschaften und den kulturellen Systemen, und mit den
jeweils von ihnen angewendeten Philosophien konfrontiert
wurde.
Nun hat aber der Gegenstand dieses theologischen ZumAusdruck-Bringens, nämlich die Wirklichkeit der Offenbarung,
seinen Sinn und seine Möglichkeit nur durch den Bezug auf
einen konkreten Glaubensakt des Menschen, in dem sich seine
wesentliche Veranlagung zum Glauben entfaltet. Der Mensch ist
„capax fidei“. Dies ist eine klassische Formulierung der
Theologie. Hier liegt der neue Einsatzbereich der
philosophischen Untersuchung: anerkennen, dass diese
Fähigkeit zum Sein des Menschen als solchem gehört, dass sie
nicht nachträglich zu ihm hinzugefügt ist, dass sie sich dem, was
im Menschen an Vollkommenheit vorhanden ist, und nicht den
Grenzen seiner Natur anschließt.
Der Philosoph darf den Reichtum der Hermeneutik der
heiligen Texte nicht ignorieren, aber er darf sich nicht damit
(damit ] mit ihr) zufriedengeben. Es gehört zu seiner Aufgabe, sich
mit allen menschlichen Tätigkeiten auseinandersetzen, darin
eingeschlossen mit der Tätigkeit zu „glauben“; und mit dem
„Glauben“ insofern dieser ein dem menschlichen Bewusstsein
eigener Vollzug ist... Daher muss man die Frage nach der
Wahrheit des durch die traditionelle Theologie benutzten
Bedeutungssystems auf der Ebene der Möglichkeit und der
Struktur des Glaubensaktes stellen... Und folglich muss der
Wortlaut der Offenbarung dieser neuen Systematisierung
gegenübergestellt werden.
DIE RATIONALE ANALYSE DES GLAUBENSAKTES WIRD DURCH DIE
BEHAUPTUNG, DASS DER GLAUBE EIN GESCHENK IST,
ANGEFOCHTEN
DER DOMHERR, indem er die Darstellung des zweiten
Philosophen unterbricht:
Aber der Glaube an Gott ist auch ein Geschenk Gottes. Er
gehört nicht in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie.
Wenn Ihnen die Gnade, zu glauben, nicht gegeben ist, dann sind
sie unfähig, an das Evangelium zu glauben...
42
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER THEOLOGE, der Historiker ist, indem er seinerseits den
Domherrn unterbricht:
Ich persönlich würde gerne hören, was die Philosophie über
den Glaubensakt sagen kann. Aber wenn die Philosophie auf
Ihren Einwand antworten muss, Herr Kanonikus, dann fürchte
ich, dass eine Bresche in Ihre „Rechtgläubigkeit“ geschossen
wird.
DER ANDERE PHILOSOPH
Was soll ich nun tun? Ich wende mich damit an unseren
Gruppenältesten und Moderator. Soll ich den Einwand des
Herrn Pfarrer übergehen und weiterfahren, oder darauf
antworten und dann weiterfahren?
DER MODERATOR
Ich denke, es sollte darauf geantwortet werden, wenn es an
dieser Stelle irgendwie möglich ist und sich in Ihre Darstellung
eingefügen lässt.
DER ANDERE PHILOSOPH
Selbstverständlich kann ich in diesem Augenblick nicht mit
einer vollständigen Antwort auf diesen Einwand eingehen. Ich
werde mich nur auf der ersten Ebene der Untersuchung nach
Gültigkeit bezüglich einer theologischen Aussage bewegen. Es
ist jene der Kohärenz, wie die beiden Theologen bereits gesagt
haben. Wenn zum glauben eine „besondere Gnade“ nötig ist,
dann heißt das, dass der Mensch „in seiner geschaffenen Natur“
nicht fähig ist, an Gott zu glauben. Wenn der Mensch aber nicht
von Natur aus fähig ist, zu glauben, dann stehen wir vor einem
Dilemma: entweder respektiert Gott sein Geschöpf und jegliche
Offenbarung Gottes ist unmöglich, oder Gott tut seinem
Geschöpf und seinem Werk Gewalt an und setzt sich damit in
Widerspruch gegen sich selbst. „
Oder aber das, was Sie als „eine besondere Gnade
bezeichnen“ ist Bestandteil der menschlichen Natur und ist ein
besonders erhabener Aspekt seines geschaffenen Seins, seines
gnadenhaft durch Gott geschaffenen Seins, selbstverständlich,
und dann kann die Philosophie diesen untersuchen und sein
Dasein bewundern.
DER DOMHERR
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
43
Genau. Der Mensch hat diese Zierde seiner Natur durch die
Ursünde verloren...
DER THEOLOGE, der Historiker und Exeget ist:
Lieber Mitbruder, ich bitte Sie, bringen Sie hier nicht die
überholten Lehrsätze der volkstümlichen Katechese aufs Tapet...
Sie lassen sich weder mit der Wissenschaft, noch mit dem
Anspruch nach logischer Stimmigkeit in der Theologie in
Einklang bringen. Sie beruhigten oder beängstigten seinerzeit
die Gemüter, aber heutzutage nicht mehr... Eine aufgeklärte und
genaue Exegese der Texte hat sie für immer ausgeschlossen...
Falls Sie es wünschen, können wir auf die Analyse des
Wahrheitswertes der Theologie in Funktion der Möglichkeit an
sich und der Natur des Glaubensaktes zurückkommen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Obwohl die Geschichte zeigt, wie sehr theologische
Bemühungen zum Ursprung mannigfaltigen philosophischen
Fortschrittes geworden sind, so erweckt der Herr Kanonikus den
Eindruck, der Philosophie das Nachdenken über den
Glaubensakt verbieten zu wollen. Tatsächlich hat sich aber das
Gegenteil ereignet. Es ist das Fehlen einer Philosophie des
menschlichen Glaubensverhaltens, welches die Theologen dazu
gebracht hat, sich mit einem von der Philosophie unabhängigen
Status der Offenbarung und des Glaubens abzufinden. Warum
sage ich „sich abfinden»? Weil die bereits existierenden
griechischen Philosophien nicht nur „verbessert“ werden
mussten, sondern „eine Neubegründung“ brauchten. Die
Theologen haben das noch nicht getan. Sie haben unbewusst
eine Schwachstelle des Denkens zu einer Stärke der
Offenbarung erhoben, und haben, immer noch unbewusst, einen
vermeintlichen Mangel an Fähigkeit im Menschen in eine
göttliche Fähigkeit verwandelt. Das haben sie getan, um a
posteriori über die konkrete Wirklichkeit des Glaubens der
Christen an die evangelische Offenbarung Rechenschaft
abzulegen. Nun wäre aber eine a priori Untersuchung der
Glaubensfähigkeit notwendig.
DER PSYCHOANALYTIKER
Diese Form der Übertragung könnte für die Psychoanalyse
interessant sein... Wir kennen ja die klassische Projektion
herausragender menschlicher Eigenschaften auf das Göttliche:
44
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Gott wäre demnach das in den Himmel projizierte Bild des
Vaters... des über alles Erhabene erhabenen Vaters... Aber hier
geht es nun darum, jene Kleider, welche der Mensch noch nicht
mit Eleganz zu tragen wusste, an Gott, den Lieferanten des
Menschen, zurückzuschicken... Sie kennen die Geschichte vom
armen Adam, dem Gott Kleider machen musste, um jenes
unglückliche Weinblatt, mit dem er sich nach seinem Fall
bedeckte, zu ersetzen...
Allgemeines Schmunzeln...
Jedenfalls könnte man den zwanghaften Drang, mit dem
gewisse religiöse Menschen den Menschen in seinem Wert
herabsetzen
und
ihn
mit
Schuld
beladen,
einer
psychoanalytischen Untersuchung unterziehen... Seinem
Schöpfer gereicht dieses Verhalten sicherlich nicht zur Ehre...
Wer den Menschen erniedrigt, erniedrigt auch dessen Urheber...
DER ANDERE PHILOSOPH
Sind Sie also der Meinung, dass der Glaube ein wesentlicher
Bestandteil der menschlichen Psyche ist?
Der Psychoanalytiker:
Wesentlich? Das weiß ich nicht. Ich heile lediglich krankhafte
Ausformungen, Neurosen des religiösen Verhaltens und seiner
irrationalen Glaubensüberzeugungen... Ihnen als Philosoph
hingegen obliegt es, sich zum konstitutiven Charakter eines
Glaubensbewusstseins zu äußern...
DER ANDERE PHILOSOPH
Es gehört tatsächlich zur menschlichen Natur. Wenn die
klassische Philosophie nicht davon spricht, so heißt dies noch
nicht, dass es nicht wirklich ist. Um es zu analysieren, muss der
Philosoph sich die volle Strenge der philosophischen
transzendentalen Methode auferlegen, so wie Kant ihre
Anwendung beschrieben hat: „Die a priori Bedingungen der
Möglichkeit und der Verständlichkeit einer jeden Handlung als
solcher suchen“. Kant hat dies allerdings nicht kühn genug
angewendet, da er bei seiner Analyse der Religion „innerhalb
der Grenzen der natürlichen Vernunft“ bleiben wollte. Den
Kritiken „der reinen theoretischen Vernunft und der reinen
praktischen Vernunft“ hätte er eine „Kritik der reinen
glaubenden Vernunft“ oder ganz einfach eine „Kritik der
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
45
glaubenschaftlichen Vernunft“ hinzufügen sollen. Diese
„Kritik“ wäre dann gleichzeitig eine „ganzheitliche Ontologie“
gewesen. Ihre Methode läuft darauf hinaus, „diejenigen
Erfordernisse zu ermitteln, die das Glaubensbewusstsein bilden,
insofern es wirklich ist“, also „auf der Ebene des Seins als
Sein“, wie es bereits Aristoteles in seiner als „Metaphysik“
bekannten Abhandlung ausgedrückt hat.
Deshalb ist es also so, dass ich als Philosoph in Bezug auf die
Möglichkeit an sich und das ontologische Fundament des
Glaubensaktes dazu verpflichtet bin, mir die Frage nach dem
Wahrheitswert des Bedeutungssystems zu stellen, das vom
Theologen
daraufhin
zur
Verständlichmachung
der
evangelischen Botschaft genutzt wird.
Kurz ausgedrückt: Die grundsätzliche Frage muss ausgehend
von der Möglichkeit und von der Natur des Glaubensaktes
gestellt werden: „Steht die klassische Philosophie, welche von
der Kirche benutzt wird, mit der evangelischen Botschaft in
Einklang, und erlaubt sie deren angemessene Darstellung?“
Wenn die Verständlichkeit des Glaubensaktes im Bewusstsein
nicht offensichtlich ist, wie wäre dann das Bewusstsein einer
Verständlichkeit der Offenbarung möglich? Wenn es in Gott
keine interpersonale Struktur der Mitteilung des Seins in
absoluter Vollkommenheit gibt, wie könnte man dann auf
verständliche Weise anerkennen, dass Er fähig ist, zu erschaffen
und sich zu offenbaren? Und wie könnte es dann außerdem –
ohne dass diese Fragen jetzt beantwortet werden – eine
unverfälscht fruchtbare pastorale Darstellung geben?
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler
Sie scheinen mir gleichzeitig mit der klassischen Philosophie
sehr streng und der Offenbarung gegenüber sehr optimistisch zu
sein. Außerdem frage ich mich, ob sich der Theologe dadurch,
dass er erfährt, dass er eine unangemessene Philosophie
verwendet, untergraben fühlt, oder aber ermutigt, weil er die
Offenbarung mit einer weitaus geeigneteren Philosophie wird
bezeugen können...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich meinerseits denke, dass die beiden Theologien so lange
nebeneinander existieren müssen, wie sie von der Offenbarung
in angemessener Weise Zeugnis ablegen können, je nachdem ob
sie sich an Gläubige richten, die sich innerhalb eines klassischen
46
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Bedeutungssystems bewegen, wo die Vernunft vorgibt, die
glaubende Natur des menschlichen Geistes nicht zu kennen,
oder aber an solche, die sich innerhalb einer
„glaubenschaftlichen“ philosophischen Perspektive bewegen,
weil diese der wesentlich zur menschlichen Natur gehörenden
Fähigkeit, zu „glauben“, Rechnung trägt. Wünschen wir uns
außerdem, dass diese neue Perspektive auf jene anziehender
wirkt, die sich von der klassischen katechetischen Unterweisung
abwenden, ohne genau zu wissen, weshalb.
DER DOMHERR
Es war nicht meine Absicht zu sagen, dass der „Katechismus“
lediglich eine gute Formulierung der katholischen Lehrmeinung
ist. Er sagt uns vielmehr, was der wahre Glaube an die
Wahrheiten der Offenbarung Gottes ist. Sind diese
Offenbarungswahrheiten „gut formuliert“? Darüber kann man
streiten. Sicherlich sind Verbesserungen möglich! An der
Synode von 1985 äußerten die Bischöfe übrigens den Wunsch,
dass „die Darlegung biblisch und liturgisch gehalten sein soll,
die rechte Lehre bieten und zugleich dem heutigen Leben
angepasst sein soll“.
Indem ich den Papst zitierte, wollte ich implizit auf die Frage
nach der Wahrheit der Aussagen des Katechismus antworten. Es
scheint mir übrigens äußerst schwierig, die „Wahrheit“ des
Katechismus dadurch feststellen zu wollen, dass man ihn mit der
„Wirklichkeit“ einer Offenbarung vergleicht, da diese ja nur
durch die Kirche und die Tradition hindurch, unter der Leitung
des Heiligen Geistes, also durch den „Glauben der Kirche“
hindurch, erkannt wird.
Die katholische Lehre lässt sich nicht mit einer
naturwissenschaftlichen
Theorie
vergleichen.
In
den
Naturwissenschaften werden Theorien mit den Tatsachen
verglichen. Die Theorien werden immer (immer ] dadurch) wahrer,
wenn (wenn ] dass) sie die Tatsachen immer besser erklären. Aber
in unserem Fall identifiziert sich die Kenntnis der
Offenbarungstatsachen irgendwie mit der Kirche selber. Es gibt
also keine wahre, umfassende und vollständige Erkenntnis der
Offenbarung, außer in Einheit mit der katholischen Kirche.
Ich könnte nochmals einen Ausschnitt aus „Fidei depositum“
zitieren: Der Papst verlangt von den „Hirten und Gläubigen,
diesen Katechismus im Geist der Gemeinschaft anzunehmen und
ihn sorgfältig bei der Erfüllung ihrer Sendung zu benutzen,
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
47
wenn sie das Evangelium verkünden und zu einem Leben nach
dem Evangelium aufrufen. Dieser Katechismus wird ihnen
anvertraut, damit er als sicherer und authentischer Bezugstext
für die Darstellung der katholischen Lehre und in besonderer
Weise für die Ausarbeitung der örtlichen Katechismen dient. Er
wird zugleich allen Gläubigen angeboten, die die Kenntnis der
unerschöpflichen Reichtümer des Heiles vertiefen möchten.
Er möchte ferner den ökumenischen Bemühungen, die den
heiligen Wunsch nach Einheit aller Christen pflegen, eine Stütze
bieten, indem er den Inhalt und den harmonischen
Zusammenhang des katholischen Glaubens genau aufzeigt. Der
„Katechismus der katholischen Kirche“ ist endlich einem jeden
Menschen angeboten, der uns nach dem Grund unserer
Hoffnung fragt und kennenlernen möchte, was die katholische
Kirche glaubt.“
Auf diese Antwort reagieren die anderen Teilnehmer mit
Schweigen. Sie haben den Eindruck, dass der Domherr die
vorausgegangenen methodologischen Anmerkungen nicht
beachtet.
DER THEOLOGIEPROFESSOR, um die Äußerungen seines
Kollegen im Priesteramt etwas zu relativieren:
Jedenfalls sollte nicht der Eindruck entstehen, dass mein
Mitbruder beansprucht, alle Aussagen des Katechismus seien
der Gegenstand einer einzigen Glaubenszustimmung. In den
Definitionen des Glaubens gibt es „Abstufungen“... Der Heilige
Geist weht nicht in einförmiger Weise... wenn Sie wollen...
Außerdem stehen neben den „Artikeln des Glaubens“
hauptsächlich die Personen, an die wir glauben: Jesus Christus
und Gott. Die Artikel des Glaubens tun nichts weiter, als diese
Glaubensrelation zu explizieren. Es wäre ein schwerwiegender
Fehler, den katholischen Glauben einzig auf die Annahme von
„Dogmen“ zu reduzieren. Das ganze Leben der Kirche würde,
falls das nötig wäre, eine solche Deutung widerlegen, auch wenn
es wahr ist, dass die katholische Kirche sich mehr als die
anderen christlichen Konfessionen und die anderen Religionen
seit Jahrhunderten darauf festgelegt hat, „das, was man zu
glauben hatte“ in Formeln zu fassen. Übrigens müssen diese
dogmatischen Definitionen – wenn man ihren Geist recht
verstehen will – ganz im Gegenteil ein klareres Bewusstsein
unserer Glaubensbeziehung zu Gott und zu Jesus Christus –
48
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Glaube an Gott durch Jesus Christus –, zulassen, und daher
auch, diesen Glauben auf authentischere Weise und mit mehr
Freiheit zu leben. Tatsächlich kann der Glaube nämlich, dank
dieser Definitionen, auf eine von den Strömungen der
menschlichen Religiosität und sektiererischen Entwicklungen
unabhängigere Weise gelebt werden. Das „ich glaube dass...“ ist
dem „ich glaube an...“ ganz und gar untergeordnet. Das sollte
man nie vergessen.
Am Beginn einer Diskussion über den Glauben, wie dieser,
die hier unter uns an diesem Tisch stattfindet, wäre es gut, denke
ich, die Stellung des „Theologen“ in der katholischen Kirche
und in seiner Beziehung zur „Welt“ etwas genauer zu
umschreiben. Der Theologe ist in erster Linie ein Glaubender.
Danach steht er in Glaubensgemeinschaft mit der Kirche und
ihrer Überlieferung. Und schließlich gebraucht er alle
Möglichkeiten der Vernunft, also die Philosophie und die
Wissenschaften, besonders die Humanwissenschaften, um
einerseits die Quellen seines Glaubens und deren Bedeutungen
besser zu verstehen, und andererseits einen Ausdruck und eine
Umsetzung davon vorzuschlagen, die der Welt, welche die seine
ist, angepasst sind.
DER ANDERE PHILOSOPH
Sie haben gesagt, dass unterschieden werden muss zwischen
dem „was ich glaube“ und dem „ich glaube an...“. Diese
Unterscheidung hat ihre Gültigkeit innerhalb der Einheit dieser
beiden Aspekte des Glaubens. Die „dogmatischen Lehrsätze“
falten den existentiellen Reichtum der „Glaubensbeziehung“
aus. Dieses Ausfalten kann, wohlverstanden, für den gelebten
Glauben eines jeden Glaubenden sehr erleuchtend wirken, wenn
er darum bemüht ist, der katholischen Rechtgläubigkeit gemäß
und nur so „an Gott und an Jesus Christus“ zu glauben.
Man kann nun aber noch zwei andere Fälle logisch
betrachten. Den des Menschen, der außerhalb der katholischen
Lehrmeinung darum bemüht ist, durch Jesus Christus an Gott zu
glauben; und jenen anderen Menschen, der nicht nur darum
bemüht ist, gemäß der katholischen Lehrmeinung zu glauben,
sondern außerdem noch dafür Sorge trägt, dass diese
Lehrmeinung der Wirklichkeit einer Offenbarung Gottes durch
Jesus Christus so nahe wie möglich kommt. Daher also ist es
überdies angemessen, zwischen „dem gelehrten katholischen
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
49
Glauben» und „der Offenbarung Gottes durch Jesus Christus“ zu
unterscheiden.
Hier beziehe ich mit ein, dass Ihr Kollege gut erklärt hat, dass
die Offenbarung uns ohne ihre Ausdrucksweisen in den Kirchen
nicht zugänglich wäre. Und doch lässt sich die Wahrheit der
Offenbarung nicht auf ihre dogmatischen Ausdrucksweisen
reduzieren. Es ist, wie er gesagt hat: Das theologische Denken
bewegt sich in einem hermeneutischen Zirkel.
Nun ist es aber so, dass jede Hermeneutik im Bezug auf eine
Auffassung vom Sein, von der Wirklichkeit, von dem, was der
Mensch ist, und von dem, was man über Gott denkt, entwickelt
wird. Kurz gesagt: Jede Theologie wird, ob sie will oder nicht,
und ob sie es wahrhaben will oder nicht, im Bezug auf eine
Ontologie oder Metaphysik erarbeitet. Und die schlimmste aller
Situationen ist die, dies nicht zuzugeben und die von der
Theologie benutzte Ontologie nicht genau und klar zu kennen...
Es kommt hinzu, dass es nicht möglich ist, die Wahrheit der
Offenbarung dadurch in Worte zu fassen, dass man sich der
Wahrheit ihrer Ausdrucksweise dadurch vergewissert, dass man
sie objektiv der Offenbarungstatsache selbst gegenüberstellt.
Dies würde nämlich tatsächlich voraussetzen, dass die
Gläubigen (oder einige Bevorzugte unter ihnen) eine
unmittelbare Kenntnis Gottes selber besäßen. Dies ist
unmöglich, sogar in der negativen Form, die in Irrtumsfreiheit
bestehen würde und die die Unmöglichkeit, alles zu begreifen,
nicht ausschließt... Laut Platon hat Sokrates bereits eine Art
„Führung“ durch seinen „Schutzgeist“, seinen „daimôn“, zur
Sprache gebracht. Aber dabei handelte es sich um nichts weiter
als eine Art der imaginären „Verdoppelung“, um eine normale
intellektuelle Verhaltensweise verständlich zu machen.
Daher muss man also die Wahrheit ihrer Ausdrucksweise in
Funktion der Wahrheit der angewendeten Philosophie
beurteilen. Aber auch hier kann die Philosophie als solche,
selbst die vollkommenste und am weitesten entwickelte, nicht
selbst darüber urteilen, wie und ob sie der Offenbarung Gottes
angemessen ist. Der Philosoph ist sich nämlich bewusst, dass er
keine unmittelbare Gotteserkenntnis besitzt. Kein Mensch kann
dies unter irgendeiner Form beanspruchen, nicht einmal
aufgrund irgendeiner besonderen Zuwendung Gottes: Denn Gott
handelt nicht mit wilder Phantasie, am Rande seines
allumfassenden bleibenden schöpferischen Wirkens. Außerdem
gibt es keine für den Glauben zuständige Autorität, die dies tun
50
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
könnte, indem sie sich in eine Vorrechtsstellung erhebt, die es
ihr dann erlauben würde, ein philosophisches System mit der
Wirklichkeit der Offenbarung zu vergleichen.
Die Philosophie kann also einzig durch die genaue
Untersuchung der zum Aufbau des menschlichen Bewusstseins
gehörenden Glaubensfähigkeit darüber urteilen, ob sie selber
einer Offenbarung angemessen ist. Einzig von da aus kann der
Theologe sich, mit Hilfe der Philosophie, darauf zubewegen, der
Offenbarungswirklichkeit einen angepassten Ausdruck zu
verleihen. Jeder Mensch ist in seiner Situation von
geschichtlicher Kontingenz ein Glaubender, und von Natur aus
Philosoph. Daher ist jeder wirklich glaubende Mensch auch
wirklich, durch eine dem Personsein eigene Fähigkeit und ohne
innere intellektuelle Persönlichkeitsspaltung, Philosoph, und
automatisch „Theologe“. Er ist ein spontaner „Theologe“, in
dem „methodologischen“ Sinn, den wir diesem Ausdruck geben,
obwohl er nicht „offizieller oder institutionsgebundener
Theologe“ ist; so, wie auch jeder Mensch intuitiv und spontan
Philosoph sein kann, obwohl er nicht offiziell „Doktor der
Philosophie“ ist.
Durch diese Tatsache selbst ist es gegeben, dass der
glaubende Theologe grundsätzlich über die Wahrheit-in-sich der
Offenbarung urteilen kann, ohne eine unmittelbare oder
außerordentliche Kenntnis dieser Offenbarung zu besitzen. Er
wird dies gültig und einwandfrei vollziehen, insofern seine
„Offenbarung“ durch eine doppelt fähige Philosophie
einwandfrei ausgedrückt werden kann: durch eine Philosophie,
die sowohl den Glaubensakt genau analysieren, als auch eine
Ontologie erarbeiten kann, welche die Bedingungen der
Möglichkeit dieses Glaubensaktes im Menschen und der
Offenbarung in Gott gültig darstellen kann.
Die Philosophie kann also die Bedingungen der
Verständlichkeit und der Möglichkeit einer authentischen
Offenbarung bestimmen, indem sie eine interpersonale und der
„glaubenschaftlichen“
Dimension
des
menschlichen
Bewusstseins Platz einräumende Ontologie vorlegt. Dies tut sie
nicht durch reflexive, erst recht nicht durch experimentelle
Erkenntnis dieser Offenbarung Gottes, was ja grundsätzlich
unmöglich ist; sondern durch die reflexive Analyse der
konstitutiven Aufnahmefähigkeit gegenüber dieser Offenbarung,
einer Aufnahmefähigkeit, die notwendigerweise als solche
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
51
geschaffen wurde, von einem Schöpfer, dessen Sein darin
besteht, sich persönlich zu offenbaren.
DIE VERSTÄNDLICHKEIT EINER OFFENBARUNG SETZT DIE
VERNUNFTGEMÄßHEIT DES GLAUBENSAKTES VORAUS
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Um in dieser Art zu denken, müssen Sie, mein Herr, die
vollkommene Kohärenz des Handelns Gottes postulieren,
nämlich eine bestimmte Ähnlichkeit zwischen schöpferischem
und offenbarendem Wirken, ein Ineinander-Übergehen von
schöpferischem und offenbarendem Wirken. Oder noch
grundlegender: Die Unterscheidung zwischen Schöpfung und
Offenbarung hat ausschließlich vom Menschen aus betrachtet
einen Sinn. In Gott sind Schöpfung und Offenbarung eine
einzige Tätigkeit, so dass man durchaus sagen kann, dass die
Schöpfung bereits eine Art Offenbarung ist, und dass die
Offenbarung in Jesus, also die Fleischwerdung des Wortes
Gottes, genau der Schöpfung entspricht. Können Sie dieses
Postulat rechtfertigen, obwohl, wie Sie sagten, kein Mensch
Gott erfahren oder eine unmittelbare Gotteserkenntnis besitzen
kann?
DER ANDERE PHILOSOPH
Das trifft genau zu. Das, was ich gesagt habe, impliziert
dieses Postulat. Es ist ein Postulat der Gleichartigkeit in der
Differenz von Schöpfung und Offenbarung. Wie kann man das
rechtfertigen? Aufgrund des vom menschlichen Geist gestellten
Anspruches auf Verständlichkeit kraft des Prinzips der
universellen Intelligibilität. Dieses kann gemäß den
verschiedenen Erkenntnismethoden verschiedene Formen
annehmen. In den Naturwissenschaften begegnet es uns in der
Gestalt des Determinismus; in der Mathematik (den
Mathematiken) und der Logik (den Logiken) – in der Einzahl
oder Mehrzahl! – in jener einer kohärenten Konstruktivität; in
der Philosophie in der Gestalt des Prinzips des zureichenden
Grundes, formuliert durch Leibnitz, oder in seiner klassischen
aristotelischen und thomistischen Gestalt, als Prinzip der
Verständlichkeit alles Seienden. Omne ens est intelligibile. Und
Gott ist das höchste Erkennbare. – Sie sehen, man sollte nicht
alle Aussagen der klassischen Philosophie ablehnen... Es reicht
aus, das, was sie zu analysieren unterlassen hat, hinzuzufügen,
52
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
und dann eine Synthese neu zu erarbeiten, die mehr Dinge
einschließt und auf einem anderen Unterbau ruht... Wobei man
natürlich nicht daran vorbeikommt, den Sinn des von ihr bereits
Systematisierten zu verändern. Tatsächlich hat nämlich eine
Aussage eines philosophischen Systems ihren vollen Sinn erst
durch die Beziehung zur Ganzheit dieses Systems...
DER DOMHERR
Und dieses Prinzip können Sie begründen?
DER ERSTE PHILOSOPH
Es handelt sich hier um ein erstes, oder, wenn Sie es
vorziehen, letztes Prinzip. Es ist das Prinzip der Möglichkeit als
solcher aller Erkenntnis und Beweise. Der menschliche Geist
besitzt davon im Bewusstsein seiner eigenen Wirklichkeit eine
intuitive und unmittelbare Kenntnis. Übrigens ist die
Philosophie nichts weiter als die Explizierung dieser Intuition...
DER DOMHERR
Wenn ich recht verstehe, dann beansprucht die Philosophie,
wenn es darum geht, den katholischen Glauben zu beurteilen,
eine dominierende Stellung... Verhält sie sich den anderen
Religionen gegenüber genauso? Diese Magd der Theologie lässt
sich ihre Dienste teuer bezahlen... Man müsste eher von einer
„Gebieterin“ sprechen...
DER MODERATOR
Warum nicht? Es gibt charmante Gebieterinnen... und wenn
sie obendrein die rechtmäßige und einzige Gattin ist... dann
sollte man sich nicht beklagen...
(Vereinzeltes Schmunzeln... um sich danach wieder besser auf
das Thema zu konzentrieren...)
DER THEOLOGE, der Exeget und Historiker ist:
Im Laufe der Geschichte sind diese Dienerinnen allerdings
nicht immer dermaßen angenehm gewesen... Wegen ihrem
Mangel an Fähigkeiten wurden sie zur Ursache mehrerer
theologischer Streitigkeiten... Besonders jener um Arius und um
Nestorius...
Die Bischöfe der Synode haben 1985 eine Instruktion verfasst
– Sie haben diese in Erinnerung gerufen, Herr Kanonikus – „Die
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
53
Darlegung muss biblisch und liturgisch gehalten sein, die rechte
Lehre bieten und zugleich dem heutigen Leben angepasst sein.“
Man könnte meinen, dass die Bischöfe damit einen Hinweis
geben, um unter all diesen Mägden jene zu erkennen, die den
begehrten Titel „Braut“ verdienen würde. „Biblisch und
liturgisch...“
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
In der Tat! Diese gute Dienerin, die zur Braut erhoben wird,
wäre eine Philosophie, die der Tatsache der Erfahrung des
biblischen und liturgischen Glaubens Rechnung trägt, und deren
Verständlichkeit zum Ausdruck bringt. Eine wahre Braut achtet
die „Wirklichkeit“ ihres Bräutigams, des Offenbarers, und
erwirbt eine angemessene Kenntnis seiner. Die Wirklichkeit der
Offenbarung ist Jesus Christus, vermittelt durch das Zeugnis der
Kirchen. Eine durch eine ganzheitliche und daher auch
„glaubenschaftliche“ – hier nehme ich den Sprachgebrauch
Herrn Debruquels wieder auf – Philosophie erleuchtete
Glaubenszustimmung gelangt zu einer angemessenen, wenn
auch unfertigen Erkenntnis seiner. Hier befinden wir uns mitten
in der biblischen und evangelischen Zeichenwelt: Israel, die
Braut des Ewigen Gottes; die Kirche, Braut Christi... Die
Ordnung des Wirklichen und jene der Erkenntnis fügen sich hier
wieder zusammen, indem sie in einer Art Identität eine
Beziehung der Offenbarung und des Glaubens bilden, eine
interpersonale Beziehung zwischen dem Offenbarer und dem
Glaubenden. Zusätzlich brauchen wir eine Philosophie, die dazu
geeignet ist, die Erkennbarkeit dieser Beziehung zum Ausdruck
zu bringen, damit die Beziehung der Braut zu ihrem göttlichen
Bräutigam authentisch sei!
DER ERSTE PHILOSOPH
Mit dieser Sicht der Dinge kann man auch bei einem
klassischen Philosophen kein Missfallen erregen.
Es ist ein Prinzip der Epistemologie oder der allgemeinen
Erkenntnistheorie, die Ebene der Wirklichkeit klar von jener des
Erkennens zu unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die
ontologische Wahrheit, also die Wirklichkeit, insofern sie
erkennbar ist; auf der anderen Seite die logische Wahrheit, also
unsere mehr oder weniger angemessene Erkenntnis dieser
Wirklichkeit. Dies bewahrheitet sich in den Naturwissenschaften, in der Mathematik und genauso in unserer Disziplin,
54
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
der Philosophie. Und diese Unterscheidung schließt nicht aus,
dass das erkennende Subjekt gelegentlich oder sogar oft selber,
zumindest teilweise, zum Gegenstand seines Erkennens gehört.
Aber ist es im Fall eines Glaubens und einer Offenbarung
ganz genauso? Befindet man sich, wenn es „Offenbarung“ gibt,
nicht bereits im Bereich des Wortes, des Gesprächs und daher
direkt innerhalb des Bereiches der „logischen“ Wahrheit? Ist die
Offenbarung nicht bereits – nehmen wir eben an, dass es eine
Offenbarung Gottes durch Jesus Christus gibt und dass diese
Offenbarung nicht in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie
fällt – ein „Wort“, das uns die „Wahrheit“ über eine
„Wirklichkeit“ sagt? Wir befänden uns daher weniger in einer
Situation der Suche nach der Wahrheit über eine andere
Wirklichkeit, als vielmehr in einer Situation der Deutung einer
bereits zum Ausdruck gebrachten Wahrheit? Es gibt dabei so
etwas wie eine Identität des Seins und des Erkennens, welche
keine Ontologie der Glaubensbeziehung voraussetzt, sondern
lediglich eine „Deutung“ des biblischen Textes, von der Art, wie
sie vielen Exegeten aus jüdischen Umfeldern geläufig ist.
DER ANDERE PHILOSOPH
Es sei denn, dass dieses „Offenbarungswort“ mehr als nur ein
Wort, und in sich selber eine „lebendige Wirklichkeit“ wäre!
Sich einen Gott vorzustellen, der den Menschen auf der Ebene
der Sprache beeinflusst, ist ein Anthropomorphismus, den es
noch zu entschlüsseln und erklären gilt. Diesen
Anthropomorphismus in seinem wörtlichen psychologischen
Sinn zu verstehen ist sicherlich ein Irrweg... Und daher bleibt
meine Unterscheidung zwischen einer Offenbarungswirklichkeit
und der Suche nach ihrem Sinn mit Hilfe einer angemessenen
Philosophie gültig. Ich bin mir bewusst, dass man heute dahin
tendiert, alles deuten zu wollen, und nicht im Sinne eines
„subjektiven Urteils“, sondern in dem Sinne, dass man jegliche
Form der Erkenntnis, auch die naturwissenschaftliche, deuten
möchte. Daher ziehe ich es für meinen Teil vor, zu bedenken,
dass die Erkenntnis, oder besser: dass jede Form der Erkenntnis
darin besteht, mit bleibender Gültigkeit und der eigenen
Methode eines jeden folgend, eine spezifische Erkennbarkeit zu
entdecken, deren Konformität mit der Wirklichkeit in
gleichbleibender Weise wahrgenommen werden kann. Die
Erkenntnis einer Offenbarung kann sich dieser grundlegenden
Führung durch die Vernunft nicht entziehen. Meine Antwort ist
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
55
ein bisschen voreilig. Dafür bitte ich um Entschuldigung, aber
wenn sie weiter ausgeführt werden müsste, dann würde uns das
mitten in eine Vielzahl von Diskussionen über die Natur der
Erkenntnis führen. Diese sollten wir zweifellos im einen oder
anderen Moment unserer Gespräche über den Glauben
skizzieren... besonders, um die Natur der im Alten und jener im
Neuen Testament formulierten Offenbarung festzustellen.
Außerdem möchte ich meinem Kollegen für seinen Beitrag
danken, der tatsächlich unsere Aufmerksamkeit auf die Existenz
gewisser unbewusster, aber richtungsweisender Voraussetzungen unserer Diskussion lenkt.
DER DOMHERR
Aber wenn die Philosophen davon ausgehen, dass jegliche
Erkenntnis eine Erfindung ist, dann bewegen wir uns nicht mehr
im Bereich des Glaubens. Der Glaube erfindet die Offenbarung
nicht, sondern er empfängt sie.
DER ANDERE PHILOSOPH
Sicherlich, Herr Kanonikus: Eine Offenbarung wird im
Glauben „empfangen“. Es liegt mir fern, eine derartige
Selbstverständlichkeit in Abrede zu stellen. Außerdem wäre es
angebracht, die „Empfangbarkeit“ einer Aussage der
Offenbarung festzustellen. Die diesen Wirklichkeiten
zugeordneten Begriffe sind nicht so klar, wie es auf den ersten
Blick scheint. Wenn eine Offenbarung also „empfangen“ wird,
und das sogar mit Dankbarkeit und Anerkennung – denn der
Glaube enthält Dankbarkeit; ich sage Dankbarkeit und nicht
Unentgeltlichkeit – so muss derweil doch deren Verständlichkeit
erfunden werden, eine Verständlichkeit, die zunächst in sich
selbst kohärent ist, wohlverstanden, und dann muss diese
„Erfindung“ der „Wirklichkeit“ der tatsächlich in einem durch
den
Schöpfer-Offenbarer
vorgeformten
„Glaubensakt“
empfangenen „Offenbarung“ gegenübergestellt werden.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Sie argumentieren genau wie ein Philosoph! Sie wollen den
Dingen auf den Grund gehen und alles in klare Begriffe fassen.
Man muss aber auch dem symbolischen Denken, das sehr reich
an Bedeutungsinhalten ist, Beachtung schenken. Es ist in der
Sprache des Glaubens sehr wichtig und öffnet der Deutung ein
weites Feld, in der Tat! Die kirchlichen Dokumente dienen unter
56
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
anderem auch der Regelung dieses Denkens, von dem sie selber
ausführlich Gebrauch machen. Die Philosophen mit ihrer Sorge
um Klarheit werden daran also immer etwas auszusetzen
haben...
DER ERSTE PHILOSOPH
Sie werden uns doch wohl nicht dafür tadeln, dass wir in
unseren Äußerungen genau sein wollen!
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Nein, nein, ganz sicher nicht! Das ist nicht meine Absicht...
DER MODERATOR
Die Zeit unserer Zusammenkunft neigt sich dem Ende zu.
Würden Sie bitte kurz antworten und dann die wichtigsten
diskutierten Gedanken zusammenfassen? Herzlichen Dank...
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Ja,... ich werde es versuchen... Als Philosophen haben Sie es
sich zur Aufgabe gemacht, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Das ist nötig. Und wenn Ihr Philosophen es nicht tun würdet!
Wer dann? Daher sind alle hier Anwesenden mit eurer Sorge um
Genauigkeit einverstanden, da der Theologe der erste sein wird,
der davon profitiert... Sie sehen also, dass wir Theologen die
Philosophie nicht von uns weisen... wir bedienen uns ihrer. Aber
wir „machen“ keine Philosophie..., damit will ich sagen, dass
wir, in unserer Eigenschaft als Theologen, keine philosophischen Systeme „konstruieren“, sondern jene gebrauchen, die
wir vorfinden, vorausgesetzt natürlich dass sie, eine zureichende
menschliche Standhaftigkeit (Standhaftigkeit ] Fundierung)
aufweisen, um die Übersetzung der Wahrheiten der Bibel, des
Neuen und des Alten Testamentes, für diejenigen, deren geistige
Nahrung sie darstellen, zu erlauben. Wohlverstanden: Der
Mensch, der Theologe ist, kann auch dann zum „Philosophen“
werden, wenn die bestehenden und ihm zur Verfügung
gestellten Philosophien ihm nicht vollständig entgegenkommen.
Denken wir etwa – um nur eines und nicht das einzige Beispiel
zu nennen – an die philosophierenden Theologen des
Mittelalters.
So haben die frühen Kirchenväter vieles aus stoischem
Gedankengut geschöpft, da dieses das am weitesten verbreitete
war. Mein Kollege, der Historiker, hat darauf hingewiesen, dass
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
57
die Theologen, besonders Augustinus, sich von platonischen
Vorstellungen inspirieren ließen. Diese sind reichhaltiger und
kamen dem bereits entwickelten theologischen Gedankengut
eher entgegen. Relativ spät, nämlich im Mittelalter, griffen die
Theologen auf aristotelische Argumentationen zurück; dies
betrifft vor allem Thomas von Aquin. Im Verständnis des
christlichen Glaubens setzte sich eine noch größere Besorgtheit
um Genauigkeit durch. Thomas hat das System des Aristoteles
sogar vervollkommnet. Heutzutage lassen sich Theologen,
wenigstens teilweise, zusätzlich von modernen Autoren
inspirieren... Es handelt sich um das, was wir als „Inkulturation“
oder Angleichung der Lehre der Kirche an die Welt, in der wir
leben, bezeichnen. Dies bewahrheitet sich nicht nur in der
westlichen Welt, sondern auch in den großen Kulturen Chinas,
Japans und Indiens. Und die katholische Theologie in Afrika
greift auch auf die Erkenntnisse und Weisheiten der Alten
zurück... Und trotzdem ändert sich die christliche – biblische
und evangelische – Botschaft nicht. Aber sie stellt sich in
unterschiedlicher Weise dar, in Funktion der Völker und
Kulturen, damit diese mit ihrem Glauben antworten können,
ohne dabei ihre eigenen menschlichen Errungenschaften in
Abrede stellen zu müssen. Im Grunde genommen ist die
Theologie nicht an eine bestimmte Philosophie gebunden. Es ist
aber wohlgemerkt nötig, dass diese Philosophien nicht zu
grundsätzlich und in zu vielen Punkten den großen Ideen der
christlichen Botschaft widersprechen. Ein Mindestmaß an
Übereinstimmung ist wohlgemerkt vorausgesetzt.
Der Theologe nimmt daher nicht genau dieselbe
Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und seiner
Erkennbarkeit vor wie Ihr Philosophen. Er wird den Text
weniger auf eine ontologische Gegebenheit beziehen, als
vielmehr auf eine kulturell-geschichtliche Gegebenheit. Dabei
ist er sich allerdings bewusst, dass jede Kultur ihren Blick auf
eine „ontologische Gegebenheit“ ausrichtet, und dass jeder
Versuch, sich dieser ontologischen Wirklichkeit bewusst zu
werden, eine Art besonderer Kultur begründet und sich in ihr
entwickelt. Auch kann er nicht anders, als jede philosophische
Bemühung zu begrüßen.
Neben dem lehrenden Theologen wie mir, mit der Weitergabe
einer überlieferten Lehre beauftragt, gibt es den Theologen, der
Exeget und Historiker ist; er ist für die Quellen der Offenbarung
zuständig, und den Pastoraltheologen und Missiologen, der den
58
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Sinn der Offenbarung in andere Kulturen überträgt. Es gibt auch
den noch weiter spezialisierten Theologen, der, wie mein
anderer Mitbruder, für das vertiefte Verständnis der
Offenbarung zuständig ist. Er interessiert sich in besonderer
Weise für erneuernde philosophische Forschungen, die ihm
diese Vertiefung möglich machen. Vielleicht wird er einen Weg
finden, neuartigen, von den Gläubigen gehegten Erwartungen
entgegenzukommen. Dann wird er für pastorale und exegetische
Perspektiven Aufmerksamkeit zeigen. Und wenn diese
Erneuerung bei den Gläubigen ein gutes Echo findet, werden
seine theologischen Überlegungen in der gebräuchlichen
Glaubensunterweisung ihren Platz finden.
Die Frage unserer Kollegen hat uns also auf raue Pfade
geführt... Glaube und Offenbarung, Glaube und Vernunft,
Glaube und Kultur, Glaube und Theologie, Glaube und
Erkenntnis, Glaube und Freiheit, Glaube und die Natur des
Menschen, Glaube und Geschichte... Kurz gesagt: „der Glaube,
die Menschen und Gott...“. Vielleicht ist es an der Zeit, die
Herausforderung, die in diesen Geheimnissen liegt,
anzunehmen.
EINE FRAU
Ihrer Aufzählung müsste noch „der Glaube und die
Religionen“ hinzugefügt werden. Als Historikerin stelle ich fest,
dass der Glaube der Menschen nicht in einer einzigen Gestalt
zutage tritt, sondern im Rahmen mehrerer Religionen. Nicht nur
das, was den Leuten zu glauben angeboten wird, ändert sich,
sondern auch ihr subjektives Glaubensverhalten. Dies reicht von
Menschenopfern an eine Gottheit bis hin zu mystischen Extasen
und anderen paranormalen Phänomenen. Je mehr Letztere die
einfachen Menschen beeindrucken, umso leichter vermischen
sie sich mit religiösen Überzeugungen und mit Religion
überhaupt.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Die Frage unserer Kollegen bezüglich des römischen
Katechismus ist also nichts weiter als der Startschuss für
Fragestellungen, die den Rahmen des Katholizismus sprengen
und jede beliebige Religion betreffen.
EINE ZWEITE FRAU
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
59
Ich bin Lutheranerin, und von Beruf Anwältin. Ich bin hier in
Gesellschaft zweier Freundinnen, eine von ihnen ist Pastorin in
einer großen Provinzstadt. Da es scheint, dass unsere
Diskussionen über den Glauben auch andere Religionen außer
dem Katholizismus betreffen müssen, würde ich gerne wissen,
ob es in unserer Gruppe Männer oder Frauen anderer Religionen
gibt, zum Beispiel Angehörige des Judentums oder des Islam?
In unseren ökumenischen Zusammenkünften mit den Katholiken
richten wir unsere Aufmerksamkeit auf alles, was die
institutionellen Spaltungen hinter sich lassen könnte.
Daher interessiert mich ihre Meinung.
EINE DRITTE FRAU
Mein Mann und ich sind Juden. Er ist Kardiologe, ich
Gynäkologin. Er nimmt zurzeit an einem anderen Kolloquium
teil; an jenem über „medizinische Praxis und Ethik“. Da auch er
an religiösen Fragen interessiert ist, und ethische Fragen auch
mir wichtig sind, haben wir uns die Arbeit geteilt... Jeder nimmt
an einem anderen Kolloquium teil. Ich werde ihn danach über
die Arbeit dieser Gruppe informieren, und er wird mir über die
Arbeit seiner Gruppe berichten... Ich könnte mit ihm darüber
reden... Vielleicht könnten wir die Gruppe tauschen...
DER ERSTE PHILOSOPH
Und ein Vertreter des Islam? Keiner von uns! Ich werde also
meinen Kollegen für diesen Nachmittag einladen, falls ich ihn
sehe.
DER MODERATOR
Ich mache darauf aufmerksam, dass es an der Zeit ist, diese
erste Zusammenkunft zu beenden.
Danken wir einander für diesen erfolgreichen Gedankenaustausch. Wir treffen uns heute Nachmittag um 16 Uhr wieder
in diesem Raum.
ZWEITE BEGEGNUNG
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES
VERSTANDEN
DER MODERATOR
Ich begrüße die neu zu uns gestoßenen Teilnehmer. Herzlich
willkommen! Erlauben Sie mir einige Worte, um sie über unsere
ersten Diskussionen ins Bild zu setzen. Die Frage, anhand derer
man alles zusammenfassen kann, war: „Wie kann man den
Wahrheitswert einer Doktrin des Glaubens beurteilen?“ Der
Ausdruck „Doktrin des Glaubens“ wurde verstanden als
gleichbedeutend mit „Inhalt, Gegenstand, Botschaft und Lehre
einer Offenbarung“, insofern man dieser Offenbarung anhängt.
Der Begriff „Glaube“ wurde von den Teilnehmern im
Allgemeinen als gleichbedeutend mit „Akt, innerer Weg,
Verhalten und Zustimmung des Glaubens“ an den Offenbarer
und seine Offenbarung verstanden. Die Begriffe „Glaube“ und
„Offenbarung“ setzen sich gegenseitig voraus und stehen in
einem dermaßen engen Zusammenhang, dass die unkritische
Umgangssprache sie vertauscht und zuweilen den einen durch
den anderen ersetzt. Aber die Zweideutigkeiten, die davon
herrühren können, lassen sich rasch beseitigen.
Unsere erste Zusammenkunft hat keine vollständige Antwort
auf die Frage nach der Wahrheit oder der Falschheit einer
Offenbarung erbracht. Jedoch zeichnet sich eine Tendenz ab.
Man kann die Frage ausschließlich durch Rückgriff auf
außerhalb dieser Offenbarung liegende Gründe beantworten;
Gründe aus dem Bereich der logischen Kohärenz, der
Vereinbarkeit mit den Wissenschaften, der Übereinstimmung
mit der Philosophie, und vor allem mit einer reflexiven Analyse
des menschlichen Glaubensaktes.
62
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Wenn wir also auf die Frage „Wie kann man den
Wahrheitswert einer Offenbarungslehre beurteilen?“ antworten
wollen, müssen wir diejenigen Lehren untersuchen, die sich uns
als solche darbieten, und diese Analyse des Glaubensaktes
durchführen.
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich hatte die Gelegenheit, meinen muslimischen Freund zu
treffen, einen Arabischprofessor an einem Gymnasium. Er war
damit einverstanden, heute Nachmittag seinem Kolloquium über
„Orientalische Einflüsse in der westlichen Literatur“
fernzubleiben. Dafür danke ich ihm. Ich hoffe, dass er uns das
Offenbarungsverständnis eines Muslims erklärt, und was
„Glaube“ für ihn ist, da die Muslime sich ja im Wesentlichen als
„Glaubende“ bezeichnen. Ich habe ihn darüber ins Bild gesetzt,
dass die Zuhörerschaft sehr kritisch eingestellt ist... Er hat mir
geantwortet, dass ihm das keine Angst macht... und dass die
Lesung (oder Koran, Qur’ān) alle möglichen Einwände
voraussieht und darauf antwortet.
DER MODERATOR
Ich gebe das Wort an Sie, da wir gerne wissen möchten, was
ein gebildeter Muslim unter „Offenbarung Gottes“ und unter
„glauben an diese Offenbarung“ versteht. Anschließend ist
Gelegenheit, Fragen zu stellen.
DAS OFFENBARUNGSVERSTÄNDNIS DES KORAN
DER ARABISCHPROFESSOR
Zuerst wollen wir unseren Blick auf das lenken, was die
Offenbarung nicht ist. Dazu lesen wir eine französische
Übersetzung von Sure 42, die als „die Beratung“ benannt wird,
Verse 51 und 52:
51 — „Was [Welche Fähigkeit] besitzt der Mensch, damit Gott
zu ihm spreche? Wenn [es] nicht durch Offenbarung [wäre], oder
durch einen Schleier hindurch, oder dass Er einen Engel
aussendet, der dann offenbart, auf seinen Befehl hin, das, was
Er will. Er ist erhaben, weise. Das ist Wahrheit!
52 — Und es ist so, dass Wir durch Unser Wollen dir einen
Geist [das Wesentliche der Religion] offenbart haben. Du kanntest
weder das Buch noch den Glauben. Wir haben daraus ein Licht
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
63
gemacht, mittels dessen wir führen werden, wen wir als Unsere
Sklaven wollen. Auch du leitest auf einem geraden Weg“.
------------------(51 — „Und es steht keinem Menschen zu, dass Gott zu ihm
spricht, es sei denn durch Offenbarung oder hinter einem
Vorhang, oder indem Er einen Boten sendet, der (ihm) dann mit
seiner Erlaubnis offenbart, was Er will. Er ist erhaben und
weise.
52 — Und so haben Wir dir Geist von unserem Befehl
offenbart. Du wusstest nicht (vorher), was das Buch und was der
Glaube ist. Und doch haben wir es zu einem Licht gemacht, mit
dem Wir recht leiten, wen von unseren Dienern wir wollen. Und
wahrlich, du führst zu einem geraden Weg“.
Aus: Der Koran: arabisch-deutsch, Bd. 11, S. 238f. Übers.
Adel Theodor Khoury)
------------------Gott ist transzendent. Niemals gibt es unmittelbare
Beziehungen, weder vom Menschen aus zu Gott, noch von Gott
aus zum Menschen. Beziehungen gibt es nur durch Mittler. Und
doch ist Gott dem Menschen näher als seine Halsschlagader, wie
es die Sure Qāf — Qāf ist ein Buchstabe des arabischen
Alphabetes — sagt; es ist die fünfzigste Sure. In Vers 16 lesen
wir:
„Und gewisslich haben Wir den Menschen erschaffen, und
Wir wissen, was seine Seele ihm ins Ohr flüstert. Wir sind ihm
näher als seine Halsschlagader“.
------------------(„Wir haben doch den Menschen erschaffen und wissen, was
ihm seine Seele einflüstert. Und Wir sind ihm näher als die
Halsschlagader.“ übers. A. T. Khoury, Der Koran Bd. 11, S.
428)
------------------Immer schon hat Gott aus allen Völkern Menschen
ausgesucht, die seine göttlichen Botschaften empfangen sollten.
Gott beauftragt dann himmlische Mittlerwesen, die Engel, und
vor allem den Erzengel Gabriel (dieser Name bedeutet: „Macht
Gottes“), seine Botschaft den Menschen zu überbringen. Diese
wiederum teilen diese Botschaften ihren Völkern mit. So sind
sie die Propheten Gottes.
Mohammed hat gesagt, dass die Offenbarung der Botschaft
bei ihm auf mehrere Weisen stattfinden konnte. Bald nahm der
Engel Gabriel die Gestalt eines Menschen an und sprach zu ihm,
64
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
wie ein Mensch zu einem anderen Menschen spricht. Bald hatte
er eine besondere Gestalt mit Flügeln. Mohammed merkte sich
alle Worte, die der Erzengel an ihn richtete. Gelegentlich, in
einem in Extase in seinen Ohren wahrgenommenen Lärm,
prägten sich die Worte in sein Gedächtnis ein. Anschließend
erinnerte er sich an alles.
Begleiter Mohammeds haben bezeugt, dass, „der Prophet
schwitzte, ja sogar am aller kältesten Tag, wenn eine
Offenbarung an ihn erging“. Andere berichten, dass „der
Prophet“ bei den Offenbarungen „so schwer wurde, dass sein
Kamel sich lieber niederkniete. Wenn es sich dem widersetzte,
bogen sich seine Beine, und man fürchtete, dass sie brechen
könnten“. Ein anderer Begleiter erzählt, dass eines Tages in
einem Saal der Andrang der Menschenmasse den Propheten
dazu gezwungen hatte, sich auf seinen Oberschenkel zu setzen.
Plötzlich wurde Mohammed in den Offenbarungszustand
entrückt, und sein Begleiter fühlte ein dermaßen drückendes
Gewicht, dass ihm der Oberschenkelknochen zu brechen drohte.
Er gibt zu, dass er Schmerzensschreie ausgestoßen und sein
Bein weggezogen hätte, wenn es sich nicht um den Boten Gottes
gehandelt hätte.
Khadija, die erste Frau des Propheten, überzeugte sich auf
ihre frauliche Weise von der Echtheit der Offenbarung. Eines
Tages, als Mohammed einen Engel sah, näherte sie sich ihrem
Mann, und während sie ehrfurchtsvoll neben ihm stehenblieb,
sah Mohammed immer noch den Engel. Aber als sie sich
liebevoll seiner bemächtigte, verschwand der Engel. Daraus
schloss sie, dass es sehr wohl ein Engel gewesen war, denn der
Teufel hätte nicht das Taktgefühl besessen, sich in diesem
intimen Moment des Ehelebens zurückzuziehen.
Die Muslime betrachten den „Qur’ān“ daher als „das
ungeschaffene Wort Gottes“. Mohammed „sagt nichts über
‘seine eigene’ religiöse Bewegung“, wie der Qur’ān sagt, in
Sure 53, die als „der Stern“ benannt wird, Vers 3 und folgende.
Diese Sure datiert vor dem „Higra“, der „Auswanderung“
Mohammeds und seiner Begleiter aus Mekka nach Medina. Ich
übersetzte den an vielen Stellen elliptischen Text, indem ich ihn
so erkläre, dass ihr ihn verstehen könnt. Es ist der Engel, der
spricht:
„Als Erstes, der Name Gottes, der Unendlich Barmherzige,
der Ganz-Barmherzigkeit.
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
1 — (Ich schwöre)
Horizont);
65
Bei dem Stern, wenn er niedersteigt (am
2 — Euer Gefährte [Mohammed] ist nicht fehlgeleitet und irrt
sich nicht;
3 — und er spricht nicht aus (psychischem) Drang:
4 — Es ist nichts als reine geoffenbarte Offenbarung.
5 — Ein mit Macht (begabter) Starker [der Engel Gabriel] hat ihn
belehrt,
6 — der, voll von Galle [mit edler Erscheinung] sich
niederlegelassen hat,
7 — so dass er [Mohammed] sich am obersten Horizont befand
[er schaute zu einem höheren Punkt des Himmels];
8 — dann hat er [der Engel Gabriel] sich genähert (indem er
niederstieg), dann (blieb) er in der Schwebe.
9 — Er [Mohammed] war also zwei Bogenlängen oder noch
weniger weit entfernt.
10 — Und er [der Engel Gabriel] offenbarte also Seinem [Gottes]
Sklaven das, was er offenbarte.
11 — Das Herz (des Mohammed) hat betreffend dessen, was er
gesehen hat, nicht gelogen.
12 — Werdet ihr an seiner Stelle ergründen [in Zweifel ziehen],
was er sah?
13 — Und ganz sicher hatte er [Mohammed] es bereits gesehen
[den Engel Gabriel] anlässlich eines anderen Niedersteigens [des
Engels Gabriel],
14 — nahe beim Brustbeerbaum der äußersten Grenze [nahe
bei einem dornigen Strauch, der an der äußersten Grenze zwischen dem
Pflanzenreich, welches als Symbol für die menschliche Welt steht, und der
Wüste, die durch ihre unerkennbare und undurchdringbare Weite das
Göttliche symbolisiert, wächst. Die Vision Mohammeds ist die äußerste
Grenze dessen, was dem Menschen bei seiner Annäherung an Gott
zugestanden ist.]
15 — dort in der Nähe befindet sich das Paradies der
Zuflucht:
16 — zu dem Zeitpunkt, wo der Brustbeerbaum bedeckt war
(mit Schatten?)...
17 — Der Blick (Mohammeds) schweifte nicht ab und war nicht
widerspenstig.
18 — Ganz bestimmt hat er einige der wunderbarsten Zeichen
seines Herrn gesehen.“
------------------(1 Beim Stern, wenn er fällt!
66
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
2 Euer Gefährte geht nicht irre und ist nicht einem Irrtum
erlegen,
3 und er redet nicht aus eigener Neigung.
4 Es ist nichts anderes als eine Offenbarung, die offenbart
wird.
5 Belehrt hat ihn einer, der starke Kräfte hat,
6 der Macht besitzt. Er stand aufrecht da,
7 am obersten Horizont.
8 Dann kam er näher und stieg nach unten,
9 so dass er (nur) zwei Bogenlängen entfernt war oder noch
näher.
10 Da offenbarte Er seinem Diener, was Er offenbarte.
11 Sein Herz hat nicht gelogen, was er sah.
12 Wollt ihr denn mit ihm streiten über das, was er sieht?
13 Und er sah ihn ein anderes Mal herabkommen,
14 beim Zizyphusbaum am Ende des Weges,
15 bei dem der Garten der Heimstätte ist,
16 Als den Zizyphusbaum bedeckte, was (ihn) bedeckte,
17 da wich der Blick nicht ab, und er überschritt das Maß
nicht.
18 Wahrlich, er sah etwas von den größten Zeichen seines
Herrn.
übers. Khoury, Der Koran, Bd.11, S. 478)
------------------Dieser Bericht über die Vision Mohammeds führt jenen der
Sure 17 fort: Die nächtliche Reise.
„Als Erstes, der Name Gottes, der Unendlich Barmherzige,
der Ganz-Barmherzigkeit.
1 — Reinheit (Lob) Dem, der, in einer Nacht, Seinen Sklaven
reisen ließ, von der Heiligen Moschee [dem Kaaba] zu der sehr
weit entfernten Moschee (Jerusalem oder vielmehr eine Moschee im
Himmel, da Palästina in Sure 30, Vers 3, als „nächstliegendes Land“
bezeichnet wird. Außerdem handelt es sich hier um das „Mi’rāğ“.
Mohammed sah sich in einer Vision in den Himmel versetzt und in die
Gegenwart Gottes eingeführt. In der Vision sah er das Paradies, die Hölle und
die anderen Wunder des Himmels.) deren Mauer wir gesegnet haben,
um ihm etwas von unseren Wundern zu zeigen. Er ist es (Gott),
wirklich, der alles hört und sieht.
Der Prophet Mohammed hat sich also Gott so weit genähert,
wie es für ein menschliches Wesen nur möglich ist: „bis zum
Brustbeerbaum der äußersten Grenze“, bis zu dem Punkt, wo
der Mensch gerade noch vor Allah bestehen kann... Aber er gibt
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
67
uns keinerlei Gotteserkenntnis von sich aus. Er hat lediglich
„weitergegeben“, was der Engel ihm „von Gott“ ausrichten ließ
und diktierte, ohne etwas hinzuzufügen und ohne etwas
wegzulassen. Dieses Buch ist die von Gott durch sein
engelhaftes Mittlerwesen offenbarte „Botschaft“. Mohammed ist
also nicht der Autor dieses Buches. Wer das dennoch behauptet,
beleidigt jeden Muslim.
Der Qur’ān wurde nicht auf einmal offenbart, sondern im
Verlauf von dreiundzwanzig Jahren, wann immer man eine
besondere Offenbarung brauchte, um ein konkretes Problem zu
lösen. Die Offenbarung des Strafrechtes anlässlich von
Verbrechen; die Offenbarung des Erbrechtes anlässlich von
Todesfällen.
Soviel also zum Wesentlichen der muslimischen Auffassung
von Offenbarung. Die wichtigsten Etappen der Kodifikation der
Suren und ihre Anordnung, die schließlich zum Text des Qur’ān,
so wie er ist, geführt hat, werde ich nicht darlegen. Mohammed
behielt die Worte des Engels im Gedächtnis und unterschied sie
sorgfältig von seinen eigenen Worten (die später in Hadith
(Worte oder Äußerungen) des Propheten zusammengestellt
wurden). Er wollte nicht, dass man seine persönlichen Ansichten
mit den göttlichen Worten verwechsle. Später schrieb er sie
selber nieder, oder diktierte sie Schreibern. Außerdem ließ er
seine Begleiter davon auswendig lernen, und auch sie haben sie
niedergeschrieben.
Die materiellen Hilfsmittel zur Herstellung dieser Schriften
waren unterschiedlicher Art, wie zum Beispiel Schulterblätter
von Kamelen. Es gab also eine ganze Sammlung von
Offenbarungsschriften. Es sind diese Schriften, die nach dem
Ableben des Propheten gesammelt und geordnet wurden, um
gelesen und „vorgetragen“ zu werden. Daher der Name des
Buches: „Qur’ān, al-Qur’ān“, das heißt, „die Lesung“.
Der Koran enthält also ausschließlich Offenbarungsworte. Die
Suren sind nach ihrer Länge geordnet, mit Ausnahme der ersten,
fâtihat al-kitab: das heißt, die „das Buch öffnet“. Diese
Reihenfolge stimmt also nicht mit der zeitlichen Abfolge der
Offenbarungen überein. Das ist übrigens unwichtig, weil es sich
ja um die Offenbarung Gottes handelt, deren Wahrheit nicht von
menschlichen Umständen abhängig ist. Einzig die Mitteilung
der Teile dieser Offenbarung hat sich an die geschichtlichen
Umstände angepasst. Alle Suren außer der neunten sind durch
eine Anrufung eröffnet, die ich folgendermaßen übersetze: „Als
68
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Erstes, der Name Gottes, der Unendlich Barmherzige, der GanzBarmherzigkeit“.
Glauben heißt für einen Muslim, den Qur’an zu lesen, indem
er sich dabei bewusst ist, dass er die Worte Gottes ließt, und
alles in die Tat umzusetzen, was er im Qur’an ließt. Was er dort
ließt, sind die Gesetze Gottes, die ihn in dem Augenblick, wo er
sie ließt, auch betreffen. Aber der Qur’an verlangt nicht, dass
man nur glaubt; er lädt zur Betrachtung ein, zur Meditation, zum
Nachdenken, zur Wahrheitssuche, sogar im Bereich des
Glaubens, wie zum Beispiel betreffs der Existenz Gottes, des
Jenseits und der Auferstehung der Toten am Tag der
Vergeltung. Ich hoffe, dass ich Ihren Erwartungen entsprochen
habe. Falls es Fragen gibt, werde ich gerne eine Antwort
versuchen.
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich danke meinem Kollegen, der uns so bereitwillig die
Grundzüge des muslimischen Offenbarungsverständnisses
zusammengefasst hat. Ich weiß, dass er auf die Einwände der
nicht-muslimischen Intellektuellen vorbereitet ist.
DIE FRAGE NACH PSYCHOLOGISCHEN FAKTOREN DES
MUSLIMISCHEN GLAUBENS
DER PSYCHOANALYTIKER
Unser muslimischer Redner hat gesagt, dass man einen
Muslim beleidigt, wenn man sagt, Mohammed „sei“ der Autor
des Koran und nicht Gott. Ich werde mich also hüten, ihn zu
beleidigen... Aber eine solche Stellungnahme macht jede
Diskussion unmöglich!
Ich denke jedoch, dass der Psychoanalytiker sehr wohl etwas
zu sagen hat zur Psyche Mohammeds und seiner Zustände
mystischer Entrückung. Ist das erstaunliche Gewicht seines
Körpers ein Zeichen für die Echtheit seiner Offenbarungen? Ich
erlaube mir, daran zu zweifeln. Man müsste zuerst feststellen,
dass es viel eher eine Verbindung zwischen beiden gibt, als ein
paranormales Phänomen in einer kleinen, religiös sehr
motivierten Gemeinschaft... In anderen religiösen Umfeldern
will man in Leichtigkeit und Schwerelosigkeit Zeichen des
göttlichen Wirkens erkennen...
Menschen haben viel Einbildungskraft, und ihre
Vorstellungen von der „höheren Welt“ können ihre
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
69
Leistungsfähigkeit anregen und sie dazu bringen, in der
Geschichte große Dinge zu verwirklichen. Verkünden, dass man
von Gott eine Sendung erhalten hat, und seine Mitmenschen
davon überzeugen, ist ein wichtiges Mittel, um Einfluss auf die
Masse der Menschen auszuüben. Ich denke, dass Mohammed in
zutiefst ehrlicher Weise überzeugt war und dass er seine
Begleiter auf großartige Weise überzeugt hat.
So ist er der Begründer einer neuen Religion, ausgehend von
Elementen, die aus dem Judaismus, dem Christentum und den
religiösen Gepflogenheiten Arabiens geschöpft sind. Nein, er hat
kein falsches Spiel gespielt. Es fehlte ihm an kritischspekulativer Einstellung, aber er war ehrlich. Er war darüber
hinaus ein tüchtiger Handelsmann, ein geschickter Politiker und
ein guter Stratege. Er war ein Alexander oder Cäsar, mit einer
zusätzlichen religiösen Dimension.
Ein derartiges Verhalten wirft bei mir Fragen auf. Was ist
dieses „Phänomen des Glaubens“, dieser „unbewusste Trieb, zu
glauben, sich Offenbarungen auszudenken“? Was in der
menschlichen Psyche — Mohammeds, aber auch all seiner
Begleiter und der Menschen ganz allgemein — macht derartige
Glaubensüberzeugungen und ihre Ausbreitung im islamischen
religiösen Herrschaftsgebiet möglich?
DIE HISTORIKERIN
Ich schließe mich Ihrer Frage an, da ich als Historikerin in
den anderen Religionen die Grundzüge dieses Phänomens
wiederentdecke. In Übereinstimmung mit einer Art —
unbewusstem oder wohldurchdachtem — „religiösem Standard“
schmeißt Mohammed alle früheren Propheten, Abraham, Mose
und Jesus in denselben Topf... Ihre menschlichen Qualitäten
sind kaum verschieden... Und dies ist kein spezifisches
Phänomen ausschließlich der monotheistischen Religionen.
Wenn es nicht immer so erfolgreich wie beim Islam zutage tritt,
dann deshalb, weil es sich entweder ausgehend von einem
komplexeren gemeinsamen psychischen Mechanismus der
Menschen entwickelt, oder in einem weniger wohlgesinnten
religiös-kulturellen Umfeld, oder auch in einem geopolitisch
weniger günstigen Kontext. Die Historiker haben die Gründe für
den Erfolg und die Ausbreitung des Islam bereits sehr gut
analysiert, aber nicht das Phänomen seines Auftauchens.
Ich bin mir also bewusst, dass nicht die Geschichte antworten
wird, wenn ich mich aufgrund meines geschichtlichen Wissens
70
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
nach den Gründen seines Auftauchens frage... Kann die
Psychoanalyse eine Antwort geben? Oder die Glaubenden
selber?
DER ARABISCHPROFESSOR
Als Muslim stelle ich mir keine Fragen dieser Art. Ich denke
sogar, dass ich nicht mehr Muslim wäre, wenn ich mir diese
Fragen stellen würde. Ich bin sicher, dass der Engel Gabriel, von
Gott gesandt, für Mohammed das wiederholt hat, was Gott ihm
zu sagen aufgetragen hat, ohne irgendetwas hinzuzufügen oder
wegzulassen. Ich glaube auch, dass Mohammed seinen
Begleitern treulich, ohne zu lügen, die Worte des Engels
wiederholt hat. Ich bin einverstanden, das, was der Qur’ān zu
tun vorschreibt, zu tun, weil dies Gottes Gesetze und
Vorschriften für alle Zeiten sind.
Ich bin mir jedoch bewusst, dass diese Dinge nicht so einfach
sind wie die Verkehrsregeln, und dass eine oberflächliche
Lektüre nicht ausreicht, um alles in unseren Handlungen zu
erklären. Dazu sind besondere Studien des Textes nötig. Es gibt
mehrere Auslegungen. Wenn Mohammed die Worte des Engels
treulich wiederholt hat, dann ist es immer noch nicht
vollkommen sicher, ob die Muslime, die sie hören — seien sie
nun Ulemas, Imame oder auch nicht — sie richtig hören. Im
Qur’ān gibt es keine Irrtümer, zweifellos aber bei jenen, die ihn
lesen.
DER PSYCHOANALYTIKER
Sie antworten damit nicht auf meine Frage. Ich mache Ihnen
keinen Vorwurf! Nein, nur eine einfache Feststellung. Sie sagen
mir sogar, dass Sie sich „diese Art von Fragen“ nicht stellen. Da
Sie sie sich nicht stellen, können Sie selbstverständlich auch
nicht auf meine Fragen antworten. Aber gleichzeitig geben sie
durch Ihre Person und Ihre Äußerungen ein lebendiges Beispiel
des „Phänomens des Glaubenstriebes“, von dem ich gerade
gesprochen habe. Zweifellos denken Sie sich nicht, wie
Mohammed, den Koran aus, und Sie bilden sich nicht ein, dass
der Engel Gabriel zu Ihnen spricht, aber sie versetzen sich ganz
und gar in den Glaubenstrieb des Mohammed und in seine
Vorstellungen, genau wie seine Begleiter. Ist dies ein Phänomen
der Gehirnwäsche durch Erziehung? „Warum tut ihr das, ihr und
die anderen?“ Das ist die Frage, die ich mir stelle. Können Sie
sich selbst ehrlich diese Frage stellen? Diese Frage, die ich
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
71
Ihnen stelle, könnte ich auch anderen Glaubenden stellen, Juden
oder Christen. Sicherlich, Sie sind Muslim, aber die anderen
könnten gut an Ihrer Stelle stehen; ich würde ihnen dieselbe
Frage stellen... : Warum dieser Glaubenstrieb und all diese
Phantasiegebäude?
DER ARABISCHPROFESSOR
Ich weiß nicht, ob diese anderen Glaubenden sich selbst Ihre
Frage besser stellen als ich mir, und daher auch besser antworten
könnten. Warum glaube ich? Warum gebe ich mich einem
„Glaubenstrieb“, wie sie sagen, hin? Ich verstehe wohl, dass Sie
nicht fragen, warum ich, Malik, Muslim bin. Denn dann würde
ich Ihnen antworten, dass ich in einer gläubigen muslimischen
Familie geboren bin, dass ich im muslimischen Glauben groß
geworden bin, und dass ich eine Muslimin geheiratet habe,
usw... So ist es: Malik ist durch seine Erziehung ein
muslimischer Gläubiger. Aber dann würden Sie Ihre Frage
erneut stellen: „Wie ist eine Erziehung durch „Glaubenstrieb“
und zum „Glaubenstrieb“ möglich?“ Eine seltsame Frage!
DER PSYCHOANALYTIKER
Ja, Sie haben meine Frage sehr gut verstanden. Können Sie
sie sich gefühlsmäßig stellen, sie irgendwie „körperlich“
nachempfinden?
DER ARABISCHPROFESSOR
Ich weiß nicht... Ich leide unter keinerlei psychischen Ängsten
in meinem Glauben... Ich habe den Eindruck, dass es in meinem
Fall eine gute Sache ist, dem Glaubenstrieb, wie Sie ihn nennen,
nachzugeben. Habe ich es nötig, mir persönlich diese Frage zu
stellen? ...Ich sehe keinen Grund.
DER PSYCHOANALYTIKER
Und wenn Sie sich diese Frage trotzdem stellen würden,
hätten Sie dann irgendwie den Eindruck, dadurch Ihren
muslimischen Glauben ansatzweise in Frage zu stellen?
DER ARABISCHPROFESSOR
Ich weiß nicht... für euch Psychoanalytiker ist der
Geschlechtstrieb erziehbar und wird zwangsläufig erzogen!
Übrigens zum Guten oder zum Schlechten! Sagen wir also, dass
mein „Glaubenstrieb“ in der muslimischen Religion erzogen
72
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
wurde. Aber stellen Sie sich, Sie und die anderen
Psychoanalytiker, die Frage, warum es einen Geschlechtstrieb in
den euch bekannten Formen gibt? Ich habe den Eindruck, dass
Ihr seine Existenz feststellt und ihn als allumfassendes Mittel
zur Analyse des Restes der menschlichen Psyche benutzt. Was
mich anbelangt: Mein „Glaubenstrieb“ ist muslimisch. Das ist
allumfassend...
DER PSYCHOANALYTIKER
Sie haben recht, so zu reden... Man müsste zweifellos,
genauso, wie man fragt: „Warum gibt es einen Glaubenstrieb?“
auch die Frage stellen: „Warum gibt es einen Sexualtrieb?“ Und
eine Antwort auf diese „Warum’s“ wäre zweifellos hilfreich, um
in beiden Fällen auf die Frage nach dem „Wie“ zu antworten.
„Wie soll Sexualisierung menschlich geschehen?“ „Wie soll
man auf menschliche Weise glauben?“ Ich frage mich sogar, ob
zwischen beidem nicht eine Beziehung besteht. Ich habe es
bereits gesagt. Ihr Glaubenstrieb wurde „auf muslimische Art
und Weise“ erzogen. Wurde er auf diese Weise gut oder
schlecht erzogen? Ich stelle Ihnen genau dieselbe Frage, die Sie
mir bezüglich des Geschlechtstriebes stellten. Gut! Nun komme
ich zum Ende. Platz für andere Fragen! Aber meine Fragen
bleiben offen...“
DÜRFEN WAHRHEITEN, DIE ALS OFFENBART GELTEN,
HISTORISCHEN ODER WISSENSCHAFTLICHEN WAHRHEITEN
WIDERSPRECHEN?
DIE HISTORIKERIN
Meine Frage ist von ganz anderer Art. Kann Gott, wenn er im
Koran durch die Mittlerschaft des Engels die vergangene
Geschichte der Menschen erzählt, oder auf historische
Gegebenheiten Bezug nimmt, sich irren oder Tatsachen falsch
darstellen, oder ganze Geschichtsabschnitte auslassen?
DER ARABISCHPROFESSOR
Nein, Gott kann sich nicht irren und er lügt nicht. Sie werden
mir nun entgegnen, dass der Qur’ān geschichtliche
Ungenauigkeiten enthält... Dies rührt zweifellos daher, dass
frühere Autoren die Geschichte schlecht überliefert haben oder
sie absichtlich verfälscht haben, wie etwa die Autoren der Bibel
der Juden, die bezüglich Ismaëls und Isaaks lügt; oder die
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
73
Evangelien, die fälschlicherweise erzählen, dass Isā, Jesus, am
Kreuz gestorben ist, wo doch in Wirklichkeit Allah ihn seinen
Feinden entzogen hat und ihn direkt in den Himmel emporhob.
DIE HISTORIKERIN
Und das können Sie sagen, sogar ohne sich irgendeine
historisch-kritische Frage zu stellen? Das wäre aber leichtfertig!
Könnten die Kenner des Textes, die Imame oder die Ulemas, die
durch spezialisierte Historiker erbrachten Beweise bestreiten,
besonders dann, wenn man über andere Quellen verfügt als die
der Texte, die man jederzeit der Falschheit bezichtigen kann?
DER ARABISCHPROFESSOR
Ich weiß nicht... Der Qur’an vor der historisch-kritischen
Methode? Dazu müsste man die Islamologen hören. Ich denke,
dass mehrere den Wert der geschichtlichen Berichte des Qur’an
bezweifeln. Dies wirft zweifellos Fragen auf.
DIE HISTORIKERIN
Dann gäbe es also zwischen den „geschichtlichen“
Offenbarungen Gottes im Koran und den Berichten der
Historiker Widersprüche? Die Historiker werden eher den
Methoden der Geschichtsforschung folgen, als angeblich
göttlichen Offenbarungen. Und was, wenn der Koran sogar
naturwissenschaftliche Irrtümer enthalten sollte? Ich habe
gelesen, dass der Engel Gabriel in einer Sure von der
Empfängnis und dem Wachstum eines Kindes im Mutterschoß
schildert. Seine Schilderung stimmt mit den Erkenntnissen der
heutigen Biologie überhaupt nicht überein. Hat Gott uns
schlechte Informationen gegeben? Oder hat Gott sich im Koran
damit zufriedengegeben, jenes Wissen auszudrücken, das für
Mohammed in seinem Zeitalter und Umfeld zugänglich war?
DER ARABISCHPROFESSOR
Man müsste den Text genauer anschauen. Wenn es
Unstimmigkeiten mit der Naturwissenschaft gibt, dann nur
scheinbare, sie wären das Resultat einer falschen Auslegung.
Gott spricht jeweils die Sprache eines Zeitalters. Und er spricht
in konkrete Situationen hinein. Man muss den geschichtlichen
Hintergrund mit einbeziehen. Dies ist äußerst wichtig.
DIE HISTORIKERIN
74
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Aber dann ist der Koran nicht mehr „das ungeschaffene Wort
Gottes“, da einige seiner Verse einzig dem Zeitalter des
Mohammed angehören.
DER ARABISCHPROFESSOR
Er ist dennoch „das ungeschaffene Wort Gottes“, denn diese
Verse sind von Ewigkeit her für den Augenblick geschrieben, in
dem die Offenbarung an Mohammed erging.
DIE HISTORIKERIN
Wenn aber alle Verse so von Ewigkeit her vorgesehen sind,
dann trifft dies auch für alle Gesetze und Regeln zu, die der
Engel Mohammed vorgeschrieben hat. Diese Gesetze können
sich folglich nicht ändern, nicht einmal jene, die nur von
irgendwelchen äußeren Umständen abhängen.
DER ARABISCHPROFESSOR
Hier muss man unterscheiden. Einige Verse sind im Verlauf
des Offenbarungsgeschehens gestrichen und durch andere
ersetzt worden.
DIE HISTORIKERIN
Gut! Dann sind es also diese neuen Verse, die von Ewigkeit
her festgelegt sind, obwohl sie an die äußeren Umstände des
Lebens Mohammeds und an die Gebräuche seiner Zeit
gebunden sind. Daraus folgt, dass es im zukünftigen Verlauf der
Geschichte keine Möglichkeit der Anpassung mehr geben wird.
Der Koran lässt die Geschichte erstarren. Ist es in diesem Fall
nicht so, dass der Koran die Muslime daran hindert, sich aktiv
an der Weiterentwicklung der Menschheit zu beteiligen? Sind
sie dagegen aber nicht, wenn sie sich ihrerseits den Fortschritt
der Zivilisation aneignen wollen, dazu gezwungen, auf einige
Verse des Koran zu verzichten?... In diesem Fall wäre er dann
nicht mehr ganzheitlich das „ungeschaffene Wort Gottes“.
DER ARABISCHPROFESSOR
Ich verstehe Ihre Einwände... Ich persönlich denke nicht, dass
jene Verse, mit denen der Historiker, der Psychoanalytiker und
der Naturwissenschaftler Schwierigkeiten haben, zum
Wesentlichen des muslimischen Glaubens gehören! Zweifellos
werden Muslime, die in diesen Disziplinen ausgebildet sind,
genauso denken wie alle anderen Wissenschaftler der Welt. Was
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
75
diejenigen Verse des Qur’ān angeht, die etwas anderes sagen als
die Wissenschaften... nun ja! Sie werden sie halt nicht lesen...
Belustigtes Schmunzeln in der Gruppe.
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich denke, ihr Humor hilft Ihnen aus der Klemme, nicht nur,
was die ihnen gegenüber vorgebrachten Einwände angeht,
sondern auch, was
ein „abgeschirmtes“ religiöses
Offenbarungsverständnis betrifft. Sie tun gut daran, dem
Gläubigen die Möglichkeit offenzulassen, nicht alles von dem,
was ihm als Wort Gottes vorgelegt wird, zu „hören“. Humor
kann gelegentlich mit kritischem Geist angereichert sein... Man
nimmt nichts vom Text hinweg, aber man stopft sich die Ohren
im richtigen Moment zu, um nicht zu hören... Dies ist eine Art
und Weise, nicht dem religiösen Fanatismus anheimzufallen und
sich nicht durch das Ablehnen aller nicht-religiösen
menschlichen Erkenntnisse selbst zu entmündigen. Es ist auch
eine Weise, nicht dadurch Atheist zu werden, dass man nichts
außer den mit der Materie und empirischer Beobachtung
beschäftigten Wissenschaften als Wahrheit gelten lässt. Letztere
können nämlich nichts über Gott aussagen. Sie können unserem
„Glaubenstrieb“ mit nichts antworten.
DIE PHILOSOPHISCHE FRAGE NACH DER BESCHAFFENHEIT DER
OFFENBARUNG BETRIFFT ALLE RELIGIÖSEN AUFFASSUNGEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Diese ganze Diskussion ist höchst interessant. Sie zeigt
deutlich, dass die Frage letztlich den Begriff der Offenbarung
betrifft. Worin müsste eine Offenbarung, die Werk Gottes wäre,
bestehen? Ist es, so wie im Islam, das Diktat eines Textes, und
dessen Ergebnis: „der diktierte Text“, der vielleicht sogar einem
einzigen Menschen diktiert wurde? Oder handelt es sich, so wie
im Christentum, um eine Eingebung im innersten der
menschlichen Intelligenz der biblischen Propheten oder der
Evangelisten-Apostel; also um eine Eingebung, die sich in ihre
menschlichen Texte einfügt, und um deren Ergebnis, „die
inspirierten Texte“? Oder handelt es sich, so wie im Judentum,
um beides gleichzeitig, Diktat und Eingebung? Bald ein
„Diktat“ oder ein von Gott an Mose übergebener Text, zum
Beispiel, bald eine den verschiedenen biblischen Büchern
entsprechende „Eingebung“? Finden wir also nicht letztendlich,
76
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
wenigstens
auf
der
Ebene
der
allgemeinüblichen
Glaubensüberzeugung, dass die Offenbarung zu einem
„geschriebenen Text“ wird, der auf eine „mündliche Tradition
abgestützt“ ist, oder zu einem „auswendig gelernten Text“,
wobei beide zu vielfältigen und sozusagen „unbestimmten“
Auslegungen Anlass geben, wie im Judentum, laut einigen
Rabbinern? Ist es darüber hinaus, wie die christliche
Überlieferung von Jesus behauptet, Gott selber, der durch den
Mund eines Menschen spricht und handelt? Aber da er kein ihm
persönlich zugeordnetes Textzeugnis hinterlassen hat, sind seine
Worte ausschließlich durch menschliche Texte bekannt, die man
als „inspiriert“ aufnehmen wird. Auch hier sind wir wiederum
auf einen „Text“ verwiesen. Und wer „Text“ sagt, sagt „Hüter
des Textes“ und „zur Auslegung des Textes befugte Menschen“.
Diese Interpreten sind möglicherweise in ihrer Auslegung der
heiligen Texte auch von Gott „inspiriert“. Ist die Wirklichkeit
der Offenbarung Gottes nicht auch etwas anderes als Texte, und
der Glaube etwas anderes als Zustimmung zu Texten, um es
etwas vereinfacht auszudrücken? Ist der Begriff „ungeschaffenes
Wort“ nicht in sich widersprüchlich, da eine Offenbarung
notwendigerweise in der Ordnung des Geschaffenen stattfindet?
Oder aber ein „ungeschaffenes Wort“ ist etwas anderes als eine
in menschlicher Sprache diktierte Offenbarung!
Und so kommen wir auf die anfängliche Frage unseres
Kollegen zurück: „Was sind diese Texte wert, all diese heiligen
Texte, im Vergleich zu dem, was eine „Offenbarung Gottes“ an
die Menschen sein kann und sein muss? Hier stellt sich aufs
Neue die Frage nach der Natur des Glaubens und jene nach der
Echtheit einer Offenbarung.
Diese Frage mag anmaßend erscheinen, vor allem, wenn man
darin das Verlangen danach sieht, eine „psychologische
Beschreibung“ als Antwort zu erhalten. Sie ist es aber nicht,
wenn man sich die Frage nach dem „ontologischen Status“ des
Glaubens und der Offenbarung stellt. Ich kann mir zum Beispiel
die Frage stellen: „Was sollen die Worte meines Vaters oder
meiner Mutter sein?“ Und ich antworte: „Sie sollen weder in
sich selbst widersprüchlich sein noch mit der Vater– oder
Mutterrolle meiner Eltern in Widerspruch stehen.“ Ich habe mir
die Frage nach den logischen Eigenschaften ihrer Worte gestellt.
Ich habe weder ihre inhaltliche Beschreibung oder ihr
Gesagtwerden angestrebt, noch habe ich versucht, zu erraten,
was meine Eltern mir wohl sagen könnten...“
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
77
Außerdem kann man nicht „aus kulturellen Gründen“ um
diese Frage herumkommen, da mindestens drei verschiedene
Religionen den Anspruch erheben, die Offenbarung Gottes zu
besitzen. Welche Offenbarung ist die richtige? Das Judentum,
das Christentum, der Islam? Muss man zwischen ihnen wählen?
Sollte man nur das behalten, was sie gemeinsam haben? Sollten
sie in eine Rangfolge geordnet werden, je nach Anzahl ihrer
Gläubigen oder nach ihrem Alter? Muss man notwendigerweise
die bei der Geburt erhaltene Form von Glaubensüberzeugung
nachvollziehen? Ist jede Sympathie für eine andere Form des
Glaubens als die in der eigenen Kultur ererbten ein schleichend
aufkeimender Verrat, und die anschließende Bekehrung ein
vollbrachter Verrat?
Auf welche Wahrheitsgrundlage soll man sich festlegen, um
auf diese Fragen zu antworten? Was ist der Wert einer jeder
dieser Formen des Glaubens in Vergleich zu einem „Ideal“ des
Glaubens? Wie kann man ein derartiges „Ideal“ umschreiben?
DER ARABISCHPROFESSOR
Für den Muslim findet sich die Antwort auf die
grundlegendsten der von Ihnen gestellten Fragen am Anfang der
zweiten Sure. Nach der Higra geschrieben, ist diese Sure — im
buchstäblichen Sinn bedeutet „Sure“: Mauern oder
Aufenthaltsort — so etwas wie eine Zusammenfassung der
islamischen Lehre. Für den Anfang gebe ich Ihnen eine
Übersetzung... Es wäre allerdings besser, sie auf Arabisch zu
lesen...
1 — Als Erstes, der Name Gottes, der Unendlich
Barmherzige, der Ganz-Barmherzigkeit.
2 — Dieses Buch, [daran besteht] kein Zweifel, ist der Führer,
der die Frommen führt;
3 — die an die unsichtbaren Dinge glauben und das
festgelegte Gebet verrichten und von den Gütern, die wir ihnen
zugestanden haben, austeilen (aus Liebe) [d. h.: Sie spenden, und das
unterscheidet sich vom „Austeilen gemäß der Gerechtigkeit“, also vom
Bezahlen der Steuer].
4 — und die an das glauben, was man hat zu dir herabsteigen
lassen [d. h.: die Offenbarung] und an das, was man vor dir hat
herabsteigen lassen [vor Mohammed, also die Bibel. Es steht
geschrieben: „zu dir“, und nicht „zu mir“, weil Mohammed die vom Engel
an ihn gerichteten Worte wörtlich aufgeschrieben hat]. Und jene glauben
fest an das Jenseits.
78
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
5 — Sie allein stehen unter der Führung des Herrn; sie allein
sind die Gewinner.
6 — Was diejenigen anbelangt, die nicht glauben, ja, es ist
ihnen gleichgültig, ob du sie warnst oder nicht warnst; sie
glauben (deine Worte) nicht:
7 — Gott hat ein Schild über ihre Herzen und ihre Ohren
gelegt, und über ihre Augen eine Binde; und für sie ist eine
schwere Strafe bereit.
8 — Unter den Leuten gibt es jene, die sagen: „Wir glauben
an Gott und an den Letzten Tag!“ Und trotzdem sind sie keine
Glaubenden.
9 — Sie versuchen, Gott und jene, die geglaubt haben, zu
betrügen; aber sie betrügen nur sich selbst und sind sich dessen
nicht bewusst.
10 — In ihren Herzen haben sie sich eine Krankheit [d. h. die
Heuchelei und der skeptische Glaube]: Gott tut also nichts weiter, als
diese Krankheit wachsen zu lassen. Für sie also eine
schmerzhafte Strafe, dafür, dass sie gelogen haben!
------------------(1 Im Namen Gottes, der Erbarmers, des Barmherzigen.
2 Dies ist das Buch, an ihm ist kein Zweifel möglich, es ist
eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen,
3 die an das Unsichtbare glauben und das Gebet verrichten
und von dem, was Wir ihnen beschert haben, spenden,
4 und die an das glauben, was zu dir herabgesandt und was
von dir herabgesandt wurde, und die über das Jenseits
Gewissheit hegen.
5 Diese folgen einer Rechtleitung von ihrem Herrn, und das
sind die, denen es wohl ergeht.
6 Denen, die ungläubig sind, ist es gleich, ob du sie warnst
oder ob du sie nicht warnst; sie glauben nicht.
7 Versiegelt hat Gott ihre Herzen und ihr Gehör, und über
ihrem Augenlicht liegt eine Hülle. Und bestimmt ist für sie eine
gewaltige Pein.
8 Und unter den Menschen gibt es welche, die sagen: „Wir
glauben an Gott und an den Jüngsten Tag.“ Doch sie sind keine
Gläubigen.
9 Sie versuchen, Gott und diejenigen, die glauben, zu
betrügen. Sie betrügen aber (letztlich) nur sich selbst, und sie
merken es nicht.
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
79
10 In ihren Herzen ist Krankheit, und Gott hat ihre Krankheit
noch vermehrt. Und für sie ist schmerzhafte Pein bestimmt
dafür, dass sie zu lügen pflegten.
übers. Khoury, Der Koran, Bd. 1, S. 168 und 184)
------------------DER ERSTE PHILOSOPH
An welche Menschen richten sich die Drohungen des Gottes
Allah?
DER ARABISCHPROFESSOR
Im Bezug auf den Glauben gibt es drei Arten von Menschen:
die wahren Glaubenden, also diejenigen, die glauben, dass der
Qur’ān die Offenbarung ist; die polytheistischen Ungläubigen;
und die Glaubenden, die auf falsche Weise glauben, Juden und
Christen.
Genau in dieser Sure folgen mehrere Verse, die das Verhalten
dieser Falschglaubenden beschreiben, „deren Herz erkrankt ist“
an Zweifeln und dem Widerspruch zwischen dem, was sie
sagen, und dem, was sie in ihrem Innersten denken. Sie wollen
Gott täuschen, indem sie nicht an die an Mohammed ergangene
Offenbarung glauben. Eine schreckliche Strafe erwartet sie
dafür, dass sie die Wahrheit nicht gesehen und gehört haben.
Wenn Gott es wollte, würde er ihnen die Seh- und Hörfähigkeit
nehmen, denn er ist allmächtig. Aber Mohammed wollte sie
überzeugen...
So sind wir bei Vers 21 und den folgenden angelangt:
21 — Menschen! Betet euren Herrn an, der euch und jene, die
euch vorausgegangen sind, erschaffen hat, — auf diese Weise
werdet ihr fromm sein —
22 — Ihn, der für euch die Erde wie einen Teppich erschaffen
hat und den Himmel wie ein Zelt; und der vom Himmel das
Wasser herabkommen lässt; und der durch dieses aus der Erde
die Früchte hervorkommen lässt, euren Anteil (an Nahrung). Gebt
daher Gott keine Rivalen. Ihr wisst es genau.
23 — Und wenn ihr an dem, was Wir auf unseren Sklaven
haben herabsteigen lassen, zweifelt, dann bringt doch eine
ähnliche Sure bei (denjenigen ähnlich, die Wir herabsteigen lassen), und
wenn ihr wahrhaftig seid, dann ruft euch Zeugen [die ihr anruft]
außerhalb [also: Rivalen] Gottes!
-------------------
80
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
(21 O ihr Menschen, dienet eurem Herrn, der euch und die,
die vor euch lebten, erschuf, auf dass ihr gottesfürchtig werdet,
22 der euch die Erde zu einer Unterlage und den Himmel zu
einem Bau machte, und der vom Himmel Wasser herabkommen
ließ und dadurch Früchte als Lebensunterhalt für euch
hervorbrachte. So stellt Gott keine anderen als Gegenpart zur
Seite, wo ihr (es) doch wisst.
23 Und wenn ihr im Zweifel seid über das, was Wir auf
unseren Diener hinabgesandt haben, dann bringt eine Sure
gleicher Art bei und ruft eure Zeugen anstelle Gottes, an, so ihr
die Wahrheit sagt.
übers. Khoury, Der Koran, Bd. 1, S. 198)
------------------Diese letzte Sure fasst eine Herausforderung in Worte: Wenn
ihr an der im Qur’an niedergeschriebenen Offenbarung zweifelt,
dann versucht, es ihm gleichzutun: versucht, so zu sprechen, wie
Gott durch den Engel zu Mohammed spricht. Ihr werdet nichts
sagen können außer Lügen und Ungereimtheiten. Dieses
Argument wird im Qur’an noch mehrmals wieder
aufgenommen. Es wirkt gleichzeitig auf die westlichen
Menschen sehr seltsam, aber auf die Muslime äußerst
überzeugend.
Darauf folgen die Ankündigung der Strafe und die
Verheißung der Belohnung.
24 — Dann, wenn ihr es nicht tut, — und es niemals tun
werdet — meidet das von den Menschen und [Götzen] aus Stein
genährte Feuer, das für die Ungläubigen bereitet ist.
25 — Und jenen, die geglaubt und gute Werke vollbracht
haben, kündige an, dass für sie Gärten bereitet sind, wo Bäche
fließen. Jedes Mal, wenn sie Früchte als Anteil (an Nahrung)
erhalten werden, werden sie sagen „Das ist sehr wohl das, was
damals zugeteilt wurde!“ Nun ist es aber Ähnliches [aber
Besseres], was man ihnen geben wird. Und sie werden reine
Bräute haben. Und dort werden sie auf ewig bleiben.
(24 Wenn ihr es nicht tut - und ihr werdet es nie tun können -,
dann hütet euch vor dem Feuer, dessen Brennstoff Menschen
und Steine sind und das für die Ungläubigen bereitet ist.
25 Und verkünde denen, die glauben und die guten Werke tun,
dass für sie Gärten bestimmt sind, unter denen Bäche fließen.
Sooft ihnen daraus eine Frucht als Lebensunterhalt beschert
wird, sagen sie: „Das ist, was uns vorher beschert wurde“; es
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
81
wird ihnen aber nur Ähnliches gebracht. Und sie haben darin
geläuterte Gattinnen. Und sie werden darin ewig weilen.
übers. Khoury, Der Koran, Bd. 1, S. 198)
In den anderen Suren nimmt der Engel häufig dieselben
Aussagen wieder auf und führt sie weiter aus, damit über den
Sinn der Offenbarung, „die von Gott herabkommt“, keine
Unklarheit herrschen kann.
Meine Zitate aus dem Qur’ān waren etwas lang... Es wäre
schwerlich anders möglich gewesen... Nun kann ich auf Ihre
Einwände eingehen. Ich werde es als Glaubender tun... und
zweifellos weniger als Philosoph. Es scheint, dass dies eine
Schwäche ist, die mir mein christlicher Kollege vorwirft, der
Philosoph ist. Vielleicht ist es eine dem Islam angeborene
Schwäche... Man muss sehen, wie man damit zurechtkommt...
DIE SELBSTAUSGERUFENE VORRANGSTELLUNG DES ISLAM
GEGENÜBER DEN ANDEREN FORMEN VON RELIGION
DER DOMHERR, Schriftsteller
Ich weiß dass, wenn Christen und Muslime sich bemühen,
ihren Glauben friedlich zu verbreiten, die Christen sich des
Korans bedienen, um die Muslime zu überzeugen, an das
Evangelium zu glauben, und dass die Muslime das Evangelium
benutzen, um die Christen zu überzeugen, an den Koran zu
glauben. Und niemand kann irgendjemanden bekehren, jeder
bleibt bei seinem Standpunkt.
Im Rahmen des heute in Mode gekommenen interreligiösen
Dialogs achtet man darauf, nicht mehr von Unterschieden zu
sprechen, oder sogar von Unvereinbarkeiten, um die
Ähnlichkeiten stärker zu betonen — die eher auf der Ebene der
Sprache als auf jener der Wirklichkeit bestehen und eher
oberflächlich als tieferliegend sind... Es sind vor allem die
Christen, die sich in diesem Dialog im Hintergrund halten, viel
eher als die Muslime, die sich nicht davor fürchten, ihre
Überzeugungen laut zu verkünden... Ich meine, es gibt eine
berühmte Hadith, in der Mohammed sagt: „Der Islam muss
herrschen und wird nicht beherrscht werden“.
DER ARABISCHPROFESSOR
82
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Das trifft zu. Aber nicht wir sind es, die herrschen wollen,
durch was auf immer für eine imperialistische Absicht... Es ist
Gott, der in Sure 3, genannt „die Familie Arams“, sagt, in Vers
110:
„Ihr seid die beste Gemeinschaft, die wir aus den Menschen
haben hervorgehen lassen. Ihr werdet das anordnen, was gut ist,
und das verbieten, was schlecht ist, und ihr werdet an Gott
glauben. Wenn die Leute des Buches glauben würden, dann
wäre das nur zu ihrem Vorteil [...]“
------------------(110 Ihr seid die beste Gemeinschaft, die je unter den
Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte
und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Gott. Würden die
Leute des Buches glauben, es wäre besser für sie ...
Übers. Khoury. Der Koran, Bd. 4, S. 198)
------------------Wenn die Muslime herrschen müssen, dann damit die ganze
Menschheit von den Vorteilen der besten Gemeinschaft
profitiert, dank der Offenbarung des Koran.
DER DOMHERR
Ich stelle fest, dass sie sich im Bereich der Religion äußerst
sicher fühlen... Daran zweifelte ich nicht... Kann man aber
derweil einen Dialog anstreben, indem man alle religiösen
Fragen ausklammert, um sich ganz im Bereich einer universalen
menschlichen Ethik zu bewegen? Man kann es versuchen. Die
Schwierigkeiten dabei sind ungeheuer: denn die Begriffe von
„menschlicher
Person“,
„Rechten
und
Pflichten“,
„Gesellschaft“, „Beziehungen zwischen Mann und Frau“ sind
dermaßen unterschiedlich...
DIE HISTORIKERIN
Als Mohammed die unnachahmbare Qualität des Koran als
Argument vorbrachte, um dessen göttlichen Ursprung zu
beweisen, richtete er sich damit, so denke ich, an die Gläubigen
der polytheistischen Kultur auf der arabischen Halbinsel, oder
an jene eines mehr oder weniger mittelmäßigen lokalen
Christentums oder Judentums.
Selber konnte er übrigens nicht auf die Quellen der wie ein
Stern aufgehenden mediterranen Kultur zurückgreifen. Sein
religiöses
Wissen
sammelte
er
in
einem
„subordinationistischen“ christlichen Umfeld und in jüdischen
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
83
Gemeinden, wo einige der phantasievollsten „haggadischen“
Thorakommentare im Umlauf waren, wie Sure 27 an der Stelle
über den „brennenden Dornbusch“ zeigt.
Mohammed war nicht imstande, seine eigenen Schriften
durch den kritischen Vergleich mit den großen philosophischen
und theologischen Werken der vorausgegangenen Jahrhunderte
zu beurteilen. Er wäre zweifellos weniger überzeugt gewesen,
wenn...
Dafür war er aber von einer mystischen Überzeugung
durchdrungen, die auf seine Umgebung einen großen Einfluss
ausüben musste. Diese Überzeugung verlieh seinen Argumenten
in den Augen seiner Begleiter Gültigkeit. Sie waren wirklich
davon überzeugt, „die hervorragendste Gemeinschaft unter den
Menschen“ zu sein. Dies sicherte Mohammed die entscheidende
Unterstützung gegen seine Verleumder und Feinde. Eine
derartige Überzeugung ist innerhalb des Schicksals eines
Menschen von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
DER DOMHERR
Was die mystische Überzeugung anbelangt, würde ich gerne
den Anfang von Sure 53, der uns übersetzt wurde, mit einem
Bekenntnis des Paulus, im Zweiten Korintherbrief, Kapitel 12,
in Beziehung setzen. Ich zitiere... Es ist Paulus, der über sich
selbst spricht:
„Ich kenne einen Menschen in Christus, der — war es in
seinem Leib? Ich weiß es nicht; war es außerhalb seines Leibes?
Ich weiß es nicht, Gott allein weiß es —, dieser Mensch wurde
bis in den dritten Himmel entrückt.
Und ich weiß, dass dieser Mensch, — war es in seinem Leib?
war es ohne seinen Leib? Ich weiß es nicht, Gott weiß es —
dieser Mensch wurde bis ins Paradies entrückt und hörte
unaussprechbare Worte, die zu wiederholen keinem Menschen
möglich ist.“
Die Ausdrücke „entrückt bis in den dritten Himmel...“ und
„entrückt bis ins Paradies“ erinnern mich an Ihre Übersetzung:
„Mohammed hat Ihn bei einer anderen Gelegenheit gesehen,
beim Brustbeerenbaum der äußersten Grenze, dort in der Nähe
ist das Paradies...“
Bei diesen beiden Menschen finden wir das Bekenntnis einer
besonderen spirituellen Erfahrung. Mohammed beteuert, dass er
nicht lügt. In diesem Punkt gibt es keinen Grund, ihm nicht zu
glauben. Paulus spielt die obengenannte Erfahrung in ihrem
84
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Wert nicht hinunter... Aber er identifiziert seine menschliche
Existenz und seine Verkündigung des Evangeliums nicht damit.
Sie ist nicht die Quelle dessen, was er lehrt...
Andererseits scheint es, dass Mohammed die „Sakralisierung“
seines bei den Juden und Christen Arabiens gefundenen
religiösen Wissens aus einer oder mehreren von diesen
Erfahrungen geschöpft hat. Derartige Erfahrungen und die für
die Bedürfnisse der jeweiligen Umstände wiederbelebten
Erinnerungen daran haben es ihm erlaubt, jenes religiöse Wissen
in eine fortlaufende Offenbarung von Seiten Gottes zu
„verwandeln“.
Die Ehrlichkeit Mohammeds betreffs der Wahrheit seiner
subjektiven Erfahrung einer gewissen göttlichen Transzendenz
hat sein sehr bruchstückhaftes religiöses Wissen zu objektiven,
„von dieser Transzendenz herabsteigenden“ Wahrheiten
gemacht. Seine Erfahrung war die absolute Garantie dafür.
Deren Darlegung in verschiedenen Schriften geschah im
Zeichen einer Ehrlichkeit, die mit Wahrheit gleichbedeutend ist.
Sie hat sich außerhalb von jeglicher rationaler Betrachtung
entwickelt, ja sogar in Abstützung auf ein gewisses
volkstümliches, sowohl jüdisch als auch christlich geprägtes
Misstrauen gegenüber philosophischen Überlegungen.
DER ERSTE PHILOSOPH
Das ist der Grund, dass mein Freund der Philosophie keinerlei
Interesse schenkt. Von ihm her gesehen ist das eine gemäßigter
Standpunkt der Philosophie gegenüber, da ja viele muslimische
Gläubige ihr mit blankem und offenem Hass begegnen...
Menschen, die in einem islamischen Umfeld Philosophie
betreiben wollten, haben dafür oft einen teuren Preis bezahlt...
sogar Averroës in Spanien... Als Schüler des Aristoteles, den er
in sehr angesehener Weise kommentierte, war er der Ansicht,
dass die Philosophie sich mit allen die menschliche Existenz
betreffenden Themen auseinandersetzen müsse, besonders im
Bereich der Ethik und des Rechts. Damit hat er sich den Hass
der malekitischen Rechtsgelehrten zugezogen.
Er versuchte, die Vernunft auf ihren höchsten
Entwicklungsstand zu bringen, um ihre Grenzen zu erkennen.
Dieses Suchen ließ ihn erkennen, dass die Vernunft den Fragen
nach Gott, nach der Schöpfung und nach der Unsterblichkeit der
Seele nicht gewachsen ist, und dass man sich daher der
Offenbarung zuwenden muss. Auch für ihn steht die
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
85
Offenbarung jenseits der Vernunft. Diese übt also keinerlei
Kontrolle über die Offenbarung aus. Viele katholische
Theologen haben einen ähnlichen Standpunkt vertreten. Er hat
den Vorteil, einfach und klar zu sein...
Eilends schaltet sich DER ANDERE PHILOSOPH ein:
Sagen wir: Averroës näherte sich den Grenzen der
aristotelischen Vernunft, aber nicht der menschlichen Vernunft
als solcher. Es sei denn, man will die ganze philosophische
Fähigkeit des Menschen auf seine klassischen geschichtlichen,
im Wesentlichen griechisch-lateinischen Entwicklungsstufen
reduzieren. Diese sind grundsätzlich auf die in ihrer massiven
Gegebenheit als „Dinge“ wahrgenommenen und erfassten
materiellen Gegenstände konzentriert, und sie haben die
menschlichen Personen von ihrer individuellen „objektiven“
Identität aus betrachtet, in der sie all ihre Vollkommenheit und
ihren Wert sehen wollten.
Daher hätte Mohammed, selbst wenn er die antike
Philosophie genauso gut gekannt hätte wie Averroës, das, was er
mit großer Ehrlichkeit für eine vom Himmel herabgekommene
Offenbarung hielt, nicht kritisch untersuchen können. Sicherlich,
wenn er Schüler des Platon oder Aristoteles gewesen wäre, dann
hätte er sich davor gehütet, seinen persönlichen Erkenntnissen
den Charakter eines sakralen, religiösen, unmittelbar von Gott
empfangenen Wissens zu verleihen. Wenn er nicht in seiner
Psyche für, sagen wir „mystische“, Erfahrungen veranlagt
gewesen wäre, dann hätte er seine religiösen Erkenntnisse aus
dem Bereich der Kultur nicht in jenen des Offenbarten
„übertragen“. Er hat sie einer ontologischen „Veränderung“
unterzogen. Ein Missbrauch, dessen er sich nicht bewusst war.
DER PSYCHOANALYTIKER
Während ich mich davor hüte, diese Art von Verhalten
voreilig als krankhaft zu betrachten, würde ich doch sagen, dass
das tatsächliche Vertauschen der Wirklichkeitsgrade der Dinge
mit deren Bedeutungen an eine Form von Wahn denken lässt...
Im vorliegenden Fall an einen religiösen Wahn...
DER ARABISCHPROFESSOR
Für einen Muslim ist eine philosophische Redeweise, die ein
derartiges psychoanalytisches Urteil erlaubt, jene eines
Atheisten. Und ich höre mir das nur aus Anstand an...
86
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich danke Ihnen für Ihre Zuvorkommenheit. Ich weiß, dass sie
in keiner Weise mit mir übereinstimmen können... Ich verlange
von Ihnen nicht, dass Sie aufhören, Muslim zu sein... Aber im
Gegenteil zu dem, was Sie denken, ist meine Redeweise nicht
atheistisch. Ich lehne sogar dieses Wort ab. Wenn Sie mir sagen
würden, dass meine Redeweise nicht „religiös“ ist, so würde ich
diese Feststellung richtig heißen... Meine Redeweise ist weder
jüdisch, noch christlich, noch islamisch. Es gibt keine „religiöse
philosophische Redeweise“, genauso, wie es keine
„muslimische Mathematik“ gibt. Was wiederum nicht
verhindert, dass Muslime ausgezeichnete Mathematiker sein
können... Wenn ich als Philosoph rede, dann rede ich nicht mehr
als Glaubender. Aber dennoch bin ich gläubig. Und der
Philosoph in mir rechtfertigt es, dass der Glaubende in mir so
glaubt, wie er es tut. Ich glaube nicht nur an den Offenbarergott
und an seine Offenbarung, sondern achte auch den Schöpfergott
und die Vernunft, die Er im Menschen erschafft.
Es ist derselbe Gott, und sein Handeln ist dasselbe Handeln,
oder, besser gesagt, die einzelnen Entwicklungsstufen seines
Handelns stehen in vollkommener Übereinstimmung mit seinem
göttlichen Sein. Der Schöpfergott hat den Menschen als in
seinem Sein selbst vernunftbegabt erschaffen, so dass er
ebenfalls in seinem Sein die Offenbarung empfangen könne. In
seiner Vernunft kann der Mensch also sich selbst entdecken als
so geschaffen, dass er in seinem Sein natürlicherweise glaubend
ist. Indem er also in reflexiver Weise sein „menschliches Sein“
in seiner glaubenden Dimension versteht, entdeckt er in
gewisser Weise, nämlich in der in seinem Sein durch den
Schöpfer angelegten Offenheit, zu empfangen, die Gestalt, die
die von Ewigkeit her wirkliche Offenbarung notwendigerweise
annehmen wird, wenn sie wirklich von Gott „herabsteigt“.
Dieses reflexive Bewusstwerden seines Seins und seiner
wesentlichen Glaubenstätigkeit ist im eigentlichen Sinn
philosophisch. Es vollzieht sich in der Zeit, schrittweise, mit
Rückschlägen, Irrtümern, Berichtigungen und schlussendlich
begründetem und bewährtem Begreifen.
Unter diesem Gesichtspunkt kann man den Anteil an
Wahrheit ausfindig machen, der sich hinter den biblischen
Aussagen über eine „Thora vom Himmel“ und eine „ewige
Weisheit bei Gott“, und auch hinter der Vorstellung des Koran
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
87
von einem „ungeschaffenen Wort Gottes“ verbirgt. Man sieht
aber auch, dass diese Aussagen und Vorstellungen keinen Sinn
haben, wenn man sie innerhalb der empirischen Psychologie des
Menschen betrachtet.
DER ARABISCHPROFESSOR
Also räumen auch sie die Wahrheit des Qur’ān ein!
DER ANDERE PHILOSOPH
Alles liegt darin, unterscheiden zu können, welche Art von
Wahrheiten man darin erkennen kann...
DER ARABISCHPROFESSOR
Die Offenbarung selber.
DER ANDERE PHILOSOPH
Sicherlich nicht, wenigstens nicht in dem Sinn, in dem Sie es
— soweit ich das erraten kann — verstehen.
DER ARABISCHPROFESSOR
Warum? Ich hoffe, dass Sie mir jetzt nicht jene Verse des
Qur’ān vorlesen werden, die befehlen, die Ungläubigen zu töten,
falls sie sich nicht bekehren...
DER SINN, IN DEM RELIGIÖSE ERFAHRUNGEN DES MENSCHEN
OFFENBARUNG GOTTES SEIN KÖNNEN ODER NICHT SEIN KÖNNEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Keineswegs... Diese Verse gibt es,... aber ich bewege mich
auf einer anderen Ebene... Mohammed zollt der geschaffenen
Vernunft des Menschen nicht genug Anerkennung. Von ihm aus
war das kein Fehler. In seiner geschichtlichen Situation konnte
er nicht... All seine Gedanken entstehen auf der Stufe der
menschlichen Psyche. Er und seine Landsgenossen hatten ein
und dasselbe religiöse Innenleben gemeinsam. Es ist ziemlich
weit verbreitet und bleibt sich selbst im Polytheismus und in den
Monotheismen gleich... Und die Anschauungen und
Verhaltensweisen dieses religiösen Innenlebens sind sehr, sehr
weit davon entfernt, dem für eine wirklich von Gott stammende
Offenbarung vorgesehenen menschlichen ontologischen
Bewusstsein zu entsprechen. Es ist Aufgabe der Philosophie,
88
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
dies einerseits kritisch zu hinterfragen, und andererseits die
Struktur zu entdecken, die an...
DER DOMHERR, etwas ungeduldig
Aber wenn der Philosoph sich anmaßt, zu sagen, was die
Offenbarung Gottes sein kann und sein muss, dann setzt er der
Freiheit Gottes Grenzen und versucht, Gott seinen eigenen
Willen aufzuerlegen, anstatt sich dem Willen Gottes zu
unterwerfen. Das ist eine verkehrte Welt! Sagte der heilige
Paulus nicht, dass das Kreuz Christi für die Juden ein Skandal
ist, für die Heiden eine Torheit, in den Augen Gottes aber
Weisheit? Es obliegt also wirklich nicht dem Philosophen, zu
sagen, was in einer Offenbarung enthalten ist!
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich denke, dass hier ein Missverständnis vorliegt, vielleicht
sogar mehrere!... Richtlinien und Normen aufzustellen, die von
unseren Aussagen einzuhalten sind, falls letztere nicht falsch
sein sollen, bedeutet nicht, dass man die Wahrheit dieser
Aussagen in Worte fasst. In der Mathematik die Regeln der
Addition in Worte zu fassen bedeutet nicht, dass ich den
Gesamtpreis meines Einkaufs beim Lebensmittelhändler des
Quartiers im Voraus kennen kann. Aber dank dieser Regeln
kann ich mich vergewissern, dass der Kassenzettel stimmt.
Diese Additionsregeln schränken außerdem keineswegs meine
Freiheit ein, genauso wenig wie diejenige meines
Lebensmittelhändlers,... es sei denn, einer von beiden würde
beim Preis der Ware mogeln wollen... oder sich darüber ärgern,
nicht tun zu können, was ihm „gefällt“. Nicht die Freiheit gibt
mir die Möglichkeit, zu „mogeln“, sondern ihre
Unvollkommenheit auf der Ebene der von mir ausgeführten
Entscheidung... Folglich verstümmelt (verstümmelt ] verkürzt) die
„Mogelei“ meine wahre Freiheit...
Aber die Tatsache, dass Sie mir gegenüber diesen Einwand
machen, Herr Pfarrer, zeigt, dass Sie Gott eine ziemlich
mittelmäßige Form von Freiheit zuerkennen. Das, was Sie Gott
zuteilen, ist genau das, was an der menschlichen Freiheit
unvollkommen ist... Das ist doch die Höhe!... und sie können
sich dieser Unvollkommenheiten nicht dadurch entledigen, dass
Sie sie bei Gott als unbegrenzt betrachten. Als ob die Freiheit
Gottes darin bestehen würde, irgendetwas, egal was, auswählen
zu können, ohne Grenzen... In diesem Punkt haben Sie dieselbe
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
89
Vorstellung wie Mohammed... wenn er sagt, dass Gott, falls er
es wollte, denjenigen, die den Glauben an den Koran
verweigern, die Sehkraft und Hörfähigkeit wegnehmen würde,
da Er allmächtig ist...
Und so sind wir also in die der volkstümlichen religiösen
Psychologie eigenen Denkschemen zurückgefallen... Sie geben
uns eine grundlegend falsche Vorstellung von Gott...
DER DOMHERR
Sie werden uns doch wohl nicht vorwerfen, dass wir...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich beschuldige Sie nicht im Geringsten... Sie sind in keiner
Weise schuldig... Sie und Mohammed, ihr seid beide Opfer einer
klassischen Denkweise, für die die Freiheit im « Wählen »
besteht. In diesem Punkt hat sie dem Denken der Masse nichts
voraus... Und für eine Vielzahl von Menschen nimmt dieser
volkstümliche Bedeutungsinhalt den Platz der Philosophie ein...
Aber sogar im Zusammenhang mit diesem Irrtum gesehen
handelt es sich nicht darum, Gott unseren Willen aufzuzwingen,
sondern vielmehr darum, zu verstehen zu versuchen, wie Er sich
selbst offenbart. Die nötigen Hinweise dazu gibt er uns in
unserem Sein, insofern dieses nach seinem „Bild“ geschaffen
ist, darin, und in dem Maß, wie dieses Abbild ihm „ähnlich“ ist.
Bereits in unserem geschaffenen Sein, das sein Abbild ist, in
einigen seiner Grundzüge ihm ähnlich gestaltet, muss es also
irgendetwas geben, das „dem Gott, der fähig ist, sich zu
offenbaren“, ähnlich ist.
Dagegen tut man dem Verständnis seines Werkes Gewalt an,
wenn man gewisse Anschauungs- und Denkweisen, die die
Ähnlichkeiten des Menschen mit seinem Schöpfer verkürzt
darstellen oder verbergen, für sich annimmt - oder sie sogar
anderen auferlegt, die sie ja übrigens bereitwillig annehmen.
Hierin liegt das ganze Problem der Theologie, beziehungsweise
der monotheistischen Theologien... Wenn sich alle Denker im
intellektuellen Raum der klassischen Philosophie bewegen, tritt
das Problem nicht einmal zutage... Und wenn es dabei hier und
da Steine des Anstoßes gibt, werden diese von den für die
Religion Verantwortlichen beseitigt. Sie denunzieren die
Unverschämtheit und Überheblichkeit dieser Kritik — Wer kann
es wagen, mich auf die Probe zu stellen...! sagt Mohammed —,
oder sie verschanzen sich hinter dem Vorhandensein
90
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
unergründlicher Geheimnisse, deren Dasein und Natur, wie ein
katholisches Dogma sagt, nicht erkannt werden kann... Ich aber
denke, dass in der Geschichte des Denkens der Augenblick
gekommen ist, sich der Unzulänglichkeiten der klassischen
Philosophie bewusst zu werden...
DER DOMHERR, etwas verärgert:
Aber, mein Herr, das hat der Apostel Paulus längst vor Ihnen
gesagt... Ich habe diese Worte gerade erst zitiert: Die Botschaft
vom Kreuz ist für die Juden ein Skandal, für die Griechen eine
Torheit, aber Weisheit in den Augen Gottes... Was bedeuten all
diese Erklärungen... all diese... unserem muslimischen
Teilnehmer gegenüber... Es ist nicht möglich...
DER ANDERE PHILOSOPH, gleichzeitig...
Herr Pfarrer... Herr Pfarrer... Ich bitte Sie...
DER MODERATOR
Nur mit der Ruhe!... Wir vergleichen Ansichten, und nicht
Empfindsamkeiten... Wir sollten uns nicht durch unsere
jeweilige Empfindlichkeit die Diskussion verderben... Herr
Kanonikus, was würden Sie gerne anfügen?
DER DOMHERR
Nein, nichts... gar nichts...
DER MODERATOR
Mein Herr, falls Sie wollen, können Sie antworten...
DER ANDERE PHILOSOPH
Herr Pfarrer, Ihr Zitat war durchaus angebracht. Allerdings
sollte man den Anfang des ersten Korintherbriefs gut lesen, und
sich fragen, was Paul unter „der Weisheit der Griechen“
versteht. Wer ermächtigt uns, die „Weisheit der Griechen“ mit
der menschlichen Weisheit als solcher gleichzusetzen? Die
Weisheit der Griechen ist eine Form von Weisheit, sicherlich,
aber sie ist unvollständig, und ihre Mängel ziehen in der
Theologie Unstimmigkeiten nach sich. Aufgrund ihrer
Unzulänglichkeiten beurteilt die griechische Weisheit das für
Gott abgelegte und daher für uns offenbarende Zeugnis durch
einen gekreuzigten Menschen als eine Torheit, obwohl dieses
Zeugnis gottgemäße Weisheit ist. Wir haben es dort also mit
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
91
einer Phasenverschiebung zu tun. Da dieses Zeugnis für Gott
Weisheit ist, müsste der Theologe vielmehr zu dem Schluss
gelangen, dass es auch für den Menschen Weisheit ist, jedenfalls
dann, wenn der Mensch sich darum bemüht, durch eine wahrhaft
menschliche Weisheit weise zu sein. Durch eine kohärente,
vollständige und allen Ansprüchen der Vernunft genügende
Weisheit. Nun sollen die Theologen reden... Die Theologie ist
am Zug...
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Besonders die Verkündigung der Auferstehung Christi durch
Paulus ist für die Griechen eine Torheit. Dies wird aus der
Reaktion der Athener auf dem Areopag auf die Rede des Paulus
ersichtlich, eine Rede, die von Lukas in der Apostelgeschichte
rekonstruiert wird, am Ende von Kapitel 17. Ich persönlich sehe
nicht, wie eine „neue Philosophie“, eine neuartige
Anthropologie — die ich mir übrigens nicht besonders gut
vorstellen kann —, über eine so sonderbare Begebenheit wie die
Auferstehung Christi nachdenken könnte.
DER ANDERE PHILOSOPH
Herr Professor! Entschuldigen Sie... Ihre Frage enthält zu
viele stillschweigende Voraussetzungen, als dass man sie mit
wenigen Worten vollständig beantworten könnte... Ich möchte
nur sagen, dass keine Philosophie, ob es sich nun um eine
klassische mit individualistischer Ontologie oder um eine ihr
logisch widersprechende nicht-klassische mit interpersonaler
Ontologie handeln möge, durch die reflexive Methode
irgendeine an den Glauben des Menschen gerichtete Wahrheit
aufstellen kann. Falls sie interpersonell ist, erlaubt sie
lediglich,... oder erlaubt eben nicht, falls sie individualistisch ist,
eine menschliche oder göttliche Offenbarung in einer ihr
angemessenen
Verständlichkeit
aufzufassen.
Unter
Berücksichtigung aller Proportionen kann man sagen, dass die
Mathematik niemals dazu ausreichen wird, in den
Naturwissenschaften ein Erfahrungsereignis zu produzieren. Sie
erlaubt
lediglich,
die
beobachteten
experimentellen
Gegebenheiten in verständlicher Weise zu behandeln und von
ihnen ausgehend durch Induktion Gesetze aufzustellen. Indem
man dies tut, gibt man zu, dass es eine Art vorgegebene
Übereinstimmung
zwischen
den
höher
entwickelten
Mathematiken und der materiellen Welt gibt. In ähnlicher Weise
92
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
muss man zugeben, dass es eine Art prästabilierte Harmonie —
um einen von Leibnitz geprägten Ausdruck aufzugreifen —
zwischen der Philosophie in ihrer ganzheitlichen und
interpersonalen ontologischen Form, und dem, was an den
Offenbarungen echt ist, gibt.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Vielen Dank für Ihre Antwort... Darüber würde ich gerne
noch mehr erfahren... Erlauben Sie mir aber eine Bemerkung. In
Ihrem Vergleich zwischen den Beziehungen zwischen
Mathematik und den Naturwissenschaften einerseits und den
Beziehungen zwischen der Philosophie und den Offenbarungen
andererseits ist ein wichtiger Unterschied eingeschlossen. In den
Naturwissenschaften bewegen wir uns im Geltungsbereich des
Determinismus, während wir uns im Bereich der Offenbarung
im Geltungsbereich der Freiheit bewegen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich bin vollkommen einverstanden.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Ihr Beitrag, geschätzter Kollege, zeigt, dass die bereits
gestellten Fragen bezüglich der Offenbarung weitere Fragen
bezüglich der menschlichen Freiheit und auch der Freiheit
Gottes aufwerfen. Die Art und Weise, wie man sich die Freiheit
vorstellt,
bestimmt
die
Art
und
Weise
der
Offenbarungsvorstellung.
Ist es nun aber die Offenbarung, die sich zur Freiheit äußert?
Nein. Es handelt sich sehr wohl um eine philosophische
Vorstellung. Daher muss auf die philosophische Vernunft
zurückgegriffen werden, um unsere Offenbarungsbegriffe
aufzuhellen. Wir werden zweifellos Gelegenheit haben, darauf
zurückzukommen, falls unsere Unterhaltung dieses Thema
weiter vertiefen wird.
An dieser Stelle würde ich die philosophische Überlegung
gerne wieder aufnehmen und weiterführen. Umso mehr, da die
Sprache der Gläubigen, seien sie nun Juden, Christen oder
Muslime, häufig den Glauben an eine Offenbarung — an die
ihre — oft als eine Bedingung für die Erlangung des Heils
darstellt, als eine Bedingung für das vollständige Gelingen der
menschlichen Existenz nach dem Tod... „Wenn ihr glaubt, dann
werdet ihr gerettet,... werdet ihr die Gewinner sein — so habe
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
93
ich in der Übersetzung des Koran gehört — wenn ihr nicht
glaubt, dann ist die Strafe euer...“
Mein Mitbruder, der Domherr, meinte, dass die durch
philosophische Überlegung zur Beurteilung der Echtheit einer
Offenbarung formulierten Wahrheitsnormen die Freiheit Gottes
einschränken würden. In Wirklichkeit aber schränken diese
Normen, die in vollkommener Weise in einer metaphysischen
Überlegung begründet sind, lediglich die sehr oft in dieser Sache
schwärmerische religiöse Einbildungskraft ein. Dagegen ist eine
Darstellung der Offenbarung als heilsnotwendig eine
Vorstellung, die unser Verständnis der Freiheit Gottes in
einzigartiger Weise einschränkt. Wieder einmal ist unser
Gottesbild von unseren menschlichen psychologischen
Denkkategorien (Denkkategorien ] Denkschemen) beherrscht.
Wenn
der
Philosoph
dagegen
die
notwendigen
Grundeigenschaften seines interpersonalen Seins — also seine
notwendigen Beziehungen zu anderen — als ontologische
Vollkommenheit und nicht nur als eine phänomenale
Gegebenheit anerkennt, kann er, von der Erkenntnis dieser
Grundeigenschaften ausgehend, die Normen für eine
interpersonale Offenbarungs- und Glaubensbeziehung festlegen.
Dieses methodologische Vorgehen scheint mir klar und stimmig
zu sein, auch wenn es nicht allen gegeben ist, sich gerne darum
zu bemühen.
Die philosophische Genauigkeit auferlegt Gott keinerlei
Zwang. Wenn der Mensch die notwendigen Grundeigenschaften
seines Seins anerkennt, dann anerkennt er gerade dadurch auch
die seinen Handlungen auferlegten Normen; also auch jene, die
einem aktiven Vollzug des Glaubens an eine Offenbarung
auferlegt sein könnten, kraft der Struktur seines interpersonalen
Seins.
Nehmen wir einen Vergleich aus dem Rahmen der
klassischen Philosophie: die konstitutiven Grundeigenschaften,
die durch eine individualistische Untersuchung trotz allem
bereits erkannt werden können.
Wenn der klassische Philosoph zum Beispiel zugibt, dass das
Identitätsprinzip und das Prinzip der Widerspruchsfreiheit seiner
Redeweise auferlegt sind, dann schließt er daraus, dass diese
auch der Sprache der Offenbarung auferlegt sind. Wenn Gott
sich also dem Menschen zu verstehen geben will, dann muss
seine Sprache die Prinzipien der Logik beachten.
94
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Maßt sich der Philosoph dadurch an, Gott seine logischen
Prinzipien aufzuerlegen, als ob es sich um eine Entscheidung
handeln würde, die nur von ihm abhängt? Keineswegs. Und
wenn Gott sich unter Einhaltung solcher Prinzipien offenbart,
dann tut er einfach nichts anderes, als sich selbst treu zu sein, in
Übereinstimmung mit seinem schöpferischen Handeln. Und
genau darin liegt die „Freiheit Gottes.“ Daher erkennt der
Mensch nur unter Anerkennung der ontologischen
Notwendigkeiten, unter denen eine Offenbarung Gottes
stattfinden kann und muss, wenn sie stattfindet, und dank einer
angemessenen philosophischen Überlegung wirklich, was die
Freiheit Gottes ist. Und er kann übrigens genau so auch
erkennen, dass Gott sich tatsächlich in voller Freiheit offenbart.
Seine Glaubensantwort kann daher also auch gänzlich frei sein...
Zu denken, dass Gott sich so oft offenbart, wie es ihm beliebt,
wann er will, wem er will, um das zu offenbaren, was er will —
und vielleicht sogar unmoralisch handeln, unter dem Vorwand,
dass es Gott ist, der da willkürlich über Gut und Böse
entscheidet —, käme offensichtlich dem gleich, sich die
Möglichkeit einer Offenbarung nach dem von allen am meisten
auf den Menschen zugeschnittenen Muster vorzustellen. Die
Berufung auf Gott kann manchmal sehr niedrige Instinkte im
Menschen verdecken... Das stellt man fest...
DER SOZIOLOGE
Tatsächlich... Der Religionssoziologe stellt mehr oder weniger
überall ähnliche Verhaltensweisen fest. Wenn Menschen
vorgeben, im Genuss derartiger Offenbarungen zu stehen, dann
haben ihre Zuhörer keinerlei Schwierigkeiten, „sich darin
wiederzuerkennen“, also „sich wie zu Hause zu fühlen“. Sie
halten dann unbewusst diese Ähnlichkeiten für Zeichen der
Echtheit und glauben schleunigst daran.
Diese Zustimmung ist umso begeisterter, je mehr der
selbsternannte Träger der Offenbarung ihnen ewige,
begehrenswerte Belohnungen verspricht, und ihnen bereits jetzt
einen Vorgeschmack zusichert, in der Form von materiellen
Vorteilen, die durch Gewalt über die Güter der Ungläubigen
herbeizuschaffen sind. Letztere aber werden mit ewigen Strafen
bedroht, welche in den Verletzungen, die man ihnen zufügt,
bereits vorausgenommen werden. Da sie Gott abgelehnt haben,
ist man berechtigt, sie willkürlich zu behandeln...
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
95
Ich möchte an dieser Stelle unserem Psychoanalytiker sagen,
dass unser „Glaubenstrieb“ in diesem Fall „narzisstisch“ ist, bis
hin zur Leugnung des Anderen. Dieser „Narzissmus“ ist eine
Verkrümmung, eine Umkehrung des „Verlangens“... Wie
erklären Sie das?
DER PSYCHOANALYTIKER
Zweifellos. Aber auch wenn „Narzissmus“ eine Perversion
des Verlangens ist, so bezeugt er doch dessen Existenz. Auch
hier sehe ich wieder eine Parallele zum sexuellen Verlangen.
Wenn es normal entwickelt ist, erfreut es sich an der Freude des
Anderen. Es ist der sinnliche Ausdruck der Liebe, die das Glück
des Anderen will und sich freut, es herbeizuführen. Es
pervertiert sich, wenn es besitzergreifend und beherrschend
wird. Es kann sich bis hin zur Vergewaltigung und zum
Verbrechen pervertieren. Wie soll ich Ihnen das erklären? Ich
weiß nicht... Wenigstens kenne ich keine psychoanalytische
Antwort. Wie kann das Verlangen nach Genuss, wie Freud
sagte, sich selbst zerstören, indem es das zerstört, was ihm seine
Selbstverwirklichung erlaubt? Ich weiß es nicht... Es ist für mich
ein Geheimnis... Als Mensch denke ich, dass es sich um eine
Form des Bösen handelt... Aber indem ich dies sage, verlasse
ich den Bereich der Psychoanalyse... Ich müsste Philosoph
werden... Aber dazu ist es zu spät...
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler
Es ist nie zu spät, um das Richtige zu tun...
DER PSYCHOANALYTIKER
Das denken Sie... Missbrauchen Sie dabei nicht meinen
Glaubenstrieb?
Nachdem einige Teilnehmer wohlwollend gelächelt haben:
DER ANDERE PHILOSOPH
So betrachtet ist Ihr Vergleich zwischen dem Sexualtrieb und
dem Dynamismus des Glaubens vertretbar... Die Abirrung
unserer Glaubenszustimmung zu einem menschlichen
Offenbarungstrugbild bezeugt deren Existenz. Die Millionen
von Menschen, die an Mohammed glauben, bezeugen in
Wahrheit nicht die Wirklichkeit einer von Gott an Mohammed
ergangenen Offenbarung, sondern die Wahrheit, dass der
Mensch von Natur aus ein „Glaubender“ ist. Die Menschen
96
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
sollten sich durch ein rigoroses reflexives Denkverfahren dieser
natürlichen
konstitutiven
Veranlagung zum
Glauben
bewusstwerden. Es ist eine Veranlagung, die große Beachtung
verdient... Eine übergroße Herausforderung...
DER PSYCHISCHE HANG DES GLAUBENDEN BEWUSSTSEINS, SICH
SCHEINBARE OFFENBARUNGEN IN MENSCHLICHEN WORTEN
ZU GEBEN
DIE ANWÄLTIN
Und was sagen Sie zu den Atheisten? Die sind doch trotzdem
Menschen. Ich lege Wert darauf, sie zu verteidigen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Der Atheismus kann eine gesunde Reaktion des als
Glaubender veranlagten Menschen gegen den „Narzissmus“
seines Glaubenstriebes sein. Die Atheisten sind für ihre
glaubenden Brüder von großem Nutzen. Aber ihre Reaktion ist
unzureichend. Denn hinter dem „Narzissmus“ des sich
unbewusst zu seinem Spiegelbild niederbeugenden Glaubenden
verbirgt sich gut und gerne die Wirklichkeit der „aktiven
Glaubensfähigkeit“ eines gewissen „Dynamismus, zu glauben“.
Soll man diesem jegliche Verwirklichung verweigern, wie es der
Atheist will? Und soll man, angesichts der Schwierigkeiten, ihn
authentisch
zu
verwirklichen,
seine
unvollständigen
Verwirklichungen verunmöglichen? Soll man die Ehe verbieten
unter dem Vorwand, dass eine vollkommene Liebe zwischen
Mann und Frau unmöglich ist? Alle Probleme der Religionen
und der Beziehungen zwischen den Religionen liegen hier...
insbesondere das Problem der Beziehungen zwischen
„Religionen“ und Glauben.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Aber was wird der Mensch sich selbst tatsächlich als
Offenbarung geben, wenn er, wie Narziss, seinen
„Glaubenstrieb“ in eine Offenbarung projiziert, die ihm das Bild
seiner „religiösen Psyche“ widerspiegelt?
DER ANDERE PHILOSOPH
Mit dieser Frage geben Sie fast schon die Antwort. Er wird
sich selbst, seine Überzeugungen, seine moralischen Gesetze,
sein Recht, seinen Lebenssinn, seine Lösungen der existentiellen
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
97
Probleme, seine Riten, usw. projizieren. All seine Denk- und
Handlungsweisen, die das Leben und den Tod betreffen, die
Welt seiner Erfahrung, und das, was sich daraus als jenseits
seiner Erfahrung liegende Wirklichkeit zu ergeben scheint,
besonders seine Gottesvorstellung, all dies ist geeignet, um „als
Offenbarung wieder auf ihn hinabzusteigen“. Der menschliche
Wert — ich sage nicht göttliche Wert — dessen, was er sich
selbst als „Offenbarung“ gibt, hängt wohlverstanden von dem
Wert dessen ab, was er aus sich herausprojiziert. Der Inhalt der
Offenbarungen muss also nach dem rationalen Ideal, das er sich
zu geben fähig ist, beurteilt werden. Der Mensch ist fähig, sehr
edle und erhabene menschliche Werte, vielleicht die edelsten
und erhabensten, die man sich vorstellen kann, als „Gedanken
Gottes“ — Gott ausgeliehene Gedanken — zu projizieren und
sie sich „als Offenbarung wieder zukommen zu lassen“. Daran
besteht kein Zweifel. Aber das bedeutet noch nicht, dass er sich
in dieser oder jener „Offenbarung“ im Lauf der Geschichte
bereits seine höchsten Werte gegeben habe. Zweifellos sind
noch Fortschritte möglich... Vor allem, wenn der Mensch sich
dieses narzisstischen Spiegelbildes seiner selbst in den
Offenbarungen, die er sich gibt, bewusst wird. Er wird
Fortschritte machen, wenn er die Beschaffenheit seiner
Glaubensfähigkeit besser versteht und daher auch, was Gott sein
kann und wie Gott ihm in einer wahrhaftigen, nichtnarzisstischen Offenbarung in seiner menschlichen Natur
begegnen kann.
Durch eine Untersuchung der herausragenden unter den
religiösen Botschaften, die für „offenbart“ gehalten werden,
könnte dies alles noch weiter ausgeführt und bis ins Letzte
erklärt werden. Aber ich lege wiederum Wert darauf, hier
zunächst Präzisierungen anzubringen. Diese vom Menschen
durch den Glaubenstrieb durchgeführte Projektion seiner selbst
in eine „Offenbarung“, die er sich „als dem von Gott
Empfangenden“ gibt, ist kein unmoralisches Verhalten, und
auch nicht irrational. Das Krankhafte an diesem religiösen
Phänomen besteht darin, dass der Mensch sich seiner nicht
bewusst wird, dass es im Unbewussten bleibt und „Störungen“
nach sich zieht. Der Glaubenstrieb muss erzogen, gepflegt,
zivilisiert und „rational durchdacht“ werden... Er darf nicht
durch einen „reduktionistischen“ Beurteiler verdrängt werden,
ansonsten kommt er in der Gestalt der „verschleierten“
Glaubensüberzeugungen von „wissenschaftsgläubigen partiellen
98
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Vernünftigkeiten“ und „vergötzten Techniken“ wieder zum
Vorschein. Er darf auch nicht in seiner ungehobelten
Ursprünglichkeit belassen werden, und sich durch alle
möglichen Arten von Mystizismus und religiösem Wahn
entladen. Er muss in Aufrichtigkeit und Klarheit gelebt werden.
Auf diese Weise kann er sich darauf einstellen, das, was eine
„wahrhaftige Offenbarung Gottes“ sein könnte, aufzunehmen.
Der Mensch wäre sich so der Bedingungen der Möglichkeit und
Verständlichkeit einer derartigen Offenbarung bewusst
geworden. Er hätte rational auf die Frage „Was kann und was
soll eine wahrhaftige Offenbarung Gottes sein?“ geantwortet. Er
wäre fähig, das Wesen seines Glaubens richtig einzuschätzen,
und in jeder Offenbarung ihren Eigencharakter und ihren Anteil
an Echtheit zu erkennen.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Dann glauben Sie also nicht, dass Gott zu Abraham
gesprochen hat, zu Mose und zu den anderen Propheten? Und
wenn ich Muslim wäre, würde ich anfügen: und zu Mohammed?
DER ANDERE PHILOSOPH
Entschuldigen Sie! Ich verstehe Ihre Frage nicht. Welchen
Sinn geben Sie dem Wort „glauben“? Fragen Sie mich, ob ich
„den Glauben daran habe“, dass Gott gesprochen hat...? Oder
dass ich der Meinung, also der Überzeugung bin, dass Gott
gesprochen habe... oder nicht gesprochen habe... In meiner
Frage nach Genauigkeit geht es nicht zuerst darum, ob Gott
gesprochen hat oder nicht gesprochen hat, sondern um den Sinn
des Wortes „glauben“.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Ich habe hier dem Ausdruck „glauben“ in uneigentlichen, aber
gebräuchlichen Sinn von „der Meinung sein, die Ansicht haben,
denken, dass...“ verstanden. Ich weiß sehr wohl dass, wenn ich
ihn im Sinn von „den Glauben haben“ verstehen würde, Sie mir
sagen würden, dass es ebenso wenig einen Grund gibt, den
Ausdruck „glauben - den Glauben haben“ zu verwenden, wie
sich zu fragen, welche Farbe der Schnittpunkt zweier Geraden
hat...
Wenn es um Ereignisse geht, kann man nichts weiter tun als
die Zeugnisse zu betrachten und sie anzunehmen oder
abzulehnen. Der gebräuchliche Ausdruck ist, zu sagen, dass man
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
99
„Glauben“ schenkt oder nicht schenkt; oder sagen wir
besser „Glaubwürdigkeit zuerkennet“: Man schenkt einer
Überlieferung Vertrauen oder nicht. In diesem Fall kann es sich
tatsächlich um nichts weiter handeln als eine Art von
„menschlichem Glauben“. Wohlverstanden, wenn man in einer
derartigen Überzeugung erzogen wird, dann bleibt man ihr ganz
natürlicherweise treu, so wie seiner Muttersprache.
DER ANDERE PHILOSOPH
Bin ich also der Meinung, Gott habe zu den Propheten
gesprochen...? Ich antworte. Wenn man sich ein an jemanden
gerichtetes Wort, wie etwa jene, die wir in diesem Kolloquium
aneinander richten, vorstellt, dann würde ich verneinend
antworten, was auch immer dieses wunderbare Phantasiegebilde
sein möge: Engel, himmlische Stimmen, Erscheinungen,
unmittelbar in der Intelligenz stattfindende rein geistige
Bewegungen, mit denen man ein solches Wort umhüllt hätte, um
seinen Unterschied zu unseren Worten zu zeigen. Dieses
wunderbare Phantasiegebilde ist in den Augen des Philosophen
nicht in der Lage, die Transzendenz Gottes wirklich zu erkennen
und zu respektieren. Diese Einbildungen wollen aber sicherlich
eine Transzendenz bejahen und behaupten. Sie haben also
durchaus einen Sinn. Man muss sie als die religiöse
Umkleidung, als den Schmuck unseres „Glaubenstriebes“
verstehen — hier nehme ich den von unserem Psychoanalytiker
gebrauchten Ausdruck wieder auf; selbst wenn wir dadurch im
weiteren Verlauf der Diskussion auf diese Formel
zurückkommen und uns nach ihrer wahren Beschaffenheit
fragen. Diese mehr oder weniger märchenhaften Einbildungen
sind vor allem unserer körperlichen Verfasstheit angepasst. Und
in dem Maß, in dem sie mittels visueller, hörbarer oder fühlbarer
Unterschiede einen gewissen Abstand zu unserem empirischen
Bewusstsein betonen, beabsichtigen sie tatsächlich das
Aussagen einer Transzendenz.
Diese Aussage ist rein psychologischer Art, selbst wenn sie
eine äußerst geistige psychische Qualität aufweisen kann, wie
das im Fall der Visionen des Paulus und Mohammeds — der
Herr Kanonikus hat uns darauf hingewiesen — und vieler
anderer im Verlauf der religiösen Geschichte der Menschen
gegeben ist. Die Gefahr, die Falle, die Selbsttäuschung oder der
Vertrauensmissbrauch liegt darin, diese Kleidung — diese
irreführende Kleidung, denn sie ist zum Teil eine „Verkleidung“
100
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
— unseres Glaubenstriebes für die objektive Wirklichkeit einer
von Gott ausgehenden Offenbarung zu halten oder sie als solche
auszugeben.
Ich sage also nicht, dass es nicht irgendetwas geben kann, was
gemäß einer derartigen, auf Vorstellung beruhenden Darstellung
dem Bereich der „Offenbarung Gottes“ angehört. Die Frage
dreht sich darum, diese offenbarte Gegebenheit rational
erkennen zu können. Zuerst, indem man sie von ihrer auf
Einbildung beruhenden Verpackung unterscheidet; dann, indem
man sich fragt, ob alles, was sich unter dieser Verkleidung
verbirgt, ganz dem Bereich einer Offenbarung angehört. Wer
erkennt, dass eine Verkleidung des Glaubenstriebes vorliegt,
befreit sich von dieser Verkleidung, die eine doppelte Falle ist:
Sie lockt die „Beurteiler“ des Glaubenstriebes in die Falle, aber
auch den Glaubenstrieb selbst, wenn man diese Verkleidung für
die Offenbarungswirklichkeit selbst hält.
Wer könnte ohne Schaden den verschwommenen Traum von
einer sexuellen Vereinigung für die Wirklichkeit einer ehelichen
Umarmung mit ihrer ganzen Offenheit für das Leben und dem
Aufblühen einer Familie für die Ewigkeit halten? Auf der einen
Seite haben wir es mit dem klaren Bewusstsein eines
menschlichen Ideals zu tun, auf der anderen mit einer zu diesem
Ideal in unklarer Verbindung stehenden Traumvorstellung.
DER DOMHERR
Sie wollen also sagen, dass die Glaubenden „Träumende“
sind!
DER ANDERE PHILOSOPH
Im Hinblick auf die Zweideutigkeit des Ausdrucks
„Träumender“ und daher auch auf all die Möglichkeiten, Ihre
Aussage falsch zu verstehen, würde ich sagen: nein. Aber wenn
Sie das Vergleichsverhältnis weiter ausarbeiten, da es zwei
Verhältnisse zu vergleichen gilt, und nicht zwei isoliert
betrachtete psychische Zustände, und wenn Sie sagen: „Der
religiös Glaubende verhält sich zur rational erkannten
Wirklichkeit einer Offenbarung Gottes, wie der träumende
Mensch zur Wirklichkeit der durch den wachenden und
aufmerksamen Menschen erkannten Welt; dann bin ich
einverstanden.
Aber Sie verstehen sicherlich, dass dieser Vergleich zwischen
zwei Verhältnissen nicht zufriedenstellend ist. Wie vergleicht
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
101
man richtig den „religiös Glaubenden“ mit dem „authentisch
glaubenden Glaubenden“? Es handelt sich nämlich tatsächlich
nicht um zwei Individuen oder Gemeinschaften von Individuen.
Es handelt sich auch nicht darum, den „glaubenden
Glaubenden“ eines religiösen Nach-außen-hin-Zeigens seines
Glaubens zu berauben. Eine eheliche Liebe, die sich selbst als
ewige Liebe will, beraubt sich selbst nicht der sexuellen
Umarmung, sondern gibt ihr im Gegenteil ihre ganze
Vollkommenheit...
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Sie siedeln die Religion also im Bereich der äußeren
Verhaltensweisen an, im Bereich der „Riten“, Gesten und
Worte; den Glauben hingegen im Bereich der Veranlagungen
der Intelligenz und des Herzens?
DER ERSTE PHILOSOPH
Was entspricht in Ihrem Verhältnis von Proportionen in der
Ordnung des Glaubens dem, was der wachende und
aufmerksame Mensch im Verhältnis zur äußeren Welt ist?
DER ANDERE PHILOSOPH
Hier haben wir zwei Fragen! Aber im Grunde genommen
warten sie beide auf dieselbe Antwort. Nehmen wir also in der
Beziehung a/b = c/d, „x = a“ als Unbekannte an! In der Ordnung
des Glaubens wäre das dem wachen Menschen in der Welt (c)
im Verhältnis zum Träumenden (d) Entsprechende der Mensch,
der über eine rationale, klare, vollständige und logisch
zusammenhängende Kenntnis seines Glaubens verfügt, also eine
Kenntnis seiner lebendigen persönlichen Verbindung mit einem
Anderen, der sich ihm offenbart und verpflichtet (mit anderen,
die sich ihm offenbaren und verpflichten) (a). Nennen wir ihn
den „glaubenschaftlich Glaubenden“, den „vertrauenden
Menschen“, im Vergleich zum „religiös Glaubenden“, oder
besser zum „Glaubenden, der ausschließlich religiös ist“ (b).
Der „glaubenschaftliche Glaubende“ ist niemals allein, er
steht immer, von Angesicht zu Angesicht, in bewusster
interpersonaler Verbindung mit „seinem“ Selbstoffenbarer. Dies
kann in bestimmten, besonderen Augenblicken durch ein
außerordentliches, aber ganz und gar menschliches Bewusstsein
der göttlichen „Nähe“ und „Gegenwart“ geschehen. Das
glaubenschaftliche Bewusstsein ist gemäß seiner Beziehung zu
102
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Gott für Gott offen und Gott ist ihm in schöpferischer Weise
gegenwärtig.
Genauso
verhält
es
sich
mit
der
Glaubenschaftlichkeit oder Vertrautheit zwischen menschlichen
Personen, gemäß den ihr eigenen Verwirklichungsweisen.
Im Verhältnis zu Gott kann der glaubenschaftliche Mensch
einerseits sehr wohl auch religiös seinen Glauben an eine echte
und rational als solche erkannte Offenbarung zum Ausdruck
bringen. Unter der Voraussetzung, dass die Beziehung des
Menschen zu Gott in dem Sinn allgemein einzigartig ist, dass
jeder in seiner persönlichen Einzigartigkeit zu Gott in
Beziehung steht, wird der religiöse Ausdruck des Glaubens, der
gewöhnlich
Persönlichkeiten
vereint,
die
als
nebeneinanderstehend betrachtet werden, (wie alle Gegenstände
der materiellen Welt), nun gemeinsam, gemeinschaftlich und
kirchlich
sein.
Dagegen
verwirklicht
sich
die
zwischenmenschliche Glaubenschaftlichkeit in einem Netzwerk
von ähnlichen Beziehungsstrukturen. Dies ist der Fall in einem
„Volk“, das eine „durch Familien strukturierte Gesellschaft“ ist.
Andererseits setzt der in seinem religiösen Glauben ehrliche
religiöse Glaubende, falls er seinen Glauben mit den ethischen
Ansprüchen seines Gewissens in Einklang bringt, auf gültige,
wenn auch mangelhafte Weise einen Glaubensdynamismus in
die Tat um, der ihn darauf vorbereitet, vielleicht schon zu
Lebzeiten, aber gewisslich in seiner Sterbestunde, dem sich
offenbarenden Gott zu begegnen.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Entschuldigen Sie! Mein Beitrag ist nichts weiter als eine
Klammer, die ich zu schließen gedenke... Mir scheint, dass Ihre
Unterscheidung zwischen „Ansammlungen von Individuen“ und
„aus Familien bestehende Gesellschaft“ den Entwurf zweier
Kirchenbilder enthält: eine Gemeinde von glaubenden
Individuen, oder eine Gemeinschaft von glaubenden Familien,
deren Glieder zueinander in Glaubensbeziehung stehen. Ich
schließe die Klammer, aber ich würde Ihnen persönlich gerne
mehr dazu sagen...
DIE ANWÄLTIN
Sie haben gerade von „echter, rational als solche erkannter
Offenbarung“ gesprochen. Aber wie kann man rational, also in
für den Anwalt ersichtlicher Weise unterscheiden, welche
Bestandteile einer offenbarten Botschaft oder Folge von
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
103
Botschaften von Gott stammen und welche nicht; welche von
Gott stammen und welche eine Verkleidung „des
Glaubenstriebes“, wie Sie sagen, sind?
DIE HISTORIKERIN
Gute Frage! Wenn es genaue Unterscheidungsmerkmale gäbe,
wäre das für den Historiker tatsächlich interessant.
DER ARABISCHPROFESSOR
Richtig! Mohammed unterscheidet sehr genau zwischen dem,
was ihm von Gott durch den Engel Gabriel mitgeteilt wurde,
und seinen persönlichen Einstellungen. Letztere sind für den
Muslim trotzdem wichtig, da sie ja eben die eines Propheten
sind, also eines Menschen, der sicherlich am besten über die
Übereinstimmung seines Verhaltens mit dem Willen Gottes, des
Herrn der Welten, des Unendlich Barmherzigen, des Ganz
Erbarmen, urteilen konnte. Mohammed hat nicht ... geträumt...
Der Qur’ān sagt es. „Weder ist er fehlgeleitet, noch irrt er, noch
spricht er aus eigenem Antrieb...“ Sure 53, Verse 2 und 3.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich denke nicht, dass es der Anwältin um eine Unterscheidung
zwischen dem, dessen göttlicher Ursprung beansprucht wird,
und dem, was dem Menschen zugeschrieben wird, geht. Jeder
Beliebige kann eine derartige Unterscheidung vornehmen, mag
er sich nun als inspiriert bezeichnen, oder als Prophet, oder als
Auserwählter einer religiösen Institution. Meiner Untersuchung
unterziehe ich jede Religion, oder besser gesagt jede religiöse
Lehre, die für sich beansprucht, auf eine Offenbarung gegründet
zu sein, oder eine solche übermittelt. Es handelt sich um eine
Unterscheidung, oder vielmehr um ein Erkennen, welches für
das durchzuführen ist, was ausdrücklich als „offenbarte Worte
oder Texte“ dargestellt wird. Auf diese Frage der Anwältin muss
ich antworten.
EINE VON GOTT KOMMENDE OFFENBARUNG SETZT EINE
ONTOLOGISCHE FÄHIGKEIT VORAUS, SIE ZU EMPFANGEN
Damit stellen Sie, Herr Professor, eine verwirrende Frage. Sie
fordern sichtbare Kriterien... Auch fürchte ich, jeden Historiker
oder Soziologen zu enttäuschen... Es ist nicht möglich, in einer
Botschaft, die sich als offenbart darbietet, mündlich oder
104
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
schriftlich, das, was wirklich offenbart sein mag, von dem, was
es nicht ist, etwa so zu unterscheiden, wie man in einem Text
die gut aufgebauten Sätze von denen unterscheiden kann, die es
nicht sind, oder die gute Rechtschreibung von der schlechten. Es
gibt keine „Grammatik der offenbarten Rede“.
Damit will ich sagen, dass es keine objektiven, erfahrbaren,
äußeren, beobachtbaren Kriterien gibt, um eine derartige
Unterscheidung vorzunehmen. Der Grund dafür ist, dass wir
uns, wenn es um den Glauben geht, nicht mehr im Bereich der
empirisch
oder
naturwissenschaftlich
verarbeiteten
Sinneswahrnehmung bewegen.
Dies zu denken, oder zu denken, dass derartige Kriterien
existieren könnten, wäre eine neue Art der „Verkleidung“
unseres „Glaubenstriebes“. Zum Beispiel, wenn man
außergewöhnliche Heilungen einer medizinischen Untersuchung
unterzieht, um festzustellen, ob es sich um „echte“ Wunder
handelt oder nicht, ob man darin ein Eingreifen Gottes sehen
muss oder nicht.
In derartigen Situationen versucht unser „Glaubenstrieb“, sich
gegen einen skeptischen „Beurteiler“ zu schützen. Dadurch
unterwandert er sich selbst und anerkennt sich selbst nicht
wirklich in seiner für unser Sein konstitutiven Dimension.
Der Mensch, der träumt, hält seine Traumbilder für die
Wirklichkeit, selbst wenn er träumt, dass er sich in die Luft
erhebt und auf ihr treibt. In seinem Traum würde er sich sogar
darüber wundern, zu schweben... Er kann das sogar hinterfragen,
um herauszufinden, ob er wirklich schwebt oder nicht. Was
würden ihm die experimentellen Kriterien, die ihm im Traum
beweisen, dass er schwebt, nützen? Der Glaubende, der
ausschließlich religiös ist, oder sein Prophet, der sich auf nichts
weiter als auf seine Offenbarung beruft, um die Echtheit seiner
Offenbarung zu beweisen, gleicht diesem „Träumenden“.
Sobald der Mensch aufwacht und sich aufmerksam mit der
Welt und ihren Angelegenheiten beschäftigt, wird er urteilen,
dass sein Traum nichts weiter ist als „Traum“, dass es sich nicht
um dieselbe Wirklichkeit wie die seiner Berührung mit den
Dingen und seinen Begegnungen mit anderen Menschen
handelt. Um seinen Traum zu bewerten, muss der Träumende
aus seinem Traum aussteigen. Um seine „Offenbarung“ zu
bewerten, muss der religiös Glaubende oder der erleuchtete
Prophet aus seiner „Offenbarung“ heraustreten, aus seiner
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
105
„Erleuchtung“, um deren Wirklichkeit und Wahrheitsgehalt
einzuschätzen.
Und dieses Herausgehen geschieht durch philosophisches
Nachdenken über seine bewusste Glaubensaktivität und seine
konstitutive Glaubensfähigkeit. Ich wiederhole mich nochmals...
Aber
es
gibt
keinen
anderen
Weg
zu
einer
Offenbarungswahrheit für meinen Glaubensdynamismus.
Ich beende die Erklärung meines Vergleichs... Von seinem
Schlaf erwacht, kann der Mensch auch nach seinen Träumen
fragen. Vielleicht haben sie einen Sinn? Träumen ist für den
Menschen eine Wirklichkeit. Und weil sie sich während des
Schlafes abspielt, ist es noch lange nicht so, dass seine
Traumaktivität keinen psychologischen Sinn hätte oder dass ihr
Inhalt nicht in irgendeiner Weise sein Seelenleben widerspiegeln
würde.
So sind also die Offenbarungen, die die Menschen sich
notwendigerweise als von Gott stammend geben, deswegen
nicht sinnlos oder eine reine Ansammlung von Irrtümern. Sie
sind ein kulturelles Greifbarwerden dieses im Tiefsten des
menschlichen Seins angelegten „Dynamismus, zu glauben“. Das
glaubenschaftliche Bewusstsein des Menschen gibt sich einen
Gegenstand. Und als solche sind diese selbstgemachten
Offenbarungen durchaus anzuerkennen... Daran besteht kein
Zweifel. Die Frage in diesem Punkt betrifft das Wissen, welchen
Offenbarungsgegenstand das glaubenschaftliche Bewusstsein im
Bereich seiner natürlichen Tätigkeit als in seinem Sein
immanente Offenbarung erkennen kann, und welche einer
transzendenten Offenbarung entsprechende Wirklichkeit es
anzunehmen fähig ist, ohne darüber in irgendeiner Weise
entscheiden zu können.
Die Erforschung dieser selbstgemachten Offenbarungen kann
sogar eine Art Vorbereitung auf ein philosophisches
Nachdenken über die Glaubenstätigkeit sein. Das Entdecken von
Hinweisen
auf
Abartigkeiten
des
Glaubens
und
Offenbarungstrugbilder, und zwar an deren Berührungspunkten
mit anderen menschlichen Tätigkeiten, mit denen sie im
Widerspruch stehen, kann uns auf den Weg einer
Wahrheitssuche führen.
Schließlich, nachdem man sich von der Illusion der angeblich
transzendenten Offenbarungen befreit hat, kann man sich auch
noch genauere Fragen stellen. Was sagen uns derartige
Offenbarungstatsachen und Glaubensüberzeugungen über die
106
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
ontologische Wirklichkeit unserer Beziehung zur Transzendenz?
Was „enthüllt“ uns ihr Inhalt über diese Beziehung zur
Transzendenz? Was in ihnen ist in gewissem Grad zwar keine
transzendente
Gottesoffenbarung,
aber
„immanentes
Aufleuchten“, Enthüllung der Beziehung des Menschen zu Gott,
auf relationale interpersonale und daher glaubenschaftliche
Weise?
Davon ausgehend und abgestützt auf philosophische
Überlegung, kann man sich dem rationalen Unterscheiden
dessen,
was
wirklich
Offenbarung,
transzendente
Selbstoffenbarung Gottes ist, annähern, weil man dessen
Übereinstimmung mit unserer ontologischen Veranlagung zum
Glauben wahrnimmt, die von Gott selbst als „Wiege“ für seine
von Ewigkeit her vorhergesehene Offenbarung geschaffen
wurde.
Ich mache einen anderen Vergleich... Indem man zwischen
einem Kasten, einem Korb und einer Wiege unterscheidet, kann
man beurteilen, ob das, was hineingelegt wird, auch das ist, was
hineingehört... Würden wir uns mit Holzscheiten oder Dosen in
einer Wiege zufriedengeben?
Falls ich die Anwältin oder die Historikerin enttäuscht habe,
hoffe ich, dass ich trotzdem den Glaubenden, die sie ja auch
sind, ... etwas Licht gebracht habe.
DER ARABISCHPROFESSOR, in protestierendem Tonfall
Wollen Sie damit sagen, dass der Islam eine Ansammlung
von Konservendosen ist?
DER ANDERE PHILOSOPH
Entschuldigen Sie, mein Herr, das habe ich nie gesagt... Das
wäre Ihnen gegenüber respektlos... aber mit ähnlichen
Verdrehungen meiner Gedanken könnten Sie mir ein „TodesFetwa“ einhandeln.
DER ERSTE PHILOSOPH:
Aber! Dem können wir uns nicht anschließen!... Mein
muslimischer Freund ist kein fanatischer Anhänger des „heiligen
Krieges“... Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass er für
Überlegungen sehr offen ist... Aber als Literaturprofessor ist er
nicht mit dieser Art von Redeweisen, also mit dem Vergleich
von Verhältnissen, vertraut. In der Dichtkunst sind Metaphern
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
107
direkter, einfacher... Und auch die religiösen Aussagen des
Islam sind sehr einfach... Man muss seine Reaktion verstehen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich verstehe... Aber Einfachheit ist in unserer Debatte keine
Gegebenheit, von der wir ausgehen können. Sonst verfallen wir
in übermäßige Vereinfachungen der Meinungen und in die
Entstellung der Wirklichkeit. Einfachheit ist das Ergebnis eines
Zusammendenkens der Komplexität des Daseins... Platon zeigt
dies sehr gut mit dem Höhlengleichnis und dem Sinnbild des
Liniensegments, das nach einem gegebenen Verhältnis a/b in
vier Teile aufgeteilt ist, so dass von den Teilen zwei einander
gleich sind und die zwei anderen jeweils von drei anderen
verschieden... Plato gebraucht Sinnbilder, um die verschiedenen
Formen der menschlichen Erkenntnis untereinander in Einklang
zu bringen. Aber mit dem glaubenden Bewusstsein — das
Platon nicht kannte — haben wir es wiederum mit einer
besonderen Form von Erkenntnis zu tun... Dazu muss eine
Methodologie entwickelt werden...
Ich stellte daher einen Vergleich zwischen zwei Verhältnissen
und nicht zwischen vier Dingen an, je zwei und zwei. Diesen
Vergleich arbeite ich noch etwas aus: die Offenbarung des
Koran ist für das glaubenschaftlich-ontologische Bewusstsein
des muslimischen (oder nicht-muslimischen) Menschen das, was
jedes Objekt, das nicht ein Baby ist (Konservendosen oder eine
Katze, die sich auf der Decke räkelt oder was auch immer, wie
der Schal seiner Mutter) für die von den Eltern vorbereitete
Wiege ist.
Sie verstehen, dass „die von den Eltern vorbereitete Wiege“
ein Sinnbild für das von Gott geschaffene „glaubenschaftliche
Bewusstsein“ ist, vorgesehen für seine transzendente, aber
bereits in seiner Erschaffung immanente Offenbarung Gottes.
Wenn es Koranverse gibt, die Wahrheiten aussagen, und die es
verdienen, als offenbart verstanden zu werden — und solche
Koranverse gibt es, das bestätige ich — dann gliedern sie sich in
den inneren Aufbau des glaubenschaftlichen menschlichen
Bewusstseins ein. Sie entsprechen - ich rede in Vergleichen bestimmten Teilen der Wiege... Sie hängen von einem
natürlichen Bewusstsein des Glaubens im Menschen ab... Aber
es gibt keinerlei transzendente Offenbarung Gottes, die durch
die Worte eines Engels übermittelt werden könnte...
108
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Da der muslimische Mensch erst Mensch und dann Muslim
ist, obliegt es ihm, sich zu fragen, welcher Grad an
Übereinstimmung mit den konstitutiven Eigenschaften seines
menschlichen
glaubenschaftlichen
Bewusstseins
seiner
muslimischen, kulturellen und geschichtlichen Glaubensweise
zukommt. Ich kann mir diese Frage nicht an seiner Stelle
stellen...
Nun weiß ich auch durch meine persönliche
Auseinandersetzung mit dem Koran, dass im Umfeld des Islam
alles darauf ausgelegt ist, dieses Hinterfragen zu verhindern,
besonders dadurch, dass einem eingeprägt wird, dass der
Mensch als „Muslim“ erschaffen wurde, dass Adam der erste
Muslim ist, und dass alle anderen, Juden und Christen, Verräter
an dieser ursprünglichen muslimischen Offenbarung gewesen
sind.
Aber lassen wir diese Anmerkungen und die durch sie
entstehenden Streitigkeiten, um zum Wesentlichen an der
Unvereinbarkeit
von
Philosophie
und
religiösem
Offenbarungsbild... im Islam, aber nicht nur im Islam...
zurückzukommen.
Am Anfang Ihres Beitrags haben Sie gesagt, dass es im
Menschen keinerlei Fähigkeit gibt, eine Offenbarung zu
empfangen...
DER ARABISCHPROFESSOR
Der Qur’ān sagt: „Was hat der Mensch, (also: was besitzt der
Mensch, so) dass Gott zu ihm sprechen würde?
Die Antwort ist selbstverständlich verneinend. Er besitzt
nichts. Er hat keinerlei Macht, keine Befähigung dazu, dass Gott
zu ihm spricht.
Außer durch Offenbarung: entweder wie durch Schleier
hindurch, oder dass Er einen Engel sendet, der dann, auf sein
Geheiß hin, das offenbart, was Er will.
Weil sich dies nun für Mohammed zugetragen hat, kann der
Mensch durch die Vermittlung des Engels eine Offenbarung
empfangen. Aber er ist nicht fähig, Gott unmittelbar sprechen zu
hören, denn Allah — gelobt sei sein Name — ist unendlich
erhaben.
DER ANDERE PHILOSOPH
Diese Antwort kommt unserer religiösen Vorstellungskraft
entgegen... Sie ruft Bruchstücke biblischen Gedankenguts in
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
109
Erinnerung... Gott ist hinter dem „Vorhang des Tempels“
verborgen... Ein Engel, der zwischen Gott und dem Menschen
die Rolle eines „telefonischen“ Boten spielt, überbringt die
Botschaft... Das ist psychologisch einfach und kann unmittelbar
angenommen werden... Man neigt dazu, es zu glauben... Man
glaubt...
Aber eben! Für die Vernunft ist es nicht so einfach, denn Gott
spricht nicht, nicht einmal zu dem Engel... Es wäre nötig, dass
der Engel nicht nur ein Botschafter des „unsichtbaren
Alleinherrschers“ wäre, sondern noch dazu ein „Entschlüssler
und Wiederverschlüssler“, indem er das ihm gezeigte göttliche
Gedankengut entschlüsselt und es in einer menschlichen
Sprache wieder verschlüsselt, in diesem Fall auf Arabisch, damit
Mohammed es verstehen kann... Die Religionsgeschichtler
wissen, dass Gabriel viele Sprachen beherrscht... Aber selbst
wenn Gabriel zu Mohammed und zu jedem beliebigen anderen
sprechen könnte, so könnte er nichts weiter offenbaren als das,
was Gabriel „ist“, und das was er, Gabriel, mit dem Menschen
vorhat. Die Offenbarung, die Gott an Gabriel ergehen lassen
kann, ist nichts anderes als „Gabriel“ selber. Denn wenn Gott
„spricht“, erschafft er. Die „Worte Gottes“ sind wirkliche
Seiende, und nicht nur „Gedanken von Menschen oder ...
Engeln“.
Und diesem psychologischen Anthropomorphismus, der Gott
betrifft, entgeht man nicht dadurch, dass man noch mehr
Mittlerwesen annimmt. Man wird nicht dadurch dem Raum
entsteigen, dass man einer Leiter unendlich viele Sprossen
hinzufügt... Der Mensch muss der göttlichen Transzendenz auf
andere Weise als die der Einbildung Achtung zollen... Er muss
es ... „in der Vernunft“ tun. Dennoch ist seine Achtung in der
Vorstellung nicht wertlos. Sie ist ein Abglanz dieses
grundsätzlichen Anspruchs auf Achtung, auch wenn sie sich
selbst im Irrtum befindet... Außer, sie wäre rein symbolisch,
allegorisch...
Wenn Gott sich also dem Menschen offenbaren will, dann
erschafft er ihn in Hinsicht auf diesen Plan. Er braucht keine
Notlösungen, um diesen für einen Menschen zu verwirklichen,
der am Anfang unfähig gewesen wäre, Gottes Offenbarung zu
empfangen. Nun zeigt die jahrhundertelange Weigerung des
Islam, andere Formen der Offenbarung als die an Mohammed
ergangene in Betracht zu ziehen, und die dementsprechende
Darstellung aller vorausgegangenen Propheten, Jesus darin
110
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
eingeschlossen, sehr wohl den Sinn des Koranverses: „Der
Mensch trägt die Fähigkeit, eine Offenbarung Gottes zu
empfangen, nicht in sich, es sei denn...“, sondern einzig die
Möglichkeit, in seiner Sprache eine angeblich von Gott
ausgehende Rede zu hören, mit Aussicht auf Belohnungen für
den Fall, dass er einwilligt, und Strafen, wenn er ablehnt...
Für den Philosophen ist die Offenbarungsvorstellung des
Islam unvereinbar mit dem geschaffenen Sein des Menschen
und der Natur Gottes. Sie versetzt Gott und alle seine Taten in
das
Gefängnis
einer
psychologischen,
menschlichen
Darstellung. Weil diese eingebildeten Darstellungen für die
Wirklichkeit selbst gehalten und „verabsolutiert“ werden,
besteht hier ein unüberwindbarer konzeptueller Widerspruch.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Damit unser muslimischer Redner die Analyse des Herrn
Debruquel nicht als Widerspruch des Christentums gegen den
Islam deutet, sollten Sie wissen, dass ich als Theologe zum
„Ursündenchristentum“ dieselbe Bemerkung mache. Auch bei
Letzterem handelt es sich um eine sehr klassische Theologie,
gegründet auf psychische Mechanismen des Menschen, die
unglücklicherweise noch klassischer sind...
In diesem Fall, um die in Ihrem Vergleich gebrauchten
Ausdrücke wiederaufzugreifen, würde ich sagen, dass diese
einen ursprünglichen Fehler voraussetzende Theologie (a) sich
zum glaubenschaftlichen Bewusstsein (b) so verhält, wie ein
Haufen Konservendosen (c) zu einer Wiege (d), und als
Theologe füge ich hinzu: die das Baby enthält... Die Katze ist
gerade dabei, das Baby zu ersticken... oder die Konservendose,
es zu verbergen... Zum Glück ist das Baby kräftig... Das
Verständnis der evangelischen Offenbarung Gottes à la
„Ursünde und deren Tilgung durch den Tod des Sohnes Gottes
am Kreuz“ verhüllt und erstickt die Wirklichkeit und den
wahren Sinn dieser Offenbarung in Jesus, in seinem Leben, in
seinem Tod am Kreuz und in seiner Auferstehung.
Die Theologie misst heute der Person, an die der Christ
glaubt, immer mehr Bedeutung zu. Er glaubt an Gott. Er glaubt
an Jesus. In diesem Sinn ist das Christentum keine
„Buchreligion“, wie der Koran sagt. Dem Islam hingegen würde
diese sehr vereinfachte Benennung zukommen. Im Christentum
steht die Glaubensbeziehung zu Jesus Christus und zu Gott an
erster Stelle. Ich sage nicht, sie sei wichtiger als das „ich glaube,
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
111
dass Gott..., dass Jesus..., dass...“. Aber die Formulierung „ich
glaube, dass...“ hat die ausschließliche Funktion, die Einheit der
lebendigen Glaubensbeziehung zwischen dem Christen und
Gott, der sich persönlich im Menschen Jesus Christus offenbart,
in bruchstückhafter Weise zu explizieren. Eine Theologie, die
nicht die der Ursünde ist, ist im Aufkommen. Das erklärt das
Schwanken der heutigen Theologie.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Nach dem, was mein Kollege gesagt hat, versteht man noch
besser, dass es keine „Grammatik der Offenbarung“ gibt. Es gibt
keine Grammatiken außer jenen der unterschiedlichen
Glaubensüberzeugungen oder Glaubenslehren, wie zum Beispiel
den „Katechismus der katholischen Kirche“. Dennoch sind
dogmatische Definitionen unentbehrlich. In einer Situation, wo
der Glaubende dem Offenbarer nicht mehr persönlich begegnen
kann, sprechen sie die Orthodoxie eines zu Gott hin
ausgerichteten Glaubens aus. Der Glaubende kann den
Offenbarer nur noch ausgehend von der Weitergabe seiner
offenbarten Botschaft in der Gemeinschaft der Menschen, in
diesem Fall in der Kirche, erreichen.
Daher müssen die ausgesprochenen Propositionen nach
einem „ich glaube, dass...“ zu den Eigenschaften seiner
Glaubensbeziehung zu Gott und seinem Offenbarer werden.
Dies ist nur deshalb möglich, weil Gott nicht der Vergangenheit
angehört, sondern der Gegenwart des Glaubenden. Die
Überlieferung in der kirchlichen Gemeinschaft kann sogar das
Verständnis, das der Glaubende von seiner Glaubensbeziehung
haben kann, bereichern.
Ich denke, dass diese sehr klassische kirchliche Theologie
sich mit den Ansprüchen der Philosophie vereinbaren lässt. Das
in den Dogmen formulierte kirchliche Glaubensbewusstsein
kann sehr gut mit der philosophischen Analyse des
glaubenschaftlichen Bewusstseins in Dialog treten und ihr
gegenübergestellt werden. Ich denke, dass beide einander als
Spiegel dienen können, bis zu dem Punkt, wo sie
zusammenfallen. Damit möchte ich sagen: Alle ontologischen
Ansprüche des glaubenschaftlichen Bewusstseins — auch ich
bediene mich nun dieses Ausdrucks — können in den
geschichtlichen Verwirklichungsweisen des kirchlichen
Bewusstseins nach und nach Gestalt annehmen...
112
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Am Anfang zögerte ich noch mit meiner Zustimmung, weil
ich die heftigen Angriffe gegen die klassische Philosophie, die
althergebrachterweise unser Werkzeug ist, als solche sah, aber
nun denke ich, dass es für ein neues Nachdenken durchaus eine
Zukunft gibt. Es wird uns vielleicht ermöglichen, aus einigen
der Sackgassen des heutigen Denkens herauszufinden.
Wie mein Kollege, der von einer großen Forschungsfreiheit
Gebrauch macht, würde ich gerne vor allem mehr über den
Gebrauch eines glaubenschaftlichen Maßstabs als Prinzip zur
Wahrnehmung der Offenbarung erfahren. Zuerst muss
tatsächlich zwischen den verschiedenen Offenbarungsansprüchen unterschieden werden, dann — ich gehe davon aus,
dass die Botschaft des Evangeliums diese harte Probe besteht —
müssen die verschiedenen Formen unserer theologischen
Erkenntnis davon beurteilt werden. Mir scheint, dass man für
diese Aufgabe tief graben muss, bis hin zu den ersten oder
letzten Gründen der Existenz. Wie soll das möglich sein? Ich
wende mich an die Philosophie, um zu erfahren, wie diese
„Wiege“, die wir sind, gebaut ist, so dass sie eine transzendente
Offenbarung aufnehmen kann...
DER ANDERE PHILOSOPH
Wie viel Zeit bleibt mir, um zu antworten? Das Problem ist
nämlich sehr komplex.
DER MODERATOR
Ich denke, es ist an der Zeit, zum Schluss zu kommen... Wie
bei unserer ersten Zusammenkunft, sehe ich, hatte auch dieses
Mal unser Theologieprofessor, diesmal ohne meine
Aufforderung, das letzte Wort. Dafür möchte ich ihm danken...
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Es ist in der Tat gut, eher mit einer Perspektive der
Zusammenarbeit in der Forschung, als mit einer Beleidigung zu
schließen...
DER MODERATOR
Ich schlage vor, dass wir uns morgen für eine weitere Sitzung
unseres Kolloquiums über den Glauben zusammenfinden.
Indem er sich an den Arabischprofessor wendet:
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN
113
Darf ich Sie fragen, ob sie auch morgen unter uns anwesend
sein werden?
DER ARABISCHPROFESSOR
Ich wäre lebhaft daran interessiert. Der Rahmen dieser
Diskussion ist mir neu. Gewöhnlich sind es die christlichen
Theologen, die den Islam kritisieren, und der Islam beruft sich
gegen ihre byzantinischen Spitzfindigkeiten betreffs des Gottdrei-in-Einem und des Gottmenschen auf die menschliche
Vernunft.
Diesmal kommt der Widerstand von der Philosophie, und der
Herr Kanonikus verteidigt die religiöse Erfahrung
Mohammeds... Auch würde ich gerne sehen, wie Ihr eure
Argumentationen weiterführen werdet... Aber leider muss ich
morgen in meiner Gruppe einen kleinen Vortrag zum Thema
„Der poëtische Synkretismus in Bagdad im dritten und vierten
Jahrhundert nach dem Higra“ also im neunten und zehnten
Jahrhundert westlicher Zeitrechnung, halten. Sehr zu meinem
Bedauern werde ich Ihrer Debatte also nicht folgen können.
DER MODERATOR
Auch wir bedauern das. Aber wir werden unsere Anwältin
bitten, Ihre Interessen zu vertreten... Wir wünschen Ihnen eine
aufmerksame Zuhörerschaft. Danken wir einander für die
Anregung zur gemeinsamen Forschung. Und nun bis morgen!
115
DRITTE BEGEGNUNG
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT
EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES
DIE ANWÄLTIN zur Historikerin, unter zwei Augen...
Wie fanden Sie die Dokumentation über Varanasi, die unser
Gruppenleiter gestern Abend veranstaltet hat?
DIE HISTORIKERIN
Sehr aufschlussreich! Es ist beeindruckend, diese Scharen von
Menschen auf Pilgerfahrt zu sehen! Und diese Vielzahl von
Tempeln! Während der langen muslimischen Besetzung der
Stadt vom Zwölften bis ins dreizehnte Jahrhundert sind sie fast
alle zerstört worden. Danach haben die Hindus sie
wiederaufgebaut.
DIE ANWÄLTIN
Bei den Brahmanen ist mir eine intellektuellere Sicht der
« allumfassenden Ordnung » aufgefallen, bei den anderen eine
eher hingebungsvolle Frömmigkeit. Ist das wirklich Glaube?
Sicherlich eine tiefe Überzeugung! Alle halten die heiligen
Bücher der Veden für offenbart und unantastbar. Derweil sind
die Auslegungen sehr unterschiedlich... aber sie vertragen sich
miteinander. Das ist bewundernswert.
DER MODERATOR
Guten Morgen! Ich sehe, dass alle da sind. Wir können also
unsere Debatte weiterführen. Wie würden Sie, geschätzter
Kollege, uns die Kriterien zum Erkennen einer wahren
Offenbarung darlegen?
116
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
KANN DIE PHILOSOPHISCHE VERNUNFT
ÜBER DIE ECHTHEIT EINER OFFENBARUNG URTEILEN?
DER DOMHERR, Schriftsteller
Erlauben Sie mir, auf die anfängliche Frage zurückzukommen, die ich bereits gestern gestellt habe. Kann der
« glaubende » Mensch, mag er nun Christ sein oder einer
anderen Religion angehören, hinnehmen, dass die menschliche
Vernunft seinen Glauben beurteilt, um ihn ... als gültig zu
erklären, oder als weniger gültig, oder als wertlos? Es ist
normal, dass der Glaubende seinerseits aus den Mitteln der
Vernunft und der Gesamtheit der natürlichen Erkenntnisse das
heraussucht, was ihm hilft, seinen Glauben besser zu verstehen,
und Nicht-Glaubenden gegenüber zu rechtfertigen. Das ist das
berühmte « fides quaerens intellectum ». „Der Glaube sucht das
Verstehen“! Ja! Der Glaube sucht „den Glauben zu verstehen“.
Es handelt sich hierbei nicht um eine Unterwerfung des
Glaubens unter das Urteil der menschlichen Vernunft, oder auf
das Warten auf eine Echtheitserklärung seitens der Vernunft.
Durch den Glauben sind wir, durch die göttliche Gnade, in
Wahrheiten eingeführt, die die « Natur » übersteigen, also in
« übernatürliche Wahrheiten ». Ich kann mir nicht vorstellen,
wie sich die Vernunft über sie äußern könnte. Sie sind « überrational ». Die Vernunft kann sich selbst davon überzeugen.
Wenn ich ein Gewicht von 50 kg heben kann, dabei aber merke,
dass ich damit an meine Leistungsgrenze gelangt bin, dann kann
ich daraufhin sagen, dass ich ein Gewicht von 100 kg nicht
heben kann. So einfach ist das...
DER MODERATOR, indem er sich an die Philosophen wendet:
Mir scheint, dass dieser Einwand bereits bezüglich des Islam
gemacht wurde. Vielleicht war die Antwort unzureichend.
Würden Sie nochmals darauf zurückkommen, falls der eine oder
andere von Ihnen etwas hinzuzufügen hat?
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich fürchte, dass der Herr Kanonikus wie so viele
Schriftsteller aus dem Gebiet der Spiritualität ausschließlich von
einem materiellen Vergleich ausgehend urteilt... Erstens würde
sein Vergleich nur für seine eigenen Muskelkräfte gelten.
Andere Männer können Gewichte heben, die 100 kg
überschreiten. Wenn die Muskelkraft von Mann zu Mann
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
117
verschieden ist, dann kann das natürlich im intellektuellen
Bereich ebenso sein, und auch in allen anderen Disziplinen. In
der Physik ist nicht jeder ein « Einstein ». Und genauso ist es
auch in der Mathematik, der Philosophie und der Theologie...
Es ist normal, dass jemand, der sich bewusst ist, in diesen
Materien nicht in ausreichendem Maße bewandert zu sein, jenen
Leuten Glauben schenkt, die sich besser auskennen als er... ohne
aber deshalb auf sein persönliches Urteil zu verzichten,
besonders dann nicht, wenn seine Verantwortung gefragt ist...
wie in den Fragen der Gesundheit..., des moralischen
Verhaltens..., und des Glaubens... In diesen Fragen muss jeder
trotzdem lernen, selbst zu urteilen, nach seinem eigenen
Verstand... der soweit wie möglich « ganzheitlich und
universal » zu sein hat...
Deshalb sollte man im Bereich der Philosophie nicht eine
persönliche Schwierigkeit, den eigenen Glauben zu verstehen,
für eine konstitutive Grenze der menschlichen Vernunft als
solcher halten. Leider ist das oft das, was viele tun... obwohl sie
in anderen Bereichen klüger sind...
Aber mein Kollege geht noch weiter, denn er behauptet, dass
nicht einmal die am besten ausgearbeiteten rationalen
Erscheinungsformen der klassischen Philosophie für die
vollendete und daher einzige Verwirklichung der menschlichen
Vernunft gehalten werden dürfen... Vielleicht hat er recht? Das
weiß ich noch nicht...
Aber sogar für die klassische Philosophie ist das Gebiet des
Vernunftsurteils unbegrenzt. Es ist das Sein als solches, wie
Aristoteles sagt. Die Wahrheiten der Offenbarung fügen sich,
insofern sie der Wirklichkeit angehören, in dieses Gebiet ein.
Man kann sie der Vernunft also nicht entziehen. Wer sie der
Vernunft entziehen will, sagt damit implizit, dass sie „irreal“
sind. Und das, Herr Kanonikus, wollen Sie doch wohl kaum
sagen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Sicherlich, so denkt der Herr Kanonikus nicht... Aber ich
stimme mit Ihnen, geschätzter Kollege, darin überein, zu
folgern, dass eine Offenbarung, die auch nur teilweise außerhalb
des Bereiches der Vernunft gedacht wird, nichts weiter wäre als
Unwirklichkeit. Eine derartige Auffassung von der Stellung der
Offenbarung
müsste
notwendigerweise
auch
innere
Widersprüche enthalten, die zusätzliche Zeichen ihrer Irrealität
118
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
wären, trotz des Anscheins von Selbstverständlichkeit, den ihr
irgendein materieller Vergleich mit dem unterschiedlichen
Ausmaß von menschlichen Fähigkeiten verleihen könnte...
Zuerst würde ich also nochmals auf der absoluten
Notwendigkeit, zwei Verwechslungen zu vermeiden, beharren.
Die erste ist die zwischen den Begriffen von „Offenbarung“ und
„Glaube“; die zweite jene zwischen den Begriffen von
„menschlicher Vernunft als solcher“ und „menschlicher
Vernunft in ihrer griechischen Erscheinungsweise“. Diese
Begriffe hängen wohlverstanden zusammen, aber sie haben
nicht denselben Sinn, und die von ihnen bezeichneten
Wirklichkeiten fallen nicht notwendigerweise zusammen...,
vielleicht aber teilweise. Man muss dies im Lichte der
verschiedenen angeschnittenen Fragestellungen betrachten. Wir
werden es sicherlich im weiteren Verlauf unserer Debatte klarer
sehen.
Zweitens meine ich, in dem Einwand mehrere innere
Unstimmigkeiten auszumachen. Ist dieses Urteil, dass die
menschliche Vernunft nicht die Echtheit einer Offenbarung von
deren Falschheit unterscheiden könnte, eine offenbarte Aussage?
Oder ist es im Gegenteil eine vernünftige Aussage, wie dieses
Urteil: „Die Vernunft ist nicht fähig, diese Unterscheidung
vorzunehmen“? Nach dem Einwand gibt es, soweit ich sehe,
keine dritte Möglichkeit.
Nehmen wir sie beide unter die Lupe. In der Hypothese, die
dieses Urteil als offenbarte Aussage betrachtet, hat dieses eine
erste Offenbarung in ihrem Verhältnis zur Vernunft zum
Gegenstand. Das Urteil selbst ist dann eine Offenbarung zweiten
Grades. Kann die Vernunft hier die Echtheit bewerten? Wenn
ja, dann widerlegt diese Möglichkeit in der Tat das, was sie in
Begriffen aussagt. Die Hypothese ist also falsch. Falls nicht,
dann braucht man folglich eine Offenbarung dritten Grades, um
die Wahrheit jenes offenbarten Urteils zweiten Grades über die
Unfähigkeit der Vernunft zu bestätigen. Somit befinden wir uns
in einem endlosen Prozess der Bestätigung einer
vorausgehenden Offenbarung durch eine unendliche Anzahl von
folgenden... die niemals folgen werden. Man wird sagen, dass
die Offenbarung „sich selbst rechtfertigt“, und dass es so kein
absurdes Sich-versteigen in einen endlosen Prozess gibt. Diese
Selbstrechtfertigung ist im menschlichen Bewusstsein nicht
möglich, weil die Offenbarung definitionsgemäß „von außen
kommt“ und sich nicht, wie das rationale Bewusstsein, selbst in
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
119
ihrer eigenen Wirklichkeit wahrnehmen und so selbst rational
für echt erklären kann.
Wenn die Unmöglichkeit, die Wahrheit einer Offenbarung
durch die Vernunft zu bewerten, nun aber eine vernünftige
Aussage ist, dann kann sie selbst rational hinterfragt werden.
Denn die Vernunft weiß sich selbst zu Irrtümern fähig, und auch
dazu, sich von ihren Irrtümern zu befreien, wenn sie die dazu
nötigen Anstrengungen erbringt. Wir hätten es hier also mit
einer „neugestaltbaren“ Aussage zu tun. Und es ist sehr
vernünftig, zu denken, dass jene, die an dieser Neugestaltung
teilnehmen, sich selbst eine neue Gestalt geben werden.
Wenn derweil irgendjemand im Namen der Vernunft
beanspruchen würde, dass diese Aussage: „Die Vernunft kann
sich nicht zur Wahrheit und Wirklichkeit einer Offenbarung
äußern“ eine nicht neu gestaltbare Aussage sei, dann steht seine
Vernunft zu sich selbst im Widerspruch. Denn tatsächlich muss
sie, um die Nicht-Neugestaltbarkeit ihrer Aussage zu
beanspruchen, in sich und a priori ihre eigene Unfähigkeit in
sich und a priori, die Wahrheit oder den Irrtum einer
„Offenbarungsaussage“ zu unterscheiden, behaupten. Das würde
darauf hinauslaufen, dass diese Person sagt, für sie seien
Offenbarungsaussagen nicht rational zugänglich.
Es kann aber sein, dass der „religiöse Wahn“ so weit geht, zu
sagen, dass die „Offenbarungswahrheiten absurde Wahrheiten
sind“.
Wenn es im Gegenteil darum geht, a posteriori eine a
posteriori gegebene Unfähigkeit zuzugeben, dann haben wir es
möglicherweise mit einer besonderen kulturellen Situation zu
tun. Und genau dies trifft auf die klassische Philosophie in ihrer
Stellung zur evangelischen Botschaft in der Person Jesu zu. Ihre
Ontologie kann die Dreieinigkeit nicht verständlich machen.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Aber wären nicht noch zwei andere Möglichkeiten denkbar,
nämlich ein aposteriorisches Erkennen einer apriorischen
Unfähigkeit
und
ein
apriorisches
Erkennen
einer
aposteriorischen Unfähigkeit?
DER ERSTE PHILOSOPH
Durch kombinatorisches Denken ist es selbstverständlich
möglich, diese beiden anderen Möglichkeiten zu formulieren.
Aber ich denke, dass sie überflüssig sind. Wenn es apriorisches
120
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
Erkennen gibt, dann ist die erkannte Wirklichkeit nicht nur eine
aposteriorische Gegebenheit ohne innere, apriorische
Notwendigkeit. Deren Vorhandensein abzustreiten käme dem
gleich, etwas rein Kontingentes zu einem Absolutum zu
erheben. Und ein aposteriorisches Erkennen des a priori
Seienden kann ein konkretes, zu einem apriorischen Erkennen
führendes, situationsbedingtes Bewusstwerden darstellen, oder
der psychologische und geschichtliche Rahmen eines Erkennens
a priori sein. So kann man etwa nicht leugnen, dass der
christliche Glaube Thomas von Aquin erlaubte, ein
Gedankengebäude aufzubauen, das die Existenz eines Gottes
bejaht, der die Erstursache der Welt und daher ihr Schöpfer ist.
Es ist unbestreitbar, dass der christliche Glaube den Philosophen
oft bei ihrem Entdecken, also a posteriori, gewisser erster, also
apriorisch gegebener, erster notwendiger Grundeigenschaften
der Existenz geholfen hat, ohne zu verhindern, dass dieses
philosophische Erkanntwerden apriorisch wäre. Das ist ein sehr
klassischer Standpunkt...
DER ANDERE PHILOSOPH
Man kann gegenüber der Vernunft, die die Offenbarung
bewerten will, misstrauisch oder zurückhaltend sein. Die
Anmerkung meines Kollegen lässt erkennen, welcher Anteil an
Wahrheit in solch einer Haltung liegt. Welcher Anteil? Die
Vernunft, damit will ich sagen: Der mit Vernunft begabte
Mensch kann a posteriori feststellen, dass dieser oder jener
rationale Versuch, das zu erfassen, was für offenbart gehalten
wird, fehlgeschlagen ist. Das ist normal. Aber es gibt da kein
endgültiges Urteil. Und wenn diese rationale Bemühung, die
nichts anderes ist als die Bemühung des „wissenschaftlichen“
Theologen, ihr Ziel nicht erreicht hat, dann kann das darauf
zurückzuführen sein, dass die Offenbarung fehlerhaft und daher
unecht ist, oder auf die kontingente und geschichtliche
Begrenztheit seiner Vernunft, die aber keineswegs
Wesensmerkmal seiner Vernunft ist. Dies ist nun sehr wohl der
Fall, wenn die biblische und evangelische Botschaft sich mit der
„griechischen Form der Vernunft“ konfrontiert sieht. Darauf
werden wir sicherlich noch zurückkommen.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
121
All diese Überlegungen waren etwas abstrakt..., aber ich
denke, sie waren nötig, um eine Anfangsschwierigkeit zu
beseitigen. Allerdings bedeutet das Entfernen eines Hindernisses
von der Straße noch nicht, dass man auf dem Weg
vorwärtskommt. Man müsste nun aufbrechen, um zu verstehen,
dass eine echte Offenbarung in sich auch ganz und gar rational
ist. Wie könnte es auch anders sein, da doch derselbe Gott
Schöpfer unserer Vernunft und Urheber seiner Offenbarung ist?
DER DOMHERR, Schriftsteller
Ja, aber seit und wegen der „Ursünde“ verfügt unsere
menschliche Vernunft nicht mehr über all ihre Möglichkeiten.
Daher kommt es, dass sie nicht mehr fähig ist, die Echtheit der
Offenbarung wahrzunehmen. Das, was sie sagen, würde für eine
ideale Vernunft zutreffen, aber wir haben nun nichts mehr
weiter als eine „gefallene Vernunft“.
DER EXEGET, der bis jetzt geschwiegen hatte:
Schon wieder diese „Ursünde“...! Das Neue Testament spricht
nie von ihr, und das Alte auch nicht... Es gibt von Anfang an
„Sünde“, das ist klar... Also sehr wohl schon bevor diese
makabere „Ursünde“ mit der verbotenen Frucht geschah...
Dieses kulturbedingte Urbild des Bösen ist ein schlechter
Anhaltspunkt, ein „Durcheinanderwerfer“ im Sinne der Texte...
DER ANDERE PHILOSOPH
Es ist aber dennoch gut, alle möglichen Einwände zu
formulieren... Aber man soll es sich nicht schwieriger machen
als nötig... Ich werde es den Dogmatikern und Exegeten
überlassen, festzustellen, in welchem Maß die Lehre von der
„Ursünde“ zur christlichen Offenbarung gehört. In diesem Punkt
scheinen sich die Vorstellungen sehr stark gewandelt zu haben...
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Einige Anmerkungen zu dieser Lehre... Um diese Theorie zu
rechtfertigen, reicht es nicht aus, die Gegenwart des Bösen in
der Welt und im Menschen zu erwähnen. Sie ist auch nicht die
einfache Feststellung, dass es das Böse gibt, seit der Mensch
existiert.
Die Erzählung aus dem Buch Genesis, auf die sich diese
Lehre bezieht, kann als ein archaischer Versuch, das Dasein des
Bösen zu erklären, verstanden werden. Ist es ein gelungener
122
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
Versuch oder nicht? Die Philosophie könnte diesem Mythos
vom Ur-Ungehorsam mehrere ernsthafte und unzerstörbare
Einwände entgegenstellen... Dies wäre einer genaueren
Untersuchung wert.
Im Rahmen der christlichen Theologie hat die Theorie von der
„Ursünde“ vor allem die Funktion, einen anscheinend
rationalen, in Wirklichkeit aber nur psychologischen Grund für
das in Jesus Christus vollbrachte Heilswerk beizubringen.
Man sagte: Wenn es einen Erlöser gibt, dann muss er uns
natürlich von etwas erlösen. Besorgt um Glaubwürdigkeit hat
man also die Existenz eines Fehlers angenommen. Wenn er alle
Menschen erlösen soll, dann muss es wohl so sein, dass der
Fehler im Ursprung liegt und zudem vererbt wird... damit kein
Mensch von dieser Rettung ausgenommen oder ausgeschlossen
sein kann...
Ist das ein triftiger „Grund“, um das Erlösungsopfer Christi
anzunehmen? Ist der Tod Christi überhaupt ein Löseopfer? Ist
das
juristische
Sprechen
von
„Schuld,
Lösepreis,
Wiedergutmachung“ nicht „symbolisch“? Hier stellen sich viele
Fragen der theologischen Deutung. Aber sie alle fügen sich in
den Rahmen einer als echt anerkannten Offenbarung ein. Es
scheint mir recht ungeschickt, eine bestimmte, übrigens im
Rahmen dieser Offenbarung in Frage gestellte Einzeltheorie
herbeizuziehen, um in Abrede zu stellen, dass eine
Untersuchung der Echtheit der Gesamtheit dieser Offenbarung
wohlbegründet ist. Diese Theorie wird übrigens einer generellen
Untersuchung auf Echtheit nicht standhalten.
Schlussendlich, anstatt eines Arguments ad hominem — das
eben gerade keine Beweiskraft besitzt — kann man sich einfach
darüber wundern, dass eine sich als offenbart bezeichnende
religiöse Lehre, nachdem sie die Vernunft als gefallen und
vermindert bezeichnet hat, auf diese gefallene Vernunft
zurückgreift, um sich selbst verständlich zu machen. Wenigstens
im Rahmen des Katholizismus ist das seltsam..., daher sagt man,
dass die Vernunft nicht ganz und gar verdreht ist... Aber wäre
das gerade genannte Urteil nicht auch ein bisschen „verdreht“?
Müsste eine derartige „offenbarte Lehre“ nicht, um in sich
selbst stimmig zu sein, daran festhalten, dass das „Licht der
Offenbarung“ sich selbst genügen muss... und sich in keinem
Fall, für was auch immer, auf die menschliche Vernunft berufen
muss... wie es die reformatorischen Theologien lehren? Wir
kennen Luthers Ausspruch: „die Vernunft! Diese Hure des
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
123
Teufels...“? (WA 51, 126, 7). Hier haben wir eine Form von
religiösem Skeptizismus... Ausgehend von einer falschen
Voraussetzung (der Ursünde) stellt man eine in sich stimmige
Überlegung an, um die Vernunft aus dem Spiel zu ziehen.
DER ANDERE PHILOSOPH, scherzend:
Ich würde nur zu gerne Luther verteidigen, indem ich dazu
sage, dass die Vernunft, von der er spricht, die « griechischlateinische » ist,... die einzige, die er kannte... Aber ich kenne
sein Werk nicht gut genug... daher werde ich es wohl sein lassen
müssen…
DER PHYSIKPROFESSOR
Eine authentische Untersuchung des christlichen Glaubens
scheint mir nun ganz und gar begründet und notwendig. Aber
muss jeder sie auf eigene Faust durchführen? Ich ziehe einen
Vergleich zu meiner Unterrichtstätigkeit. Ich halte meine
Vorlesung vor meiner Zuhörerschaft. Die Studenten schreiben
mit und bestehen ihre Examen. Sie vertrauen mir, und mit ihrer
universitären Ausbildung können sie in jedem beliebigen Land
Physiker oder Ingenieure werden... Einige, aber nicht alle,
werden Forscher werden...
Ist es etwa nicht normal und berechtigt, dass die meisten
Christen ihren jeweiligen kirchlichen Autoritäten vertrauen?
DEN GLAUBEN HABEN, OFFENBAREN, GLAUBEN,
SICH OFFENBAREN: DIE MEHRDEUTIGKEIT DIESER BEGRIFFE
IN IHREM SINN UND GEBRAUCH
DER ERSTE PHILOSOPH
Es ist menschliche Klugheit, zuzugeben, dass man nicht in
allen Fachgebieten bewandert ist. Wenn ich krank bin und mich
nicht selbst zu heilen weiß, gehe ich zum Arzt. Ich nehme seine
Hilfe in Anspruch. Ich vertraue ihm und hoffe, dass er die
richtige Diagnose stellt und mir die nötigen Medikamente
verschreibt, um mich auf die bestmögliche Weise zu heilen.
Aber dieses Vertrauen in meinen Arzt ist nicht ein „Akt des
Glaubens“ an sein „Rezept“.
Im eigentlichen und spezifischen Sinn könnte ich nicht sagen,
dass er mir sein medizinisches Wissen „offenbart“. Er redet mit
mir darüber. Und wenn er mich über meine Krankheit
informiert, dann „offenbart“ er sie mir auch nicht im
124
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
eigentlichen Sinn, selbst wenn ws, in keinem Moment,
„offenbart“ sich uns ein Arzt, und wir sind nie veranlasst, ihm
unseren „Glauben“ so zu schenken, als ob wir es mit Gott zu tun
hätten. Der Grund dafür ist, dasir in der Umgangssprache sagen,
dass er einem die Krankheit, an der man leidet, „bekanntgibt“.
Wenn er mir meine Krankheit und deren Behandlung erklärt,
teilt er mir lediglich ein Wissen mit, das er besitzt und das ich
verstehen muss. Und wenn ich nicht verstehe, gebe ich meine
Unkenntnis zu und gehe davon aus, dass mein Arzt das
medizinische Wissen gut beherrscht und anwendet. Diplome
und andere äußere Zeichen seines Ansehens bestärken mich
darin. Aber niemals zwischen meinem Arzt und Gott ein
unendlich großer Abstand besteht. Ein Abstand, der durch den
Glauben überwunden würde, während ich medizinisch gesehen
ein Kranker bleiben würde. Es gibt einen Unterschied, denn der
Weg meines persönlichen Bewusstseins und meiner Freiheit ist
in den beiden Fällen nicht derselbe.
Die einzige Ähnlichkeit würde darin bestehen, dass ich an
meinen Arzt „glaube“, wenn er mir über sich selbst sagt: „Ich
werde alles tun, um Sie zu heilen“. Deswegen glaube ich es.
Genauso verhält es sich mit Ihrer Unterrichtstätigkeit. Sie
vermitteln das Wissen eines Physikers. Sie offenbaren den
Studenten nicht die Physik. Ihre Studenten müssen nicht an Ihre
Vorlesung glauben. Und falls es Ihnen unterlaufen würde, dass
Sie sich in einer Frage oder bei einem Experiment irren, dann
würden die besten Ihrer Studenten Sie möglicherweise darauf
aufmerksam machen.
Dasselbe gilt auch von den Theologen, die uns erklären, was
Offenbarung ist und was sie uns „offenbart“; diesmal im
eigentlichen Sinn des Wortes. Aber wir schenken den Theologen
nicht unseren „Glauben“. Wenn wir sie und die „Offenbarung“,
die sie uns vermitteln, richtig verstehen, dann „glauben wir an
Gott“. Wir anerkennen die Kompetenz der Theologen und
müssen uns bemühen, das zu verstehen, was sie uns über die
„Offenbarung“ sagen. Sie können sich irren, so wie Ärzte sich
irren können. Aber trotz dieser Irrtumsgefahr, und im
Bewusstsein unserer Unkenntnis, bringen wir ihnen Vertrauen
entgegen.
Dies setzt allerdings ein Mindestmaß an Bewusstsein und
Wissen voraus. Wenn ich krank bin, werde ich mir bewusst,
dass ich mich auskurieren muss, und zwar richtig. Als Mensch
nehme ich zumindest undeutlich wahr, dass ich glauben muss,
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
125
und zwar „richtig glauben“. Daher kommt die Notwendigkeit,
das, was unser Psychoanalytiker als „Glaubenstrieb“
bezeichnete, ans Licht zu bringen. Und ich denke, dass wir alle
in diesem Kolloquium genau das tun wollen.
Aber die aufgrund des Bewusstseins unserer eigenen
Unkenntnis und der Notwendigkeit der Wissensvermittlung
durch andere (sozusagen durch eine Gemeinschaft von
Menschen) gesuchte Zuflucht zu fremder Kompetenz, ist ein
Vollzug von ganz anderer Natur als der Vollzug des Glaubens
an Gott. Seien wir vorsichtig! Die Umgangssprache verleitet uns
zum Irrtum. Wenn eine Illustrierte Geheimnisse des
Gefühlslebens oder des politischen Einsatzes gewisser Leute an
die Öffentlichkeit zerrt, dann sagt die Umgangssprache, dass
diese Illustrierte „Offenbarungen macht“, und wenn sie eine
Dokumentation über die Ozeane darbietet, dann steht da, „dass
sie die Geheimnisse der Natur offenbart“.
Derartige Ausdrucksweisen erwecken den Eindruck, dass das
Verb „offenbaren“ soviel bedeutet wie „verborgene, oder bis
anhin unbekannte, oder der Entdeckung durch den Menschen
unzugängliche Dinge kundgeben“. Diese Bedeutungen könnte
man obendrein (obendrein ] bestenfalls) noch auf die Umstände des
menschlichen Lebens anwenden, oder auf bestimmte
geschichtliche Hintergründe der göttlichen Offenbarung. Sie
bringen nicht ihr Wesen oder ihre Natur zum Ausdruck.
DIE ANWÄLTIN
Was soll man denken, um „Gott offenbart sich den
Menschen“ richtig zu denken? Oder vielmehr: Was soll man
nicht denken?
DER ERSTE PHILOSOPH
Was muss bei der Anwendung des Verbs „offenbaren“ auf
Gott noch alles ausgeschlossen werden? Alle Bedeutungen,
durch die Gott als Garant oder Bürge für das, was die Menschen
entscheiden oder lehren, herangezogen wird.
Einstmals, vor zwei, drei oder vier Jahrtausenden, konnten die
Menschen denken, dass wegen ihres sehr geringen Wissens die
Gottheiten ihnen die Geheimnisse des Lebens, der Natur und des
Jenseits offenbaren müssten. Sie waren auch der Ansicht, dass
angesichts der Neigung der Menschen zu Auseinandersetzungen
und Kriegen Offenbarungen nötig sind, um alle zum Einhalten
126
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
der gemeinsamen Gesetze zu bewegen. Dies war eine Meinung,
die man Zarathustra, einem iranischen Weisen, zuschrieb.
Deshalb haben die Menschen, die über diese Dinge
geschrieben haben, ihre eigenen Äußerungen in den Mund der
Gottheiten gelegt. Und ihre Bücher wurden mit der je länger je
stärkeren Überzeugung, dass sie durch Gottheiten oder Gott
selbst „diktiert“ und „offenbart“ seien, aufgenommen und
überliefert. Man könnte hier als Beispiel der Veden Indiens
nennen.
Im Rahmen des Monotheismus sind diese psychologischen
Voraussetzungen bei der Redaktion der Bücher der Bibel
gegeben. Aber die monotheistische Idee formt deren Bedeutung
tiefgreifend um, besonders beim Buch Exodus und bei der
Verkündigung der Gebote Gottes.
In der Magna Graecia legt der Philosoph Parmenides seine
Lehre ebenfalls einer Göttin in den Mund. Aber er täuscht sich
durch sein literarisches Vorgehen nicht selber. Die Neigung zu
einem derartigen Vorgehen ist in der religiösen Psyche des
Menschen immer unterschwellig vorhanden.
Den Philosophen und „wissenschaftlichen“ Theologen obliegt
es, darüber nachzudenken, was den authentischen Vollzug eines
erwachsenen, zur Reife gelangen Glaubens ausmacht, und ihn
von seinen sozusagen kindhaften und pubertierenden Anfängen,
und auch von seinen Perversionen oder Abweichungen oder
ganz einfach von seinen häufigsten krankhaften Entartungen zu
unterscheiden...
DIE HISTORIKERIN
Dann ist es also gar nicht so einfach, wahrhaftig zu glauben,
wenn man vorher dermaßen viele Dinge beachten muss!
DER EXEGET
Das denke ich nicht. Es genügt, natürlich zu sein. Um bei
guter Gesundheit zu sein, braucht man sich nicht in der Medizin
auszukennen, und um normale Beziehungen zu den
Mitmenschen zu haben, braucht man nicht in Psychologie
bewandert zu sein.
Meine Definition des Glaubens scheint mir sehr einfach:
Glauben heißt, dass man sich von jemandem geliebt weiß, unter
anderem... von Gott. Gott „sagt“ mir, — ohne zu sprechen —
„zu mir“, zu den Meinen, zu den Menschen, dass er mich liebt
und dass er sie liebt. Aber wie liebt er mich, wie liebt er uns? Er
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
127
sagt es mir auf zwei Weisen, oder auf zwei Ebenen, nämlich in
meinem „inmitten“ seiner Schöpfung geschaffenen Sein, und in
der Person Jesu „aus der Mitte“ seiner Gottheit selbst... Seine
erste, alte, für immer bleibende Offenbarung ist im Grunde
genommen allen zugänglich. Als Exeget würde ich sagen, dass
die Menschen ihr im Alten Testament einen Ausdruck verliehen
haben. Seine zweite und neue Offenbarung, in einem kurzen
Augenblick unserer unermesslichen Zeit in der Person Jesu für
die Ewigkeit bewirkt, ist uns heute ausschließlich durch ihre
Weitergabe an die (an die ] in der) Gemeinschaft der Menschen
zugänglich. Eine derartige Offenbarung kommt uns also von
außen zu. Man muss also das, was man erhält, beurteilen.
Ich würde das meinerseits mit der Nahrungsaufnahme
vergleichen. Wir alle wissen, wie man Nahrung zum Mund führt
und isst. Das ist angeboren. Und wir haben Sinne: vor allem den
Geruchs- und Geschmackssinn, um die Qualität der Nahrung
festzustellen. Aber wir können uns irren und unverdauliche,
verdorbene Nahrungsmittel zu uns nehmen, oder sogar solche,
die für den Menschen giftig sind..., auch wenn sie für andere
Lebewesen Leckerbissen sind, wie etwa der grüne
Knollenblätterpilz, der für Ziegen ein Hochgenuss ist.
Menschen sind verantwortlich und müssen verantwortlich
sein für das, was sie essen. Und sie müssen verantwortlich sein
für das, was sie für ihren „Glaubenstrieb“ als „Offenbarung“
annehmen. Den von unserem Psychoanalytiker geprägten
Ausdruck „Glaubenstrieb“ nehme ich sehr gerne auf, auch wenn
ich ihn zum ersten Mal höre... Aber alles in allem: warum nicht?
Dies würde zeigen, wie tief die ewige Offenbarungsinitiative
Gottes in unsere Natur hineingeschrieben ist...
DER DOMHERR
Wir haben also einen „Glaubenstrieb“, genauso wie wir
Appetit haben. Lassen wir diesen Vergleich gelten! Aber zu was
drängt uns unser „Glaubenstrieb“? Zur Aufnahme von guter
Nahrung, oder von Gift, oder von entwerteter Kost?
DER EXEGET
Ja! Ich war noch nicht fertig. Ich baue meinen Vergleich noch
weiter aus.
Für die Nahrung in unserer unmittelbaren Reichweite... damit
will ich sagen, für die erste Offenbarung Gottes, die „in seiner
Schöpfung“ in unserer unmittelbaren Reichweite liegt, sind wir
128
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
allein und direkt verantwortlich... Unsere Philosophie und unser
spontaner Glaube unterstehen hier einzig dem Urteil der
Vernunft. Wenn ich von „spontanem Glauben“ spreche, dann
meine ich damit nicht naive Gläubigkeit. Ich spreche vielmehr
vom „Glauben des Psalmisten“, von diesem tiefen Glauben, der
in den Psalmen zum Ausdruck kommt. Ich könnte sagen
„natürlicher Glaube“, natürlich und gleichartig mit der
Schöpfung, wenn man diese als „Offenbarwerden“ Gottes
versteht, und als „nur in einem, obendrein noch undeutlichen,
Spiegel geschautes Angesicht“ des ewigen Gottes.
Für jene Nahrung, die von anderen hergestellt und abgepackt
wurde, und die wir als solche aufnehmen, sind wir immer noch
direkt verantwortlich, und zwar durch den Vergleich der
abgepackten Nahrungsmittel mit den natürlichen, und wir sind
auch indirekt für sie verantwortlich, nämlich, indem wir für die
Bewertung verantwortlich sind, die unser Glaube und unser
Vertrauen den Verteilern dieser Nahrungsmittel geben.
Damit will ich sagen, dass wir für unseren Glauben an die
Offenbarung Gottes zweiten Grades, eine in der Person Jesu
herausragende Neuigkeit, durch den Vergleich mit unserem
spontanen Glauben, der mit den Eigenschaften unseres
glaubenden Bewusstseins so gut wie möglich übereinstimmen
muss, direkt verantwortlich sind, wozu ich das Beispiel des
Psalmisten heranziehe, und indirekt verantwortlich durch die
Glaubensbewertung, die wir denen, die uns die evangelische
Botschaft davon überbringen, erteilen.
So wie jeder von euch sagt: „ich glaube an meinen Arzt,
wenn er mir implizit versichert, dass er alles tun wird, um mich
zu heilen“; so sage ich, wie ihr: „ich glaube an meinen
Lebensmittelhändler, wenn er mir implizit versichert, dass er
alles tut, um mir gute Nahrungsmittel zu verkaufen“. Genauso
„glaube ich an“ meine kirchliche Gemeinschaft, wenn sie mir
implizit versichert: „Ich tue alles, um Ihnen auf bestmögliche
Weise die neue und ewige Offenbarung Gottes in Jesus zu
vermitteln“.
Auf dieser Ebene bewegt sich mein Glaube an die Kirche.
Aber wie mein Arzt sich irren kann, oder sogar in seinem
Wissen
getäuscht
werden
kann,
und
wie
mein
Lebensmittelhändler durch seine Lieferanten getäuscht werden
kann — ohne dass ich die Rechtschaffenheit meines Arztes oder
meines Lebensmittelhändlers in Zweifel ziehe — so kann sich
auch meine Kirche täuschen oder sogar getäuscht werden,
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
129
besonders durch die Philosophien, auf die sie zurückgreift, oder
durch die Übertragung ihrer Lehre von einer Sprache in eine
andere, von einer Kultur in eine andere, usw...
Die Gründe für Irrtümer bei der Vermittlung der Offenbarung
Gottes in Jesus können vielfältig sein, ohne dass ich meinen
Glauben an die grundsätzliche Ehrlichkeit unserer Hirten,
angefangen bei den Autoren des Neuen Testaments, in Frage
stelle...
Auch denke ich, trotz meines etwas ablehnenden, oder
wenigstens zurückhaltenden anfänglichen Schweigens, dass die
Frage danach, worin denn nun eigentlich eine „wahrhaftige
Offenbarung Gottes“ bestehen muss, oder, um es etwas weniger
ehrgeizig auszudrücken: „was eine wahrhaftige Offenbarung
Gottes nicht sein kann“, tatsächlich und sehr ernsthaft gestellt
werden muss.
DER DOMHERR
Und wie werden Sie es bewerkstelligen, auf diese Frage zu
antworten? Das, geschätzter Mitbruder, ist nicht mehr Ihre
Aufgabe als Exeget... Und falls eine kritisch begründete Antwort
auf diese Frage eine gewisse Anzahl von exegetischen
Untersuchungen in Frage stellen würde, was würden Sie dann
sagen? Wie würden Sie sich gegen die philosophischen Angriffe
wehren?
DER EXEGET
Erstens würde ich die philosophische Kritik, wenn sie
wirklich begründet ist, nicht als Angriff betrachten. Und weil die
Exegese ja nicht festgelegt ist und viele Auslegungen möglich
sind, würde eine derartige philosophische Kritik es außerdem
vielleicht ermöglichen, einigen dieser Auslegungen mehr
Gewicht beizumessen als anderen. Und falls schließlich gewisse
Auslegungen, selbst wenn es meine sein sollten, in Frage gestellt
oder sogar aufgegeben werden müssten, dann würde ich sie eben
aufgeben.
Nun ist der Theologe, der ich bin, auch ein « Mensch » wie
alle anderen. Ich bin also imstande, etwas Physik, etwas
Geschichte und sogar etwas Philosophie zu betreiben... Auch
wenn ich auf diesen Gebieten genaugenommen kein Fachmann
bin. Aber der Exeget genießt unter anderem den Vorteil, nahe an
den Texten zu sein.
130
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
Und da in diesen Texten das konkrete Leben von Menschen
aus Fleisch und Blut zum Ausdruck kommt, bleibt der Exeget
nahe an der menschlichen Erfahrung... daher auch nahe am
gelebten Glauben..., also nahe an dieser Wirklichkeit, der sich
der Philosoph auf seine Art, mit der Genauigkeit, die ihm zu
eigen sein muss, anzunähern versucht... Hier kann man also zu
weiterführenden Übereinstimmungen gelangen...
EINE FRAU meldet sich zum ersten Mal zu Wort:
Wie sehen Sie also den Glauben im Alltag des Lebens?
KEIN OFFENBARER IST GLAUBHAFT, WENN ER SICH NICHT DARUM
BEMÜHT, DEN MENSCHEN BESSER UND GLÜCKLICHER ZU MACHEN
DER EXEGET
« Glauben heißt, sich von Gott geliebt zu wissen », habe ich
gesagt. Es geht also darum, zu wissen, mit welcher Liebe wir
geliebt werden. Welche Art von Liebe Gottes zu uns zeigen uns
die « Offenbarungen »? Mir scheint, dass unsere Überlegungen
in diese Richtung gehen sollten. Die besten Stellen der Bibel
und der Evangelien zeigen uns einen Gott, der zuvorkommend,
großzügig, geduldig, mitleidig und sogar zärtlich liebt... immer
als Abbild dessen, was im Menschen das Beste ist... Sie werden
mir also sagen, dass dies Projektionen unserer Psyche auf Gott
sind... Wie auch immer dem sei! Für mehr Genauigkeit
übergebe ich den Philosophen das Wort... Ich habe genug
geredet...
DER ERSTE PHILOSOPH
Um ehrlich zu sein: Die Philosophen haben nie besonders viel
über die Liebe Gottes zu den Menschen nachgedacht, sondern
vielmehr über die Liebe des Menschen zu Gott, oder wenigstens
zu höheren Wirklichkeiten. Genau das zeigen die „Bewegungen
der Seele zum Guten an sich“ in Platons Dialogen, und der
aristotelische Versuch, das im reinen Akt Seiende zu schauen.
Dieses Seiende, das reine Tätigkeit ist, ist das
„Bewegungsprinzip“ aller unvollkommenen und in Bewegung
befindlichen Dinge. Es selbst aber ist unbeweglich, weil es
vollkommen ist.
Die Liebe wird gesamthaft als „Verlangen“ nach etwas Ansich-zu-Liebendem und folglich für uns Gutem betrachtet. Aber
die Existenz einer „Liebe“ zu den Menschen in Gott scheint sich
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
131
unseren Betrachtungen zu entziehen. Sie scheint sogar
unmöglich zu sein. Vielleicht ist das eine Unzulänglichkeit, die
in der Philosophie noch überwunden werden müsste!
DER ANDRERE PHILOSOPH
Aber das wäre nicht ein Zusatzkapitel, das den Themen der
klassischen Philosophie noch hinzuzufügen wäre, sondern eine
vollständige Überarbeitung der Vorstellung von der Liebe im
Menschen, der Liebe zum „menschlichen Du“ und der Liebe zu
Gott.
DER PSYCHOANALYTIKER
Die Psychoanalyse kennt die „Libido“, die ein Verlangen
nach Lust darstellt. Diesem Verlangen nach Lust ist die
„Realitätsprüfung“ entgegengestellt. Zwischen beiden besteht
eine Spannung. Wenn die Realitätsprüfung die Oberhand
gewinnt und die Libido daran hindert, sich zu verwirklichen,
sieht sich letztere verdrängt. Daher die Entstehung eines aus all
diesen „Verdrängungen“ gebildeten Unbewussten. Von diesen
Verdrängungen irgendwie gezeichnet oder geformt, versucht
sich die Libido nun auf Umwegen zu verwirklichen, in denen
das Verdrängte in einer „Kompromisslösung“ eine gewisse
Verwirklichung findet. Diese Kompromisssituation ist nicht
immer glücklich, oft ist sie sogar krankhaft, weil sie nicht in
bewusster Übereinstimmung mit der Realitätsprüfung steht.
Daher ist psychoanalytische Behandlung notwendig, um die
unbewussten Verdrängungen ins Bewusstsein zu bringen, und
um sie daraufhin, und das ist das Schwierigste an der Therapie,
mit der Wirklichkeit in einer gesunden, sozial integrierten
Verwirklichung in Einklang zu bringen, oder sie bewusst und
frei zu unterdrücken.
Aber die psychoanalytische Praxis zeigt, dass sich nicht alle
psychischen Krankheiten nach den klassischen Methoden der
freudschen Schule behandeln lassen. Daher die anderen
Versuche der Erklärung des Unbewussten, wie etwa durch Jung.
Aber sie alle scheinen die psychischen Kräfte ganz allgemein als
ein „Verlangen“ zu betrachten, „das zu etwas hinstrebt“, und
zwar „in einer einzigen Richtung“.
Nun habe ich aber festgestellt, dass auch diese
„Eingleisigkeit“ im Verlangen ein Grund von Neurosen ist. Zu
Neurosen kommt es nicht nur, wenn das Objekt des Verlangens
nicht erreicht wird, sondern auch, weil das Verlangen nur in
132
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
eine einzige Richtung strebt, so wie eine Stimme, die nie ihr
Echo hört..., als ob ein „Sprechender“ sich nie hören würde...
Gibt es also nicht auch eine andere Dimension der psychischen
Kräfte, und zwar in der Gestalt eines „Strebens zu dem, was von
etwas kommt“? Das Verlangen ist „zweigleisig“, weil es nicht
von solitärer Art ist. Es gibt gleichzeitig das „Verlangen nach...“
und das „Warten auf...“.
Auch Sexualität hat keinen solitären Charakter, weder
definitionsgemäß noch in Wirklichkeit. Man kann die „Libido“
also nicht nur in einer Richtung, zum Besitz ihres
Phantasieobjekts hin, betrachten, gemäß den verschiedenen
Stufen ihrer Entwicklung. Wenn die Libido in ihrer ersten
Dimension den wirklichen Besitz ihrer Phantasieobjekte
außerhalb ihrer selbst anstrebt, dann wäre sie in ihrer zweiten
Dimension das Verlangen, „verlangt zu werden“, das Warten
auf eine Aufnahme seitens der äußeren Phantasiegebilde, die sie
nun ihrerseits zum Objekt machen. Der „Glaubenstrieb“ würde
sich dem in seiner zweiten Dimension betrachteten Verlangen
anschließen. Das Verlangen nach dem, was von... kommt, das
Warten auf... Glauben, dass etwas oder jemand für mich
kommen wird...
Die negativen Ausdrucksweisen davon sind Furcht und die
Angst, verlassen zu werden. Dies kommt auch in
Redewendungen zum Ausdruck, wo der Mensch sich als
„Spielball der Götter oder des Schicksals“, „zum Glück oder
Unglück vorherbestimmt“ bezeichnet, oder sagt, dass sein
Erfolg oder Misserfolg „in den Sternen steht“. Dermaßen
verallgemeinerte und vielfältige religiöse Überzeugungen
können psychologisch nur in dieser Weise verstanden werden.
Sie sind Mittel gegen die Frustration des Verlassenseins...
Wenn die Libido einerseits „Verdrängungen des Verlangens“
erfährt, unterliegt sie andererseits selber „Verdrängungen des
Wartens“, also negativem „Aufnehmen“, das unbewusst
abgelehnt wird, so, wie die Verwirklichungen der missbilligten
und zensurierten Phantasievorstellungen abgelehnt werden.
Wenn der Sadismus eine Perversion der ersten Bewegung der
Libido ist, dann hängt der Masochismus von der Perversion
ihrer zweiten Bewegung ab.
DER ERSTE PHILOSOPH
Haben wir in dieser analytischen Sichtweise der menschlichen
Psyche wirklich eine Begründung für den „Glaubenstrieb“, der
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
133
ihrer Ansicht nach auf eine Offenbarung wartet? Ist die zweite
Ausrichtung der Libido nicht ganz einfach ein auf die erste
Bewegung einwirkender Spiegeleffekt? Handelt es sich dabei
vielleicht nicht um eine narzisstische Fehlausrichtung der ersten
Bewegung, um eine Umkehrung des „Verlangens nach“? Falls
dem so ist, dann wäre die zweite Bewegung eine Perversion der
ersten Bewegung, und das würde verhindern, dass man zu dem
hinstrebt, was an sich „zu lieben“ ist. Sind die philosophische
Auffassung des Platon und Aristoteles auf der Ebene des Seins,
und das Echo, das sie auf der Ebene der menschlichen Psyche in
der Psychoanalyse gefunden hat, nicht viel richtiger und
entsprechen der menschlichen Erfahrung eher?
DER PSYCHOANALYTIKER
Ich verstehe ihre Einwände. Auch ich würde sie von meiner
klassischen Bildung her machen. Aber mir scheint, dass die
traditionellen Untersuchungen unzureichend sind. Also suche
ich weiter...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich persönlich finden diesen psychoanalytischen Versuch sehr
interessant. Ich meine, man sollte ihn zu Ende führen, und nicht
auf das zuvor Gesagte zurückkommen, wie mein Kollege
vorgeschlagen hat. Der Versuch scheint mir ein Ufer verlassen
zu haben, um sich auf das andere zuzubewegen. Er soll jetzt
nicht inmitten in der Furt stehenbleiben...
DER PSYCHOANALYTIKER
Was schlagen Sie also vor, um das Übersetzen zu einem
besseren Ufer zu vollenden?
DER ANDERE PHILOSOPH
Zuerst möchte ich darauf aufmerksam machen, dass ich nicht
Psychoanalytiker bin. Dennoch kann ich in gewissem Maß Ihre
Sprache entschlüsseln und die in ihr enthaltenen
stillschweigenden Voraussetzungen suchen und finden. Denn ob
man will oder nicht: Die Psychoanalyse setzt, sogar ohne es zu
merken, ein bestimmtes Menschenbild voraus. Bestimmte
philosophische Vorstellungen erkennen sich darin wie in ihrem
„Echo“ wieder, wie mein Kollege sagte. Ich werde Ihnen also
als Philosoph antworten, und überlasse Ihnen die Aufgabe,
ihrerseits zu „entschlüsseln“ und das, was von meinen
134
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
philosophischen Aussagen für die Psychoanalyse nützlich sein
könnte, herausschälen. Niemand kann die Arbeit eines anderen
erledigen, aber zweifellos kann jeder aus der Arbeit des anderen
Nutzen ziehen.
Ich muss also gleichzeitig einem Psychoanalytiker, einem
Kollegen im Gebiet der Philosophie, und einem Theologen
antworten. Das ist viel, aber es hängt tatsächlich alles
zusammen. Wie verstehe ich als Philosoph das Verlangen? Wie
verstehe ich als Philosoph die Liebe?
Zuerst ist das eine begrifflich nicht das andere. Nicht nur, weil
nicht jedes Verlangen ein Verlangen nach Liebe ist. Das ist eine
für Schüleraufsätze geeignete Binsenwahrheit, deren
Gegenstück es wäre, zu sagen, dass die Liebe dennoch ein
Verlangen ist. Und daraufhin würde man erneut die allgemeinen
Eigenschaften des Verlangens auf die Liebe anwenden, um es
daraufhin etwas näher zu bestimmen, und zwar so, dass es
unsere verschwommene Intuition von dem, was Liebe ist, so gut
wie möglich wieder trifft. Und da diese Anstrengung zu keinem
Endergebnis führen wird, wird man danach noch „verschiedene
Formen“ der Liebe bestimmen wollen, die alle gewissermaßen
Vertreter einer einzigen Art sind: wohlwollende Liebe...,
begehrende Liebe..., sinnliche Liebe..., intellektuelle Liebe...,
aufopfernde Liebe... usw...
Wenn Verlangen nicht Liebe ist, dann deshalb, weil das
Verlangen und die Liebe nicht dasselbe Fundament, nicht
dieselbe Wurzel in der Wirklichkeit eines Seinenden haben.
Wohlverstanden, beim Menschen gibt es keine Liebe ohne
Verlangen, so, wie es keine Erkenntnis ohne Verlangen gibt.
Aber die Liebe, die Erkenntnis, das Bewusstsein und die Freiheit
sind transzendentale Eigenschaften des Seins, also
Eigenschaften, die dem Sein als solchem zukommen. Im
Menschen sind es Qualitäten, die das offenbaren, was an seinem
Sein vollkommen ist. Sie können deswegen sogar von Gott
ausgesagt oder ihm in analoger Weise zugeschrieben werden.
Dagegen sind Verlangen, Streben, Dynamismus, Fortschritt und
Entwicklung Qualitäten, die dem begrenzten Seienden als
solchem zu eigen sind. Es sind Merkmale eines Seienden, das
„im Werden“ ist, das nicht „reiner Akt“ oder reine Tätigkeit ist,
um hier einige für unsere Untersuchung brauchbare
aristotelische Begriffe aufzugreifen.
Man muss also festhalten, dass die Liebe, insofern sie eine
Eigenschaft der Vollkommenheit eines Seienden ist, nicht ein
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
135
Verlangen ist. Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass der
Mensch als Seiendes im Werden „danach verlangt, zu lieben“,
und zwar nicht so, dass die Liebe der Gegenstand eines
Verlangens wäre. Der Mensch „liebt“, indem er in seiner Liebe
voranschreitet. Er liebt, „indem er danach verlangt“, mehr und
besser zu lieben. In der Liebe, zu der er fähig ist, insofern er ein
Seiendes ist, ist notwendigerweise „Verlangen“ enthalten, denn
der Mensch ist ein begrenztes Seiendes und ein sich-selbstwerdendes Seiendes. Der Mensch „verlangt danach, zu lieben“,
weil er in den Prozess seiner Selbstwerdung eingebunden ist.
Ohne dieses Verlangen zu lieben, würde für den Menschen
bedeuten, nicht zu existieren.
Gott hingegen liebt auf vollkommene Weise, und daher ohne
das Verlangen, eine höhere Vollkommenheit zu erreichen.
Ansonsten wäre er nicht Gott. Wenn der heilige Johannes uns
sagt, dass Gott die Liebe ist, dann spricht er eine hochstehende
philosophische Wahrheit aus, aber es ist eine philosophische
Wahrheit. Es ist keine „Offenbarung“, auch wenn es von einem
Glaubenden ausgesprochen wird. Und es ist natürlich und ganz
und gar logisch, dass ein Glaubender es ausspricht, denn er ist
sich bewusst, mit dieser Liebe geliebt zu werden. Aber indem er
sagt „Gott ist die Liebe“, spricht der Glaubende nicht eine ihm
von außen zukommende Wahrheit aus, sondern eine Wahrheit,
in der er existiert. Für den Menschen, der Philosoph ist, bedeutet
„Gott ist die Liebe“ wenigstens und zweifellos mehr: „Gott liebt
mich“, oder „ich bin von Gott geliebt“. Indem er diese Liebe
annimmt, wird er „gläubig“, denn Gott offenbart sich ihm „als
jemand, der ihn liebt“.
Ich meine davon ausgehen zu dürfen, dass diese
Unterscheidung zwischen „Verlangen“ und „Liebe“ nicht zu
schwer verständlich ist, und dass Sie sie für berechtigt halten.
DIE ANWÄLTIN
Sie nehmen eine Vorstellung der Bibel auf, und entwickeln
sie, wie... Ihr Kollege hat es dargelegt...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz genau! Ich wollte lediglich eine Verwechslung zwischen
Verlangen und Liebe beheben. Diese Verwechslung wird vom
allgemeinen Menschenverstand, von der romantischen Literatur
und von der klassischen Philosophie aufrechterhalten. Man
begreift dort die Liebe als „Verschmelzung“. Tatsächlich ist das
136
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
Verlangen in seine verschiedenen Momenten einheitlich. Seine
letztendliche Verwirklichung verschmilzt mit seinem
anfänglichen Bedürfnis.
Diese Verwechslung musste behoben werden, denn sie ist ein
wichtiger Grund für intellektuelle Kurzsichtigkeit. Auch habe
ich kurz einen Berührungspunkt zwischen der philosophischen
und der glaubenden Vernunft skizziert.
Aber wir sollten fortfahren... Wenn wir gesagt haben, dass die
Liebe sich auf die Dimension von Vollkommenheit des mit
Bewusstsein und Freiheit begabten Seienden bezieht, müssen
wir dann nicht auch fragen, wie wir uns die Vollkommenheit des
Seins vorstellen müssen, oder konkreter ausgedrückt, „wie das
vollkommene Sein, also Gott, existiert?“ Geht es nicht darum,
zu wissen, was das vollkommene Sein existieren lässt? Das wäre
eine in sich widersprüchliche Frage.
Wenn irgendetwas ihm Existenz verleihen müsste, dann wäre
dieser „ins Sein gebrachte Gott“ nicht vollkommen und
unendlich. Dieses „andere Etwas“ wäre dann der vollkommene
Sein-Gott, der reine Akt, wie Aristoteles sagt.
Die Frage lautet also: „Wie ist Gott in sich selbst, kraft seiner
Vollkommenheit?“ Diese Frage ist eine konkrete Art, sich nach
der Beschaffenheit der „Vollkommenheit“ des Seins des
Menschen zu fragen. Natürlich weiß der Philosoph, dass er auf
diese Frage dadurch antwortet, indem er reflexiv nach dem
Menschen, der er ja selber ist, fragt, und nicht, indem er Gott
unter die Lupe nehmen würde!
Wie fassen also Plato, Aristoteles und die ganze aus ihnen
gewachsene westliche Tradition die Vollkommenheit des Seins
auf, oder das Sein in seiner Vollkommenheit? Ich antworte: als
ein in seiner einsamen Individualität in sich selbst
abgeschlossenes Seiendes. Das ist es! Mein Kollege wird das
nicht widerlegen!
EINE ANONYME TEILNEHMERIN ergreift zum zweiten Mal das
Wort:
Entschuldigen Sie, aber jetzt verstehe ich gar nichts mehr... Es
tut mir leid... Zuerst werde ich mich kurz vorstellen... Mein
Mann ist Allgemeinpraktiker in einer Provinzstadt, ich bin
Krankenschwester in einem Zentrum für Palliativmedizin... Wir
haben fünf Kinder großgezogen, drei Mädchen und zwei
Buben... Wir sind nicht an theologische Diskussionen gewöhnt...
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
137
und wir nehmen das Leben unmittelbar wahr, gewissermaßen
durch „Hautkontakt“.
Ich verstehe also nicht, wie Sie sagen können, dass Gott die
Liebe ist, um ihn anschließend zu einer Art einsamem
Überunendlichem zu machen. Um zu lieben, muss man
mindestens zu zweit sein, und wenn man sich zu zweit wirklich
liebt, dann liebt man sich nicht nur zu zweit... Wir haben unsere
Kinder... Und wir schöpfen auch aus unserer Partnerschaft, um
unseren Patienten etwas Zärtlichkeit zu schenken, vor allem
jenen, die gerade unter Einsamkeit leiden... Erklären Sie mir
also bitte, wie Gott gleichzeitig einsam und liebend ist,... ich
verstehe das nicht...
Viele Zeichen der Zustimmung und sogar einige des Beifalls...
verhalten, wie es sich gehört...
DER MODERATOR
Meine Dame, ich denke, Sie haben die Gefühle vieler hier
Anwesender geäußert... wie etwa, ob die philosophische
Diskussion nicht etwa den Schwung der Herzen unterdrückt...
ERMÖGLICHT DIE KLASSISCHE PHILOSOPHIE ZU VERSTEHEN, DASS
GOTT SICH FÜR DAS GLÜCK DER MENSCHHEIT EINSETZT?
DER ANDERE PHILOSOPH
Meine Dame, nach dem, was Sie gesagt haben, ist es
überflüssig, dass ich die klassische Philosophie mit ihrer
individualistischen Vorstellung von Liebe widerlege. Liebe und
Einsamkeit sind völlig unvereinbar. Wo es Liebe gibt, kann es
keine Einsamkeit geben, und auch kein solitäres Sein. Und wo
es Einsamkeit gibt, da fehlt es an Liebe, da gibt es den Ruf nach
Liebe... leidende Liebe, erlösungsbedürftige Liebe...
Um Ihre Anmerkung zu untermauern, sollten wir aber
trotzdem einen Blick darauf werfen, wie die klassische
Philosophie das Kunststück vollbracht hat, die Vollkommenheit
der Liebe mit der vollständigsten aller Einsamkeiten
zusammenzudenken.
Ich skizziere die Grundzüge ihres Denkens... Für die
Philosophie der griechischen Antike bestand Lieben darin,
„danach zu verlangen, das An-sich-zu-Liebende zu besitzen“,
und die vollkommene Liebe darin, danach zu verlangen, das
vollkommen An-sich-zu-Liebende zu besitzen, also das
138
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
vollkommene Sein. Unvollkommene Liebe hat die Eigenschaft,
nach dem Besitz unvollkommener Seiender zu streben. Genauso
hat die vollkommene Erkenntnis das zum Gegenstand, was in
sich selbst vollkommen ist. Die Erkenntnis unvollkommener
Gegenstände kann nie etwas anderes sein als unvollkommene
Erkenntnis.
Die Menschen haben also die Fähigkeit, „durch ein Bedürfnis,
aufgrund eines Mangels an Erkenntnis und Liebe“ zu verlangen
und auf das vollkommene Sein zuzustreben: auf das Gute an
sich nach Platon, oder den reinen Akt, nach Aristoteles. Sie
können etwas oder jemand von ihnen selbst Unterschiedenen
lieben, weil sie begrenzte und unvollkommene Seiende sind. Es
ist ihre Unvollkommenheit, die sie vom Vollkommenen
unterscheidet, und es ist ebendiese Unvollkommenheit, die
ihnen erlaubt, mehr zu verlangen als das, was sie haben, und zu
dem hinzustreben, was vollkommen und von ihnen
unterschieden ist.
Ihre Unvollkommenheit erlaubt ihnen auch, auf andere
Begrenzte Seiende zuzustreben, wobei alle gleichermaßen
begrenzt
sind.
Diese
werden
ihre
anfängliche
Unvollkommenheit verhältnismäßig ausgleichen. Begrenzte
Seiende sind für andere begrenzte Seiende „ergänzend“, je nach
ihrer „Qualität, zu-lieben zu sein“, ihrer „Liebenswürdigkeit“
und „Verständlichkeit“.
Dagegen kann man vom vollkommenen Sein nicht sagen, dass
es nach etwas verlangen oder streben würde, was vom ihm
verschieden und vollkommen wäre, denn es selbst ist die
Vollkommenheit des Seins. Und da es vollkommen ist, sind
seine Erkenntnis und Liebe vollkommen, und das, insofern es
sich selbst als das, was die Vollkommenheit des Seins ist,
erkennt und liebt.
Nach Aristoteles ist das vollkommene Sein oder der reine Akt
„noeis noeseôs, boulesis bouleseôs“ „Selbstdenken seines
Selbstdenkens“ „Selbstwollen seines Selbstwollens“. Das kann
man folgendermaßen verstehen: „Es ist gedachter Gedanke an
sein denkendes Denken und gewollter Wille zu seinem
wollenden Willen“. Anders gesagt: „Seine vollkommene und
einzigartige Wirklichkeit als erkennendes und liebendes Subjekt
ist gleichzeitig auch sein vollkommenes, einzigartiges, erkanntes
und geliebtes Objekt“. Ich fasse es noch genauer: Es ist der
Gedanke an ausschließlich sein Denken, und der Wille zu
ausschließlich seinem Willen. Die Besonderheit der klassischen
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
139
Vorstellung liegt in dieser ausschließenden Identität, und nicht
in der Behauptung des Sich-selbst-gegenwärtig-Seins des
Bewusstseins und seiner Initiative, in Freiheit sich selbst zu sein.
Aristoteles präzisiert dann tatsächlich, dass der reine Akt
(Gott), wenn er von ihm unterschiedene Dinge erkennen und
lieben würde, etwas im Vergleich zu ihm weniger Vollkommenes
erkennen und lieben würde. Und da in der Erkenntnis und Liebe
eine „Identifikation“ des erkennenden und liebenden Subjekts
mit dem erkannten und geliebten Objekt zustande kommt,
müsste man daraus schließen, dass Gott selbst unvollkommen
würde. Was aber nicht sein kann. Und genauso wenig kann er
etwas erkennen, das von ihm verschieden wäre und genauso
vollkommen wie er, denn diese Unterscheidung würde bedeuten,
dass weder er noch das andere vollkommen sind. Man sieht also,
dass das, was ein Seiendes vom anderen unterscheidet, ein
Unterschied in der Qualität des Seins ist. Während das
vollkommene Sein das einzige vollkommene Sein ist, können
sich die anderen Seienden von ihm nur durch ihre geringere
Seinsvollkommenheit unterscheiden. Spinoza hat dieses in
unseren Augen „zu Unrecht offensichtliche“ Postulat mit drei
Worten umschrieben: „omnis distinctio imperfectio“.
Für die klassische Philosophie kann die absolut vollkommene
Liebe also nur die Selbstliebe, und nicht die Liebe zu jemand
anderem sein. Konstitutiv dazu genötigt sein, einen anderen in
seinem Unterschied zu einem selbst zu lieben, kann also nur ein
Merkmal eines begrenzten Seins und daher einer
unvollkommenen Liebe sein. Selbstverständlich ist die Liebe
des Menschen zum vollkommenen Sein (Gott) die
vollkommenste Liebe, zu der der Mensch innerhalb der Grenzen
seiner natürlichen Unvollkommenheit fähig ist. Aber die
Identität des menschlichen liebenden Subjekts und des
göttlichen Objekts seiner Liebe kann niemals zustande kommen.
Eine derartige Liebe kann niemals zu einem Ergebnis führen.
Sie bleibt für immer ein Verlangen, das niemals erfüllt wird...
DER DOMHERR
In der natürlichen Ordnung, von der Aristoteles spricht,
verhält es sich tatsächlich so. Aber in der übernatürlichen
Ordnung kann Gott ein derartiges Liebesverlangen zum Ziel
führen. Es ist die „Schau Gottes, die die Auserwählten im
Paradies mit Glück erfüllt“. Es ist die seligmachende
Gottesschau, die eine reine Gnade Gottes ist. Der heilige
140
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
Johannes sagt, dass wir nach dem Tod „Gott sehen werden und
ihm ähnlich sein werden“.
Die großen Mystiker der Kirche, wie etwa Johannes vom
Kreuz oder Theresa von Avila, haben dieses unermessliche
Verlangen nach Gott erfahren. Es ist ein Verlangen, das sie
gelegentlich glücklich machte, weil sie den Beginn der
Verwirklichung fühlten und auf dessen Vollendung hofften... Es
ist ein Verlangen, das sie auch unglücklich machte, indem es sie
ihre gegenwärtige Unzufriedenheit hier auf dieser Welt fühlen
ließ...
DER EXEGET
Ich persönlich lese Vers 2 des dritten Kapitels des ersten
Johannesbriefs nicht wie ihr „hellenistisch“, im Sinne einer
Erfüllung, die in der Verschmelzung mit Gott bestehen würde.
Johannes spricht vielmehr von einer Schau des auferstandenen
Christus in seiner Herrlichkeit beim Vater. Auch wir werden
ihm, Christus, ähnlich sein..., nicht dem Vater... Worin diese
Ähnlichkeit bestehen wird, sagt Johannes nicht.
Von diesem Text ausgehend und im gedanklichen Umfeld des
Hellenismus — wie bereits gesagt — hat man sich das Glück
des Glaubenden in Jesus als Erfüllung eines Verlangens nach
der Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheit an sich
vorgestellt. Und was die griechischen Philosophen in
vollkommener Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen für
unmöglich erklärt hatten, das haben die Theologen für durch die
Gnade möglich erklärt... Wie? Sie geben keine Antwort... Es
handelt sich um ein Geheimnis... Und missbräuchlicherweise
haben sie daraus fast schon ein Geheimnis des christlichen
Glaubens gemacht.
DER ANDERE PHILOSOPH
So können Sie selbst feststellen, dass sich die Theologen von
damals einer ungeeigneten Philosophie bedient haben. Diese
griechische Philosophie befindet sich tatsächlich in Unkenntnis
jener „glaubenden Vernunft“, die das menschliche Bewusstsein
bildet, und passt daher nicht zur evangelischen Botschaft. Die
Theologen von damals haben eine philosophische Vorstellung
(den Besitz des Guten an sich) mit einer Glaubensaussage (die
Begegnung mit dem auferstandenen Christus in der Herrlichkeit
Gottes) gleichgesetzt.
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
141
Und überzeugt davon, dass der Glaube die Vernunft
übersteigt, und dass der Gott der Offenbarung den Gott der
Schöpfung überbietet, und dass die Macht der Gnade der Kraft
der Natur überlegen ist, haben sie das, was natürlicherweise
nicht möglich war, für übernatürlicherweise möglich erklärt.
Bei diesem intellektuellen Vorgehen erschien es ihnen fast
selbstverständlich, dass dieses Werk der Gnade eine
Offenbarungswahrheit sei, dass es in geheimnisvoller Weise all
das, was unsere Vernunft begreifen könnte, übersteige, und sich
an unseren Glauben richte, wie ein ungetrübtes Licht.
Ich persönlich fühle mich immer unwohl, wenn ich während
liturgischen Feiern singen höre, dass „der Glaube unser Licht
ist...“, dass „das Wort Gottes uns aus unserer Dunkelheit
befreit...“, obwohl diese Lieder uns doch niemals etwas
erklären... Aber lassen wir das! Der Einwand des Herrn
Kanonikus ruft in mir ein weitaus tieferes Gefühl hervor als eine
Enttäuschung bei der liturgischen Verkündigung des
Evangeliums. Sein Einwand impliziert die Unvereinbarkeit in
der Ordnung des Seins zwischen dem, was von der natürlichen
Schöpfungsordnung abhängt, und dem, was beansprucht, der
Ordnung der Offenbarung anzugehören. Das ist schlimm...
Wenn man beim Wortlaut dieser Fragestellung stehenbleibt,
dann ergibt sich daraus hypothetisch, dass sich der gesunde
Menschenverstand der natürlichen Ordnung der Schöpfung
anschließt, und sich der Ordnung der Offenbarung entledigt, um
diese den leichtgläubigen und abergläubischen Menschen zu
überlassen...
DER PHYSIKPROFESSOR
Und wie soll man einer solchen Katastrophe entkommen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Indem man den Mut hat, zuzugeben, dass uns die klassische
Philosophie keine fehlerfrei begründete Ontologie der
Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit bietet! Die falsche Denkweise,
die den Widerspruch verursacht, der im Standpunkt des Herrn
Kanonikus enthalten ist, ist nicht jene der evangelischen
Offenbarung, sondern jene der Philosophie, der er diese
Offenbarung entgegenstellt... Als Philosoph geht es mir darum,
diese Philosophie zu widerlegen, und auch die theologischen
Standpunkte, die sie nach sich zieht, und nicht die Offenbarung
in Jesus Christus. Die Unzulänglichkeit dieser Philosophie
142
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
kommt nicht nur in der Vorstellung von der vollkommenen
Liebe in Gott zum Vorschein, wie wir bereits gezeigt haben,
sondern auch in der Vorstellung von der interpersonalen
menschlichen Liebe.
Tatsächlich impliziert die Beziehung zu einem von einem
selbst verschiedenen Seienden gemäß dieser Vorstellung immer
eine Unvollkommenheit in einem selbst. „Lieben“ beinhaltet für
das begrenzte Seiende, das der Mensch ist, eine „Steigerung“
seiner Vollkommenheit. Andere zu lieben und Freunde zu haben
ist besser, als keine Freunde zu haben. Für Aristoteles ist die
Freundschaft ein großer Reichtum. Er hat sehr tiefsinnig darüber
geschrieben. Ein behobener Mangel und ein erfülltes Bedürfnis
sind besser als das Verharren in der Bedürftigkeit.
Aber eine derartige Vollkommenheit ist keine einfache und
reine Vollkommenheit. Ihr ist Unvollkommenheit beigemischt.
Diese ganze Vorstellung ist in sich stimmig. Platon und
Aristoteles wussten richtig zu denken. Aber sind ihre
Schlussfolgerungen auch wahr? Die logische Stimmigkeit ist
eine notwendige, aber nicht zureichende Bedingung für
Wahrheit. Damit das Ergebnis eines Gedankengangs richtig sei,
müssen auch seine Prämissen richtig sein. Stimmt die besagte
philosophische Vorstellung im Lichte der Vernunft betrachtet
mit der Wirklichkeit überein? Das ist die Frage, die man sich
nun stellen muss. Man sollte den Mut dazu aufbringen.
DIE HISTORIKERIN
Und warum hat man sie nicht früher gestellt?
DER ANDERE PHILOSOPH
Weil die philosophische Methode noch nicht genügend
ausgearbeitet war. Sehr vereinfacht dargestellt suchten die
Philosophen bis zu Descartes nach der Wahrheit des Seins in
den Seienden, die sich ihnen „entgegenstellten“, und die von
ihnen aus gesehen „außerhalb“ lagen, also in den
„Gegenständen“. Wenn sie die Wahrheit in sich selbst suchten,
dann nur, indem sie sich objektive Vorstellung von sich selbst
machten. Es war daher normal, dass Platon und Aristoteles den
Wert der Erkenntnis und der Liebe vom Wert und von der
Vollkommenheit des erkannten und geliebten Objekts abhängig
machten, insofern „kennen und lieben“ die Tätigkeiten der
Intelligenz und des Willens sind, die jeweils durch ihre Objekte
bestimmt werden, nämlich durch das Wahre und das Gute.
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
143
Descartes hat das philosophische Denken auf das Cogito
ausgerichtet, auf das „Ich denke“, auf das Subjekt. Es ist der
Übergang von einem auf das Objekt ausgerichteten
philosophischen Denken zu einem auf das Subjekt
ausgerichteten Denken. Dadurch wird unser Seinsverständnis
verändert. Ein auf das Subjekt ausgerichtetes Denken kann sich
nicht ausschließlich auf das Subjekt ausrichten, während eine
Philosophie des Objekts sich tatsächlich ganz auf das Objekt
ausrichten kann.
Tatsächlich wird das auf das Objekt ausgerichtete Denken im
Objekt niemals irgendeine notwendige und konstitutive
Beziehung zum Subjekt sehen. Das Objekt kann als „in sich
selbst abgeschlossen“ gedacht werden, und die Vollkommenheit
seines Seins wird dann als „eine in sich selbst ruhende Einheit in
ihrer Einzigkeit“ gedacht. Dagegen kann sich ein auf das
Subjekt ausgerichtetes Denken nicht auf das Subjekt allein
beschränken. Zweifellos kann sich das Subjekt anfänglich —
denn derartig tiefgreifende Entwicklungen gehen niemals anders
als langsam vor sich — so betrachten, als ob es wie ein „Objekt“
vor sich selbst stünde.
Aber je mehr das Subjekt seine eigene Erkenntnis- und
Willenstätigkeit erforscht, umso mehr wird es sich bewusst, dass
es sich selbst notwendigerweise in Beziehung zu Anderem
sehen muss.
Kant hat die kartesianische Methode verfeinert und damit die
philosophische Methode endgültig bereitgestellt. Es handelt sich
darum, die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit jeglicher
Tätigkeit des Subjekts als solchem, und jeglichen Subjekts als
solchem zu suchen. Seither ist es nicht mehr möglich, die
Tätigkeit eines Subjekts zu betrachten, indem man dieses
Subjekt auf sich selbst beschränkt, so, als ob man sich ein
Objekt denkt, das in sich selbst allein ein Subjekt wäre, wie dies
die platonische oder aristotelische Tradition tut. Es ist auch nicht
mehr möglich, ein Subjekt als einzeln und für sich selbst wie im
Zustand eines Objekts befindlich zu denken, wie es gewisse
Kommentatoren Descartes’ tun, weil sie die „kartesianische
Wende“ nicht zu Ende führen. Dagegen ist festzuhalten, dass
das sich selbst in der Ausübung seiner Bewusstseinstätigkeit
reflexiv wahrnehmende Subjekt sich notwendigerweise als in
Beziehung stehend zu „etwas anderem“ versteht: zur Welt und
den anderen Subjekten. Indem es die apriorischen Bedingungen
derartiger Tätigkeiten sucht und die Frage stellt, ob derartige
144
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
Beziehungen auf die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit
seines Seins gegründet sind, kommt es schließlich dahin, zu
erkennen, dass seine Beziehung zum Anderen, ohne eine absolut
vollkommene Beziehung zu sein, doch, insofern sie wirklich ist,
in der Vollkommenheit seines Seins begründet ist.
So gelangt man zu einer neuen Schlussfolgerung, die zur
griechischen und klassischen Auffassung in direktem
Widerspruch steht. Die Erkenntnis- und Liebesbeziehung zu
einem von einem selbst unterschiedenen Seienden entspringt der
im Sein vorhandenen Vollkommenheit. Die Liebe kann also nicht
mehr mit einem Verlangen oder dem Willen, das „An-sich-zuLiebende“ zu besitzen, verglichen werden. Die Liebe ist
natürlich ein Wollen, aber das Wollen, dass der andere er selbst
sei, und zwar in der ihm eigenen Vollkommenheit, selbst wenn
diese durch die Natur begrenzt ist.
Das zutiefst menschliche „Verlangen“ besteht nicht darin, zu
einem vollkommenen Objekt hinzustreben, sondern zur
Vollkommenheit der eigenen Tätigkeit, insofern diese das
„Wollen“ ist, „dass der andere in sich selbst sei, und zwar
gemäß seiner Natur in vollkommener Unterscheidung von mir“,
und dies, soweit es dem Menschen möglich ist.
Diese hervorragende Entwicklung des Denkens konnte nicht
von heute auf morgen geschehen. Das ist verständlich. Ein
langsames Reifen ist nötig. Und wenn die Wahrheit dann
sichtbar wird, muss sie Wurzeln fassen und sich langsam
ausbreiten. Dazu braucht sie viel Zeit...
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Die ersten christlichen Theologen sind auf eine ähnliche
Schwierigkeit gestoßen. Wie sollte man die Vorstellung von der
Schöpfung für Menschen verständlich machen, die einerseits die
Welt als ewig betrachteten, und andererseits dachten, dass ein
vollkommenes Seiendes mit einer unvollkommenen Welt nicht
die geringste Beziehung eingehen könnte?
Die kombinierte Vorstellung von einer ewigen Materie und
von einem Seienden, das durch seine Vollkommenheit von
allem isoliert ist und in sich selbst verschlossen ist, widerspricht
der Vorstellung von einer Schöpfung, bei der ja eben ein
vollkommenes Seiendes in enge Beziehung zu den Dingen
dieser Welt tritt, da es sie macht, da es sie „erschafft“.
Es gibt verschiedene psychologische und intellektuelle
Gründe, die erklären, warum sich die Menschen die Welt als
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
145
„ewig“ vorstellten, oder vielmehr als „fortdauernd“, ohne
Beginn und ohne Ende in der Zeit.
Das Fehlen einer Vorstellung vom „Beginn“ zeigt, dass es
nicht möglich war, sich eine „Schöpfung“ durch ein absolutes
Seiendes vorzustellen, dessen Existenz im wahrsten Sinn des
Wortes als ewig gedacht worden wäre, also als „jenseits“ der
Zeit, so dass die Frage nach dem Fehlen eines Beginns sich für
dieses Seiende gar nicht stellt, da es nicht in der Zeit existiert.
Weil es außerhalb dieser Zeit steht, die verrinnt und die ein
Aspekt der Schöpfung ist, ist es falsch, zu sagen, dass es seit
aller Zeit existiert hat, von jeher und für immer. Die Ewigkeit ist
nicht ein „endloser Lauf der Zeit“.
Es war also eine der größten Schwierigkeiten der
Evangelisierung, innerhalb einer solchen Vorstellung von der
Welt und dem Menschen den Glauben an einen Gott zu wecken
und zu verbreiten, der Schöpfer ist, und der an der Geschichte
der Menschen teilnimmt, indem er sich ein Volk auserwählt, mit
ihm einen Bund schließt und ihm verspricht, es in Zukunft zu
erhalten, und all das gegen das Einhalten seiner Gebote durch
dieses Volk, und der schlussendlich, wie der heilige Johannes
sagt, selbst bei seinem Volk Wohnung nimmt, sich Jünger
auserwählt und das Heil, das er den Menschen bringt, verkündet
und durch seinen Tod am Kreuz bezeugt.
Wie Paulus von Tarsus sehr richtig sagt, ist eine derartige
Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und den
Menschen eine „Torheit“, eine ganz und gar „sinnlose“ und
„irrationale“ Sichtweise, die sich dem grundlegendsten
gesunden Menschenverstand der griechischen Kultur
entgegenstellt.
Deshalb bewahrheitet sich Ihre logische Folgerung, nämlich
die strikte Unvereinbarkeit der griechischen Vorstellung und
jener einer transzendental-reflexiven Philosophie, wenn es um
die Beschaffenheit einer Beziehung zum Anderen geht, zuerst
gewissermaßen in der Geschichte, anlässlich der beiden
Auffassungen von der Beziehung zwischen Gott und den
Menschen, nämlich der griechischen und der biblischen. Ich
mache Sie darauf aufmerksam, dass es hier Parallelen gibt, die
eine genauere Untersuchung verdienen würden. Die sich daraus
ergebende Folgerung ist auch für den Theologen in gewisser
Weise erleuchtend, und in ganz besonderer Weise für den
Dogmengeschichtler.
146
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
Die platonische Idee des Guten oder der Hypostase des Einen
nach Plotin, oder auch der unbewegte Beweger der himmlischen
Sphären, nach Aristoteles, waren das, was die Christen als am
ehesten ihren eigenen Gottesvorstellung entsprechend
vorfanden. Aber das ist es ja gerade! Diese Vorstellungen vom
absoluten Sein scheinen es diesem „absoluten Seienden“
aufgrund ebendieser Beschaffenheit der ihm zugesprochenen
Vollkommenheit nicht zu erlauben, mit der Welt und dem
Menschen auf irgendeine Weise in Beziehung treten zu können,
und noch viel weniger, sie zu erschaffen, sie also aus dem
Nichts, „ex nihilo“, ins Sein zu rufen. In diesem Punkt schließe
ich also die kritischen Untersuchungen an, die Sie als Philosoph
vorgenommen haben.
Im griechischen Denken sind diese transzendenten
Wirklichkeiten tatsächlich nur das Objekt eines Verlangens des
Menschen, eines intellektuellen Verlangens, eines Verlangens
nach Schau. Dennoch ist auf der Ebene seines Werdens und
seiner Erfüllung eine Annäherung zwischen dem „griechischen
Verlangen nach dem Guten an sich“ und dem „christlichen
Verlangen nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“
möglich. Aber wenn Gott mit der Vorstellung vom Guten an
sich gleichgesetzt bleibt, dann ergibt sich daraus eine
schwerwiegende Verwechslung zwischen der Vorstellung von
„Gott“ und jener vom „Reich Gottes“.
Das Reich Gottes ist der in seiner Vollkommenheit
verwirklichte Mensch. Es ist das Glück des Menschen, das
Glück der ganzen Menschheit. Wenn man das Reich Gottes mit
Gott gleichsetzt, so, als ob beide ein und dasselbe Objekt eines
einzigen Verlangens wären, wird das sogenannte „Verlangen
nach Gott“ wenigstens in der Theorie, und manchmal auch auf
der Gefühlsebene, dem Verlangen des Menschen nach Glück
gegenüber feindselig werden.
So entsteht ein Gottesbild, das ihn als mehr oder weniger
eifersüchtig oder mit dem Glück des Menschen wetteifernd
zeigt. Das Glück, das die Menschen genießen können, indem sie
wahre Menschen sind, muss dem Verlangen nach Gott
„geopfert“ werden. Und folgerichtig ergibt sich daraus, dass
Gott diejenigen besonders belohnen wird, die diesem
„Verlangen nach Ihm, nach Gott“ eher gefolgt sind als dem
Verlangen, „so weit wie möglich Mensch zu sein“. Und dies ist
umso verständlicher, als dieses „Verlangen, so weit wie möglich
Mensch zu sein“ dann nicht anders verstanden werden kann als
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
147
individualistisch und egoistisch. Gott wird dann als der gesehen,
der für die Wahl dieses „Verlangens nach Ihm“ entschädigt,
indem er jenen, die es jeglichem anderen Glück, besonders dem
Glück des Ehe- und Familienlebens, vorgezogen haben werden,
ein besonderes Glück zuspricht.
Wenn man die Gleichwertigkeit einer griechischen und einer
jüdischen Formulierung des menschlichen „Verlangens“
nachweisen müsste, dann müsste man zwischen dem
„Verlangen, so weit wie möglich Mensch zu sein“ und dem
„Verlangen nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“
einen Vergleich ziehen. Aber das verlangt das Annehmen einer
anderen philosophischen Vorstellung von der Vollkommenheit
des Menschen, einer relationalen und interpersonalen
Vorstellung, und die Loslösung von der individualistischen
Vorstellung.
Griechische Überlegungen dieser Art oder solche, die ihnen
nahestehen, sind auch in einer bestimmten Lehre und Praxis der
christlichen Heiligkeit vertreten, besonders in der Art und
Weise, wie das geweihte Leben verstanden wird. Es wäre gut,
das zuzugeben, in der Hoffnung, dass ein Heilmittel dagegen
gefunden wird.
Das geweihte Leben muss ganz sicher auf Überlegungen
anderer Art gegründet werden, die mehr mit der evangelischen
Offenbarung übereinstimmen und weniger von heidnischen
Vorstellungen vom Göttlichen geprägt sein. Letztere schwanken
zwischen zwei Extremen derselben Art: magische Techniken
des
Machtgewinnens
über
göttliche
Kräfte,
und
Verhaltensweisen der sklavischen Unterwürfigkeit unter eine
willkürliche Allmacht. Diese beiden Vorstellungen schließen
einander logisch aus. Sie können nicht beide wahr sein, aber sie
können beide falsch sein. Einem Verlangen, Gott zu besitzen,
entgeht man nicht durch Gesten der Unterwerfung. Das
Verlangen, zu besitzen, ist des Menschen unwürdig, und
Unterwürfigkeitsgesten ergeben ein Gottesbild, das Seiner nicht
würdig ist.
Das geweihte Leben auf die Nachfolge Christi, des einzelnen
vollkommenen Menschen, der dem Willen seines Vaters ganz
und gar gehorsam war, zu begründen, würde auch eine
Verwechslung zwischen einem narzisstischen, auf einen kleinen
Kreis beschränkten philosophischen Ideal und dem
evangelischen Ideal vom „Reich und seiner Gerechtigkeit“
148
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
beinhalten. Diese Verwechslung wäre den eben genannten
Gleichsetzungen ähnlich...
Es wäre gut, wenn die Theologen und christlichen Denker die
evangelischen Grundlagen des christlichen Lebens mehr zur
Geltung brächten, indem sie deren Bedeutungsinhalte von
heidnischen Einflüssen befreien. Letzteren fehlt es in ihrem
Gedankengut übrigens nicht einer gewissen Erhabenheit und
Höhe. Ich bin der Ansicht, dass hier noch viel spirituelle
Forschung zu leisten ist, und ein tiefes Bedürfnis nach
„ethischer Bekehrung“ besteht.
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
Die ersten Christen mussten die evangelische Botschaft
allerdings sehr wohl in dem kulturellen und philosophischen
Umfeld, das Sie im Namen der Vernunft aburteilen, zum
Ausdruck bringen. Indem sie es taten, haben sie in keiner Weise
am Evangelium Verrat geübt...
EINE PHILOSOPHIE DER RATIONALITÄT DES GLAUBENSAKTES
FÜR EIN BESSERES VERSTÄNDNIS DER EVANGELISATION
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Paradoxerweise hat diese Schwierigkeit, den Sinn der
evangelischen Botschaft mit den Begriffen des griechischen
Denkens auszusagen, den Eifer der ersten Christen angeregt.
Denn obwohl sie im riesigen Römischen Reich eine
verschwindende Minderheit darstellten, hatten sie ein starkes
Bewusstsein ihrer Eigenständigkeit, ihrer « unglaublichen »
Besonderheit im Unterschied zu den anderen. Und sie waren
darum bemüht, so viele Menschen wie möglich daran teilhaben
zu lassen. Ihr Glaube war voll Begeisterung. Sie « glaubten » an
ihren « Glauben », wenn es mir erlaubt ist, mit den beiden
Bedeutungen des Wortes « Glaube », theologischer Glaube
einerseits und innere Überzeugung andererseits, zu spielen. Sie
« glaubten » (im psychologischen Sinn) an ihren Glauben (im
theologischen Sinn). Ihr Glaube an den Schöpfergott und den
am Kreuz gestorbenen und auferstandenen Christus, den Erlöser
der Menschen, « schockierte » die heidnische Welt.
Heutzutage sind sich die Christen eines derartig aufwertenden
Unterschieds nicht mehr bewusst. Sie sind „gleichgültig“, oder
vielmehr fühlen sie sich zu „gleichgesetzt“, zu „vereinheitlicht“
mit der Welt, in der sie leben, und mit der zusammen sie die
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
149
große Masse bilden. Sie „provozieren“ nicht mehr und wollen
nicht mehr „provozieren“ oder „schockieren“. Oder sie
verbünden sich mit den „kleinen Provokationen, die gerade in
Mode sind“: Umweltschutz, Rechte der Flüchtlinge, Kampf
gegen den Krieg, Offenheit für ausländische Kulturen, Recht auf
Wohnung für alle, Rechte der Frau, usw...
Ihrem kulturellen Umfeld gegenüber fühlen sie sich nicht
mehr als Träger einer neuen Botschaft... Ihr Überzeugungen
erscheinen ihnen gebraucht, abgeschabt. Und das ist wahr:
Zwanzig Jahrhunderte Christentum haben die „Neuheit“ des
Evangeliums angegriffen, zumindest eine gewisse „Neuheit“,
nämlich genau jene, die gealtert ist, und die von kultureller Art
war.
Das soll nicht heißen, dass das Evangelium seinen Wert
verloren hat. Dieser Gedanke liegt mir fern! Das Evangelium
bleibt immer eine „Neuheit“, eine ontologische Neuheit im
Bezug auf unsere menschliche Existenz in dieser Geschichte. Es
ist die bleibende „Gute Nachricht“ von unserer Vergöttlichung
jenseits unseres gegenwärtigen Lebens... Vielleicht sind diese
Gute Nachricht und die Gründe dieser guten Nachricht für die
heutige Welt immer noch eine kulturell neue Botschaft.
Vielleicht gibt es im Evangelium immer noch etwas kulturell
„Neues“, das immer noch zu entdecken ist und das die
anfängliche Neuheit, die althergebracht geworden ist,
„erneuern“ wird.
Wenn das christliche Bewusstsein dieses ontologischen
„Unterschieds“ nachgelassen hat, oder zumindest heutzutage
weniger fühlbar ist: Ist das deshalb, weil die Christen aufgehört
haben, Christen zu sein, um wieder Heiden wie damals zu
werden? Oder ist es deshalb, weil die „Neuheiten“ von heute
unbewusst dermaßen von der christlichen Kultur durchdrungen
sind, dass die äußeren Zeichen des Christentums im Vergleich
zu früher nicht mehr so bedeutsam und anziehend wirken?
Muss man also daraus schließen, dass das Bedürfnis nach
Umkehr und Einsatz für das christliche Ideal für die Gemüter
und Herzen nicht mehr dermaßen bereichernd ist? Tatsächlich
haben nämlich gewisse moderne Ideen, wenigstens in der
westlichen Welt, wie etwa jene vom wahren Sinn der
Menschenrechte, oder die Forderung nach mehr wahrer
Gerechtigkeit in der Welt, in vieler Hinsicht christliche
Anwandlungen, die man nicht zur Kenntnis nimmt. Wozu und
warum soll man sich also als „Christ“ hervortun, wenn es im
150
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
alltäglichen Leben auf dasselbe herausläuft, ob man Christ ist
oder nicht?
Gibt es also ausschließlich in kultureller Opposition gegen die
herrschenden Meinungen so etwas wie einen „motivierenden
Unterschied“? Sind die modernen Ideen nur deshalb, weil sie
aus Undankbarkeit ihre jüdischen und christlichen Wurzeln
ignorieren wollten, von den kirchlichen Einrichtungen, die sich
ihrer geistigen Güter beraubt sahen, wenig geachtet — ein
seltsames Phänomen —, ja sogar verurteilt worden? Muss zur
Motivierung des Christen ein Gegner oder ein zu eroberndes
Gebiet, auch spiritueller Art, bezeichnet werden, wie etwa „die
Seelen vor der Hölle zu retten“? Muss man die Aussage, dass es
außerhalb der Kirche kein Heil gibt, von einem Hintergrund der
Angst um sich, um die einem Nahestehenden und um die
Gesellschaft als ganze aus verstehen? Dadurch würde man den
Eifer des Christen in ähnlicher Weise beeinflussen, wie man
jenen eines Kämpfers einer politischen Partei anregt! Nein! Der
„christliche Unterschied“ ist nicht von dieser Art. Er ist nicht
kultureller Art. Er ist ganz und gar anders. Er ist von
ontologischer Art, auch wenn er auf der Ebene der Kultur
Unterscheidung schafft.
Zum Glück findet die Kirche heute gewisserweise zu „ihrem
Reichtum“ und ihrem biblischen Erbe zurück, indem sie den
Abglanz der biblischen Überlieferung in gewissen Idealen der
Welt anerkennt. Freuen wir uns über diesen Dialog zwischen der
Kirche und der Welt, der weit entfernt ist von den Streitigkeiten
der Fundamentalismen. Aber riskiert dieser neue Dialog nicht
doch, etwas zu sehr in einem „schwammigen Einverständnis“ zu
verlaufen, in der „Ähnlichkeit und Vereinheitlichung“ mit dieser
Welt der „Verwässerung des Christlichen“ oder in „modischen
kleinen Provokationen“, wie ich es nannte? Sind sich die
Christen zu Genüge einer motivierenden „ontologischen
Neuheit“ bewusst, die sie noch einmal in der Geschichte aus
einer eigenständigen Weise, an Christus zu glauben, schöpfen,
und diesmal in tieferer Übereinstimmung mit der ontologischen
Neuheit Seiner Offenbarung?
DER DOMHERR
Dann schließen Sie sich also dem Neuevangelisierungsvorhaben Johannes Pauls des Zweiten an?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
151
Selbstverständlich! Sonst hätte ich nicht den Auftrag, diese
neuen Wege zu suchen... Denn diese neue Evangelisierung darf
in der Tat nicht als eine Neuauflage der althergebrachten
verstanden werden, etwa so wie bei Schulbüchern...
„überarbeitete und verbesserte Neuauflage...“. Darum handelt es
sich nicht!
Das Problem besteht darin, in der heutigen Zeit erkennen zu
können,
worin
die
Charakteristiken
dieser
neuen
Evangelisierung liegen. Zuerst darf sie nicht mehr zu sich selbst
im Widerspruch stehen, wie es die althergebrachte tat. Dann darf
sie die Welt, die sie erneut umgestalten soll, nicht mehr mit
derselben Art von streitverursachender Beziehung angehen. Die
ehemalige Evangelisierung hatte eine Welt, mit der sie sich im
Streit befand, umgestaltet. In dieser Auseinandersetzung war sie
in den Bereich dieser Welt eingedrungen, hatte ihre Sprache
gesprochen und ihr im Namen des Evangeliums Überzeugungen
auferlegt, die ihr entgegengesetzt waren oder zu ihr in konträrem
Gegensatz standen.
Dadurch sah sich die evangelische Botschaft verstanden als in
konträrem Gegensatz stehend zu den Vorstellungen, die die
heidnische Welt von sich selbst hatte. Das Evangelium wurde
nicht gemäß seiner eigenen Verständlichkeit verstanden,
sondern gemäß der Verständlichkeit der griechischen Welt und
konträrem Gegensatz zu ihr. In dieser mehrdeutigen Situation
des ausdrücklichen Gegensatzes der Überzeugungen (also die
Schöpfung gegen die Idee der Ewigkeit der Welt), und auf dem
Fundament einer impliziten Zustimmung zum Gebrauch
bestimmter Begriffe (Gott mit dem Guten an sich, dem Einen,
dem reinen Akt gleichgesetzt) konnte man einer gewissen
Verformung des Sinns der Offenbarung nicht mehr entgehen.
Die Welt, die es zu evangelisieren gilt, ist nicht mehr dieselbe.
In gewisser Hinsicht müssen sich die Christen von heute und
von morgen auch als „in eine neue heidnische Welt Gesandte“
betrachten, aber in eine heidnische Welt, die nicht zu ihrem
ehemaligen Zustand zurückgekehrt ist, sondern tiefgreifend
verändert ist durch die in den jüdischen biblischen Schriften und
den evangelischen Schriften implizierten moralischen Werte.
In einem polytheistischen Heidentum wie jenem von damals
ehrte man bestimmte Gottheiten, und man war anderen
gegenüber gleichgültig oder befand sich sogar im Konflikt mit
ihren Verehrern. In einem „monotheistischen“ Heidentum, wie
dem von heute, betet man entweder immer noch den einen Gott
152
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
an, oder man ist ihm gegenüber gleichgültig, oder man befindet
sich im Konflikt mit seinen Gläubigen... Und die moralischen
Werte sind entweder auf der Bodenhöhe der Vielzahl der
„Gottheiten“ angesiedelt, oder sie sind hoch und erhaben, wie es
der Einmaligkeit Gottes entspricht.
Tatsächlich anerkennt die gegenwärtige „monotheistische“
heidnische Welt weitaus höhere moralische Anforderungen als
die antike Welt es tat. Heutzutage sollen die Christen den
„ontologischen Unterschied“, der sie anregt und ihnen ein
würdigeres moralisches Verhalten ermöglicht, nicht mehr wie
damals im Gegensatz zu einem schwachen ethischen
Verständnis und einer mittelmäßigen Ausführung des
moralischen Gesetzes suchen, und auch nicht mehr angesichts
der Vorstellung, dass Gott sich nicht um die Menschen
kümmern kann.
Außerdem wirft das Thema des „Schweigens Gottes“ zu den
Gräueltaten und Massakern der Moderne für diejenigen, die
glauben, dass das „Wort Gottes“ die heidnische Welt von
damals umgestaltet hat, weitere Fragen auf.
Angesichts einer neuen heidnischen Welt müssen die Christen
also danach fragen, was dieser „ontologische Unterschied“ ist,
diese „immerwährende Neuheit“, die wohlverstanden im
Evangelium begründet ist. Dadurch werden sie das Evangelium
in einem neuen Licht erscheinen lassen, und das wird diese
„neue Evangelisierung“ ermöglichen.
DER DOMHERR, Schriftsteller:
Das ist ja alles wunderschön... Aber wie soll ich für die große
Masse der Gläubigen über diesen „ontologischen Unterschied“
und diese „immerwährende Neuheit“ gegenüber der Welt
schreiben?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Ich weiß, das ist nicht einfach... Dazu muss zuerst die
religiöse Lage der heutigen Welt, nämlich das ethische
individualistische Heidentum, genau untersucht werden. Dann
muss man die evangelische Neuheit richtig verstehen: nämlich
die interpersonale Offenbarung und eine Ethik der
Gemeinschaft. Ich erkläre mich:
Die antike heidnische Welt befand sich in Unkenntnis der
biblischen und evangelischen Ethik und des Gottes, der sich
darin offenbart. Sie hat deren Verkündigung daher als eine
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
153
kulturelle Neuheit aufgenommen. Die moderne heidnische Welt,
die christianisiert gewesen ist, befindet sich in einer anderen
Lage. Sie hat von der evangelischen und biblischen Ethik, sowie
auch vom Gott Jesu Christi einige starke und mehrdeutige
Bilder beibehalten, die aus der Art und Weise herrühren, wie die
antike Welt diese aufgenommen hat. Diese Bilder überbringen
heute immer noch die evangelische Botschaft, aber sie verhüllen
auch das wahre Gesicht der Offenbarung Gottes in Jesus, und
den sich daran anschließenden wahren Sinn der biblischen
Ethik.
Und wenn die Christen sich nicht dazu durchringen können,
in ihrer Beziehung zur Welt den Zustand einer wachsweichen
Übereinstimmung hinter sich zu lassen, und dazu neigen, sich
mit den Werten der Welt zufriedenzugeben — oder sich ihnen
zu widersetzen, indem sie sie schlechtmachen —, dann bedeutet
das, dass sie selber, individuell und kollektiv, noch nicht die
letzte Eigenständigkeit des Evangeliums erreicht haben. Etwas
von der Botschaft Jesu entgeht ihnen noch. Irgendetwas an der
Offenbarung Gottes in Jesus haben wir immer noch nicht
wahrgenommen. Nicht, das Gott es verborgen hätte, was immer
es auch sei, aber wir haben zweifellos noch nicht „alles“ von
dem, was er uns gezeigt hat, gesehen, oder wenn wir es gesehen
haben, dann haben wir es nicht verstanden. Wir müssen also
einen „Sinn“ finden für das, was er uns bereits gezeigt hat, und
dieser Sinn muss mit den Tatsachen seiner Offenbarung
übereinstimmen.
Eine „neue Evangelisierung“ kann also nicht eine
Wiederholung der alten sein. Zu denken, dass die römische
Kirche mit diesem Wort soziale und politische Positionen der
Vergangenheit zurückerobern wollte, wäre, nebenbei gesagt,
eine sehr schlechte Deutung der Gedanken Johannes Pauls des
Zweiten. Nein. Es geht um einen neuen geistigen Dynamismus.
Dieser kann aber nicht eine Neuausgabe des religiösen Eifers
von damals sein. Denn tatsächlich befinden wir uns in einer
neuen heidnischen Welt; ich wiederhole, um nicht in
verkürzende Vereinfachungen zu verfallen: neu, denn es handelt
sich um eine christianisierte Welt, die nicht zum antiken
Heidentum zurückkehrt, sondern ihr „eigenes“ Heidentum
hervorbringt, also ein Heidentum, das besonders im Bereich der
moralischen Werte von seiner Christianisierung gezeichnet
bleibt. Damit eine neue Evangelisierung zustande kommt,
müssen die Christen sich der Welt mit einem klaren Bewusstsein
154
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
des in Jesus offenbarten „ontologischen Unterschieds“ zeigen.
Und dieses neue Bewusstsein kann nirgends sonst herkommen
als aus einem neuen Verständnis des Evangeliums. Verstehen
Sie mich gut: nicht aus einen neuen Evangelium. Und dieses
neue Verständnis des Evangeliums wird es dann auch sein, was
die neue christliche kulturelle Unterscheidung von der neuen
heidnischen Welt ausmachen wird. Diese neue christliche
Unterscheidung oder dieses neue Verständnis des Evangeliums
muss folglich die erste kulturelle Unterscheidung und das erste
Verständnis des Evangeliums übersteigen.
Denn tatsächlich trägt unsere neue heidnische Welt immer
noch das Zeichen der ersten Evangelisation, aber sie versteht es
nicht mehr als Übermittler der Offenbarung Gottes und ihrer
immerwährenden und radikalen Neuheit gegenüber der
Erfahrung des gegenwärtigen Lebens.
In der Kirche müsste man diesen neuen Unterschied in einem
neuen Selbstbewusstsein der Kirche teilen. Ein neues
Verständnis von Jesus und dem Evangelium würde
notwendigerweise ein neues Selbstverständnis der Kirche nach
sich ziehen.
Umgekehrt und damit eng zusammenhängend ist zu sagen,
dass es ohne ein neues Selbstverständnis der Kirche kein neues
Verständnis des Evangeliums gibt, und also auch keinen neuen
Unterschied von der Welt für eine neue Welt, und keine
Neuevangelisierung.
Ein neuer Weg zurück zu den Quellen setzt also ein neues,
vertieftes Verständnis derselben voraus. Es muss eine
Vertiefung sein, die unser Verständnis des Evangeliums
„erneuert“ und seinen Unterschied zu dem, was durch die erste
heidnische Welt, nämlich jene der griechischen Kultur, als
Evangelium dargestellt und vor allem „kulturell aufgenommen“
wurde, deutlich macht. Der Auftrag an die christlichen
Theologen lautet heutzutage: ein besseres Verständnis des
Evangeliums, für eine bessere Evangelisierung, um eine neue
missionarische Motivation hervorzurufen und den Menschen
eine Botschaft der Hoffnung zu verkünden.
DER PSYCHOANALYTIKER
Ich sehe, dass die Probleme der Theologie fast genauso
verwickelt sind wie jene der Psychoanalyse... und für die
Nichtspezialisten fast genauso verwirrend...
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Vereinzelt wird gelacht, manch einer bringt
zurückhaltender Weise sein Einverständnis zum Ausdruck...
155
in
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Dem stimme ich gerne zu... und ich denke sogar, dass es für
Nichtspezialisten weitaus schwieriger ist, mit diesen
philosophischen und theologischen Fragen vertraut zu werden,
als die verwickelten Intrigen des eigenen Unbewussten zu
entwirren...
DER DOMHERR
Dennoch ist „Glauben“ eine ganz einfache Angelegenheit.
Und Kinder glauben, ohne darüber nachdenken zu müssen...
DER ERSTE PHILOSOPH
Zum Glück... Auch wenn sie sprechen lernen, denken sie
nicht nach... Aber das befreit sie nicht davon, während langer
Schuljahre zu lernen, ihre Muttersprache fehlerfrei zu sprechen.
Wer opfert genauso viel Zeit, um zu lernen, fehlerfrei zu
„glauben“, wie die Kinder, um ihre Sprache zu lernen?
Außerdem laufen und fallen Kinder genauso natürlicherweise.
Damit will ich sagen, „gemäß der Natur der Dinge“. Aber sie
kennen das „Fallgesetz“ des Galilei und das newtonsche Gesetz
über die gegenseitige Anziehung zweier Körper noch nicht. Nun
könnten wir uns aber ohne die Kenntnis dieser Gesetze nicht mit
Satelliten ausrüsten, oder den Weltraum erobern und zum Mond
fliegen... Aber ganz spontan ziehen die Kinder aus ihren Fehlern
„Schlüsse“, die sie zu „verallgemeinern“ wissen, indem sie sie
auf andere, ähnliche Situationen anwenden.
Zudem verfügen Kinder auch über ein intuitives Gefühl für
die logischen Prinzipien der Identität, des Nicht-Widerspruchs
und für deduktives Denken, sowie auch für die ersten
moralischen Gesetze; und das alles, ohne bereits nachzudenken
und ohne systematisches Wissen darüber. Aber einzig durch
Studium werden sie lernen, dies als Normen ihres Denkens und
ihrer Handlungen zu erkennen.
DER DOMHERR, Schriftsteller:
Jedoch hat Jesus gesagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die
Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen“.
156
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE
DES GLAUBENSAKTES
DER ERSTE PHILOSOPH
Ganz ohne Zweifel, denn er beachtete ihre intellektuelle
Aufrichtigkeit und spontane Moral. Übrigens wendete er sich
damit an Erwachsene, und setzte voraus, dass sie wissen, was es
heißt, Kind zu sein, so dass sie den symbolischen Sinn seines
Vergleichs verstehen konnten. Nun ist aber nicht sicher, dass sie
es wussten... Denn wissen, was es heißt, Kind zu sein, besteht
nicht darin, sich als Kind aufzuführen oder kindisch zu sein.
Und außerdem gibt es mehrere Ebenen der Antwort auf diese
Frage, so, wie es auch mehrere Ebenen der Antwort auf die
Frage „Was heißt „glauben“’“ geben muss.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Könnten Sie uns über diese Frage ins Bild setzen? Dies
könnte vielleicht eine neue Perspektive eröffnen für dieses neue
Verständnis des Evangeliums, das für die Tätigkeit der Kirche in
der Zukunft absolut notwendig ist.
DER ERSTE PHILOSOPH
Es handelt sich um ein philosophisches Nachdenken über den
Glaubensakt. Nun öffnet mir die klassische Philosophie
allerdings keine neuen Perspektiven in diesem Bereich. Ich
würde es also vorziehen, dass mein Kollege redet. In diesem
Bereich scheint er mir weitaus einfallsreicher zu sein als ich...
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
Tatsächlich kenne ich keinen Philosophen, der sich wirklich
mit diesem Thema auseinandergesetzt hätte...
Würden Sie daher, geschätzter Kollege, für unsere nächste
Zusammenkunft einige Ideen zum Thema vorbereiten? Denn Sie
haben bereits mehr als einmal von der Notwendigkeit einer
reflexiven Analyse des glaubenden Bewusstseins gesprochen.
Ich persönlich wüsste gerne, worin sie besteht...
Für heute früh ist die Zeit bereits so gut wie abgelaufen.
Heute Nachmittag legen wir in Neapel an, und morgen gibt es
die Möglichkeit, die Ruinen von Pompei zu besichtigen, oder
etwas anderes, je nach Geschmack. Unser Gruppenleiter wird
uns sicherlich wiederum seine Kompetenz als Reiseleiter unter
Beweis stellen. Wir werden uns also übermorgen wieder treffen.
Was denken die Teilnehmer der Gruppe dazu?
Die meisten der Teilnehmer zeigen ihr Einverständnis.
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
157
DER ANDERE PHILOSOPH, indem er sich an seinen Kollegen
wendet:
Da sie mich nötigen, zwischen Archäologie in Pompei und
Philosophie zu wählen, werde ich die Philosophie wählen... Ihre
Fragen sind dringender, sogar in den Augen der „philosophia
perennis“, die Sie mit Bravour betreiben...
Die Archäologie kann warten... Sie ist daran gewöhnt... Ich
bin also einverstanden, für unsere nächste Zusammenkunft
einige Ideen über den Glauben zusammenzustellen.
DER MODERATOR, indem er sich an alle wendet:
Ich wünsche Ihnen heute Nachmittag viel Freude in Neapel,
und tiefe Eindrücke in Pompei und Herculanum, morgen...
VIERTE BEGEGNUNG
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
DER MODERATOR
Ich nehme an, dass Ihnen die Besichtigungen von Pompei und
Herculanum gefallen haben... Nach diesem Tag der
Entspannung, wenn man das so sagen darf, werden wir die
Zusammenkunft dieses Vormittags der Debatte um eine Analyse
des Glaubensaktes widmen... Ist eine derartige Analyse
möglich? Wer möchte sie? Wer lehnt sie ab? Was ist das Wesen
des Glaubens? Was sind seine Fehlformen? Warum glauben und
wie? Soll man glauben oder nicht? Und was soll man glauben
und wem? » Es fehlt nicht an Fragen! Wie bereits während der
letzten Tage, werden eure spontanen Fragen den Verlauf der
Diskussion bestimmen...
KEIN GLAUBE OHNE OFFENBARUNG, ODER KEINE OFFENBARUNG
OHNE GLAUBE?
DER DOMHERR
Eine vorausgehende Frage zum Gegenstand dieser Analyse!
Der Glaubensakt setzt eine Offenbarung Gottes voraus. Es ist
nicht möglich, zu glauben, wenn nichts offenbart wurde. Welche
Offenbarung werden Sie als Ausgangspunkt annehmen, die
muslimische oder die christliche?
DER EXEGET, indem er den Domherrn unterbricht:
Es gibt auch eine biblische Offenbarung, jene des antiken
Judentums, in der sowohl die evangelische Offenbarung als auch
die muslimische Religion ausgiebig schöpfen werden... und die
im zeitgenössischen Judentum weiterlebt...
160
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER DOMHERR fährt fort:
Zudem hat Herr Debruquel in der Gegenwart des
Arabischprofessors gesagt, dass Gabriel, wenn er Mohammed
irgendetwas zu offenbaren gehabt hätte, nichts anderes hätte
offenbaren können als das, was er, Gabriel, selbst ist, und die
Pläne, die er selbst mit Mohammed hat. Das scheint die
Möglichkeit einer Offenbarung durch Engel, wie etwa jene des
Engels an Maria in Nazareth, auszuschließen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Nun befinden wir also mitten im Thema, noch bevor wir es
angeschnitten haben! Ich antworte dem Herrn Kanonikus...
Die philosophische Analyse des glaubenden Bewusstseins ist
frei von jeglicher Verpflichtung, zwischen mehreren Offenbarungen zu wählen. Das glaubende Bewusstsein ist eine
primäre Gegebenheit. Seine Analyse hängt also nicht von dieser
oder eher jener Offenbarung ab. Sie setzt nicht einmal die
aktuelle Existenz einer sich von außen an das glaubende
Bewusstsein richtenden Offenbarung voraus. Dagegen setzt die
Anerkennung einer von außen kommenden Offenbarung unsere
aktuelle Glaubensfähigkeit voraus. Folglich, indem ich von
einem Apriori des Erkennens zur Ordnung des Seins übergehe,
kann ich sagen, dass die Möglichkeit, dass es für den Menschen
eine Offenbarung gibt, in ihm die aktuelle Glaubensfähigkeit
voraussetzt. Wenn es im Menschen keine aktuelle
Glaubensfähigkeit gäbe, dann gäbe es keine Möglichkeit einer
Offenbarung.
Machen Sie, Herr Kanonikus, den Bäumen in Ihrem Garten
Offenbarungen? Natürlich nicht! Und Gott ist genauso
vernünftig wie Sie! Sie wissen, dass die Bäume in Ihrem Garten
nicht fähig sind, Ihnen irgendeine Form von Glauben zu
schenken. Und sie können es nicht, denn sie sind unfähig,
Philosophie zu betreiben... Ein zum Philosophieren fähiger
Baum würde auch glauben können... Aber es wäre dann kein
„Baum“ mehr, es wäre ein Mensch... Und einem Menschen, der
konstitutiv unfähig ist zu glauben, würde Gott sich nicht
offenbaren... Es wäre eben kein „Mensch“ mehr.
DER DOMHERR
Sie verdrehen meine Frage durch einen unterhaltsamen
Vergleich und subtile Überlegungen... Dennoch wissen Sie, dass
es ohne die Existenz der Mathematiken keine Philosophien der
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
161
Mathematiken
gibt,
und
ohne die
Existenz
der
Naturwissenschaften keine Philosophie der Naturwissenschaften, und also ohne die Offenbarung keine Philosophie des
Glaubens.
DER ANDERE PHILOSOPH
Jetzt stellen Sie, Herr Kanonikus, eine andere Frage. Sie sind
von einer Frage, die mir von der reflexiven Philosophie
abzuhängen schien, zu einer epistemologisch-hermeneutischen
Frage übergegangen. Ohne die Geschichte gibt es keine
Geschichtsphilosophie; ohne die Geschichte der Naturwissenschaften keine Philosophie der Naturwissenschaften, oder
genauer gesagt keine epistemologische Hermeneutik der
Naturwissenschaften; ohne die Geschichte der Mathematiken
keine epistemologische Hermeneutik der Mathematiken. Damit
bin ich einverstanden.
Das läuft darauf hinaus, zu sagen, dass es ohne die
geschichtliche Existenz von Offenbarungen keine Epistemologie
dieser religiösen Offenbarungen gibt. Und im Besonderen keine
„christliche Theologie“ ohne die evangelische Offenbarung.
Damit bin ich vollkommen einverstanden. Sie sehen... Worte
können einen täuschen. Jedes von ihnen ist eine Maske, die in
mehreren Exemplaren existiert und über verschiedenen
Gesichtern gleich aussieht. Um zu wissen, mit wem man es zu
tun hat, muss man das anschauen, was die Maske umgibt, und so
das Gehaben und Auftreten der Person erkennen.
Der Begriff „Philosophie der Naturwissenschaften...“
bedeutet, dass man die Entwicklung der Naturwissenschaften
von einer bestimmten Metaphysik des Wirklichen und einer
bestimmten, möglicherweise durch einige Beispiele ihrer
Anwendung verdeutlichte Methodologie der wissenschaftlichen
Erkenntnis ausgehend „deutet“. Es gibt spiritualistische und
materialistische Deutungen der Naturwissenschaften. Das hängt
von der Seins- und Erkenntnisphilosophie ab, die sich der
Epistemologe (oder der Philosoph im weitesten Sinn) zu eigen
macht... Und genauso kann es verschiedene Theologien des
Evangeliums geben, je nach der für seine Deutung verwendeten
Metaphysik oder Philosophie.
In der logischen und methodologischen Reihenfolge geht die
Philosophie im eigentlichen, engeren Sinn, also die „reflexive“
Philosophie, den von ihr abhängenden „Anwendungen“ voraus,
162
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
insofern sie in der hermeneutischen Reihenfolge der
„Deutungen“ die Bezugsfunktion ist.
Da ich Ihre Frage auf der apriorischen Ebene der
metaphysischen Überlegung aufgefasst hatte, habe ich Ihnen
geantwortet, dass Gott, falls der Mensch konstitutiv
glaubensunfähig wäre, sich niemals herbeigelassen hätte, sich
ihm persönlich zu offenbaren. Und das ganz einfach deshalb,
weil ihm nicht ein „menschliches Wesen“ gegenüberstehen
würde.
Dagegen ist es, damit ich im Lauf meines Lebens tatsächlich
an eine Offenbarung glauben kann, nötig, dass ich vorher von
einer Offenbarung höre. Aber nicht die Unterweisung, die ich
über diese Offenbarung erhalte, macht mich glaubensfähig.
Damit ein Kind seine Muttersprache erlernt, muss es seine
Umgebung in dieser Sprache sprechen hören. Und doch macht
nicht das Geschwätz der Umgebung das Kind sprachfähig. Es ist
von Natur aus fähig, eine Sprache zu lernen, aber diese
Fähigkeit muss ausgeübt werden. Wenn es von Geburt an taub
ist, dann wird es die Zeichensprache lernen können.
Verallgemeinern wir diese Beispiele. Auf der aposteriorischen
Ebene der menschlichen Tätigkeiten muss es im Verlauf der
Geschichte eine Offenbarung geben, die sich vor den Menschen
als solche ausgibt, damit sie tatsächlich an eine Offenbarung
glauben können. Das zu sagen, ist schon fast eine Tautologie.
Sie können in ihrem Garten keine Bäume sehen, wenn es dort
keine Bäume gibt. Aber das Fehlen von Bäumen nimmt Ihnen
nicht die Sehfähigkeit.
Der Glaube eines Menschen an eine Offenbarung Gottes setzt
nicht nur die menschliche Glaubensfähigkeit voraus, sondern
auch die zumindest implizit vorhandene oder kollektiv
anerkannte philosophische Erkenntnis der Existenz Gottes, und
sogar das — oft imaginäre — Bewusstsein, dass Gott in sich
selbst die Fähigkeit hat, sich zu offenbaren. Auch das gestehe
ich Ihnen noch zu.
DER DOMHERR
Einverstanden! Ich stelle fest, dass ich die philosophische
Argumentation nicht so gut wie Sie beherrsche... Übrigens hat
man sie mir damals nicht gut genug beigebracht... Aber das ist
ein anderes Problem... Dennoch komme ich auf meine Aussage
zurück. Der Glaubensakt setzt die Offenbarung voraus, denn mit
der Offenbarung wird die Gnade des Glaubens gegeben. Der
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
163
Glaube ist ein Geschenk, das dazu dient, die bereits vollendete
Offenbarung anzunehmen.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Tatsächlich ist der Glaube ein „Geschenk“. Das bringe ich
den zukünftigen Priestern meines Bistums bei. Denn was sonst
erklärt, dass angesichts derselben Verkündigung des
Evangeliums die Einen glauben und die Anderen nicht? Dass die
Einen die Gnade, zu glauben, empfangen haben, und die
anderen nicht.
DER ANDRE PHILOSOPH
Ich weiß gar nicht, wo ich mit meiner Antwort beginnen
soll!... Fragen dieser Art enthalten dermaßen viele implizite und
unbemerkte Voraussetzungen... Irgendwie habe ich den
Eindruck, dass ich mit ihnen Verstecken spiele. Ich meine, sie
entdeckt zu haben... und beseitigt zu haben... aber da kommen
sie an einer anderen Stelle frisch fröhlich wieder zum
Vorschein.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Sie sprechen von Voraussetzungen... Es handelt sich aber
vielmehr um Vorurteile... und sie alle bezeugen ein
schwerwiegendes falsches Verständnis oder die Ignoranz des
natürlichen
Glaubensbewusstseins,
der
menschlichen
Glaubenschaft. Wenn man sowohl im Rahmen der klassischen
Philosophie seine Wirklichkeit als auch im Rahmen der
Theologie seine Natur ignoriert, ist man sehr wohl gezwungen,
auf Scheinerklärungen wie „der Glaube ist ein Geschenk“
zurückzugreifen. Und auf diese Erklärungen, die keine sind,
pfropfen
sich
empirische
oder
psychologische
Sinnveränderungen auf. Es ist nicht einfach, aus intellektuell
dermaßen verworrenen Situationen auszubrechen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Bitte erlauben Sie, Herr Kanonikus, dass ich die Aussage,
„der Glaube ist ein Geschenk“, im Augenblick im husserl’schen
Sinn „ausklammere“. Ich verspreche Ihnen, darauf
zurückzukommen. Das ist übrigens eine intellektuelle
Verpflichtung...
Kommen wir auf unsere Frage zurück. Ich fasse sie etwas
weiter... Was kommt zuerst: die Offenbarung, oder der Glaube?
164
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Ihr Standpunkt ist: Zuerst kommt die Offenbarung, dann der
Glaube.
Ihre Aussage ist wahr, wenn sie das kontingente Verhalten
eines Menschen in der Zeit betrachten, eines Menschen, der
entweder direkt durch einen Offenbarer oder indirekt durch
dessen Zeugen von der Offenbarung erfährt. Hier befinden wir
uns im Bereich der aposteriorischen Urteile, die eine
Erkennenstätigkeit betreffen.
Dieselbe Aussage ist im Bereich der apriorischen Urteile
falsch, wenn man die für ein erkennendes Subjekt bestehende
Möglichkeit, eine Botschaft oder etwas anderes als offenbart
anzuerkennen, ins Auge fasst. In diesem Fall kommt die
Fähigkeit, zu glauben, als Erstes, und die Offenbarung als
Zweites. Der Mensch wird eine „Mitteilung“ als offenbart
anerkennen, weil er konstitutiv glaubensfähig ist.
Ein weiteres Zeichen dieses logischen Vorrangs des
glaubenschaftlichen Bewusstseins ist die Möglichkeit der
glaubenschaftlichen Fehleinschätzung. Wenn sie sich irrt, ist
diese menschliche und natürliche Fähigkeit fähig, das, was nicht
Offenbarung ist, in eine „Offenbarung“ umzuformen, und damit
schwerwiegende Irrtümer zu begründen. Daher die
Notwendigkeit, eine Methodologie des glaubenschaftlichen
Bewusstseins auszuarbeiten, und seine Beziehungen zu den
anderen Erkenntnisarten gut festzulegen. So gelangen wir zu
einer dritten Hypothese, die nun als erste der ontologischen
Ebene angehört.
Das, was ich hier über den Glauben gesagt habe, insofern er
eine Erkenntnisart darstellt, gilt übrigens für alle Formen des
Glaubens.
DER DOMHERR
Ach! Es gibt mehrere Formen des Glaubens?... Das war mir
noch nicht bekannt...
DER ANDERE PHILOSOPH
Aber selbstverständlich! Die menschliche Glaubenschaft ist in
Übereinstimmung mit den ontologischen Beziehungen, die das
menschliche Sein bilden, strukturiert. Es gibt den theologischen
Glauben, von dem wir gerade sprechen, aber auch den Glauben,
den Ehepartner einander schenken, und die verschiedenen zur
Freundschaft gehörenden Arten von Glauben, und eine große
Vielzahl von „Glaubensarten“ im sozialen Leben. Ein richtiges
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
165
Verständnis des theologischen Glaubens setzt voraus, dass wir
seine Beziehungen zu den anderen Formen von Glauben
untersuchen.
DIE ANWÄLTIN
Dann sind wir also noch lange nicht am Ziel!... Aber wenn
wir dafür interessante Dinge lernen... zum Beispiel etwas über
den „Glauben im Eheleben“... warum nicht?
DER ANDERE PHILOSOPH
Zunächst muss nun bedacht werden, was auf der
ontologischen Ebene zuerst kommt: der Glaube oder die
Offenbarung?
Hier müssen zwei Gesichtspunkte ins Auge gefasst werden:
jener des glaubenden Menschen und jener des Gottes, der sich
offenbart.
Im Rahmen einer Ontologie der menschlichen Erkenntnis
steht das glaubenschaftliche Bewusstsein an erster Stelle.
Dessen Analyse wird uns erlauben, Kriterien zu gewinnen, um
grundsätzlich zwischen der Wahrheit und der Falschheit einer
Offenbarung zu unterscheiden. Diesen grundsätzlichen Kriterien
fügen sich dann jene zweitrangigen an, die aus dem Vergleich
resultieren, in dem die offenbarte Botschaft den durch andere
Erkenntnisformen, nämlich Philosophie und Naturwissenschaften, gewonnenen Wahrheiten gegenübergestellt wird.
Gehen wir noch weiter... Von Gott aus gesehen..., wenn das
erlaubt ist,... denn nun spreche ich nicht mehr, indem ich die
Bewusstseinstätigkeit des Menschen, insofern er ein
erkennendes Wesen ist, betrachte, sondern nun betrachte ich die
göttliche Tätigkeit in Bezug auf den Menschen... nicht, dass ich
mir anmaße, im innersten des göttlichen Bewusstseins zu lesen...
sondern ich halte mich an das, was ich aus der ontologischen
Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins, insofern es
geschaffen ist, ableiten kann.
Ein apriorisches Erkennen dieser Veranlagungen setzt voraus,
dass man für sie nicht in einer in der Geschichte
abgeschlossenen Offenbarung nach logischen Begründungen
sucht, selbst wenn man davon a posteriori, durch Bildung,
Kenntnis hat. Auf eine aposteriorische Erkenntnis kann man
keine Aussage als notwendig und apriorisch begründen.
Umgekehrt kann man aber aus der inneren Struktur der
Glaubenschaft des Bewusstseins herauslesen, dass ihr in der
166
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
bleibenden Ordnung der Schöpfung selbst eine Offenbarung
gegeben ist.
Weiterhin kann man aus der Entwicklung des theologischen
glaubenschaftlichen Bewusstseins in Funktion der von der
philosophischen Überlegung ausgearbeiteten Gottesvorstellung
herauslesen, dass eine transzendente Offenbarung in der
Geschichte möglich ist. Das „Verlangen nach einem Wort
Gottes“ gründet auf einer derartigen Entwicklung des
glaubenden Bewusstseins.
Die biblische „messianische Erwartung“ ist eine
geschichtliche Form davon. Sie ist eine aposteriorische Form der
von der Vernunft erleuchteten Glaubenschaft. Das
glaubenschaftliche Bewusstsein hat die Pflicht, sich richtig zu
entwickeln, in Übereinstimmung mit seiner Seinsverfasstheit.
Um das zu wissen, muss man auch hier auf die transzendentale
Metaphysik zurückgreifen.
Eine letzter Schluss: Wenn Gott den Menschen als
Glaubenden und theologisch Glaubenden erschaffen hat, dann
deshalb, weil es sein Plan war, sich ihm in Fülle zu offenbaren,
und nicht nur im Spiegel seiner Schöpfung. Ich hoffe, Herr
Kanonikus, dass ich damit Ihre wichtigste Frage beantwortet
habe.
Zu dem, was ich über Gabriel gesagt habe, und woran Sie nun
erinnert haben, ist hinzuzufügen, dass es eine Anwendung eines
Wesensmerkmals eines jeden Offenbarungsverhaltens auf diese
Engelsgestalt war, nämlich dass der Offenbarer sich selbst
offenbart, und nichts außer sich selbst und der Beziehung, die er
zu jenem hat, der ihm Glauben schenken wird. Ich persönlich
ziehe es vor, daraus zu schließen, dass Gott, wenn er sich
offenbart, es unmittelbar tun muss, denn die Offenbarung ist das
Wesen selbst seines göttlichen Seins. Aber darauf werden wir
sicherlich noch zurückkommen.
Und was die Gestalt Gabriels angeht: Ist sie mehr als eine
Einbildung, die einige Aspekte jener Beziehung personifiziert,
in der sich die Menschen Gott gegenüber sehen? Es ist die
Symbolik des Boten des „Großen Königs“, des persischen
„Basilëus“, dem sich das gemeine Volk nicht nähern darf... Ein
volkstümliches, etwas kindliches Erklärungsmuster für die
Transzendenz Gottes... Aber in Anbetracht seiner Absicht ist es
dennoch sehr beachtenswert... Behalten wir also diese Absicht,
und beseitigen wir die Einbildung, um uns der Wirklichkeit
besser und mit mehr Licht zu nähern. Sie ist in der Tat viel
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
167
schöner. Der Philosoph, der ich bin, ist ihr in der
Fleischwerdung des Wortes begegnet und glaubt daran.
DER MODERATOR
Sie schließen mit einer persönlichen Stellungnahme. Das
zeigt, dass Ihre philosophische Genauigkeit Sie sehr weit
bringen kann, ohne dass Sie eines wunderbaren
Phantasiegebildes bedürfen würden.
DER DOMHERR
Ich danke Ihnen für Ihre Antwort. Aber ich bleibe unsicher...
Meine geistlichen Begleiter pflegten zu sagen, dass Zweifel vom
Teufel kommt... Ich scherze ein wenig... Aber wenn Sie die
ganze Philosophie ändern, dann ändern Sie auch die ganze
Theologie...
DER ANDERE PHILOSOPH
Zweifellos, aber ich ändere nicht die Offenbarung. Im
Gegenteil. Dank einer besseren Philosophie wird sie
verständlicher.
DER DOMHERR
Da müsste man also ein kleines Wörterbuch haben, um die
nach der alten Philosophie verstandene Offenbarung zu
entschlüsseln und sie nach einer glaubenschaftlichen
Philosophie neu zu verschlüsseln.
DER ANDERE PHILOSOPH
Nein, nein!... Bitte verwenden Sie nicht diesen Begriff. Es
gibt keine glaubenschaftliche Philosophie und kann sie nicht
geben. Es gibt eine Philosophie der Glaubenschaft des
Bewusstseins. Und diese ist eine reflexive, ausschließlich
rationale Philosophie. Den Theologen sollte man für die Zukunft
wünschen, dass sie über eine ganzheitliche, reflexive
Philosophie verfügen, die methodologisch von jeglichem Bezug
auf eine Offenbarung unabhängig ist.
Auf der Ebene des Bewusstseins wird sie dessen
glaubenschaftliche Dimension integriert haben, und auf der
ontologischen Ebene wird sie verstanden haben, dass die
interpersonale Beziehung eine Vollkommenheitsbeziehung des
Seins ist. Sie wird auch festgestellt haben, dass die Einheit des
Seins in Gott nicht eine „Einheit der Ungeteiltheit“ ist. Letztere
168
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
ist ein Abklatsch des mathematischen Einheitsbegriffs. Die
Einheit des Seins Gottes ist eine lebendige interpersonale
Einheit der Seinsmitteilung.
Diese relationale Philosophie, die neu, aber weitaus genauer
als die klassische Philosophie ist, kann als einzige dem Verstand
das Verstehen von zwei zentralen Wahrheiten des Christentums
ermöglichen: die Fleischwerdung des Wortes und die
interpersonale trinitarische Struktur Gottes. Der Mensch wird
mit Würde sagen können: Ich verstehe, dass dies die
transzendente Offenbarung ist, die dem entspricht, was in
meinem geschaffenen Glaubensbewusstsein vorgegeben ist.
Daher glaube ich fest daran. Der Kampf um das Verstehen des
Glaubens wird in der Philosophie ausgetragen.
DER MODERATOR
Ich stelle fest, dass Sie Ihre Verteidigungsrede sehr gut halten,
und gleichzeitig Ihre philosophischen Thesen darlegen...
Die vom Herrn Kanonikus aufgebrachte Idee eines
Wörterbuches sollte beibehalten werden: die Beziehungen
zwischen Vernunft und Glaube nach der klassischen Sichtweise
und nach einer relationalen Sichtweise so, wie Sie es empfehlen,
einander gegenüberzustellen. Was halten Sie davon?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Die Idee ist nicht schlecht... Aber meiner Ansicht nach besteht
zwischen den beiden Systemen keine biunivoke Entsprechung.
Ich denke, wir sollten im Augenblick keinen zu großen Ehrgeiz
zeigen, und stattdessen noch eine gewisse Anzahl von Begriffen
klären. Wir haben gerade gesehen, dass begriffliche
Unklarheiten uns vom Thema abbringen. Natürlich sind es
interessante Abschweifungen, aber gelegentlich ist es schwierig,
ihnen zu folgen. Außerdem können sie uns zu schnell und zu
weit vom Thema abbringen...
DIE KONSTITUTIVE GLAUBENSCHAFTLICHKEIT IN IHREN
WESENTLICHEN FORMEN
DER ANDERE PHILOSOPH
In der Tat! Ich habe in meinen Antworten gelegentlich zu
fortgeschrittene Standpunkte eingenommen, ohne alle Schritte
des Beweises auszuführen. Ich gehe daher einige Punkte
nochmals durch...
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
169
Zuerst müssen wir jene Bedeutungen des Begriffs « glauben »
ausschließen, die nicht in den Zusammenhang unseres Themas
gehören, aber in unsere Diskussion hineinspielen. Daher möchte
ich die begriffliche Unterscheidung, die Sie gegen Ende unserer
letzten Zusammenkunft machten, mit einer kleinen Änderung
nochmals aufgreifen. Es ist die Unterscheidung zwischen dem
psychologischen und dem theologischen Sinn des Begriffs
« Glaube ».
In der Umgangssprache drückt nämlich der Begriff „glauben“
— je nach Kontext — zwei psychische Haltungen von
„Gewissheit“ aus, die sich graduell in zwei unvereinbare
Extreme aufteilen.
Bisweilen kann „glauben“ bedeuten, dass man nicht wirklich
„weiß“, dass man lediglich eine „Meinung“ hat, dass unsere
Gewissheiten nicht absolut sind, oder dass wir nicht durch eine
Äußerung Stellung beziehen wollen. Bisweilen kann „glauben“
genau das Gegenteil bedeuten: dass wir wirklich überzeugt sind
von dem, was wir behaupten, und dass wir aus abgesicherten
Urteilen die nötigen Konsequenzen für unser Handeln ziehen.
Dies sind die psychologischen Bedeutungen, von denen Sie
sprachen, als sie sagten, dass die ersten Christen an ihren
„Glauben“ „glaubten“, während heutzutage zu viele Christen
nur noch schwach an ihren „Glauben“ „glauben“.
Die Glaubensüberzeugung kann tatsächlich mehr oder
weniger lebhaft sein. Wer mit Inbrunst betet: „Herr, ich glaube,
aber mehre meinen Glauben“, der ist sich wahrscheinlich der
Verwirrungen, die in dieser Bitte stecken können, nicht
bewusst... Es könnte sich um das Verlangen nach größerem
Eifer in einem möglicherweise irrigen Glauben handeln... Etwa
so, als ob man sich einen größeren Appetit wünscht, um ein
giftiges Pilzgericht zu essen... Es wäre besser, sich ein vertieftes
Verständnis des Glaubens an den, der sich offenbart, zu
wünschen..., und diesen Wunsch ins Gebet zu fassen. Der Eifer
wäre dann besser eingeordnet... und gleichzeitig gefestigt...
Die beiden psychologischen Bedeutungen des Begriffs
„glauben“ bezeichnen die minimale und maximale Intensität
unserer Gewissheiten, und gehören nicht zum Wesen des
Glaubensaktes. Ihre Erforschung lässt uns nicht verstehen, was
der Glaube ist. Denn gemäß diesen psychologischen
Bedeutungen kann das Verb „glauben“ mit verschiedenen
Vollzügen des Bewusstseins in Verbindung gebracht werden.
Wenn es zum Beispiel auf philosophische Aussagen bezogen
170
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
wird, drückt es die dem „reflexiven Bewusstsein“ eigene
Gewissheit aus, mit der letzteres überzeugt oder unsicher ist. Ein
Forscher kann seinen Experimenten „Glauben schenken“ oder
auch nicht... Ein Unternehmer kann an den Erfolg seines
Projekts „glauben“ oder auch nicht...
Aber weitaus häufiger bezeichnet das Verb „glauben“ — und
das vor allem dann, wenn es im Sinn einer starken, und nicht
einer schwachen Überzeugung gebraucht wird — solche
Wahrheiten, die den „Glauben des Subjekts (oder mehrerer
Subjekte gemeinsam) an jemanden“ aussagen. Es wird also mit
einem Denkvorgang, der sich von jenen der Naturwissenschaft
oder der Philosophie unterscheidet, in Zusammenhang gebracht.
Es
drückt
dann
die
eigentliche
Tätigkeit
des
„glaubenschaftlichen Bewusstseins“ aus, insofern diese eher
eifrig ist als lau. In einem eigentlichen und methodologischen
Sinn, den ich „glaubenschaftlich“ nenne, bezeichnet das Verb
„glauben“ diese Haltung, diese Verhaltensweise, diese
besondere Be-wegung des persönlichen Bewusstseins in seinem
„Glauben an jemanden“.
Der Begriff „Glaube“ kann seinerseits sowohl die direkte
gelebte Glaubensbeziehung zu jemandem bezeichnen, wobei der
Glaube eifrig oder lau sein kann, als auch die Erklärung - in
einer „zweiten und reflexen“ Redeweise - dessen, was diese
gelebte Beziehung ist und impliziert. — Hier sage ich nicht
„reflexiv“, denn der Begriff „reflexiv“ wird auch auf das „erste
und unmittelbare Bewusstsein“ angewendet. — Diese Erklärung
des Glaubens wird innerhalb der Religionen durch die mehr oder
weniger genaue Formulierung eines „Lehrgebäudes“, also durch
„Glaubensartikel“ erbracht, weil in diesem Fall mehrere
Glaubende die Glaubensbeziehung zu einem göttlichen Sein
gemeinsam haben, und diese als solche den Mitgliedern dieser
Gruppe von Glaubenden auferlegt werden muss. Es handelt sich
also um das, was wir die „Lehre des Glaubens“ nennen: die
christliche Lehre vom christlichen Glauben; die katholische
Lehre vom katholischen Glauben; die jüdische Lehre vom
jüdischen Glauben; die muslimische Lehre vom muslimischen
Glauben. Die Ausdrucksweisen der „Glaubenslehre“ der
verschiedenen Religionen sind unterschiedlich, aber jede
Religion kennt eine „Glaubenslehre“, auch wenn sie nicht so
genannt oder sogar abgelehnt wird, wie etwa im Judentum.
DIE HISTORIKERIN
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
171
Um die Frage nach dem Glauben zu klären, haben Sie jetzt
schon mehrmals einen Begriff gebraucht, der uns nicht geläufig
ist. Ich habe ihn in dieser Woche, in unseren letzten
Zusammenkünften, zum ersten Mal gehört. Ich meine, dass das
Adjektiv „glaubenschaftlich“ dem Begriff „theologischer
Glaube“ aus dem Wortschatz der Theologen entspricht. Ich
verstehe natürlich, dass ein Begriff, der in der Diskussion
Klarheit schaffen soll, uns nicht sofort geläufig ist. Wenn wir
ihn vorher schon gekannt hätten, dann wäre zweifellos nicht so
viel Bemühung um Klarheit notwendig gewesen... Aber würden
Sie uns trotzdem besser mit seinem Sinn vertraut machen, und
uns seine „Klarheit“ auch psychologisch näher bringen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Mit Vergnügen! Sagen wir, dass der theologische Glaube eine
Form der menschlichen Glaubenschaft ist, also der Fähigkeit,
das Glauben auszuüben, die wiederum wesentlich zum
menschlichen Bewusstsein gehört. Sie ist nicht die einzige
dieser Formen. Es gibt auch den „Glauben im Eheleben“ und
den „Glauben in der Gesellschaft“. Vor einigen Augenblicken
habe ich sie erwähnt, und der Herr Kanonikus war darüber sehr
erstaunt... Wir werden darauf zurückkommen... auf die
verschiedenen Formen der Glaubenschaft..., nicht auf das
Erstaunen des Herrn Kanonikus!... Aber zuerst werde ich den
Begriff erklären.
Obwohl Glaubenserkenntnis von ganz anderer Art ist als die
anderen Erkenntnisweisen, kann man, um die Begriffe zu klären,
zwischen den vom Verb « wissen » abgeleiteten Wörtern, und
dem Verb « glauben », eine Parallele finden. Wir haben die
Substantive « das Wissen », und « der Glaube », die beide
sowohl das Objekt als auch das Ergebnis der durch die
jeweiligen Verben bezeichneten Tätigkeit darstellen.
Nun können wir das von diesen Verben vorausgesetzte
Vermögen und die ebenfalls vorausgesetzte Tätigkeit ins Auge
fassen: die « wissenschaftliche Erkenntnis », also « die
Wissenschaft », und die glaubenschaftliche Erkenntnis oder
Glaubenschaft. Und genauso, wie das Wort « Wissenschaft »
dann die Gesamtheit der verschiedenen « Wissenschaften »
bezeichnen kann, so kann das Wort « Glaubenschaft » die
Gesamtheit der verschiedenen Formen von « Glaubenschaften »
bezeichnen.
172
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Und schließlich können wir die spezifischen und methodisch
bezeichnenden Eigenschaften dieser « Bewusstseinsvorgänge »
oder « Erkenntnisweisen » mit weiter gefassten Begriffen, wie
„Wissenschaftlichkeit“ und „Glaubenschaftlichkeit“ bezeichnen.
Die Adjektive « wissenschaftlich » und « glaubenschaftlich »
lenken unsere Aufmerksamkeit auch auf die methodischen und
rationalen Anforderungen, die grundsätzlich an unsere
Wissensweisen und „Glaubenszustimmungen“ gestellt sind,
insofern diese Anforderungen ihrerseits in den notwendigen
Grundeigenschaften unseres interpersonalen menschlichen
Bewusstseins begründet sind.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Warum bilden Sie mit einem Wortstamm, der übrigens sehr
viele Bedeutungen hat, ein neues Wort? Und dann gleich drei:
Glaubenschaft, glaubenschaftlich, Glaubenschaftlichkeit?
Aber ich meine, Sie gebrauchen das Wort „glaubenschaftlich“
nicht der Absicht, unverständlich zu sein, denn Sie wollen ja
durch diese Begriffe eine klassische Analyse, die Sie für
unzureichend halten, ins rechte Licht rücken.
DER ANDERE PHILOSOPH
Sie sagen es: Es geht mir nicht um eine komplizierte und
schwerverständliche Ausdrucksweise. Und genauso wenig mag
ich Vereinfachungen, die anscheinend klar sind, weil sie uns,
leider, vertraut sind. Sie machen die Komplexität der Dinge wirr
und unklar, anstatt Licht auf sie zu werfen. Sagen wir also, dass
ich hoffe, dass der Gebrauch eines neuen Wortes und der von
ihm abgeleiteten Worte es uns ermöglichen wird, mit der
Untersuchung dieser „Glaubenstätigkeit“, die wesentlich zur
menschlichen Natur gehört, fortzufahren, ohne uns durch die
Grenzen der klassischen Vernunft einschränken zu lassen. Ich
hoffe, dass diese Begriffe, wenn sie auch neu sind, es uns doch
ermöglichen werden, die volle Tragweite unserer menschlichen
Existenz zu erfassen. Einiges davon wurde in der klassischen
Tradition leider aus verschiedenen philosophischen, sozialen,
religiösen, psychologischen und gefühlsbedingten Gründen
„abgeblockt“.
DER DOMHERR
Da wir gerade vom „Wortschatz“ reden, möchte ich hier
meine Bemerkung anbringen. Ich höre die folgenden
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
173
Ausdrücke:
„Glaubenstrieb“,
„Glaubenstätigkeit
oder
Glaubensvollzug“, der wesentlich zur menschlichen Natur
gehört...“! Sie gebrauchen diese oder ähnliche Formulierungen
öfters. Aber Sie erklären nicht, welche Wirklichkeit mit dieser
Formulierung
gemeint
ist...
Sie
sehen,
das
ist
unzufriedenstellend...
DER ANDERE PHILOSOPH
Wenn es nur von mir abhängen würde, dann hätte ich Sie
schon lange mit einem gehörigen „roten Gericht“, „von dem
Roten da“ abserviert, nämlich mit einem „Linsengericht“, wie
Jakob in der Bibel seinen erstgeborenen Bruder Esau... (Gen. 25,
30)
DER DOMHERR
Das ist allerhand!
DER ANDERE PHILOSOPH
Mit diesen Wortschöpfungen will ich die Wirklichkeit einer
menschlichen Person bezeichnen, die sich in einer authentischen
Glaubenstätigkeit befindet, indem sie in Übereinstimmung mit
den konstitutiven Anforderungen ihrer geistigen Natur „glaubt“.
Der Mensch „glaubt“ unter drei Bedingungen authentisch.
Erstens, wenn er ein, wenn möglich reflexives, Bewusstsein des
„Warum und Wie“ der Glaubenszusage besitzt; zweitens und
folglich,
wenn
er
die
Offenbarung,
die
seine
Glaubenszustimmung anregt, kritisch versteht; und drittens,
wenn er in einer spezifischen Dimension seiner persönlichen
Freiheit aufblüht, die durch die freie Selbsthingabe des
Offenbarers an ihn ermöglicht wurde. Das alles fasse ich
zusammen, indem ich sage, dass der Mensch sich als
„glaubenschaftliches Seiendes“ verwirklichen muss.
Und um auch noch den letzten Schritt zu wagen, würde ich
sagen, dass diese glaubenschaftliche Dimension des Seins des
Menschen eine „einfache Vollkommenheit“ ist, und dass sie in
Gott selbst gründet.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Schlagen Sie dann also vor, dass auch die Beziehungen in
Gott von glaubenschaftlicher Art sind? Das ist mir sehr... Es
verschlägt mir die Sprache...
174
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja..., aber für den Augenblick hätte ich mich nicht nochmals
diesem Punkt nähern sollen... Spannen wir nicht den Wagen vor
die Ochsen... und bleiben wir für den Augenblick beim
„Wortschatz“ und seiner Begründung...
Wir werden von der „Glaubenschaftlichkeit des menschlichen
Bewusstseins“, von „glaubenschaftlicher Freiheit“, vom „sich
demjenigen, der sich uns offenbart, anverglaubenschaftlichen“,
von der „glaubenschaftlichen Verbindung zwischen dem
Offenbarer und dem Glaubenden“ und von der
„glaubenschaftlichen Struktur der Existenz“ sprechen.
Wir werden sogar vom „glaubenschaftlich Glaubenden“ und
vom „glaubenschaftlich glauben“ sprechen, obwohl wir wissen,
dass diese beiden Ausdrücke Pleonasmen wären, wenn die
Worte „Glaubender“ und „glauben“ in ihrer vollen reflexiven
Verständlichkeit aufgefasst würden. Aber sie werden es nicht...
Der Begriff „glaubenschaftlich Glaubender“ wird also
gleichbedeutend sein mit „authentisch Glaubender“, aber er wird
den Vorteil haben, die Beschaffenheit dieser Authentizität
genauer auszudrücken.
Wenn wir so sprechen, dann nicht, um die traditionellen
Lösungen auf die Fragen, die die menschlich-religiöse Tatsache,
glauben zu können und tatsächlich zu glauben, aufwirft, wieder
aufzugreifen. Und diese Fragen drängen sich umso mehr auf,
wenn diese Glaubensfähigkeit sich einerseits ungeschickt und
stotternd verwirklicht, und sich andererseits sogar — leider! —
in unwürdigen Lehren und Verhaltensweisen pervertiert. Hierin
liegt eine Form des Bösen, und vielleicht befinden wir uns hier
sogar an der Wurzel des Bösen... Und was, wenn sich die
Wurzel des Bösen im Bereich des Glaubens festsetzt!... in der
glaubenschaftlichen Beziehung!...
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
Ich muss feststellen, dass viele von Ihnen durch ihre Fragen
die Diskussion weitaus schneller haben voranschreiten lassen,
als ich dachte,... oder zumindest unseren Philosophen dazu
gebracht haben, so gründlich vorzugehen, dass unsere
Voraussetzungen bei weitem überboten sind...
Ich persönlich schlage nochmals vor, — aber ich will
niemanden dazu zwingen — dass wir die klassische Auffassung
von der Beziehung zwischen Vernunft und Glaube auf den
Punkt bringen. Das soll uns helfen, besser Stellung zu beziehen
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
175
in der Konfrontation zwischen einer klassischen Philosophie,
also einer Philosophie der auf sich selbst ausgerichteten
Substanz, und einer interpersonalen Philosophie, also einer
Philosophie der Beziehung zwischen geistigen Substanzen...
wenn Sie es mir, einem Historiker, erlauben, mich so
auszudrücken... Dies ist meine Art und Weise, die vom Herrn
Kanonikus aufgebrachte Idee eines Wörterbuches wieder
aufzugreifen, allerdings unter Berücksichtigung der durch
unseren Theologen beigebrachten Einschränkung.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich verstehe Ihre Frage... Ich werde daher die Beschreibung
der inneren Haltung des Glaubenden, von dem wir bereits viel
gesprochen haben, zusammenfassen. Er stellt den Glauben über
die Vernunft. Da der Glaube nicht zur Natur des Menschen
gehört, muss er ihn zusammen mit der Offenbarung von Gott
empfangen. Der Glaube ist für ihn eine „Gnade“. Hier tappen
wir im Dunkeln. Ich habe dem Herrn Kanonikus versprochen,
auf die letzte Aussage zurückzukommen: „Der Glaube ist eine
Gnade“.
Man muss auch die entgegengesetzte innere Haltung des
Rationalisten in Betracht ziehen, der den Glauben der Vernunft
unterordnet, insofern es sich um irrationale Überzeugungen
handelt. Paradoxerweise stimmt dieser Rationalist mit dem
religiös Glaubenden darin überein, der „Vernunft das natürliche
Glaubensvermögen abzusprechen“. Tut man der Vernunft
dadurch eine Ehre an, dass man sie eines Vermögens beraubt,
das für sie genauso natürlich ist wie das Atmen für einen
lebendigen Organismus?
Beide inneren Haltungen sind bezeichnend für die klassischen
Substanzphilosophien, deren Ontologie sich auf das
ausschließlich in seiner Individualität betrachtete individuell
Seiende beschränkt. Für diese Philosophien ist die Beziehung zu
anderen Substanzen nur ein Akzidenz, das auf die Substanzen
aufgepfropft ist und für ihre Wesenheit, die unter dem
Gesichtspunkt der Vollkommenheit betrachtet wird, in keiner
Weise konstitutiv ist.
DIE ANWÄLTIN
Jetzt reden Sie unter Philosophen... und man hat den
Eindruck, dass Sie es genießen, einander zu verstehen. Aber
wir... die Normalsterblichen!... Wir fragen uns, ob diese
176
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
unterschiedlichen Haltungen auch für uns, in gewöhnlichen und
alltäglichen Fragen, Bemerkungen oder Verhaltensweisen,
zugänglich sein können.
DER ANDERE PHILOSOPH
Zum Beispiel, indem man sich vor Augen führt, dass man
nicht gleichzeitig wissen und glauben kann; dass Wissen und
Glauben sich nicht in einem einzigen Bewusstseinsakt vereinen
lassen. Und noch mehr: Um „über das hinauszugelangen“, was
man wissen kann, muss man glauben. „Um klug zu werden,
muss man dem Lehrer in der Schule gut zuhören...“, sagen die
Mütter ihren Kindern. Ein weiser Rat, der aber oft irreführend
wirkt… Oder noch anders gesagt: dass man aufhört, zu glauben,
sobald man zum Wissen gelangt, wie das gewisse Sekten für
sich beanspruchen, die man daher als „gnostisch“ bezeichnet,
falls dies nicht wiederum ein unberechtigter Vorwurf der
„Orthodoxen“ an diese Sekten ist. Oder noch anders gesagt: dass
jemand, der gesehen hat, nicht mehr glaubt. Dazu formt man
einen halben Vers des Johannesevangeliums: „Selig sind die, die
nicht sehen, und doch glauben“ in eine Redewendung um, die
genau das Gegenteil des aus seinem Kontext heraus
verstandenen Verses besagt. Denn genau davor sagt Jesus: „Du
hast geglaubt, weil du mich gesehen hast“, was besagt, dass das
Wissen den Glauben nicht unmöglich macht...
Und noch eine weitere Meinung, die Unkenntnis bezüglich
des Wesens des Glaubens verrät: zu meinen, dass Glaube sich in
der Vollkommenheit einer Liebesbeziehung auflöst. Im Bereich
des Menschlichen wäre „Glaube“ die Tugend der „Verlobten“,
aber er würde sich in der ehelichen Liebe auflösen. Und viele
Christen meinen, dass sie jetzt „im Glauben“ an Gott leben, aber
dass sie nach dem Tod das „sehen“ werden, woran sie geglaubt
haben. Nach dem Tod wird der Glaube überholt sein... In diesem
Sinn legt man das Lob des Paulus auf die Liebe aus, im ersten
Korintherbrief, Kapitel 13. Man macht aus dem Glauben eine
Art begrenzte und verworrene Erkenntnis, wie durch einen
Spiegel... Aber wenn nach dem Tod die Vollkommenheit
erreicht wird, wird das, was begrenzt ist, abgeschafft,
wohingegen die Liebe niemals verlöscht.
DIE KRANKENSCHWESTER, die in einem Zentrum für
Palliativmedizin arbeitet:
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
177
In der Tat helfen Sie mir, dass ich mir nun dieser
Ausdrucksweisen bewusst werde... Ich höre sie oft bei jenen
unserer Patienten, die auf das Ende ihres Lebens zugehen... Ich
bemerkte die Unzulänglichkeit dieser Ausdrucksweisen bis
anhin nicht... Aber ich denke auch, dass die in diesen
Ausdrucksweisen enthaltenen Unbeholfenheiten oder Fehler
unsere Sterbenden weniger beunruhigen als die Ungewissheiten
und Ängste vor dem Jenseits... Derweil denke ich doch, dass
Letztere an eine falsche Auffassung vom Glauben an Gott
gebunden sind... Wer an einen Richtergott glaubt, hat
Schwierigkeiten, gefasst zu bleiben, und die Erwähnung des
Erbarmens Gottes ist selbst oft nichts anderes als eine palliative
Maßnahme... Verzeihen Sie, aber die konkreten Erfahrungen des
Lebens sind manchmal grausam...
DER MODERATOR, nach einer kurzen Weile des Schweigens...
Ihr Beitrag, meine Dame, lässt mehrere Ideen in mir
aufkommen: dass zwischen einer angenehm verlaufenden
Diskussion wie dieser hier und den existentiellen Leiden eine
Distanz besteht; dass der Reifungsprozess unserer
Glaubensbeziehungen im Laufe des Lebens zum Stillstand
kommt oder gänzlich fehlt; und schlussendlich, dass unsere
derzeitige Diskussion für die Weiterentwicklung der
Denkweisen und die Vertiefung unseres Verständnisses der
Offenbarung und des Glaubens notwendig ist. Ich hoffe, dass
unsere Diskussion Ihnen Wege zeigt, Ihren Patienten noch
besser zu helfen...
DER EXEGET
Trotz aller Bemühungen der Exegese um eine richtige
Erklärung der Texte muss ich feststellen, dass viele irrige
Auslegungen bestehen bleiben. Warum? Gewiss, die Texte sind
nicht immer klar und einfach verständlich... Und nicht alles, was
man dort liest, ist ewige Wahrheit, manchmal ganz einfach nicht
einmal Wahrheit...
Aber deswegen sind diese Texte noch lange nicht für die
systematischen Verzerrungen, denen sie unterliegen,
verantwortlich. Vielmehr muss es im Denken der Leser,
vielleicht auch der Exegeten, irreführende Schemen geben,
unbewusste Prozesse der Verfälschung, die zu Fehldeutungen
der Botschaft führen, oder sogar zu sinnlosen Aussagen oder zu
mehr oder weniger wilden Phantasien...
178
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER MODERATOR
Das Aufspüren dieser Irrwege geht über das Studium der
Texte selber hinaus und ist eher Sache der Psychoanalyse oder
der philosophischen Kritik.
DIE TRADITIONELLERWEISE ANERKANNTEN ERKENNTNISFORMEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich schließe mich der Diagnose, die Sie als Exeget gestellt
haben, an. Und dabei muss man sogar bedenken, dass man diese
« irreführenden Schemen » sogar in den Texten selbst antreffen
kann. Ihre Autoren waren nämlich tatsächlich einfach nur
Menschen, und sie waren nicht automatisch vor den Schwächen
ihrer eigenen menschlichen Intelligenz bewahrt. Um diese
Schwächen ausfindig zu machen und sich vor ihnen zu schützen,
braucht man zunächst eine klare Vorstellung von der
menschlichen Erkenntnis an sich und von den Regeln des
« richtigen Erkennens ».
Wenn man von „Erkenntnis“ spricht, denken die Leute
spontan und an erster Stelle an die Erkenntnis der Welt der
Dinge und der Körper: also zuerst an die empirische Erkenntnis,
die sich bemüht, unsere sinnlichen Wahrnehmungen der äußeren
Welt so genau wie möglich zu beschreiben, und dann an die
methodologisch erarbeitete wissenschaftliche Erkenntnis, die
sich in allen modernen Wissenschaften von der unbelebten und
von der belebten Materie, und in den Humanwissenschaften der
beobachtbaren menschlichen Verhaltensweisen verwirklicht.
Nach dieser Form von „objektiver“ und experimenteller
Erkenntnis, deren technische Anwendungen uns eindrücklich
und großartig vor Augen stehen, nehmen die Leute in zweiter
Linie die Existenz einer „formalen Erkenntnis“ an, nämlich die
Logik und Mathematik, und an dritter Stelle die „philosophische
Erkenntnis“. Letztere ist wesentlich reflexiv. Wir versuchen
unablässig, uns selbst als „Subjekte unserer Akte“ zu erkennen,
und daher auch als Subjekte und Urheber unseres objektiven und
formalen Wissens. Aber gibt es nicht auch noch...
DER ERSTE PHILOSOPH interveniert...
Diese drei Erkenntnisformen, die Sie aufzählen, sind sehr
klassisch.
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
179
Platon erklärt sie im Gleichnis von der geteilten Linie, am
Ende des sechsten Kapitels der Republik, und im
Höhlengleichnis, Kapitel sieben. Er stellt sie vor in den drei
„realistischen“ Segmenten der geteilten Linie: die doxa
(Meinung oder empirische Erkenntnis), die dianoia (das
argumentierende Denken, oder Logik und Mathematik) und die
noèsis (das geistige Erkennen).
Aristoteles unterscheidet sie je nach Ebene der „diskursiven
Allgemeinheit“ ihrer Redeweise voneinander, also nach drei
Graden von Abstraktion:
die empirische Abstraktion von der sinnlich wahrnehmbaren
Form der Dinge,
die mathematische Abstraktion, und schließlich
die Abstraktion dritten Grades, nämlich die philosophische
und metaphysische Abstraktion in der Untersuchung des
Seienden als solchem.
Darauf werden sich die Platoniker und Aristoteliker während
etwa zwanzig Jahrhunderten, und heute immer noch, beziehen,
und die Eigenschaften dieser drei Erkenntnisformen erörtern.
Descartes wird sie alle nochmals durchgehen, indem er sie der
Probe seines Zweifels unterzieht, um so zu einer ersten
Wahrheit zu gelangen, die „unumstößlich und sicher“ in der
Erfahrung unseres persönlichen bewussten Seins besteht. „Ich
denke, also bin ich“.
Auch Kant wird diese dreigliedrige Einteilung in seiner Weise
wieder aufnehmen. Zusätzlich war er darum bemüht, zu zeigen,
dass sich die Naturwissenschaften, die sich mit den uns durch
unsere Sinneswahrnehmung bekannten Phänomenen befassen,
wesentlich unterscheiden von der Philosophie, die sich um das
Sein des Menschen und alles, was dieses Sein mit sich bringt,
bemüht. Er wird den Begriff „Erkenntnis“ den experimentellen
und formalen Wissenschaften vorbehalten. Er wird es ablehnen,
von „philosophischer Erkenntnis“ zu sprechen. Damit will er
vermeiden,
dass
philosophische
Wahrheiten
mit
naturwissenschaftlichen Aussagen in einen Topf geworfen
werden, und dass die philosophische Methode als
„Verlängerung“ und „Auslagerung“ der experimentellen
Erkenntnis angesehen wird.
DER ANDERE PHILOSOPH
Hervorragend! Wie in den falschen Auslegungen der Texte,
so gäbe es dann auch in dieser Art von „Gleichsetzung“ einen
180
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Prozess der Irreführung! Ich denke, Kant fürchtete zu Recht,
dass die Grundzüge der experimentellen Erkenntnis ganz
einfach sogar auf die transzendentale Ebene des Seins als
solchem übertragen werden könnten, also auf die Ebene der
allergrößten Universalität des Denkens. Diese fatale
Übertragung könnte auf zwei Arten zustande kommen: entweder
durch die begriffliche Verallgemeinerung gemäß einer
aristotelischen Sichtweise, oder durch die vereinfachende
Gleichsetzung der philosophischen Aussageweise mit der
experimentellen Aussageweise, aufgrund der unumgänglichen
Tatsache, dass beide dieselbe Sprache gebrauchen.
Wenn wir von Naturwissenschaft oder Philosophie sprechen,
unterhalten wir uns, indem wir dieselbe Sprache und dieselbe
Grammatik benutzen... Nun ist die Sprache aber, wie bereits
Bergson bemerkte, wesentlich der Erkenntnis und dem Umgang
mit materiellen Gegenständen angepasst, und den Gefühlen, die
wir dabei haben. Unsere menschlichen Sprachen beschreiben
drei Beziehungsgebiete sehr gut: jenes der gegenseitigen
Beziehungen von Gegenständen, jenes der beobachtbaren
Beziehungen von Menschen zu Gegenständen, und schließlich
jenes der gegenseitigen Beziehungen von Menschen, wenn diese
objektiv betrachtet werden. Die Sprache kann aber weniger gut
die Beziehungen des menschlichen Subjekts als solchem zu
Gegenständen und menschlichen Subjekten, insofern diese
füreinander Subjekte sind, zum Ausdruck bringen. Sie verfügt
über keinerlei Konjugationen oder Verbformen, die der
bleibenden ontologischen Struktur der Bewusstseinstätigkeit
angepasst wären.
Und das ist verständlich! Weil diese Struktur ja für jeden
Menschen dieselbe ist, ist sie immer implizit enthalten. Und das
mit Grund! Wenn wir uns über das unterhalten, was uns
beschäftigt, bewirkt diese Struktur keinerlei Unterschied
zwischen uns, und wird daher von der Sprache nicht zum
Ausdruck gebracht. Denn die Sprache drückt tatsächlich nicht
all das aus, dessen wir uns bewusst sind. Ein kleines, vielleicht
nicht sehr glückliches Beispiel: Ein Mensch lügt. Das, was er
sagt, bring nicht sein Bewusstsein, zu lügen, zum Ausdruck...
Ein anderes Beispiel: Ich spreche zu Ihnen. Das, was ich sage,
drückt nicht mein Bewusstsein, zu Ihnen zu sprechen, aus, und
auch nicht mein Bewusstsein, dass Sie nicht ich sind. Der
Sprechakt, den ich in diesem Moment an Sie richte, drückt nur
meine „Meinung“ zu Kants philosophischen Analysen aus.
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
181
DER ERSTE PHILOSOPH
Das lässt erkennen, warum die Philosophie laut Kant nicht
„ein Wissen“ ist, wenn wir unter „Wissen“ eine aposteriorische
Erkenntnis verstehen, die von derselben Art ist wie jene, die wir
von den Dingen besitzen, die uns sichtbar „erscheinen“: eine
Erkenntnis also, von der man dann aber annehmen würde, dass
sie diese Erscheinungen übersteigt. Die Erkenntnisweise, die
unserer „Erkenntnis der Phänomene der Welt“ eigen ist, kann
uns in keiner Weise zur Erkenntnis des „Seins“ dieser
Phänomene, und daher des Seins als solchem, führen. Die
philosophische Wahrheit ist nicht eine hinter den Erscheinungen
versteckte Wahrheit...
Für das „philosophische Denken“, das keinesfalls auf dieselbe
Art funktioniert wie das Erkennen der Phänomene, gebraucht
Kant das Wort „rationaler Glaube“. „Glaube“, weil sich die
philosophische Erkenntnis nicht auf eine Sinneswahrnehmung
stützt; und „rational“, weil sie nicht von der Zustimmung zu
einer Offenbarung abhängt. Daher ist sie rationaler Glaube, im
Sinne einer „Gewissheit des Denkens und des Bewusstseins“
bezüglich der „apriorischen Bedingungen“ unserer Existenz und
Tätigkeit.
Diese terminologische Vorsichtsmaßnahme aus Kants Feder
wird dann noch besser verständlich, wenn man sie im Lichte
seiner Bemühung betrachtet, die Philosophie endgültig auf ihren
eigentlichen Gegenstand auszurichten. Dieser eigentliche
Gegenstand ist nicht die Gesamtheit der „objektiv“ äußeren
Dinge, denn jenseits von ihnen, wohl aber in ihren
Auswirkungen, gibt es keinen Zugang zum Sein. Das
Untersuchungsobjekt der Philosophie ist das „Subjekt mit
Bewusstsein“ selbst, in seiner inneren Wirklichkeit, in der die
Eigenschaften des Seins sich in der Gestalt von „apriorischen
Bedingungen seiner Tätigkeiten“ offenbaren.
In der Fachsprache sagt man, dass die apriorischen
Bedingungen in „apriorischen synthetischen“ Urteilen formuliert
werden, also in Urteilen oder „Propositionen“, deren
grammatikalisches Subjekt nicht nur durch eine „Analyse“
seiner Bedeutung expliziert wird, wie im Fall einer Definition,
sondern durch hinzukommende Qualitätsbezeichnungen, die
nicht aus einer einzelnen Erfahrung an einem bestimmten Ort
und zu einer bestimmten Zeit stammen, wirklich in seiner
Bedeutung „erweitert“ wird.
182
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Da haben wir also noch eine andere Bedeutung des Wortes
„Glaube“! Wir sollten deswegen nicht die Wirklichkeit des
glaubenschaftlichen Bewusstseins aus den Augen verlieren, oder
sie mit dem reflexiven Bewusstsein verwechseln. Diese
Gleichsetzung ist tatsächlich sehr häufig die erste Reaktion
meiner Professorenkollegen... Ich persönlich ziehe es vor, dass
wir den Begriff „Erkenntnis“ für das „philosophische Wissen“
beibehalten. Sie sagten, dass Kant sehr darauf bedacht war, den
grundsätzlichen Unterschied zwischen experimenteller und
philosophischer Erkenntnis zu verdeutlichen. In diesem Punkt
bin ich ganz und gar mit ihm einverstanden.
Aber zusätzlich zu dem, was Kant gesagt hat, und genau wie
in seinem vorausgegangenen Gedankengang, bin ich persönlich
darauf bedacht, die Wirklichkeit des „glaubenschaftlichen
Bewusstseins“ darzustellen, und seinen rationalen Charakter zu
begründen. Damit zeige ich auch, dass es einen grundsätzlichen
Unterschied und eine genauso grundsätzliche Komplementarität
zwischen
„philosophischer
Erkenntnis“
und
dieser
„glaubenschaftlichen Erkenntnis“ gibt.
In meiner Wortwahl werde ich mich also von Kant
unterscheiden müssen, da ich ein Gebiet betrete, das er nicht
erforscht hat. Dennoch mache ich mir seine Denkmethode ganz
und gar zu eigen. Und wenn Kant gesagt hat, dass der Mensch
die noumenale Wirklichkeit der Dinge nicht erkennen kann, also
die metaphysischen Wahrheiten, dann spricht er von der
experimentellen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis der
Dinge. Er lehnt also im Voraus die Anmaßung gewisser
„Wissenschaftler“ ab, sich zu Gott und zur Struktur des
menschlichen Bewusstseins äußern zu können.
Der „Glaube“ an offenbarte Wahrheiten entzieht sich daher
der
„experimentellen“
Erkenntnis,
nicht
aber
der
philosophischen „Erkenntnis“. Eine ganzheitliche Philosophie
— die nicht auf Kants Werke beschränkt ist — legt die
Vernünftigkeit des glaubenschaftlichen Vollzugs fest, aber sie
bringt keinerlei Offenbarungswahrheit hervor, die sich dann an
meinen „Glauben“ richten würde. Sie stellt lediglich die
Richtlinien zur Unterscheidung der Offenbarungswahrheiten
auf.
In der unzerbrechlichen Einheit des menschlichen
Bewusstseins kommt es der von philosophischen Überlegungen
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
183
geleiteten glaubenschaftlichen Initiative zu, sich bis hinein in ihr
innerstes Sein einzusetzen. Man kann nicht Kant und seine
„Kritik der reinen spekulativen Vernunft“, die die „Erkenntnis“
auf die Phänomene beschränkt, dazu heranziehen, um eine
„Kritik der reinen glaubenden Vernunft“ zu untersagen. Letztere
stünde übrigens im Einklang mit der „Kritik der reinen
praktischen Vernunft“. In dieser zweiten Kritik erreicht Kant die
Seinsebene des Aristoteles und des Thomas von Aquin.
DER ERSTE PHILOSOPH
In unserer Einschätzung der philosophischen Methode,
besonders in ihrer kantianischen Ausformung, stimmen wir ganz
und gar überein. Die Transzendentalphilosophie sollte nicht
ihrer ontologischen Absichten entleert werden, weil ja gerade sie
uns davor gewarnt hat, das, was wir durch unsere Wahrnehmung
der Phänomene erfahren, zu « ontologisieren »! Wie zum
Beispiel davor, zu meinen, dass alles Existierende in Raum und
Zeit existiert. Eine reflexive Erkenntnis des Seins in seinen
letzten Eigenschaften lehnt sie zwar nicht ab, aber sehr wohl die
Illusion eines angeblich ontologischen Zugangs zum
Wirklichen, der darin besteht, dass man unsere Art und Weise,
die Phänomene zu erkennen, auf eine jenseits der Phänomene
dieser Welt liegende Sphäre projiziert.
Heute ist der Übergang von einer Philosophie des „Objekts“
zu einer Philosophie des „Subjekts“, der mit Descartes begonnen
hat und von Kant gefestigt wurde, eine endgültige
Errungenschaft der philosophischen Überlegung. Daher ist es
erlaubt, den Begriff „Erkenntnis“ als allgemeinen Begriff wieder
aufzugreifen, wie Sie es tun, um jegliche Form von
Wirklichkeitsbewusstsein zu bezeichnen, ohne dass dadurch die
bezeichnenden Eigenschaften unseres Bewusstseins in die
Gefahr geraten würden, zugunsten der experimentellen
Erkenntnisweise gleichgeschaltet zu werden. Das reflexive,
philosophische Denken ist sehr wohl eine eigentliche Methode
der Erkenntnis, genauso wie die formale oder experimentelle
Erkenntnis, aber es ist von anderer Natur. Wenn es um die
Beziehungen zwischen Glaube und Vernunft geht, muss man
diese drei Erkenntnisweisen mit einbeziehen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Tatsächlich gilt es traditionellerweise als „klassisch“, diese
drei Erkenntnisformen als rational anzuerkennen: philoso-
184
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
phische, logisch-mathematische und naturwissenschaftliche
Erkenntnis. In allen drei ist die „menschliche Vernunft“ am
Werk. Das ist eine unbezweifelbare Tatsache. Aber ist die
Vernunft nur in diesen drei Erkenntnisformen tätig? Warum
sollte man diese Frage nicht stellen? Wäre sie nicht auch in einer
vierten Erkenntnisform am Werk? In der „Glaubenserkenntnis“?
Warum nicht?
Verstehen wir uns richtig! Es geht nicht um die Erkenntnis
der Glaubensüberzeugungen der Menschen — die Gegenstand
einer objektiven Erkenntnis besonderer Art, wie etwa der
Soziologie oder der Religionsgeschichte sind — sondern um ein
„Erkennen in der Glaubenstätigkeit selbst“. Ist sich das
authentisch glaubende Bewusstsein nicht auch gewiss, in der
ihm eigenen Weise zu erkennen, also, kurz gesagt,
„glaubenschaftlich zu erkennen“? Und wäre diese
Erkenntnisform, die also ihren eigenen Gegenstand hat, nicht
auch „rational“?
Hier muss zuerst ein gemeinsames Verständnis des Wortes
„Vernunft“ geschaffen werden. Für einige ist die Tätigkeit der
erkennenden Vernunft auf experimentelle und formale
Erkenntnisse beschränkt; anders gesagt, auf Logik, Mathematik
und die objektiven Wissenschaften. Sie greifen den
kantianischen Sinn des Wortes « Vernunft » wieder auf und
verabsolutieren ihn so, dass er jede andere Erkenntnisform
ausschließt. Damit tun sie genau das Gegenteil von dem, was
Kant wollte. Darin liegt der Fehler. Es ist eine
« reduktionistische » Strömung. Dieser Reduktionismus ist in
vielen dieser Philosophien spekulativ und explizit, bei nicht
wenigen auch praktisch und implizit: Empirismus, Positivismus,
Neopositivismus und psychologischer Relativismus.
Noch andere, und nicht wenige, sind der Ansicht, dass sich
die Vernunft voll und ganz und daher ausschließlich in den drei
vom griechischen Denken erforschten Zweigen der Erkenntnis
entfaltet, deren vielfache Verästelungen vom modernen Denken
weiter ausgearbeitet wurden: die Naturwissenschaften, die Logik
und Mathematik, aber auch die „Philosophie“. Mein Kollege hat
es uns gerade in Erinnerung gerufen. Genau das betrachten wir
als die „klassische Auffassung“ von Erkenntnis. Wir haben sie
auch bereits, wegen ihres Ursprungs, „griechische Auffassung“
genannt.
Dieser klassischen Auffassung entspricht eine Auffassung von
der Wirklichkeit, eine dementsprechende Auffassung vom Sein,
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
185
also eine Ontologie. Auch diese Ontologie betrachten wir als
„klassisch“. In dieser Ontologie hat die Vorstellung von der
Einheit, die als „In-sich-Ungeteiltheit“ aufgefasst wird, den
absoluten konzeptuellen Vorrang.
Wenn sie einmal so definiert ist, bestimmt diese Vorstellung
allein alle anderen Begriffe. Sie wird als eine „transzendentale
Eigenschaft des Seins“ bezeichnet. Das ist sie zweifellos. Aber
traditionellerweise wird sie für die einzige rationale Form der
Einheit des Seins angesehen. Aufgrund dieser Definition der
Einheit nennen wir diese Ontologie und diese traditionelle
Philosophie „unitär“. Es ist die Philosophie der ungeteilten
Einheit, des « ungeteilten Einen ».
Was denken Sie: Sind diese genaueren Begriffsbestimmungen
und Bezeichnungen gerechtfertigt oder nicht?
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich denke, dass man sie so annehmen kann. Sie sind neutral
und beleidigen niemanden.
DER DOMHERR
Alles wird von dem Gehalt abhängen, den man diesen
Begriffen beimisst.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Mir scheinen diese Begriffe dem zu entsprechen, was man
auch als philosophia perennis bezeichnet. Es sei denn, dass sie
für Herr Debruquel nicht die einzige Form der Einheit des Seins
in seiner Vollkommenheit darstellt...
DER ANDERE PHILOSOPH
Gewiss! Aber in meinen Augen haben diese Begriffe nicht das
Ziel, die klassische Philosophie abzuwerten. Ihre Aussagen sind
eine wunderbare Errungenschaft unserer Kultur. Aber sie sagt
nicht alles. Ihre Untersuchungen der menschlichen Wirklichkeit
weisen große Lücken auf, die es zu füllen gilt. Welchen Platz
räumt sie zum Beispiel dem „Glauben“ ein? Genau gesagt: gar
keinen. Das ist für Glaubende und Nichtglaubende
gleichermaßen klar. Hier haben wir also eine erste Lücke.
Doch auch die Tatsache, dass es in der menschlichen Existenz
„Glauben“ gibt, ist offensichtlich. Man wird also den Glauben
„außerhalb“ der Vernunft und ihrer dreifachen Gliederung
ansiedeln und als irrational bezeichnen. Wer nicht glaubt oder
186
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
im Glauben nur eine existentielle Gefühlsregung sehen will,
wird ihn als infra-rational bezeichnen; wer einer Offenbarung
göttlichen Ursprungs anhängt, die er erhalten zu haben meint,
als supra-rational.
Aus diesen Voraussetzungen (nennen wir sie „klassisch“,
„griechisch“ oder auch „unitär“) ergeben sich die
wohlbekannten traditionellen Fragen nach den Beziehungen
zwischen « Glaube » und « Vernunft », die je nach kulturellem
Zentrum der Glaubensüberzeugungen verschiedene Gestalten
annehmen,
wie
wir
in
unseren
vorhergehenden
Zusammenkünften gesehen haben.
Es kann tatsächlich nicht sein, dass diese Fragen sich nicht
aufdrängen, denn einerseits begegnen « Rationalisten » und
« Glaubende » einander notwendigerweise im sozialen Leben
und können nicht vollständig aneinander vorbeischauen, und
andererseits sind Nachdenken, Folgern, Berechnen, Erproben
und auch Glauben Fähigkeiten und Tätigkeiten des innersten
Bewusstseins eines jeden, die er zwar mit mehr oder weniger
Erfolg ausübt, aber eben notwendigerweise.
Es ist außerdem auch nicht möglich, keine Antwort auf diese
Fragen zu suchen. Die tatsächliche Einheit der Person mit sich
selbst, und die tatsächliche gewisse Einheit der Gesellschaft
zwingen die Menschen dazu, eine Einigung der in
„naturwissenschaftliche Vernunft“ und „philosophische
Vernunft“ aufgegliederten „Vernunft“ einerseits, mit dem
„Glauben“ andererseits, zu finden, was uns mein Kollege in
Erinnerung gerufen hat. Die Vernunft, die mit dem Glauben
geht..., die sich mit ihm konfrontiert... und die mit ihm
zusammenarbeiten kann, ist nicht eindimensional.
DER MODERATOR
Sie haben die Grundzüge der klassischen Philosophie, im
weitesten Sinne des Wortes, für unsere Teilnehmer sehr gut
dargestellt. Nun wäre es nützlich, ebenfalls die Stellung des
Glaubens im Vergleich zu dieser Philosophie zu skizzieren, die
der Glaubenserkenntnis spekulativ keinen Platz einräumt,
während doch der Glaube eine Wirklichkeit ist. Sie haben
gerade darauf aufmerksam gemacht.
DER ANDERE PHILOSOPH
Es ist eine paradoxe Situation. Der glaubende Mensch bewegt
sich in einer äußeren, begrifflichen und gedanklichen Welt, die
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
187
ihm rationale Forderungen auferlegt, aber gleichzeitig nichts
davon wissen will, dass er als Glaubender existiert, und was er
ist, insofern er ein Glaubender ist. Er ist wie ein Landwirt, der in
einem industrialisierten Umfeld wohnt, das keine Kenntnis von
der Existenz und Eigenart der Landwirtschaft besitzt. Wie soll
dieser Landwirt ein guter Landwirt sein, wenn er über keine
anderen Normen als die der Industrie verfügen kann, denen er
sich zwangsläufig fügen muss?
Was wird mit diesem Landwirt geschehen? Entweder wird er,
um nicht den Verstand zu verlieren, die industriell orientierten
Überwacher (nämlich alle klassischen Voraussetzungen)
abweisen, um Landwirt zu bleiben und in unmittelbarer
Berührung mit seinem Boden zu leben. Dann wird er aber ohne
die industriellen Arbeitshilfsmittel auskommen müssen, die ihm
nützlich sein könnten (gewisse Methoden, Verfahrensweisen
und Wahrheiten der klassischen Philosophie und der
Naturwissenschaften).
Oder aber er wird, unter dem Druck der globalisierten
Industrie, seine Landwirtschaft schlecht betreiben, oder sogar
nur noch unnatürliche Produkte herstellen und schließlich
sterben. Das wäre eine gar nicht beneidenswerte Situation, die
man nur bemitleiden könnte.
Genauso verhält es sich mit dem normalen religiös
Glaubenden.
Damit will ich sagen: Wie können diese Glaubenden, in einer
ähnlichen
Situation,
den
Wahrheitswert
ihrer
Glaubensüberzeugungen richtig einschätzen? Sie halten sie für
wahr und setzen sie mit Überzeugung in die Tat um; aber sie
können dafür keinerlei Rechenschaft ablegen oder Begründung
angeben, wie diese von der nicht-glaubenden oder nichtglaubenschaftlichen Vernunft verlangt wird. Tatsächlich sind sie
dazu unfähig, denn sie verfügen über keinerlei Argumente, die
in die einschränkenden Kategorien hineinpassen würden, die
diese Vernunft im Voraus definiert hat, die den „Glauben“ nicht
kennt und den „Glaubenstrieb“ verkennt, also kurz gesagt die
Entfaltung des spontanen glaubenschaftlichen Bewusstseins
ablehnt. Aber selbst wenn die Glaubenden über Argumente
verfügen würden, wären sie nicht dazu berechtigt, diese auch zu
gebrauchen, ansonsten würden sie zu sich selbst in Widerspruch
geraten. Denn warum sollten sie auf die nicht-glaubende
Vernunft zurückgreifen, der sie doch jegliches Vertrauen
verweigern, weil diese Vernunft sie nicht als Glaubende sieht?
188
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Ich habe bereits die Worte Luthers zitiert: „Die Vernunft, die
Hure des Teufels!“
Aber durch die Ablehnung der tatsächlich verkrüppelten
nicht-glaubenden Vernunft, wie etwa der „klassischen“
Vernunft, die sich auf zwei oder drei Erkenntnismethoden
einschränkt — Mathematik, Naturwissenschaften und
Philosophie — bestärken diese Glaubenden die nicht-glaubende
Vernunft in ihrer „Selbstgefälligkeit“. Und noch mehr bestärken
sie sie dadurch, dass sie sich mit ihr abfinden und ihren
Anspruch, allein die Gesamtheit der menschlichen Rationalität
auszudrücken, stillschweigend hinnehmen. Dies ist der
Standpunkt derer, die sich der klassischen und griechischen
Rationalität als „ancilla theologiae“ (lat. für „Magd der
Theologie“) bedienen wollen.
Und hier kommt es zu einem seltsamen Phänomen... Der
religiös Glaubende beginnt, anstatt innerhalb seines Glaubens zu
bleiben, und die Naturwissenschaften und die Philosophie sich
selbst zu überlassen, sich in das Gebiet dieser Wissenschaften
hineinzuwagen, so, als ob er eine Art Frustration bezüglich der
anderen Erkenntnisweisen, die er nicht beherrscht, ausgleichen
müsste.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Es gibt also zwei Gebiete, in die der Glaubende sich nicht
hineinwagen sollte, nämlich die Naturwissenschaften und die
Philosophie.
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau.
RELIGIÖSE AUSSAGEN IN KONFRONTATION MIT
WISSENSCHAFTLICHEN AUSSAGEN
DER ERSTE PHILOSOPH
Aber Sie, der Sie ja nun ein Glaubender sind, haben sich ganz
schön weit in das Gebiet der Philosophie hineingewagt, denn Sie
lehnen das Fundament der klassischen Ontologie der Einheit
und den griechischen Wissensbegriff ab. Stehen Sie da nicht
irgendwie zu sich selbst im Widerspruch?
DER ANDERE PHILOSOPH
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
189
Das ist nur ein „scheinbarer“ Widerspruch, denn mit der
klassischen Philosophie debattiere ich nicht als Glaubender,
sondern als Philosoph. Ich bringe also die Erkenntnismethoden
keineswegs durcheinander. Und wenn ich die Existenz und
Beschaffenheit
des
glaubenschaftlichen
Bewusstseins
anerkenne, so tue ich dies ebenfalls als Philosoph.
Dagegen wagt sich der Glaubende deshalb auf eigene Faust in
das Gebiet der Naturwissenschaften, weil er diesen Unterschied
aufgrund seiner Unwissenheit nicht beachtet. Aus Unkenntnis
des Unterschieds zwischen den Erkenntnismethoden meint er,
dass ihm die göttliche Offenbarung wissenschaftliche
Erkenntnisse vermitteln könnte. Das ist ein schwerwiegender
Irrtum. Das geben Sie gewisslich zu...
Vorausgesetzt, dass die Unterscheidung der Erkenntnismethoden das erste offensichtliche Prinzip der Methodologie des
Erkennens ist, kann eine Offenbarung, die dieses Prinzip
missachtet, in diesem Punkt nicht göttlich sein. Es sei denn, man
würde wiederum annehmen, dass sich Gott als Offenbarer lustig
macht über die Art und Weise, in der er als Schöpfer den
menschlichen Verstand gestaltet hat.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Heutzutage weiß sich die katholische Theologie vor diesem
Irrtum zu bewahren. Wenn wir in den Offenbarungsschriften,
wie etwa in der Bibel und im Neuen Testament, Bezugnahmen
auf die damalige Naturwissenschaft finden, bedeutet das nicht,
dass diese Aussagen offenbart sind. Sie sind nichts weiter als der
äußere Rahmen oder Hintergrund, der die offenbarte Bedeutung
umkleidet. So ist etwa die Vorstellung von der Erschaffung der
Welt im ersten Kapitel des Buches Genesis anhand eines
zeitlichen Ablaufs von sieben Tagen umschrieben.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ein Glück für die katholische Theologie! Denn in Situationen,
wo religiöse und naturwissenschaftliche Lehren einander
widersprechen — ein jeder kann sich aufgrund seiner
Geschichtskenntnisse ein Bild davon machen — muss die
intellektuelle Niederlage der religiösen Sicht von der physischen
Natur und der materiellen Welt eingestanden werden.
In dieser Situation entstehen zwei Verhaltensweisen.
Entweder ist der Glaubende, der seinen Fehler feststellt, zum
Umdenken bereit, oder er kapselt sich ab, indem er die
190
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Offensichtlichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis ablehnt
und sich auf seinen Text oder seine Tradition beschränkt.
Letzteres bezeichnet man heutzutage als Fundamentalismus.
Bleiben die Glaubenden, die umdenken wollen, doch
Glaubende, oder verwerfen sie zusammen mit ihren falschen
Glaubensüberzeugungen ihren „Glauben“ auf der ganzen Linie?
Es wäre widersinnig, den Glauben — mag er auch von vielen
Fehlern durchsetzt sein — auf der ganzen Linie zu verwerfen.
Soll man auf das Laufen verzichten, nur weil man sich einmal
verirrt hat? Soll man von der Intelligenz keinen Gebrauch mehr
machen, nur weil man sich getäuscht hat und einen Irrtum für
wahr gehalten hat? Müssen wir darauf verzichten, zu glauben,
nur weil wir falsch „geglaubt“ haben, und unser glaubendes
Bewusstsein, also unsere „glaubenschaftliche Vernunft“ sich
schlecht entwickelt hat oder schlecht erzogen wurde?
Zweifellos muss man zugeben, dass zwischen der
„naturwissenschaftlichen Vernunft“ und dem „Glauben“ — wir
sollten hier besser sagen „zwischen der naturwissenschaftlichen
und der glaubenschaftlichen Vernunft“ — ein spezifischer
Unterschied besteht, aber dieser besteht ausschließlich in der
Einheit des Bewusstseins, in einer „eins-seienden“,
„geordneten“, aber nicht „einförmigen und homogenen“
Wirklichkeit der persönlichen, menschlichen Vernunft.
In der Einheit der persönlichen Wirklichkeit der menschlichen
Vernunft verhalten sich ihre verschiedenen Fähigkeiten
zueinander komplementär und können einander nicht
ausschließen. Wenn man ihr harmonisches Miteinander nicht
kennt, das doch auch für das, was jede von ihnen ist, maßgeblich
ist,
beeinträchtigt
man
die
eigene
harmonische
Selbstverwirklichung. Dies kann so weit führen, dass man
Gefahr läuft, sich selbst intellektuell und gefühlsmäßig in einer
Art intellektueller Schizophrenie zu entwürdigen.
Die Glaubenden, die so umdenken wollen, dass sie dabei doch
Glaubende bleiben, sind heutzutage meistens klug genug, um
grundsätzlich keine Glaubensüberzeugung als Gegenstand ihres
Glaubens anzunehmen, die ihrerseits einen bestimmten rein
naturwissenschaftlichen Standpunkt impliziert.
Weil ihnen dies aber bereits unterlaufen ist, und weil die
Naturwissenschaft die Falschheit einer oder mehrerer ihrer
„Glaubensüberzeugungen“ nachgewiesen hat, haben sie sich
damit abgefunden, diese nach und nach aus der Gesamtheit ihres
Glaubens zu „entfernen“.
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
191
Dies kann manchmal dramatisch sein, aber das Entstehen
dieser Gewohnheit begleitet den Fortschritt der experimentellen
Wissenschaft... Die Aufgabe der Lehre von der „Ursünde, die
durch den Tod des Sohnes Gottes am Kreuz gesühnt werden
muss“ ist ein Beispiel für diese Entwicklung.
Und abgesehen von Polemik und Apologetik, wie etwa den
Argumenten ad hominem, gehen diese Glaubenden zudem
meistens davon aus, dass Wahrheiten, in denen ihr Glaube mit
der Wissenschaft übereinstimmt, als von der Wissenschaft
aufgestellte Wahrheiten nicht als „Begründung“ dieser oder
jener ihrer Glaubensüberzeugungen als solchen herangezogen
werden können.
Und obendrein wird das, was bis anhin Gegenstand einer
derartigen „Glaubensüberzeugung“ war,
augenblicklich
aufhören, ein Teil des Gebäudes der Glaubenswahrheiten zu
sein, eben weil das, was sie aussagte, zu einer
naturwissenschaftlichen Wahrheit geworden ist. So vermeiden
die Glaubenden jegliche vereinfachende oder ausgefeilte
„Übereinstimmerei“ zwischen dem heiligen Text und
naturwissenschaftlichen Ergebnissen.
Nicht, dass etwas, was vorher eine „Glaubensüberzeugung“
war, nun für falsch gehalten würde, weil es nun eine durch
Erfahrung belegte Wahrheit ist! Das wäre absurd, weil es sich ja
nicht notwendigerweise so verhält, dass die Wahrheit auf der
einen Seite steht, und der Irrtum ins andere Lager gehört. Aber
die Glaubenden verhalten sich so, weil der Bereich des
Glaubens sich a priori von den wissenschaftlich begründeten
Wahrheiten unterscheidet. Die Übereinstimmung von Glaube
und Wissenschaft kommt nicht durch eine « angemessene
Überlagerung » ihrer jeweiligen Aussagen zustande, sondern
durch Komplementarität ihrer jeweils eigenen methodologischen
Autonomien und ihrer verschiedenen Wahrheiten.
Diese Glaubenden könnten sogar zugeben, dass sie in der
Schuld der Naturwissenschaftler stehen. Und das nicht nur,
wenn eine Unvereinbarkeit zutage tritt zwischen einer
definitiven wissenschaftlichen Schlussfolgerung und einer
Glaubensüberzeugung, die von da an unannehmbar ist, weil sie
einen „wissenschaftlichen Irrtum“ ausdrückt; sondern vor allem
dann, wenn es zwischen beiden zu einer Übereinstimmung
kommt, aufgrund derer die „wissenschaftlich nachgewiesene“
Glaubensüberzeugung den Titel „offenbart“ verliert. Auf diese
Weise führen die Naturwissenschaftler die Glaubenden indirekt
192
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
bereits zu einem authentischeren, von störenden Fremdkörpern
„befreiten“ Glauben.
Ein derartiger indirekter Dienst der Naturwissenschaft am
Glauben ist daher möglich, weil derselbe Mensch, der glaubt,
auch ein Naturwissenschaftler sein kann, und der
Naturwissenschaftler glauben kann, zwar nicht als
Naturwissenschaftler, aber als Mensch. Der Mensch, der mit
seinen Augen sehen kann, kann auch hören, ohne dass das Auge
dafür zum Ohr werden müsste. Der Wissende kann ein
Glaubender sein, ohne dass die Wissenschaft deswegen Glaube
wäre, oder umgekehrt. Wer würde sich, um besser zu hören, die
Augen ausreißen, oder sich taub machen, um besser zu sehen?
DER MODERATOR
Sie haben die Gedanken zusammengefasst, die wir bereits
bezüglich der Beziehungen von Glaube und Naturwissenschaft
ausgetauscht haben. Könnten Sie dasselbe auch für die
Beziehungen zwischen Glaube und Philosophie tun? Dadurch
wären unsere vorausgegangenen Diskussionen zusammengefasst.
DER ANDERE PHILOSOPH
Diese Beziehungen sind viel komplizierter und auch eher mit
Konflikten belastet. Aber umso fesselnder ist die Arbeit an
deren Lösung.
Wenn der Glaubende angesichts der Naturwissenschaften mit
einiger Glaubhaftigkeit behaupten kann, dass der Glaube der
naturwissenschaftlichen Vernunft überlegen ist — wobei der
Glaube sich allerdings davor hüten wird, auf das Gebiet der
Naturwissenschaften überzugreifen — dann deshalb, weil der
Glaube auf Fragen antwortet, die sich der Mensch bezüglich
seiner eigenen Existenz stellt, und die innerlicher und tiefer sind
als jene, die den Aufbau der Materie betreffen.
Die naturwissenschaftliche Erkenntnistätigkeit hingegen
geschieht innerhalb einer bestimmten Auffassung von Existenz.
Der Naturwissenschaftler kann sich also mit diesem „Anspruch“
des religiös Glaubenden abfinden, und das umso leichter, als die
Wirklichkeitsgebiete, mit denen sich beide auseinandersetzen,
als unterschieden und verschieden angesehen werden.
Aber angesichts der Philosophie kann nicht mehr so verfahren
werden! Warum? Weil auch der Philosoph sich mit der Existenz
des Menschen beschäftigt, und durch sie hindurch mit der
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
193
Gesamtheit der Wirklichkeit, und auf diese Fragen auch
Antworten findet. Philosophie und Glaubensüberzeugungen
scheinen also wenigstens teilweise ein und dasselbe Gebiet
beanspruchen zu wollen, und auf ähnliche Fragen zu antworten,
zum Beispiel auf jene nach der Existenz der Welt und des
Menschen, nach Gut und Böse, nach Leben und Tod... Daher
kommen die Spannungen. Daher lehnt die Vernunft den
Anspruch der religiösen Überzeugungen, ihr überlegen und
höherstehend zu sein, und sich über ihre Fähigkeiten zu stellen,
ab.
Die von den Philosophen im Lauf der Geschichte
beigebrachten Antworten sind gewiss sehr unterschiedlich, und
manchmal untereinander unvereinbar — was impliziert, dass
einige davon Irrtümer enthalten —, aber sie alle werden als
Ertrag der Bemühung der menschlichen Vernunft angesehen.
Die Menschen können über den Wert dieser Antworten
debattieren und so der Wahrheit näher kommen.
Wenn der Glaubende — vergessen wir nicht, dass es sich hier
um jene Art von Glaubendem handelt, der sich nicht gegen die
philosophische Vernunft stellt, aber über sie — seine Antworten
auf die Fragen gibt, die er gemeinsam mit der Philosophie stellt,
dann behauptet er, dass sie von Gott stammen. Laut ihm sind
diese Antworten wahrhaftig den rein menschlichen überlegen.
Dadurch entzieht sich seine Glaubensantwort allen kritischen
Debatten. Man kann sie nur annehmen oder nicht: glauben oder
den
Glauben
ablehnen.
Der Wahrheitswert
seiner
Glaubensaussagen kann nicht zur Diskussion gestellt werden.
Ein Glaubender dieser „Art“ meint, nur eine einzige
intellektuelle Anstrengung unternehmen zu müssen, nämlich,
die „Offenbarung“ göttlichen Ursprungs gut zu verstehen,
soweit seine Vernunft dies mit Hilfe eines „übernatürlichen
Lichtes“ kann. Anderenfalls, wenn seine Vernunft also nicht
fähig ist, diese „Offenbarung“ zu verstehen, sei es durch seine
persönliche Unfähigkeit, oder sei es durch die Unzulänglichkeit
der natürlichen Vernunft, dann hat er als Glaubender die Pflicht,
sie so, wie sie ist, anzunehmen.
Im Fall einer zur menschlichen Intelligenz als solcher
gehörenden wesentlichen Unzulänglichkeit folgt daraus, dass
das, was dem Glaubenden „offenbart“ wurde, an sich für jeden
Menschen unverständlich ist. Welche Bedeutung hat eine solche
Offenbarung dann für ihn? Und welches Gottesbild muss man
194
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
haben, um zu meinen, dass Gott sich derartigen Offenbarungen
anvertraut?
Und weil diese angebliche Glaubenswahrheit für an sich
unverständlich erklärt wird, wird diese Unverständlichkeit der
Glaubensüberzeugung wiederum ein Glaubensgegenstand und
eine zusätzliche, noch hinzugefügte Glaubensüberzeugung. Eine
neue Glaubensüberzeugung, die ihrerseits wieder unverständlich
ist, und die auch geglaubt werden muss, ohne dass man versteht.
Hier kann man den Anfang eines unendlichen Prozesses sehen,
der zeigt, dass hier eine Absurdität vorliegen muss... Und das
wäre ja das Letzte, was wir von einer Wahrheit, die Gott uns
zukommen lässt, erwarten!
Da wir nun einmal dabei sind, die Probleme zu umreißen,
oder sogar die Unstimmigkeiten, die aus der Begegnung
zwischen Glaube und Vernunft, so wie diese der griechischen
Vorstellung entsprechen, entstehen, müssen wir unsere kleine
Untersuchung zu Ende führen.
Wenn also der Glaube, als Gesamtheit der offenbarten
Glaubensüberzeugungen, „außerhalb und oberhalb“ der
menschlichen
Vernunft
steht,
nicht
nur
der
naturwissenschaftlichen, sondern auch der philosophischen, wie
kann er dann auch nur teilweise als „Offenbarung“ erkannt
werden, also als Glaube, der seinen Ursprung in einer als
wahrhaftige Offenbarung anerkannten „Offenbarung“ hat? Das
wäre ganz und gar unmöglich! Wenn dagegen die Offenbarung
von einer derartigen Vernunft als wahr beurteilt wird, steht sie
nicht mehr über der Vernunft. Es würde gar keinen Glauben
mehr geben. Wenn man sie aus Glauben beibehalten würde,
könnte sie nicht als wahr anerkannt werden. Es gibt keinen
Ausweg aus dieser Sackgasse. Was tun?
Wir müssen ein paar Schritte zurückgehen. Das bedeutet, dass
wir bis auf die ersten Axiome der westlichen Philosophie, die
von den ersten griechischen Denkern formuliert wurden,
zurückschauen müssen. Dies sind tatsächlich die Axiome des
spontanen psychologischen Bewusstseins des Menschen, und
leider nicht die seines reflexiven Bewusstseins. Sie betreffen die
ontologische Einschätzung, mit der wir die Einheit und Vielheit
der Dinge einander gegenüberstellen, und auch die
verschiedenen Erkenntnisformen, wie bereits gesagt.
Diese Axiome vertreten die erste Ebene des Verständnisses,
das der Mensch von seinen eigenen Tätigkeiten hat. Und dieses
Selbstverständnis ist analog zu seinem Verständnis der Dinge,
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
195
und gebraucht eine Sprache, die in erster Linie auf den
Gebrauch von Dingen und auf zwischenmenschliche
Beziehungen, die mit diesen Dingen zu tun haben, zugeschnitten
ist.
Um auf menschenwürdige Weise zu glauben, also so, dass
man den Forderungen des reflexiven Bewusstseins voll und
ganz gerecht wird, ist es nötig, dass man sich die Frage nach den
apriorischen Bedingungen einer möglichen Offenbarung und
ihren Wahrheitskriterien in angemessener Weise stellt. Der
Glaube ist nur dann menschenwürdig, wenn er philosophisch
„überdacht“ werden kann. Aber ist ein Vernunftsbegriff, der
dem „Glauben“ als rationaler Tätigkeit keinen Platz einräumt,
ihn also nicht als „glaubenschaftlichen“ Bestandteil der
Vernunft sieht, fähig, diese Funktion des Überdenkens und
Einsehens des menschlichen „Glaubens“ auszuüben?
Während die herkömmliche Philosophie über experimentelle,
und auch über formale, logisch-mathematische Erkenntnis
„nachgedacht“ hat, und natürlich über sich selbst, so hat sie es
meines Wissens unterlassen, über die glaubenschaftliche
Erkenntnis „nachzudenken“.
Die
griechischen
Philosophien
haben
den
Offenbarungscharakter des jüdischen und des christlichen
Glaubens bekämpft und abgelehnt. Descartes übergeht das
Problem. Im ersten Teil des Discours gesteht er uns: « Ich
achtete unsere Theologie, und beabsichtigte wie jeder andere
auch, den Himmel zu verdienen; aber als ich erfuhr, dass der
Weg ganz gewisslich den Unwissendsten genauso offen steht wie
den Gelehrtesten, und dass die offenbarten Wahrheiten, die dort
hinführen, über unserer Intelligenz stehen, wagte ich nicht, sie
der Schwachheit meiner Überlegungen zu unterwerfen, und ich
dachte, dass man einer besonderen Hilfe vom Himmel bedürfe
und mehr als nur ein Mensch sein müsse, um eine Untersuchung
dieser Wahrheiten erfolgreich in Angriff zu nehmen. »
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Dieser Text eines großen Denkers ist bezeichnend für die
„Vorurteile“, über die wir debattieren. Könnten Sie ihn uns nach
dieser Sitzung geben?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich werde bei unserer nächsten Zusammenkunft jedem eine
Kopie davon geben...
196
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Kant wagt es, theologische Lehrinhalte zu behandeln, aber als
Glaubender. Als Philosoph erarbeitet er den Sinn der religiösen
Aussagen „in den Grenzen der einfachen Vernunft“.
Dabei behält er von der christlichen Offenbarung nichts
weiter bei als die ethischen Aussagen, die sie mit sich bringt.
Gewiss, wenn man aus dieser Untersuchung schließen kann,
dass diese ethischen Aussagen nicht wesentlich zum Glauben
gehören, sondern Imperative der Vernunft, oder, genauer gesagt,
der reflexiven Vernunft sind — was nicht ohne Bedeutung ist,
selbst für den Glaubenden, wie wir gesehen haben —, dann
kann man nicht sagen, dass Kant die Frage nach der Natur des
Glaubens und den ethischen Anforderungen anschneidet, die
dem Glauben als glaubenschaftlichem Vollzug zu eigen sind.
Viele andere Philosophen, wie etwa Hegel, Bergson, Blondel,
Lavelle, Marcel, Jaspers, Buber, Levinas, und andere, haben
über die jüdische oder christliche Offenbarung gesprochen und
haben sehr lehrreich in ihre philosophischen Untersuchungen
Vorstellungen aus religiösen Überlieferungen eingefügt. Damit
haben sie gewiss ein Umfeld der philosophischen Denkkultur
geschaffen, in dem die Frage nach den ontologischen
Grundlegungen des Glaubens und jene nach den Bedingungen
der Möglichkeit der Verständlichkeit einer göttlichen
Offenbarung endlich gestellt werden können.
Aber warum besitzen wir keine systematischen Darstellungen
der Vernünftigkeit des Glaubens als solchem? Liegt es daran,
dass unsere Erkenntnis nicht erschöpfend ist, ... denn sie ist
sogar sehr begrenzt ...?
Durch derartige Untersuchungen kamen die klassischen
Philosophen nicht zur Anerkennung des spezifischen natürlichen
Charakters des Glaubensaktes, des „glaubenschaftlichen Aktes“.
Hätten sie es gekonnt? In Anbetracht ihres „begrenzten“
Vernunftsbegriffs würde ich sagen: nein.
Aber ist dieser griechische Vernunftsbegriff ganz und gar
„vernünftig“? Dies ist eine wichtige Frage. Die Erklärung für
die verschiedenen unvereinbaren Überzeugungen von der
Irrationalität des Glaubens muss in der Art und Weise, wie man
sich den Aufbau der „Vernunft“ vorstellt, gesucht werden, und
zwar sowohl bei den Glaubenden als auch bei den klassischen
Philosophen.
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
197
Als Historiker war ich etwas erstaunt, als sie sagten, dass die
Glaubenden, die ihren Glauben für der Vernunft überlegen
hielten, methodologisch nicht berechtigt waren, auf die Vernunft
zurückzugreifen, um die an sie ergangene Offenbarung zu
verteidigen. Nun sind es aber in der Geschichte paradoxerweise
die Glaubenden, — die immer Gläubige eines bestimmten
Glaubens sind, also des Glaubens in seiner jüdischen,
christlichen oder muslimischen Form — die auf rationale
Beweisführungen zurückgegriffen haben, um ihren Glauben
anderen nahezubringen oder ihn gegen andere Formen des
Glaubens, oder gegen Philosophien, die den Wert der von ihnen
angenommenen Offenbarung verneinten, zu verteidigen.
So entstanden erst die apologetischen, danach die
spekulativen und besser systematisierten „Theologien“, die sich
zusammen mit den großen philosophischen Strömungen der
Antike entwickelten, also mit der Stoa, dem Platonismus, dem
Aristotelismus und mit deren immer noch weiterexistierenden
Schulen.
Natürlich konnten sie sich nicht auf die Vernunft berufen, um
ihren Glauben methodologisch zu rechtfertigen, in der Weise,
wie das Ihnen nötig erscheint.
Der Historiker sucht für diese paradoxe Situation der
Glaubenden, die zur Verteidigung ihres Glaubens auf eine
historisch ausgeprägte Philosophie zurückgreifen, obwohl sie
innerhalb ihres Glaubens die Philosophie zur Beurteilung des
Wahrheitswertes dieses Glaubens ablehnen, eine historische
Erklärung.
Von Ihrem methodologischen Standpunkt als Philosoph aus
sprechen Sie über ein „Durcheinanderbringen der Methoden“
und verurteilen dieses. Sie zeigen auch auf, dass jene, die dies
tun, sich entweder zu den in ihrem Glauben enthaltenen
Vorurteilen in Widerspruch setzten, oder zu den
philosophischen Prinzipien, die sie heranziehen.
Der Historiker sieht in dieser paradoxen Situation nicht ein
fortschreitendes Durcheinandergeraten zweier verschiedener
Erkenntnisse (Erkenntnisse ] Erkenntnisweisen), so, als ob man Milch
mit Kaffee mischen würde, also zwei Flüssigkeiten, die vorher
getrennt waren, sondern eine fortschreitende Differenzierung,
so, als ob man die Sahne von der Milch absondert, um zwei
verschiedene Substanzen zu erhalten: die Sahne und die
entrahmte Milch. Es geht darum, ob man die Flasche als halb
198
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
leer oder halb voll betrachtet... Für mich ist diese Flasche dabei,
gefüllt zu werden...
Diese unangebrachte Anwendung — logisch gesehen ist sie
das, damit bin ich ganz und gar einverstanden — der
philosophischen
Vernunft
innerhalb
der
Glaubensüberzeugungen ist also im Vergleich zu einer vorhergegangenen
Epoche des vollständigen Durcheinanders ein Fortschritt, oder,
besser gesagt, eine erste Unterscheidung. Ähnlich verhält es sich
bei einem Embryo, dessen Gliedmaßen und Organe noch nicht
ausgebildet sind. Es ist eine Entwicklung hin zu einer besseren
Verständlichkeit. Daher gewinnt der „Glaube“ als „Gesamtheit
von Glaubensüberzeugungen“ immer dadurch, dass er sich
rational „durchdenkt“, trotz der inneren Widersprüchlichkeit
dieses Vollzugs...
Der Historiker stellt fest, dass diese Glaubensüberzeugungen
tatsächlich nichts weiter sind als archaische Entwürfe
theoretischer oder praktischer philosophischer Gedanken. Dabei
handelt es sich um eine normale Weiterentwicklung innerhalb
einer großen Bewegung hin zur Unterscheidung der
Erkenntnismethoden. Man könnte sogar sagen, dass das
philosophische Denken selbst aus Glaubensüberzeugungen
entstanden ist, und dass es sich selbst nach und nach
methodologisch ausgeformt hat. Diese Glaubensüberzeugungen,
die einstmals die passive Zustimmung des Menschen forderten,
hören auf, Glaubensüberzeugungen zu sein, wenn sie infolge
ihrer Weiterentwicklung dazu anregen, verstanden zu werden:
wie etwa die Aussage, dass es einen Gott gibt, der die
schöpferische Wirkursache der Welt ist. Ich würde also sagen,
dass die Religionen mit ihrem enormen Aufgebot an
Glaubensüberzeugungen und Praktiken am Ende dieses
Differenzierungsprozesses der Nährboden sowohl der
Philosophie als auch des Glaubens sind.
Und ich würde es so sehen — das wird Euch gefallen — dass
ein gutes Verständnis der „philosophischen, reflexiven
Vernunft“ und der „glaubenschaftlichen, für eine echte
Offenbarung offenen Vernunft“ das Endergebnis dieses
historischen Differenzierungsprozesses sein könnte.
GLAUBEN ODER VERSTEHEN? WANN KOMMT ES ZUM DILEMMA?
DER DOMHERR
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
199
Die Äußerungen des Leiters unserer Zusammenkunft haben
mich überrascht... Sie scheinen die Vorstellung wieder
einzuführen, dass man zu glauben aufhört, sobald man versteht.
Nun hatte aber Herr Debruquel bereits gesagt, dass diese
Redensart ein falsches Verständnis der Beziehungen zwischen
Glaube und Vernunft impliziert.
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
Ich habe das nicht auf den Glauben als solchen, und auch
nicht auf die Vernunft als solche bezogen, sondern auf gewisse
Glaubensüberzeugungen, die zu einer bestimmten Zeit
fälschlicherweise « geglaubt » wurden, und die danach
aufhörten, zur Gesamtheit der Glaubensüberzeugungen zu
gehören, und zwar, sobald man verstanden hatte, dass es sich um
rationale Wahrheiten philosophischer Art handelt. Zu verstehen,
dass eine gegebene Aussage, wie etwa jene, dass Gott existiert,
nicht von einer Offenbarung abhängig ist, sondern vom
menschlichen intellektuellen Nachforschen, bedeutet noch nicht,
dass man behauptet, dass der Glaube als solcher stirbt, sobald
die menschliche Intelligenz die an sie ergangene Offenbarung
versteht.
DER ANDERE PHILOSOPH
Tatsächlich! Nicht nur die Glaubensüberzeugungen, deren
Falschheit die klassische philosophische Vernunft aufzeigt,
sondern auch jene, deren Wahrheit sie reflexiv nachweist, hören
dadurch, genau wie naturwissenschaftliche Wahrheiten, auf, in
den Bereich einer Offenbarung zu gehören. Die Philosophie
kann, genau wie die Naturwissenschaften, dem Glauben einen
indirekten Dienst erweisen, wenn sie gemäß ihrer eigenen
Methode zu begründeten Wahrheiten vordringt. Es ist der
Dienst, den Glauben von Wahrheiten zu befreien, die ihm nicht
zu eigen sind, auch wenn sie mit dem Glauben verbunden sein
mögen, wie etwa im Bereich der Ethik, weil ja ethische
Ansprüche und der Vollzug des Glaubens ein einziges
ontologisches Fundament haben.
Die Philosophie kann, genau wie die Naturwissenschaften,
dem Glauben die Richtung zu mehr Wahrheit im Verständnis
dessen weisen, was er als „offenbart“ annimmt. Übrigens haben
die Naturwissenschaften in ähnlicher Weise der Philosophie
gegenüber genau dieselbe Funktion. Eine experimentell
begründete Wahrheit, die man vorher für eine philosophische
200
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Wahrheit hielt, hört auf, eine Wahrheit philosophischer Art zu
sein. Die Philosophen werden sie natürlich weiterhin als wahr
annehmen, aber nicht mehr, insofern sie philosophisch ist,
sondern insofern sie naturwissenschaftlich ist. Gemäß einer
speziellen Erkenntnismethode, und im Bezug auf eine
bestimmte Philosophie, wird dann der Philosoph die
epistemologischen Bedeutungen und Werte dieser Wahrheiten
aufzeigen.
Der Glaubende aber, der den ihm von der Philosophie
erwiesenen Dienst anerkennt, der in erster Linie den „dem
Glauben vorgelegten Gegenstand“ betrifft, wird sich sicherlich
nicht damit zufriedengeben, zu sehen, dass die klassischen
Philosophien ihn ganz — oder weitgehend — im Dunkeln
lassen,
wenn
es
um
die
Beschaffenheit
seines
„Glaubensvollzugs“ und seines Glaubensaktes als Akt eines
persönlichen geistlichen Lebens geht.
DER DOMHERR
Wie soll denn der Philosoph den Glaubenden erleuchten
können, selbst den Glaubenden, der er selbst ist, wo doch sein
„Glaube“ ein „Geschenk“ ist? Insofern er ein Geschenk ist, ist
sein Glaube kein Bestandteil der menschlichen Natur, über die
allein er mit seiner rationalen Methode „nachdenken“ kann. Die
Vernunft muss ihre Grenzen annehmen und darf sich nicht zum
Maß der Taten Gottes machen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Damit erinnern Sie mich, Herr Kanonikus, dass ich Ihnen
noch eine Erwiderung auf diesen Einwand schulde. Jetzt ist die
richtige Gelegenheit dazu.
Normalerweise sind Glaubende zu der Überzeugung gebracht
worden, oder reden sich selbst ein, dass der Glaube ein
„Geschenk Gottes“ ist, eine Begünstigung, die anderen nicht
zuteilwurde. Wenn der Seinsstatus des Glaubens so aufgefasst
wird — und das ist ohne Verwirrung gar nicht möglich —, dann
ist es für den Menschen nicht mehr möglich, als Philosoph nach
den Bedingungen der Möglichkeit des Glaubens zu suchen, und
mit seinen Bemühungen, sich seinen Glauben verständlich zu
machen, Erfolg zu haben.
Aber gehört diese Aussage, dass der „Glaube“ ein Geschenk
Gottes ist, zur „Glaubenslehre“, oder kommt sie von außen zu
dieser Lehre hinzu? Falls diese Aussage auch zur
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
201
„Glaubenslehre“ gehört, wäre dann nicht der Tatbestand, zu
glauben, dass der Glaube ein Geschenk ist, wiederum ein neues
Geschenk? Wenn ja, dann befinden wir uns hier in einem
Prozess ohne Ende. Dem Glaubensakt würde also eine
Widersinnigkeit anhaften. Das kann aber nicht sein, denn der
Mensch
ist
tatsächlich
zu
einer
authentischen
Glaubenszustimmung fähig. Daher muss die gewohnte Weise, in
der wir über die Verfasstheit des Glaubens sprechen,
generalüberholt werden.
Wenn nun aber die Aussage, dass der Glaube ein „Geschenk“
ist, von außen zu dem hinzukommt, was uns zum glauben
vorgelegt wird, dann kann der Glaubende sich damit kritisch
auseinandersetzen, ohne dabei seinen Glauben aufs Spiel zu
setzen, falls dieser Glaube authentisch ist und auf einer rational
gerechtfertigten Offenbarung beruht.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Und wenn das Bewusstsein, dass der Glaube ein Geschenk ist,
gleichzeitig mit der Annahme der Offenbarung geschenkt wird?
Dann wäre es nicht mehr angebracht, von einem „zweiten“
Glauben zu sprechen, der in einer absurden Weiterentwicklung
auf einen „ersten“ Glauben unendlich oft zurückkommt!
DER ANDERE PHILOSOPH
Zweifellos! Aber nur dann! Oder es könnte auch ein reflexiver
Vorgang im Inneren des Glaubens stattfinden; und daher eine
Möglichkeit gegeben sein, rational über die Offenbarung zu
urteilen. Oder die Glaubenszustimmung ist von einem reflexiven
Bewusstsein umgeben, wodurch es möglich würde, dass eine
Offenbarung, die dies veranlasst, kritisch beurteilt werden kann.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Man sollte zwischen Glaube und Offenbarung unterscheiden.
Bis anhin haben wir das zwar getan, aber vielleicht nicht klar
genug. Wir müssen bei der Wortwahl mehr Sorgfalt walten
lassen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau! Ich hätte diese Unterscheidung ganz offensichtlich in
Erinnerung rufen sollen... Das „Geschenk Gottes“ im
eigentlichen Sinne ist seine „Offenbarung“. Wir sollten also die
„Offenbarung“, die ein Werk Gottes ist, nicht mit dem Glauben,
202
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
der die Antwort des Menschen darstellt, verwechseln. Die
Offenbarung bietet sich als von Gott kommende Initiative dem
„Glauben“ des Menschen an. Einige Menschen nehmen dieses
Geschenk an, andere lehnen es ab und verharren im „NichtGlauben“. Diese Sicht der Dinge macht keinerlei Probleme. Und
die Tatsache, dass einige Menschen der Offenbarung zustimmen
und andere sie ablehnen, sollte nicht einer von Gott
vorgenommenen Auswahl zugeschrieben werden...
Selbst angesichts einer „Scheinoffenbarung“ wird der
Glaubende, der ihr aus Einfalt Glauben geschenkt hat, sagen,
dass sie ein „Geschenk Gottes ist“, denn er betrachtet sie als
„wahre Offenbarung“.
DIE HISTORIKERIN
Womit könnte man diese einfältige, in ihrem Verhalten einer
Leidenschaft
gleichende
Zustimmung
zu
Glaubensüberzeugungen erklären?
DER ANDERE PHILOSOPH
„... einer Leidenschaft gleichend“? Ihr Vergleich ist gewagt,
aber erleuchtend... Eine Leidenschaft ist etwas, was über einen
kommt... Also auch etwas, was einen ergreift... Das, was einen
ergreift, überkommt einen... Mit solchen Worten spricht man
von der Liebe zwischen Mann und Frau. Es ist etwas, was einem
„in den Schoß fällt“... und zwar manchmal für das ganze
Leben... zum Glück! Ähnlich verhält es sich mit dem Glauben...
Es ist wahr, dass der innere Schritt, zu glauben, einem scheinbar
„in den Schoß fällt“, genau wie die Liebe... Und da die
Offenbarung definitionsgemäß von Gott kommt, spricht man
von einem « Geschenk Gottes ». Dieser Ausdruck zeigt also eine
affektive Haltung, die bei Einigen mehr, bei Anderen weniger
deutlich zutage tritt, und bei wieder Anderen fast ganz fehlt... Es
geht um eine psychische Art und Weise, den Vollzug des
Glaubens zu leben. Die Redensart « der Glaube ist ein
Geschenk » drückt nicht den reflexiv erkannten Seinsstatus des
Glaubensaktes aus. Dasselbe gilt für die Begriffe « Berufung »
und « Ruf Gottes ». Sie bringen psychologisch die Bewegungen
des glaubenschaftlichen Bewusstseins zum Ausdruck.
DER PSYCHOANALYTIKER
Um die Naivität gewisser Zustimmungen zu religiösen
Überzeugungen zu erklären, berufen sich Psychologen und
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
203
Anthropologen auf eine Form des Herdentriebs der
menschlichen Spezies. Sie sind übrigens der Meinung, dass
diese Veranlagungen sich auch umgekehrt zugunsten der
« Glaubensüberzeugungen » des Atheismus auswirken können.
Genauso, wie es Modeströmungen gibt, gibt es auch Wellen der
Begeisterung für Glaubensüberzeugungen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Dies trifft sicherlich auf die religiösen Massenbewegungen
bei großen Anlässen oder Wallfahrten zu. Aber die Schafe des
Panurge in dem Buch Pantagruel von Rabelais würden sich
nicht aus Panik in einen Abgrund stürzen, wenn das Schaf nicht
von einer Angst getrieben wäre, die zur Flucht vor Raubtieren
zwingt... In ähnlicher Weise wäre diese gläubige religiöse
„Massenbegeisterung“ obwohl sie sich durch einen
bedauernswerten Mangel an Intelligenz auszeichnet, nicht
möglich, wenn es im menschlichen Bewusstsein nicht eine
gewisse Veranlagung zum Glauben gäbe, der eine gewisse
Verpflichtung anhaftet, sich zu verwirklichen... Außerdem sollte
man es nicht ausschließen, dass sich einzelne überlegt und
authentisch Glaubende in der Menge der Gläubigen befinden...
oder solche, die es zumindest werden wollen...
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Ihr Vergleich scheint sagen zu wollen, dass es eine Art
Glaubensinstinkt gibt, oder sogar, dass die Glaubenszustimmung
einem Determinismus unterliegt. Nun ist der Glaube aber ein
freier Schritt. Wenn ich an irgendeine Notwendigkeit gebunden
wäre, gäbe es keinen Glauben mehr.
DER ANDERE PHILOSOPH
Aus Ihrem Einwand kann ich mehrere Argumente schöpfen.
Mit der Behauptung, dass der Glaube ein freier Schritt ist —
wovon ich übrigens voll und ganz überzeugt bin — machen Sie
ihn zu einem Teil der Ausübung der Freiheit, die zum Wesen
des Menschen gehört. Der innere Weg des Glaubens ist also für
den Menschen sehr wohl konstitutiv. Die Glaubenschaft ist
sogar der vorzüglichste Ort der Ausübung der Freiheit des
Menschen. Und der Glaubensakt ist die Begegnung zweier
Freiheiten, nämlich jener des Offenbarers und jener des
Glaubenden. Und in dieser Begegnung sind weder die Freiheit
des Offenbarers, noch diejenige des Glaubenden einer
204
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
zwingenden, äußeren Notwendigkeit unterworfen. Zur
Präzisierung habe ich dem von Ihnen gebrauchten Ausdruck
„Notwendigkeit“ zwei Adjektive hinzugefügt: « zwingende,
äußere Notwendigkeit ».
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Es steht dem Menschen also frei, zu glauben, oder nicht zu
glauben!
DER ANDERE PHILOSOPH
Diese Aussage ist aus mehr als einem Grund falsch, obwohl
ein Gemisch aus dem, was man empirisch feststellt, und dem,
was konstitutiv Wahrheit ist, ihr den Anschein von Wahrheit
verleihen kann. Ich erkläre mich.
Im Bereich der Erkenntnis von Gegenständen, der von Platon
„doxa“ oder „opinion“ genannt wurde, stellt man fest, dass
einige Menschen Glaubende sind, und andere nicht. Der
Soziologe könnte dazu Statistiken aufstellen, Umfragen
bezüglich der Absichten der Glaubenden als Glaubende und
ihrer in bestimmte Gruppen eingeteilten Glaubensüberzeugungen machen. Damit würde man „religiöse Soziologie“
betreiben. Der Soziologe kann aber über das Wohlbegründetsein
dieser Verhaltensweisen kein Urteil abgeben. Er stellt nicht
einmal die Frage, wie der Mensch sich als glaubenschaftliches
Wesen verhalten soll. Diese Frage ist Sache der philosophischen
Überlegung. Nun beurteilt er das Verhalten der von ihm
beobachteten Glaubenden nicht mehr aufgrund einer Norm des
glaubenschaftlichen Verhaltens, die ihm die Soziologie nicht
liefern kann. Auch der Philosoph tut genau das nicht, obwohl er
diese Norm und die verschiedenen Verhaltensweisen, die sie
missachten, kennt und zur Sprache bringt. Ein derartiges Urteil
hängt von der moralischen Verantwortung eines jeden ab, je
nach dem, wie er sich persönlich dieser Norm bewusst ist.
Aus der soziologischen Feststellung, dass Einige glauben und
Andere nicht, kann ich nicht ableiten, dass es dem Menschen
freigestellt ist, zu glauben oder nicht zu glauben. Daraus, dass
gewisse Menschen Mörder sind, kann man nicht ableiten, dass
es dem Menschen freisteht, zu töten oder nicht zu töten.
Vielmehr ist jeder verpflichtet, nicht zu töten, und das Leben
seines Nächsten zu achten.
DIE ANWÄLTIN
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
205
Sie dürfen diejenigen, die nicht glauben, nicht mit Mördern
vergleichen... und alle Glaubenden mit ehrlichen Menschen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Natürlich nicht! Das tue ich auch nicht... Mein Vergleich
diente nicht dazu, die Nicht-Glaubenden mit Mördern zu
vergleichen, sondern einen Gedankengang anzuprangern, der
beansprucht, aus der Offensichtlichkeit der Feststellungen
objektiver Art, auf die er sich abstützt, eine Aussage reflexiver
Art herleiten zu können. Hierbei handelt es sich um eine der
häufigsten und bedauerlichsten Verwechslungen von
Erkenntnisweisen. Aus einer soziologischen Wahrheit kann man
keine philosophische Aussage herleiten.
Aber ich kann nicht alle Verwechslungen, die in dem gegen
mich vorgebrachten Einwand impliziert sind, durch einen Satz
beseitigen. Dieser Einwand ist von einer klassischen
theologischen Redeweise bestimmt. Aber für Sie als Anwältin,
die mir implizit eine Frage stellt, werde ich meinen Vergleich
etwas abändern, aus dem Blickwinkel, von dem her Sie ihn
verstanden haben, und nun mehrere, nämlich mindestens vier
Fälle unterscheiden.
Es gibt den ehrlichen Glaubenden, der einer wahrhaftigen
Offenbarung anhängt.
Es gibt den ehrlichen Nicht-Glaubenden, der eine wahrhaftige
Offenbarung ablehnt.
Es gibt den ehrlichen Glaubenden, der einer trügerischen
Offenbarung anhängt.
Es gibt den ehrlichen Nicht-Glaubenden, der eine trügerische
Offenbarung ablehnt.
Wegen ihrem grundsätzlich aufrichtigen Gewissen kann man
in diesen vier Fällen dem Glaubenden und dem NichtGlaubenden keinerlei moralische Vorwürfe machen.
Jedoch ist der Mensch im ersten und im vierten Fall jener
Idealsituation näher, die der Philosoph zu beschreiben sucht.
Im ersten Fall muss man sich fragen, ob der Glaubende in
seiner Ehrlichkeit auch die Gründe der Wahrheit der
Offenbarung, der er anhängt, sieht. Genau über diese Gründe der
Wahrheit unterhalten wir uns seit Beginn unserer
Zusammenkünfte. Wir stellen auch fest, dass es bei uns eine
weite Palette von konkreten, feinen Unterschieden gibt...
Im vierten Fall muss man sich fragen, ob der NichtGlaubende in seiner Ehrlichkeit auch die Gründe der Falschheit
206
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
der Offenbarung, die er ablehnt, sieht. Und genau über diese
Begründung der Falschheit, die der Begründung der Wahrheit
widerspricht, unterhalten wir uns hier auch.
Zum zweiten und dritten Fall ist zu sagen, dass man diesen
Menschen erst einmal verständlich machen muss, dass es
Begründungen der Wahrheit und der Falschheit gibt. Das ist
weitaus schwieriger, als einfach zu fragen, ob man diese
Begründungen sieht, wobei man deren Existenz implizit
annehmen würde. Hier handelt es sich also darum, die
intellektuellen
Ansprüche
anzuerkennen
und
ihnen
zuzustimmen. Dies ist für die menschliche Intelligenz eine
Pflicht, die noch vor der moralischen Pflicht kommt, zu glauben,
und „moralisch“ zu glauben.
Sie sehen also, dass ich nur den Menschen mit einem Mörder
verglichen habe, der eine wahrhaftige Offenbarung in Kenntnis
der Anzeichen für deren Wahrheit ablehnen würde. Dieser
Mensch würde schlecht handeln, nämlich einen Fehler begehen,
der für ihn selbst innerlich vernichtend wirken würde. Auch
derjenige, der weiterhin einer trügerischen Offenbarung
anhängen würde, obwohl er Kenntnis von den Anzeichen der
Falschheit derselben besitzt, handelt in unwürdiger Weise.
DIE ANWÄLTIN
Vielen Dank für diese ... schon fast juristische Erklärung...
DER MODERATOR
Könnten
Sie
vielleicht
auf
die
von
unserem
Theologieprofessor gestellte Frage nach der Freiheit des
Glaubens zurückkommen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Aber sehr gerne! Sie möchten, dass ich den Glaubensakt
erneut ins Auge fasse, und diesmal, insofern er ein freier Akt der
Person ist, und also nicht das Problem der Religionsfreiheit in
den Organisationen der Staaten?
DER MODERATOR
Genau. Das Problem der Religionsfreiheit betrifft die
kollektiven sozio-politischen Verhältnisse, die es dem Menschen
ermöglichen müssen, zu glauben und seine Glauben in würdiger
Weise zu bezeugen, und dies sowohl innerhalb eines
durchorganisierten religiösen Rahmens als auch ohne einen
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
207
solchen. Das Recht auf Religionsfreiheit stellt sich in diesem
Sinn gegen die Verfolgungen, die die Ausübung aller, oder nur
bestimmter Religionen verbieten wollen, indem sie den
Menschen eine Religion aufzwingen, die alle anderen
ausschließt.
Unser Theologe fragte sich..., — aber habe ich seine Frage
richtig verstanden? — ob Sie nicht unzulässigerweise von der
Anerkennung der glaubenschaftlichen Dimension des
Bewusstseins zu einer Art psychischem Glaubensdeterminismus
übergehen, der dem Glaubensakt seine auf Freiheit beruhende
Würde nehmen würde, so wie die Leidenschaft — hier nehme
ich den Begriff wieder auf, der am Anfang dieser Diskussion
stand — in gewissen Fällen unsere Freiheit einschränken und
unseren Verstand verdunkeln kann, ... wie man gewöhnlich sagt.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich beginne mit zwei lateinischen Kantzitaten, da ich das
Problem der Freiheit jetzt unmöglich bis ins letzte Detail
behandeln kann. „Non datur fatum; non datur casus: Es gibt
kein Schicksal, es gibt keinen Zufall.“ Aber es gibt
„Determinismus“. Ohne das Prinzip des Determinismus könnte
man die Wissenschaften, die sich mit der Materie befassen, nicht
betreiben, und genauso wenig jene, die sich mit dem Leben und
dem psychischen Leben des Menschen befassen. Dem Aufbau
der Welt, die uns umgibt, und deren Teil unser Körper ist,
entsprechen im Menschen, insofern er eine geistige Person ist,
die zu unserem Sein und zum Sein an sich gehörenden
notwendigen Grundeigenschaften.
Der Mensch ist als sich im Werden befindendes Seiendes
verpflichtet, sich gemäß den notwendigen Grundeigenschaften
seines Seins zu verwirklichen. Dies ist die philosophische
Grundlage der Moral. Sich gemäß den ihm eigenen inneren
notwendigen Grundeigenschaften zu vollenden, ist also für den
Menschen die höchste Form seiner Freiheit. Darin ist er von den
Einflüssen der äußeren Welt unabhängig. Aber um sich so zu
vollenden, gebraucht er die Determinismen der Welt, darin
eingeschlossen auch diejenigen seiner körperlichen und
psychischen Verfasstheit.
Auch kann man hinter den tiefen Neigungen der
menschlichen Psyche, sogar in ihren Fehlformen, das erahnen,
was durch Nachdenken im Tiefsten als „Verpflichtung“ erkannt
werden kann.
208
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Steht nicht aufgrund der Geistigkeit des Menschen hinter
einer zum Glauben „determinierten“ Psyche, natürlich ohne dass
sie dadurch zum Glauben „gezwungen“ wäre, eine Art
„moralische Verpflichtung, zu glauben“, wenn und sobald man
anerkennt, dass es eine für unsere Existenz in ihrer Gegenwart
und Zukunft konstitutive Offenbarung gibt? Diese
Verpflichtung, aus eigenem, freien Antrieb zu glauben, um
selber als glaubenschaftliche Person zu sein, würde, wenn sie
nicht richtig bewusst oder sogar unterentwickelt ist, die
psychische Neigung, vorschnell und ohne Unterscheidungsvermögen zu « glauben », erklären, genauso, wie es viel leichter
ist, aus Mitgefühl und rein emotional Nächstenliebe zu üben,
auch auf die Gefahr hin, dass dies für Betrug missbraucht wird,
als dasselbe aufgrund von Überlegungen und Sinn für
Gerechtigkeit und Verantwortung zu tun.
DER PSYCHOANALYTIKER
Soll das heißen, dass hinter dem Glaubenstrieb eine
„moralische Verpflichtung“ steht? So, wie hinter dem
Sexualtrieb die Verpflichtung steht, das Leben weiterzugeben...
Und genauso steht hinter dem Mutter- oder Vaterinstinkt die
moralische Verpflichtung der Eltern zur Liebe und
Verantwortung. Die Tatsache, dass diese Verhaltensweisen für
spontan angesehen werden, besagt nicht, dass sie nicht von einer
moralischen Forderung getragen werden. Ganz im Gegenteil!
Dies wird dann besonders gut sichtbar, wenn diese
Verhaltensweisen verkannt oder belächelt werden. In solchen
Fällen wird man sagen, dass die grundlegendsten Pflichten
missachtet und verraten wurden...
Wenn es eine Verpflichtung gibt, an eine Offenbarung, die
man als gültig anerkennt, zu glauben, dann ist der Glaube nicht
ein Geschenk. Denn man kann nicht verpflichtet sein, ein
Geschenk anzunehmen, auch dann nicht, wenn dies den Geber
verärgern könnte... der sich dann seinen Teil denkt... wie man
sagt.
Erlauben Sie mir noch zwei letzte Gedanken... Ich möchte sie
nicht in die Länge ziehen, aber ich möchte doch noch auf den
Beitrag des Muslim zurückkommen, und Ihnen zwei Parallelen
mitteilen, die mir durch den Kopf gehen. Die Vorstellung von
Verpflichtung wird mit jener von Strafe in Verbindung gebracht,
und umgekehrt... Im Koran bedroht Mohammed jene, die nicht
glauben wollen, immer wieder mit den schlimmsten Strafen... Er
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
209
bedroht diejenigen, die nicht an Gott und an seinen Propheten
glauben wollen. Liegt darin nicht so etwas wie ein unklares
Bewusstsein dieser Verpflichtung, zu glauben, die ihrerseits
hinter dem Glaubenstrieb steht? Wir haben es hier vielleicht mit
einer ansatzweisen Wahrnehmung dieser Verpflichtung zu tun,
und gleichzeitig mit einem Missbrauch dieser spontanen
Veranlagung, der in einer Schuldzuweisung an jene besteht, die
sich nicht der religiösen Gemeinschaft Mohammeds
anschließen.
DER ANDERE PHILOSOPH
In diesen Strafandrohungen ist auch eine Gottesvorstellung
enthalten, die jener der philosophischen Überlegung
widerspricht. Das ist also ein Hinweis, dass diese Offenbarung
nicht echt ist. Ein kritisches Hinterfragen seitens des
Glaubenden würde ihr den Boden unter den Füßen wegnehmen,
so dass sie niemanden mehr verpflichten kann, ihr zu glauben.
Die Freiheit unterliegt keiner Verpflichtung, zu glauben, außer
gegenüber einem Offenbarer, der sich auch seinerseits in
Freiheit für die vollkommene Verwirklichung desjenigen
Menschen einsetzt, von dem er Glauben verlangt. Aber man
muss auch zugeben, dass in Sachen der Moral sogar ein irriges
Gewissensurteil bindet, bis der Fehler festgestellt wird... Das
zeigt noch einmal, dass „Glaube“ kein Geschenk Gottes ist. Es
sei denn, dass man mir jetzt nochmals erwidert, dass nur der
„christliche Glaube“ ein „Geschenk Gottes“ ist! Ich denke, es ist
nicht nötig, auf diesen Einwand einzugehen...
Aber nun zur Möglichkeit, einer sich als „göttliche
Offenbarung“ darstellenden Offenbarung zu glauben: Ist sie ein
Geschenk Gottes oder nicht? Ich werde bejahend antworten,
aber kritisch. Die Fähigkeit, zu glauben, und ebenfalls der
Glaubensakt sind genauso „Geschenk Gottes“ wie die Fähigkeit
zu philosophischen Überlegungen, denn sie gehört zu unserer
menschlichen Natur. Sie ist „Geschenk Gottes“, genau wie die
Existenz, die Freiheit und die moralische Verpflichtung, darin
eingeschlossen die Verpflichtung, zu glauben, wie wir bereits
gesagt haben.
Aber es ist falsch, zu sagen, dass der Glaube ein Geschenk ist,
oder, wie einige Theologen präzisieren, ein übernatürliches
Geschenk, wenn wir darunter verstehen, dass es sich um eine
Fähigkeit handelt, die unserer Natur von außen hinzugefügt und
210
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
quasi mit der Offenbarung mitgeliefert wird, etwa wie ein
Schlüssel, der unsere Intelligenz für die Offenbarung öffnet.
Wenn dem so wäre, dann wäre Glauben nicht nur irrational,
sondern es wäre eine widernatürliche Tätigkeit, und nicht eine,
die „unsere Natur vollendet“. Wenn unsere menschliche Natur
„auf diese Weise vollendet“ werden kann, dann ist das eine
Eigenschaft ihres Seins. Sie hat dann also in ihrem Sein eine
natürliche Befähigung, zu glauben. Hier befinden wir uns mitten
im Problemkreis der „capacitas fidei“ (Befähigung zum
Glauben) und der „potentia oboedientialis“ (Fähigkeit, folgsam
zu hören), auf den auch Thomas von Aquin gestoßen ist. Aber
auch in diesem Bereich müssen wir uns einen Grundsatz
Ockhams in Erinnerung rufen: « Entia non sunt multiplicanda
sine necessitate » (Man sollte nur dann mehr zur Erklärung
dienende Wirklichkeiten annehmen, wo dies unbedingt nötig
ist).
Zu behaupten, dass Glaube ein Geschenk Gottes an Einige ist,
und Andere es nicht erhalten, so dass sie in ihrem « natürlichen
Zustand » und natürlicherweise glaubensunfähig verbleiben,
wäre die Zerstörung jeglicher Möglichkeit des richtigen und
echten Glaubens.
STEHT DER GLAUBE ÜBER DER VERNUNFT
ODER GEHÖRT DER GLAUBE ZUR VERNUNFT?
DER DOMHERR
Mit Thomas von Aquin fahren Sie die schweren Geschütze
auf... Aber sie haben gerade auch zugegeben, dass es ohne
Offenbarer keinen Glauben gibt. Wären Sie also soweit,
zuzugeben, dass der Glaube... ich würde nicht mehr sagen, der
Vernunft überlegen ist, denn das stört Sie, sondern dass er
außerhalb der Vernunft liegt?
DER ANDERE PHILOSOPH
Diesmal bin ich mit Ihnen zur Hälfte einverstanden. Dass der
Mensch nicht durch sich selbst allein, also ohne die Initiative
eines Offenbarers, sein Glaubensvermögen in die Tat umsetzen
kann, ist ganz offensichtlich, sogar mit analytischer
Offensichtlichkeit. Wie sollte ich „glauben“, wenn es keinen
Offenbarer gibt, an den ich glauben kann, und folglich auch
nichts, was mir offenbart ist? Aber das heißt noch nicht, selbst
dann nicht, wenn es sich beim Offenbarer um Gott handeln
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
211
sollte, dass das, was er dem Menschen offenbart, für den
Menschen unverständlich wäre, so dass er es nicht durch seine
natürlichen, eigenen Fähigkeiten verstehen würde.
In der Wirklichkeit dieser Fähigkeiten kann man übrigens
reflexiv eine Offenbarung Gottes erkennen und ihr daraufhin
glaubenschaftlich zustimmen.
Aber aus der Evidenz, dass ein ontologisch einzeln gedachter
Mensch über keine Möglichkeit verfügt, zu glauben, kann man
nicht den voreiligen Schluss ziehen, dass der Glaube außerhalb
der tatsächlichen menschlichen Vernunft liegen muss. Eine
derartige Schlussfolgerung wäre nur dann wahr, wenn man sie
auf einen Menschen beziehen könnte, der im Vornherein schon
als in seiner tiefsten Wirklichkeit als eine „in ihre Einsamkeit
eingeschlossene geistige Person“ definiert wurde, und wenn der
Glaube nichts anderes als eine Vernunft vor sich hätte, die
wiederum schon im Vornherein auf diejenigen Tätigkeiten
eingeschränkt wurde, die der Mensch „allein“ durchführen kann,
also ohne methodologisch oder ontologisch die Anwesenheit
einer anderen Person zu benötigen.
Dies trifft auf die Erkenntnis von Gegenständen und allen
anderen wahrnehmbaren Wirklichkeiten zu, auf die Logik und
Mathematik
und
auf
solipsistische
philosophische
Überlegungen. Aber in diesem Fall wäre jegliche Offenbarung
unmöglich.
Müsste man die tiefste oder erste Wurzel der Dissonanz
zwischen Glaube und Vernunft nicht gerade in einer falschen
Auffassung von dieser Evidenz sehen, und in all dem, was sie an
individualistischen Personbegriffen voraussetzt?
Aus welchen Gründen sollte man die Vernunft auf jene
Tätigkeiten einschränken, die der Mensch „allein“ durchführen
kann, wie dies der klassische und griechische Erkenntnisbegriff
tut? Aus welchen Gründen sollte man zugeben, ohne sich dessen
bewusst zu werden, dass der Mensch dann vollkommener wäre,
wenn er in seiner Person allein alle menschlichen Fähigkeiten
vereinen und so allein das ganze Universum besitzen könnte?
Man stellt sich die Vollkommenheit des Menschen anhand des
Modells der göttlichen Einheit vor. Dies ist ein MonoAnthropoismus, ein Abklatsch eines auf Einheit konzentrierten
Monotheismus.
Genau das ist die dauerhafte Vorstellung der klassischen
Ontologie seit Platon und Aristoteles. Sie beide haben den
Widerspruch zwischen der Behauptung der Einheit, die
212
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Parmenides besungen hat, und jener der Vielheit, deren
Verfechter Heraklit war, zugunsten von Parmenides
entschieden. Sie haben diesen Widerspruch aufgelöst, zugunsten
der Einheit, definiert als vollständige Ablehnung jeglicher
Unterscheidung und jeglicher Beziehung, in der absoluten
Gestalt ihrer unitären Vollkommenheit.
In einer solchen Vorstellung von Erkenntnis und Wirklichkeit
gibt es keinen Raum für den Glauben an eine Offenbarung.
DER DOMHERR
Dann würden also die Menschen, die nicht glauben, eher in
Übereinstimmung mit der klassischen Philosophie leben als die
anderen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Wenn man von den Voraussetzungen Ihrer Frage ausgeht,
lautet die Antwort „ja“. Aber diese Menschen wären weniger
gut als menschliche Personen entfaltet, nämlich im Einklang mit
einer unzureichenden Philosophie. Weniger im Einklang stehen
würde ihr Leben dagegen mit einer ganzheitlichen und
interpersonalen Philosophie. Wenn sie sich Letztere aneignen
würden, könnten sie sich ganz gewiss besser entfalten.
In der alltäglichen Wirklichkeit muss man die Dinge anders
beurteilen. Ich kenne Einsteins Relativitätstheorie nur sehr
schlecht und bin kein Doktor der Mathematik. Ich bin also
weniger „entfaltet“, als ich es sein könnte, wenn ich auch dieses
Wissen beherrschen würde. Aber das heißt noch nicht, dass ich
nicht so, wie ich bin, glücklich und entfaltet bin.
Wenn gewisse Menschen nicht glauben — und das ist eine
Tatsache — dann deshalb, weil sie eine natürliche
Glaubensfähigkeit einem bestimmten religiösen „Glauben oder
Glaubensgut“ gegenüber nicht zur Ausübung oder Entfaltung
gelangen ließen, ob sie nun die ethische Anforderung, sich
glaubenschaftlich einer kritisch überprüften und als für ihre
Existenz konstitutiv befundenen Offenbarung zu verpflichten,
verstanden haben oder nicht.
Vielleicht haben sie recht damit, noch Nicht-Glaubende zu
sein — was nicht heißt, dass sie glaubensunfähig wären —,
nämlich falls sie bisher noch auf keine offenbarte Botschaft
gestoßen sind, die ihres menschlichen Glaubens würdig gewesen
wäre, oder falls ihnen bewusst geworden ist, dass das, was man
ihnen als „göttliche Offenbarung“ angeboten hat, nicht
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
213
menschenwürdig und auch nicht mit einer erhabenen
Gottesvorstellung vereinbar war. In diesen Fällen liegt für sie
mehr Würde darin, nicht zu glauben. Hier sage ich in anderer
Form nochmals das, was ich bereits unserer Anwältin erwidert
habe.
Natürlich können sich die Menschen auch weigern, zu
glauben, indem sie die „Glaubenspflicht“ zurückweisen, oder
aus Angst vor den geistigen und moralischen Forderungen, die
sich aus einer derartigen Glaubenszustimmung ergeben. Aber
derartige Gründe für das Zurückweisen des Glaubens verdienen
hier nicht unsere Aufmerksamkeit, denn uns geht es darum, auf
der ontologischen Ebene den Zusammenhang zwischen Glaube
und Vernunft zu verstehen, wobei beide in ihrer ganzheitlichen
menschlichen Echtheit betrachtet werden sollen. Es handelt sich
dabei natürlich um einen „Idealzustand“ des Wirklichen, wie ihn
der Philosoph betrachten muss, um die tatsächliche und
kontingente Wirklichkeit besser zu verstehen. In einer
pastoralen Sicht der Dinge, und gewissermaßen mit dem Blick
des Arztes betrachtet, dürfen die psychologischen Gründe der
Zurückweisung des Glaubens sicherlich nicht übergangen
werden.
Das Ideal für den Menschen besteht also darin, zu glauben,
aber dies im Einklang mit einer Philosophie, die seinen
Glaubensvollzug auf das unveränderliche Sein des Menschen
begründet und die ihm eben dadurch die Mittel bereitstellt, die
Wahrheit der Offenbarung und die Wahrhaftigkeit des
Offenbarers, dem er Glauben schenkt, als solche zu erkennen.
DER MODERATOR
Allmählich müssen wir zum Schluss kommen. Daher möchte
ich Sie bitten, kurz das Wesentliche Ihrer Verteidigungsrede für
ein
auf
das
philosophische
Denken
abgestütztes
Glaubensvermögen und für eine Philosophie, die dem Glauben
den Platz vollumfänglich einräumt, der ihm gemäß der
interpersonalen
Natur
des
Menschen
zukommt,
zusammenzufassen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich fasse also zusammen. Der Glaubende, der für seine
Glaubenszustimmung vollumfänglich verantwortlich sein will,
wird sich nicht nur die Frage nach der Vereinbarkeit dieser oder
jener seiner Glaubensinhalte mit diesen oder jenen klassischen
214
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
philosophischen Standpunkten stellen. Eine begriffliche
Übereinstimmung zwischen den beiden würde nur das rationale
Aussagen des Glaubens bestehen lassen, und eine Glaubensleere
nach sich ziehen. Der Glaubende wird vielmehr nach dem
Warum und Wie der Möglichkeit der Glaubenszustimmung und
ihrer authentischen Ausführung im Einklang mit den ethischen
Bedürfnissen seines Gewissens und seiner Freiheit fragen. Er
wird sich außerdem darum bemühen, die spezifische Eigenart
einer Glaubenswahrheit an sich zu verstehen. Letztere darf nicht
für eine philosophische Wahrheit gehalten werden, aber sie ist
nicht weniger voll und ganz rational, in einer
„glaubenschaftlichen Rationalität“ die ohne irgendeine
Gleichsetzung oder Überlagerung mit den drei anderen Formen
der Rationalität in einem vollkommenen ontologischen Einklang
harmoniert.
Um diese « glaubenschaftliche Rationalität » zu entdecken,
wird der Mensch als Glaubender also aus eigener
Verantwortung seine philosophische Überlegung auf ein
natürliches Glaubensvermögen ausrichten, und dabei eine
Glaubensvorstellung anzweifeln, die in die Richtung geht, den
Glauben in sich selbst einzuschließen, indem sie ihn als eine
« Gesamtheit von Bevorzugungen » ansieht. Letztere
Glaubensvorstellung ist eine sehr unangebrachte Art, dem
Schöpfer unsere Dankbarkeit für eine herausragend kostbare
natürliche Fähigkeit zu erweisen.
Und derselbe Mensch wird sich als Philosoph, aufgrund
seines eigenen Glaubensvollzugs oder vor dem Glaubenszeugnis
einiger Seinesgleicher, die Frage nach der traditionellen
Vorstellung von der Vernunft stellen, die ihrerseits dazu neigt,
die Vernunft in sich selbst einzuriegeln, indem sie sie in einen
„Status der Einsamkeit“ einschließt. Denn tatsächlich sind die
einzigen
drei
Erkenntnisformen,
in
denen
man
„klassischerweise“ die Entwicklungsmöglichkeiten der Vernunft
zu sehen meinte, durch und durch und wesentlich „individuelle“
Tätigkeiten.
Sie werden als das ontologische Vorrecht eines menschlichen
Seienden betrachtet, das „allein“ in der Welt existieren könnte,
selbst wenn sie erfahrungsgemäß „in Gruppen“ ausgeübt
werden. Und es ist wahr, dass die Wahrheiten dieser
Erkenntnisformen, also der doxa-Naturwissenschaften, dianoiaMathematik und noésis-Philosophie, selbst für einen Menschen,
der „allein auf der Welt“ wäre, wahr zu bleiben scheinen. Die
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES
215
klassischen Philosophen sind außerdem der Ansicht, dass es sich
sogar mit Gott analog verhält, der ganz offensichtlich als ...allein
in seiner Gottheit gedacht wird: „Selbstdenken seines
Selbstdenkens“ „Selbstwollen seines Selbstwollens“, nach dem
berühmten Ausspruch des Aristoteles.
Wenn der Glaubende und der Philosoph beide darum bemüht
sind, den Anforderungen ihrer jeweiligen Denkweisen zu
genügen, so können sie nicht anders, als einmütig folgende
Dinge erneut in Frage zu stellen: a) die bei den Glaubenden
gängige Glaubensvorstellung, die den Glauben für der Vernunft
überlegen und als besonderes Geschenk Gottes ansieht, b) die
klassische Vorstellung von der Vernunft, die von der
traditionellen Philosophie auf wesentlich solitär-individuelle
Tätigkeiten eingegrenzt wurde.
Eine bessere Lösung würde darin bestehen, den
Glaubensvollzug philosophisch als voll und ganz rational, also
als Aktualisierung einer „glaubenschaftlichen Rationalität“ zu
betrachten, die es genauso gibt wie eine experimentelle oder
naturwissenschaftliche Rationalität.
So, wie es möglich ist, dass man, indem man sich auf die
Bejahung einer naturwissenschaftlichen Rationalität abstützt,
eine Methodologie der Naturwissenschaften ausarbeitet und den
experimentellen Wert der naturwissenschaftlichen Forschungen
anhand dieser für die menschliche Intelligenz konstitutiven
Rationalität beurteilet, würde es auch möglich sein, dass man,
auf der Grundlage einer für das menschliche Bewusstsein
konstitutiven glaubenschaftlichen Rationalität den Wert einer
Glaubenszustimmung
und
der
„glaubenschaftlichen
Vertrauenswürdigkeit“ einer Offenbarung, die eine derartige
glaubenschaftliche Zustimmung verlangt, feststellt. Diese
Zusammenfassung ist auch ein „Programm“. Ich müsste diese
Aussagen jetzt nur noch untermauern...
DER MODERATOR
Die Sitzung ist beendet. Wir sehen uns heute Nachmittag
wieder... Die frische Luft auf Deck haben wir uns nun sehr wohl
verdient...
FÜNFTE BEGEGNUNG
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN
DER EINHEIT DES SEINS
Auf Deck des Kreuzschiffs bittet die Anwältin die Historikerin
um einige Erklärungen.
DIE ANWÄLTIN
Nach dem zu urteilen, was ich heute Morgen gelernt habe,
scheint also die ganze Philosophiegeschichte von Anfang an
durch die Auseinandersetzung zwischen zwei Männern
bestimmt zu sein: Heraklit und Parmenides.
DIE HISTORIKERIN
Und dabei haben sie einander nie getroffen! Parmenides lebte
gegen Ende des 6. Jahrhunderts in Eleas, einer Stadt an der
Westküste Italiens, die von Siedlern aus der Stadt Phokaia
gegründet worden war, einige Hundert Kilometer südlich von
Neapel. Um die Jahrhundertwende kam er nach Athen und
verbrachte dort die zweite Hälfte seines Lebens. Dort wurde er
zum Gegner der Schüler des Heraklit. Dieser wiederum hat in
Ephesus gelebt, in Kleinasien. Er, etwa dreißig Jahre älter als
Parmenides, behauptete, dass sich alles in ununterbrochener
Bewegung befinde und dass die unzähligen gegensätzlichen
Pole dieser vielfältigen Veränderungen wie Tag und Nacht
unvereinbar sind und aufeinander folgen. Als gegenteilige Sicht
zu dieser in bleibender Unbeständigkeit befindlichen Vielfalt
von Elementen behauptete Parmenides die Einheit,
Beständigkeit und Ewigkeit des Seins. Während die
Veränderung und die Verschiedenheit der Dinge unsere
Wahrnehmungsfähigkeit beschäftigen, verfügt allein unser
Denken über einen Zugang zu dem, was beständig, sicher und
218
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
ganz und gar in dem Kreise der Einheit des Seins eingeschossen
ist. Ich erinnere mich, dass er dieses Bild in einem seiner Verse
gebraucht... Was den Rest anbelangt... erinnere ich mich nicht
mehr so genau... Oh! Ich sollte das in meinen Skripten
nachlesen.
DIE ANWÄLTIN
Mir scheinen sie beide recht zu haben.
DIE HISTORIKERIN
Genau das haben auch die Athener gedacht. Und doch sind
die beiden Auffassungen unvereinbar, zumindest auf den ersten
Blick. Platon und Aristoteles haben ihren Gegensatz geerbt. Sie
haben versucht, ihn zu überwinden. In der allgemeinen
Geschichte der philosophischen Vorstellungen ist man der
Meinung, dass sie die Veränderung und die Vielfalt der
Phänomene mit dem, was materiell ist, in Verbindung gebracht
haben, also mit unserem Körper, mit unserer sinnlichen
Wahrnehmung. Und das Verstehen der Einheit, des Bleibens der
Dinge und der Ewigkeit der Welt wäre Sache unseres Denkens,
also kurz gesagt dessen, was geistig ist. Und so gaben sie der
Einheit mehr Gewicht als der Vielheit; und dem, was beständig
ist, mehr Gewicht als dem, was sich bewegt; und dem, was
bleibt, mehr Achtung als dem, was vergeht; und dem, was ewig
ist, mehr Bewunderung als dem, was nur zeitlich ist.
DIE ANWÄLTIN
Aus dieser allgemeinen Sicht der Dinge heraus kann ich nun
verstehen, warum sie meinen konnten, dass die Seele ihre
Einheit beibehält und unsterblich ist, während der Körper das
bisschen Einheit, das er hat, verlieren und sich in eine Vielzahl
von Staubteilchen auflösen muss.
DIE HISTORIKERIN
Tatsächlich bin ich der Ansicht, dass die abstrakten
Überlegungen zur Einheit und Vielheit der Dinge für diese
Philosophen in engem Zusammenhang zu unserem
schmerzlichen Zustand des Sterblichseins standen... Wir werden
noch Gelegenheit haben, unsere „Philosophen“ darüber zu
befragen... Sie mögen unsere Fragen...
DIE ANWÄLTIN
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
219
Für mich sind diese Diskussionen neu. Ich habe oft auch
etwas Mühe, ihnen zu folgen. Aber die Debatte gefällt mir.
Manchmal kommt es zu Konfrontationen, wie unter Anwälten...
Und ich mag ihre Sorge um die Genauigkeit der Begriffe... Das
ist sehr juristisch... Und unerlässlich, wenn man verschiedene
Meinungen klar auseinanderhalten will...
DIE HISTORIKERIN
Genau! In diesem Gebiet versündigen sich die Historiker
gelegentlich, vorgegebenermaßen... Aber gelegentlich kann
Ungenauigkeit auch eine Art und Weise sein, der zu
rekonstruierende Wirklichkeit näher zu kommen. Man sagt, dass
die Geschichte keine exakte Wissenschaft ist... Und sie ist auch
nicht immer eine deutliche Wissenschaft... und die Wirklichkeit
selbst?
DIE ANWÄLTIN
Auch zu unserem Beruf gehört es, gelegentlich mit der
Mehrdeutigkeit gewisser Situationen zu jonglieren... Ja! Aber da
sind diese „gelehrten Herren“ ja schon, auf dem Weg zu
unserem Sitzungszimmer... Gehen wir ihnen entgegen... Haben
Sie bemerkt, wie sie sich freuen über die Aufmerksamkeit, die
wir ihnen schenken?
DIE HISTORIKERIN
Um sie zufrieden zustellen, reicht es vollends, so zu tun, als
ob man aufpasst... Gelegentlich sind sie genauso naiv, wie ihre
Abstraktionen hochstehend sind... Was für ein Gegensatz zur
Geschichte und ihren Tatsachen...
DER MODERATOR
Guten Tag, meine Damen... Sind nun alle da?... Ja! Alle
Sessel sind besetzt... Sehr gut! Sind Sie der Meinung, dass wir
uns das Wesentliche der Diskussionen von heute Morgen in
Erinnerung rufen sollten?
EINIGE WEIBLICHE STIMMEN:
Nein... Das ist nicht nötig... Nur, wenn uns die Diskussion
darauf zurückführt... Ich denke nicht...
DER MODERATOR
Aber vielleicht stehen Fragen im Raum?
220
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
EINE KLASSISCHE PHILOSOPHIE DES INDIVIDUUMS ODER EINE
PHILOSOPHIE DER INTERPERSONALEN BEZIEHUNG?
DIE KRANKENSCHWESTER, Mutter von 5 Kindern:
Anstatt eine Frage zu stellen, würde ich gerne mein Erstaunen
und meine Verwunderung zum Ausdruck bringen... Ich hätte nie
gedacht, dass die griechische oder klassische Philosophie, wie
Sie sie nennen, eine individualistische Philosophie ist. Ich
dachte, dass der Individualismus eine eher neue Erscheinung ist,
nur zwei oder drei Jahrhunderte alt..., vielleicht gab es ihn schon
seit der Französischen Revolution... und ich dachte auch, dass
man in der Antike mehr Familien- und Gemeinschaftssinn
hatte... sowohl im bürgerlichen als auch im religiösen Leben.
Früher starb man meistens „in der Familie“ und nicht einsam
in einem Krankenhausbett; womit ich übrigens nicht die Qualität
der Pflege in Abrede stellen will... Die Angehörigen besuchen
den Kranken natürlich, aber sie leben nicht mit ihm zusammen
im Krankenhaus. Das wäre ja auch gar nicht möglich.
Aber nicht nur das Alter ist der Einsamkeit ausgesetzt,
sondern auch die Kindheit, zum Beispiel, wenn die Mutter oder
der Vater das Kind oder die Kinder allein erziehen muss, oder
mit einem neuen Lebenspartner.
Heutzutage ist das soziale Netz vielleicht materiell besser
ausgebaut als damals, und kollektiv besser organisiert,... aber
eben gerade dadurch ist es auch entpersönlicht. Eine von einem
staatlichen Organ zugeteilte Unterstützung ist anonym... Ihr
fehlt die Wärme der familiären Bindungen und die für
mitmenschliche Beziehungen bezeichnende Aufmerksamkeit.
Hiermit kritisiere ich nicht die soziale Sicherheit, sondern
prangere an, dass ihre Solidarität nicht von offenherzigen
Beziehungen
der
Zärtlichkeit,
Freundschaft
oder
Zusammengehörigkeit getragen ist. Und wo derartige
Beziehungen vorhanden sind, können sie sich gar nicht durch
materiell wirksame Hilfe äußern, denn dazu fehlen die Mittel...
die ja von den offiziellen Organen in Anspruch genommen
werden... Wir haben es mit einem wirtschaftlichen Kalkül des
„jeder für sich, mir genauso viel wie dir“ zu tun.
Eine solch entpersönlichte Großzügigkeit gibt keinen Anlass
mehr für Dankbarkeit und Anerkennung... Sondern nur dafür,
dass ein jeder sein Recht einfordert... Die Dinge, die wir
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
221
empfangen, sagen uns nichts mehr über den, der sie uns gibt...
Nun hat aber eine Tasse Kaffee, zubereitet von jemandem, der
uns liebt, einen anderen Geschmack als der Kaffee aus einem
Automaten...
Wenn die Dinge, die wir besitzen, uns nichts sagen über
Menschen, die uns lieben... wozu nützen sie uns dann? Daher
war ich überrascht, zu hören, dass für die klassischen Denker
mehr Vollendung darin liegt, allein die Dinge zu besitzen, als
darin, sie mit anderen zu teilen, und mehr Vollendung darin,
dass man allein erkennen kann, als darin, dass man das erkennt,
was die Dinge uns vermitteln, wenn sie uns von anderen
gegeben werden. Der Rosenstrauß, den mir mein Ehemann
schenkt, sagt mir mehr als derselbe Strauß im Schaufenster eines
Blumengeschäfts... auch wenn ich Letzteren kaufen könnte, um
das Wohnzimmer zu verschönern...
DIE HISTORIKERIN
Was Sie feststellten, lässt sich vielleicht dadurch erklären,
dass die Solidarität in den modernen Staaten ein ganz anderes
Ausmaß annehmen muss. Es ist wahr, dass die gegenseitige
Hilfe in den Dörfern und Städten von damals unmittelbarer war
und sozusagen ein Gesicht hatte. Aber sie war auch weniger
umfangreich. Und je mehr sie sich auf eine Region oder einen
Staat ausweitet, umso mehr wird sie „globalisiert“, und die
interpersonalen Beziehungen dadurch aufgelockert. Das ist
unvermeidbar. Soll man es bedauern? Ich weiß nicht. Ganz
gewiss ist die Hilfe, die offizielle nationale und internationale
Organisationen in von Hunger oder Armut betroffenen Ländern
leisten, weitaus wirksamer als die Taten Einzelner, obwohl
Letztere auf keinen Fall in Folge der Werbung von
Wohltätigkeitsorganisationen vernachlässigt werden dürfen...
Diese bemühen sich übrigens darum, zwischen ihren
„Bedürftigen“ und ihren Wohltätern eine Beziehung
aufzubauen, die so direkt wie nur möglich ist... Das wurde auch
durch Ihre Bemerkungen bestätigt...
DIE ANWÄLTIN
So gesehen hat die Anonymität der sozialen Hilfeleistung
etwas für sich. Sie ermöglicht, dass sich der Empfänger seinem
Wohltäter gegenüber nicht verpflichtet fühlt. Dies kann
durchaus eine Frage der persönlichen Würde sein, vor allem
dann, wenn man keine Gegenleistung erbringen kann... Ich
222
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
denke, es ist schwierig, ein einziges Ideal zu finden für alle
Situationen, wo Großzügigkeit zur Pflicht wird. Aber leider gibt
es auf der Welt nicht nur Menschen, die einander lieben... sonst
würde man uns Anwälte und auch die Richter gar nicht mehr
brauchen...
DER EXEGET
Um Ihre Überlegungen noch zu vertiefen, meine Dame, wäre
es vielleicht interessant, zu sehen, wie Jesus sich verhält, wenn
man ihn um eine großzügige Hilfeleistung bittet. So schickt er
zum Beispiel einmal die Aussätzigen, die er gerade geheilt hat,
sich den Priestern zu zeigen, und gebietet ihnen, die Steuer für
die Wohltätigkeitswerke des Tempels abzugeben. Ein anderes
Mal lobt er den Aussätzigen, der als Einziger von zehn
Geheilten zurückgekommen war, um sich bei Jesus zu
bedanken, und beglückwünscht ihn zu seinem „Glauben“. Oder
schauen wir, welche inneren Haltungen Jesus absichtlich
„aufwertet“. So bleibt im Gleichnis vom barmherzigen
Samariter dieser dem Geretteten unbekannt. Im Gleichnis vom
unbarmherzigen Schuldner verurteilt er diesen, weil er, nachdem
er Hilfe erhalten hatte und sein Gläubiger ihm aus dem Elend
geholfen hatte, sich nicht selber den anderen gegenüber genauso
verhält... Das würde also bedeuten, dass die beste Art und
Weise, Gott für seine Großzügigkeit zu danken, darin besteht,
dass wir uns unsererseits anderen gegenüber als großzügig
erweisen.
Unserer Anwältin würde ich also erwidern, dass diese an
Drittpersonen geübte Großzügigkeit es ermöglicht, dass man
sich nicht gegenüber demjenigen, der an erster Stelle geholfen
hat, durch „Schuldgefühle verpflichtet fühlt“. Und der
Dankbarkeit und Anerkennung ist dadurch Raum gegeben, dass
wir eine Großzügigkeit, von der wir vorher profitiert haben, nun
für andere wiedererstatten. Und indem wir das tun, befreien wir
uns auch von einer Fixierung auf ein rein forderndes Verhalten...
Übrigens liegt es nicht in der Natur eines echten Geschenks,
demjenigen, der es empfängt, Verpflichtungen aufzuerlegen...
Ganz im Gegenteil!
DER MODERATOR
Mir scheint, dass sich Ihre Gedanken gegenseitig ergänzen.
Wenn ich darin nach dem roten Faden suchen wollte, so würde
ich bei der Ablehnung einer individualistischen Vorstellung von
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
223
der Existenz ansetzen. Für die Exegese des Evangeliums ist dies
sonnenklar. Aber genauso ist es wahr, denn unsere Anwältin
spricht von einer „zur Pflicht gewordenen Großzügigkeit“, und
unsere Teilnehmerinnen haben eine Empfindung für die Gefahr
der „Entpersönlichung“ der menschlichen Beziehungen.
Auf der Ebene dieser praktischen Überlegungen würden wir
uns also von der klassischen Philosophie distanzieren. Sie wären
der günstige Hintergrund, so werden wir sagen, für eine
Philosophie der Beziehung. Andererseits sind die Faktoren der
Entpersönlichung sehr wirklich. Trotzdem sind die Glaubensund Vertrauensbeziehungen die persönlichsten Beziehungen, die
es überhaupt gibt. Sind sie durch diesen von der Anonymität
bewirkten Abstand bedroht? Oder sind sie im Gegenteil so tief
in uns eingeprägt, dass sie allen menschlichen Beziehungen eine
Seele verleihen können?
DER ANDERE PHILOSOPH
Mich überrascht Ihr Erstaunen keineswegs, meine Dame. Der
Individualismus, den Sie bei der Ausübung Ihres Berufs
feststellen, und auch das Phänomen der „Entpersönlichung“ in
der modernen Gesellschaft sind beide tatsächlich Auswirkungen
der klassischen Philosophie, die die Gedanken langzeitig
unterwandert hat, und zwar aufgrund ihrer wahren Werte, wie
etwa des Sinnes für Erfahrung und deren technische Anwendung
in der Arbeit, und gleichzeitig auch aufgrund ihres Mangels an
der Untersuchung von allem, was „beziehungsbedingt“ ist. Die
theoretischen Fehler in unserer Vorstellung vom Leben kommen
auf der praktischen Ebene erst verspätet zum Vorschein, vor
allem dann, wenn man, um ihre Falschheit zu erkennen, erst
durch ihre schmerzhaften Folgen hindurchgehen muss.
Ich mache ein Beispiel: die marxistische und kommunistische
Existenzvorstellung. Die theoretischen Fehler des Marxismus
wurden von den Philosophen sehr bald erkannt. Aber dennoch
setzte sich diese Lehre ein ganzes Jahrhundert lang durch. Die
Unzulänglichkeiten, von denen sie gezeichnet war, mussten
zwangsläufig eine Tragödie verursachen. Derweil war es aber
ihr Versagen auf der praktischen Ebene, das der großen Maße
ihre theoretischen Irrtümer zeigte, und das, obwohl die klarsten
Denker sie bereits diagnostiziert hatten.
Betrachten wir nun die soziologischen Auswirkungen der
klassischen Philosophie, also der Philosophie der ungeteilten
Einheit und der Unkenntnis der wesentlichen beziehungsbe-
224
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
dingten Dimension der menschlichen Person. Wir haben kaum
damit angefangen, ihre spekulativen Mängel zu erahnen. Und
sie bestimmt die Geister nicht seit einem Jahrhundert, sondern
im Westen seit einem Jahrtausend... Angesichts des Fehlens
einer intellektuellen Diagnose ihrer Mängel muss man
zwangsläufig den Umweg der Feststellung ihres Scheiterns auf
der praktischen Ebene nehmen. Und dieses Scheitern ist gerade
erst dabei, sichtbar zu werden.
Und dieses Scheitern nehmen Sie, meine Dame, in Ihrer
Umgebung wahr. Auch in anderen Bereichen, wie etwa im
bürgerlichen oder kirchlichen Leben macht es sich sehr wohl
bemerkbar... Darüber können wir später noch sprechen, falls
sich eine Gelegenheit ergibt. Und dass frühere Generationen,
selbst zur Zeit der ersten Ansätze dieser Philosophie, noch in
einer von ihren Mängeln weniger berührten Weise leben
konnten, ist auch ganz und gar normal. Sie sind aber auch nicht
in den Genuss der positiven Entwicklung der wirklichen Werte
dieser Philosophie gelangt, besonders, was das Gebiet der
Naturwissenschaften und der Technik anbelangt, oder auch den
juristischen und sozialen Bereich.
Meine Dame, trauern Sie nicht einer Zeit nach, wo die
Generationen vielleicht noch auf menschlichere Weise lebten,
aber ohne es zu wissen... und ohne ihre Veranlagung zur
Großzügigkeit materiell zum Ausdruck bringen zu können. Wir
sollen uns vielmehr wünschen, eine neue Vorstellung vom
Leben auszuarbeiten. Diese wird zuerst auf der theoretischen
Ebene die klassischen Mängel beseitigen, und dann bewusst zu
ganzheitlicher menschlichen Verhaltensweisen anregen, indem
sie auf der praktischen Ebene über bessere technische
Möglichkeiten verfügt.
DER DOMHERR
„Eine neue Vorstellung vom Leben“... Aber, mein Herr, alle
Reformatoren haben das gesagt, und sogar alle Diktatoren...
Äh... Entschuldigen Sie... Ich weiß, dass sie für Diktatoren
keinerlei Sympathie hegen... Aber, um konkret zu sein, welche
Mittel sind es denn nun, die Sie vorschlagen, um diese „neue
Vorstellung vom Leben“ auszuarbeiten?
DER ANDERE PHILOSOPH
Herr Kanonikus, es geht mir nicht um das „um jeden Preis
Neue“, um die Neuheit um der Neuheit willen... „um auf der
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
225
neuen Welle zu reiten“, oder um „mit der Mode zu gehen“. Dem
Ufer entlang sind alle Wellen neu, und sie alle zerschellen sehr
schnell, im Sand oder an den Felsen...
Ich meine, dass ich bereits zu Genüge gesagt habe, dass es
sich um eine Neuheit handelt, die gegen die Unzulänglichkeiten
der klassischen Philosophie Abhilfe schaffen soll. Tatsächlich
gibt es in der modernen Philosophie Strömungen, die man als
„neu“ bezeichnen kann, als auf dem Kamm einer Welle reitend.
Aber sie werden gegen die Mängel, die ich bereits angesprochen
habe, keine Abhilfe schaffen, sondern tragen sogar noch ihren
Teil dazu bei...
DER DOMHERR
Aber dann... Welche Wege zeigen Sie uns? Uns stehen
nämlich nicht allzu viele Mittel zur Verfügung, um die Welt zu
verändern... Wir können nichts weiter tun als einige Gedanken
formulieren...
DER ANDERE PHILOSOPH
Die Wege und die Mittel? All unseren Kollegen in der
Philosophie und all jenen, die für Erziehung und Information
verantwortlich sind, eine Philosophie darbieten, die den
glaubenschaftlichen Verhaltensweisen endlich den Status der
Rationalität einräumt, der ihnen gebührt, und das sowohl im
Bereich der Erkenntnis, als auch in jenem des Seins, also in der
Ontologie.
DER ERSTE PHILOSOPH
Dazu wäre dann aber auch noch nötig, dass diese Darlegung
kräftig untermauert ist... und jeglicher rational begründeten
Kritik standhalten kann...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz und gar einverstanden, lieber Kollege... Behalten wir
von der klassischen Philosophie das, was gut begründet ist! Wir
sollten von ihren Standpunkten nur diejenigen verwerfen, die
uns daran hindern würden, gegen ihre eigene Lückenhaftigkeit
Abhilfe zu schaffen, also gegen ihre spekulativen Tabus, die es
uns verbieten, die Wirklichkeit des glaubenschaftlichen
Bewusstseins und seine ontologischen Folgen rational
anzuerkennen. Hier handelt es sich um ein ganzes Programm...
226
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Warum nicht ganz bescheiden mit der Hypothese anfangen,
dass der „Glaube“ eine rationale Erkenntnisform darstellt? Ich
spreche natürlich vom „Vollzug des Glaubens“. Es geht mir
nicht darum, alle Glaubensüberzeugungen als rational zu
deklarieren... Davon bin ich sehr weit entfernt... Und wenn diese
Hypothese einmal bewiesen ist, könnten wir dann zur
Formulierung eines Grundsatzes fortschreiten?
Welche Folgen würde eine derartige Hypothese für unser
Glaubensverständnis haben? Schon Aristoteles wies darauf hin,
dass „der Mensch von Natur aus danach verlangt, zu erkennen“.
Und er fasste die drei dem „individuellen“ Menschen
zugänglichen Erkenntnisformen ins Auge. Warum sollten wir
nicht auch sagen: Der Mensch verlangt von Natur aus danach,
zu glauben? Also danach, das glaubenschaftlich zu erkennen,
was ihm ein Anderer ihm Versprechen an ihn offenbaren will?
In diesem Fall würde man den Glauben als besondere
Erkenntnisform ins Auge fassen. Sie gehört wesentlich zur mit
Bewusstsein und Freiheit begabten menschlichen Natur, in
jedem Menschen, ganz und gar. Daraus folgt, dass die
Beziehung zum Anderen, zu demjenigen, der Offenbarer ist,
wesentlich zum Sein des Menschen gehört, dass diese
Beziehung also nicht gelegenheitsbedingt, nebensächlich oder
akzidentell ist. Aristotelisch ausgedrückt würde die Verbindung
zwischen dem Offenbarer und dem Glaubenden also zu seinem
geistigen Wesen gehören.
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich als klassischer Philosoph kann das sehr wohl annehmen.
Der Glaube ist gleichzeitig ein intellektueller und willentlicher
Akt...
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau deshalb muss, damit man den Unterschied gut erfasst,
hinzugefügt werden, dass die Verständigungsbeziehung
zwischen Offenbarer und Glaubenden, falls sie ein Faktor
unseres geistigen Wesens ist, dies nicht aufgrund des
Unvollkommenheitsprinzips, der Endlichkeit und der inneren
Vielheit unseres Seins (also nicht aufgrund seines „menschlich“
begrenzten und „materiell“ vervielfältigen Wesens in einer
Vielzahl von Individuen) ist.
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
227
Das gibt mein klassisch denkender Kollege zu, denn dieser
Aspekt von Unvollkommenheit gehört auch zu unserem
geistigen Wesen, insofern dies ein endliches und begrenztes
Seiendes ist. Aristoteles nannte dieses Prinzip der Begrenztheit
der Wirklichkeit eines Seienden, das die Vielheit der von ihm
verschiedenen und ihm ähnlichen Dinge ermöglicht, dynamis,
und die Philosophen des Mittelalters sprachen von potentia, also
„Befähigung oder Fähigkeit“. Der Unterschied zwischen
Seienden derselben Natur, selbst falls es sich um eine geistige
Natur handelt, ist die Vorbedingung ihrer Beziehung, und
gründet in ihrer konstitutiven Unvollkommenheit.
Im Widerspruch zu diesem Standpunkt muss gesagt werden,
dass diese Beziehung für unser Sein aufgrund seines
Vollkommenheitsprinzips und seiner Einheit konstitutiv ist,
selbst wenn es mehrere Seiende gibt. Sie existiert aufgrund
seines Aktes (im Sprachgebrauch dieser klassischen Autoren auf
Griechisch energeia, oder auf Lateinisch actus), der das Prinzip
ist, durch das das Seiende ist... durch das die Beziehungen sind,
insofern sie, als endliche relationale Seiende, Abbild ihres
Schöpfers sind.
DER ERSTE PHILOSOPH
Aber wenn Sie sagen, dass die glaubenschaftliche Beziehung
zwischen Offenbarer und Glaubendem aufgrund der
Vollkommenheit des menschlichen Bewusstseins für dieses
konstitutiv ist und so die absolute Vollkommenheit Gottes
darstellt, dann müssen Sie daraus schließen, dass diese
Beziehung für das Wesen Gottes genauso konstitutiv ist... Die
klassische Philosophie würde es niemals wagen, das zu
behaupten... Für sie ist das unmöglich...
DER ANDERE PHILOSOPH
Zweifellos... Und genau hierin liegt der unüberbrückbare
Gegensatz zwischen den „Substanzphilosophien“, die die
geistige Person ideal als in ihrer einmaligen individuellen
Gesamtheit vollkommen ansehen, einerseits, und der
„Philosophie der Person“ andererseits, wo die geistige Person
nicht nur als in sich selbst substantiell betrachtet wird, sondern
auch, und das mit ein und derselben ontologischen Aufwertung,
als gegenüber einem Anderen oder Anderen relational..., mit
einer Vollendung, die jener der Anderen ebenbürtig und von
derselben Natur ist...
228
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER DOMHERR
Warum diskutieren Sie weiterhin miteinander, wenn doch Ihre
philosophischen Standpunkte unvereinbar sind? ... Und uns
gegenüber heißt das, dass Sie uns nichts weiter zur Wahl stellen
als die eine oder andere der Ihrer beiden Vorstellungen: die
erste, die klassisch und unizitär ist, und die andere, die relational
ist und auf der Einheit von Vielen gründet.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Für die klassische Philosophie spricht deren Alter. Im Lauf
der Geschichte hat sie ihre Eignung unter Beweis gestellt. Es ist
zweifellos nicht reiner Zufall, dass man von einer „philosophia
perennis“ spricht. Und zweifellos gibt es immer noch ungelöste
Probleme... die aber vielleicht nicht unlösbar sind... Was jedoch
die Theologen dazu zwingt, gewisse Wahrheiten des
katholischen Glaubens als „Geheimnisse“ zu bezeichnen.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Dagegen hat die relationale Philosophie die Hoffnung auf
ihrer Seite... Vielleicht könnte sie, wenn sie sich ganz den
„ungelösten Problemen“ widmet, den ganzen Verständlichkeitswert dieser „Geheimnisse“, die unglücklicherweise als
solche bezeichnet werden, erschließen? Denn sie sind in
Wirklichkeit Lichtquellen und nicht dunkle Rätsel... Es ist eine
immer noch anstehende Aufgabe, ihnen ihre Verständlichkeit zu
entnehmen... Ich denke hier an die beiden Formen von Blindheit
der Gefangenen in der Höhle des Plato: die Blindheit jener, die
sich in Dunkelheit befinden, und die der anderen, die vom Licht
der Sonne geblendet werden...
DER ANDERE PHILOSOPH
Dem Herrn Kanonikus möchte ich antworten, dass ich von
einer Unvereinbarkeit im logischen Sinn des Wortes gesprochen
habe. Ich hätte besser von einer Beziehung des Widerspruchs
zwischen zwei ontologischen Auffassungen von der Natur der
Vollkommenheit des Seins gesprochen, nämlich von der
klassischen, unitären, auf ungeteilte Einheit fixierten; und der
relationalen, gemäß einer geeinten Struktur von Vielen.
Angesichts von zwei einander direkt widersprechenden
Auffassungen kann man wenigstens sagen, dass eine von beiden
wahr ist und die andere falsch. Das ist dann bereits ein
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
229
Fortschritt, oder? In diesem Sinn kann man ruhig von Hoffnung
sprechen... Denn wenn man herausfindet, dass eine falsch ist,
kann man daraus schließen, dass die andere wahr ist, auch wenn
man die Beschaffenheit dieser Wahrheit und ihre positive
Verständlichkeit immer noch nicht gut versteht. Man weiß dann
aber wenigstens, in welcher Richtung man suchen muss.
Aber da die beiden widersprüchlichen Behauptungen in
unserem Fall zwei komplexe Systeme sind, die jeweils in ihrer
Gesamtheit genommen werden müssen, reicht es für ihre
Widersprüchlichkeit aus, dass sie sich in einem einzigen Punkt
widersprechen, selbst wenn sie in allen anderen übereinstimmen.
Wenn nun dieser Punkt, an dem sich die Geister scheiden, eine
Richtschnur mit synthetischem Wert ist, die ein jedes der beiden
Systeme durchzieht, dann wird sich dies zweifellos auf jeden
Bereich der Philosophie auswirken. Dies soll uns aber nicht
dazu bringen, die wirklich existierenden Gemeinsamkeiten zu
übersehen.
Ich habe bereits gesagt, dass die interpersonale oder
relationale Philosophie alle Werte der klassischen beibehält. Sie
schafft nur Abhilfe gegen deren logische Aporien. Diese
wiederum entstanden aus einer lückenhaften Bestandaufnahme
der menschlichen Erfahrung, also aus „Unzulänglichkeiten“ in
der reflexiven Analyse der bewussten und freien Tätigkeit des
Menschen.
DER EXEGET
So gesehen wäre es also möglich, eine sich aufzwingende
knallharte Wahl zu umgehen und schrittweise von einer unitären
und unizitär-klassischen zu einer interpersonalen Sichtweise
überzugehen, indem man nach und nach die Bedeutungen der
ersteren erweitert. Dieses Vorgehen, das gegen ihre
„Unzulänglichkeiten“ und „Abwesenheiten“ Abhilfe schafft,
wäre für den Exegeten von besonderem Interesse. Denn der
Exeget befasst sich tatsächlich nicht nur mit der Wiedergabe des
Sinns der Texte, sondern auch mit der Suche nach der Absicht
jener, die sie geschrieben haben. Die Eingebung, die diese
Autoren leitete, konnte unter dem Druck der in ihrer Umgebung
üblichen Vorstellungen bei ihren Gesprächspartnern auf
Widerstand stoßen... Wenn man den tieferen Sinn ihrer
Eingebungen unter Einbeziehung eines Widerspruchs zu diesem
Druck sucht, und unter Einbeziehung der Gesamtheit der
menschlichen Erfahrung, die in ihren Schriften immer auch
230
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
enthalten ist, dann könnte man den Sinn ihrer Texte auf
kontrollierte Weise bereichern, und phantasierende oder
gelegenheitsbedingte Auslegungen verhindern...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz gewiss... Diese Anwendung wäre mir nicht im Traum in
den Sinn gekommen... Es ist eine eigenständige Weise, die
epistemologische Methode in gewissen Fällen konkret
anzuwenden. Der Sinn und Zweck dieser fünften
Erkenntnismethode liegt genau darin, die menschliche
Bedeutung
dieser
nicht-philosophischen
Erkenntnisse
aufzuzeigen, indem ihre Bedeutung im Lichte einer bereits
vorhandenen Philosophie vertieft wird. Würden Sie also zur
Auslegung Ihrer religiösen Texte und zur „schrittweisen
Vertiefung“ ihrer Bedeutungen eine relationale und
interpersonale Philosophie zum Anhaltspunkt nehmen? ...
DER PHYSIKPROFESSOR
Denken Sie, dass die relationale Philosophie auch unsere
physikalischen oder biologischen Erkenntnisse bereichern
könnte?
DER ANDERE PHILOSOPH
In der Tat denke ich das. Die „diskontinuierliche“ Auffassung
von der Materie, derzufolge die Materie aus verschiedenen
„Teilchen“ bestehet, die gemäß verschiedener Kräfte zu
einheitlichen Strukturen zusammengefügt sind, und zwar von
den inneratomaren Kräften angefangen bis hin zu den
Gravitationskräften im Universum, mit einer Vielzahl von
Kräften, die zwischen den Atomen, den Molekülen und den
zusammengesetzten Körpern wirken: All das zeigt eine viel
deutlichere Entsprechung zu einer relationalen Ontologie, als zu
einer unitär-klassischen mit ihrer antiken Auffassung von der
Materie als ein undifferenziertes „Kontinuum“. Ist Letztere
eigentlich etwas anderes als eine „unbewusste“ Übertragung
unserer abstrakten Raumvorstellung, die nach Kant eine
„apriorische Form“ unserer Wahrnehmung ist, auf die Materie?
Gute Physik- und Biologiekenntnisse zeigen die Bedeutung
der „Unterscheidungsdimension“ und die Funktion des
„Differenzierungsfaktors“ in der fortschreitenden Ausgestaltung
der Materie. Dies entspricht übrigens der Verständlichkeit der
„Verneinung“ in der logischen Ordnung des Denkens: „Ein
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
231
Teilchen ist nicht ein anderes“. Auf einer noch
grundsätzlicheren Ebene, nämlich ohne die Verständlichkeit der
Verneinung, ist das menschliche Denken nicht möglich. Wir
können sogar sagen, dass die „unterscheidende Verneinung“
wesentlich zum Denken gehört, also zur Tätigkeit, mit der das
Denken sich selbst gegenwärtig ist, und also zum Sein an sich
des Bewusstseins in seiner Beziehung zu einem von ihm
verschiedenen Bewusstsein. Im Rahmen unserer Diskussion
werden wir sagen, dass der Glaubende nicht der Offenbarende
ist, und der Offenbarende nicht der Glaubende. Ein richtiges
Verständnis der glaubenschaftlichen Beziehung wird also ein
richtiges Verständnis des Seinsstatus der unterscheidenden
Verneinung voraussetzen. Kann die Philosophie ihr in ihrer
Ontologie einen Platz einräumen, und welchen? Ist sie fähig,
anzuerkennen, dass diese unterscheidende Verneinung weitaus
grundlegender ist als diejenige, die in einer „solitären“
Auffassung von der Vollkommenheit des Seins, also gemäß der
klassischen Philosophie, enthalten ist, oder auch in den Worten
„Nichts“ oder „Leere“, wie man diese gemeiniglich versteht?
DER DOMHERR
Mein Kollege, der Exeget, lässt in dieser Sache einen
schrittweisen Übergang vom Klassischen zum Relationalen
vermuten... Könnten Sie, Herr Debruquel, uns über diesen
Übergang von der antiken zu ihrer modernen Philosophie, falls
es ihn gibt, etwas besser ins Bild setzen? Machen Sie mit uns
einen kleinen Spaziergang, und nicht ein Wettrennen... Sie
verstehen, was ich meine...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja, ich verstehe... aber Sie sind doch gut zu Fuß, Herr
Kanonikus... Oder etwa nicht?... Dann also vorwärts! ...
Man kann in einem ersten Schritt die Existenz einer
Erkenntnisform, die ich also von nun an „glaubenschaftlich“
nenne, durch — unvollständige — Induktion herleiten, oder
ausgehend von gewissen Aussagen der klassischen Philosophie
der allgemeinen Erfahrung postulieren. Aber diese „Herleitung“
ist genau genommen kein Beweis, weil nicht alle ihre Glieder
denselben transzendentalen Wert aufweisen. Sie kann uns aber
psychologisch den Weg zu einer wahrhaftigen Erkenntnis der
bewussten Glaubenschaftlichkeit zwischen voneinander
232
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
verschiedenen Personen öffnen. Dazu gehören die folgenden
Schritte:
Die Erkennenstätigkeit stellt man sich klassischerweise als
universale Eigenschaft eines jeden individuellen Subjekts vor,
so dass selbst unter der Annahme, dass nur ein einziges Subjekt
existiert, dieses im Genuss der vollen Erkenntnis stehen würde.
Selbst in einem — selbstverständlich hypothetischen — Zustand
des ontologischen Alleinseins würde der Mensch über seine
Erkenntnisfähigkeit verfügen und sie voll und ganz ausüben
können. Und von dieser Voraussetzung ausgehend, auf die wir
übrigens in unserer Diskussion heute Morgen gestoßen sind,
deutet man oft, — leider schon fast gewohnheitsmäßig! — den
kartesianischen Zweifel und die Behauptung des „Cogito“.
Die klassische Vorstellung ist also so aufgebaut, als ob es sich
um die Tätigkeit eines einzelnen Subjekts handeln würde, das
nichts weiter vorfindet als die sinnlich wahrgenommenen Dinge.
Diese Erkenntnis wird dann aber als objektiv universal
bezeichnet, also als durch ein jedes dieser „einzelnen Subjekte“
ganzheitlich vollzogen. Die Vorstellung von Erkenntnissen, die
für alle Subjekte „universal“ gültig sind, ist bereits die
Behauptung einer gewissen notwendigen Beziehung zum
Anderen... zumindest im „Objekt“, aber noch nicht im
„Vollzug“ des Erkennens...
DER ERSTE PHILOSOPH
Dies ließe sich durch die Begrenztheit der menschlichen
Natur und ihre daraus folgende Vervielfältigung in zahlreichen
Individuen erklären. Und die Übereinstimmung zwischen den
wahrnehmenden Geistern bezüglich einer gewissen Anzahl von
Wahrheiten ließe sich dadurch erklären, dass ein jeder dieselbe
Welt beobachtet und dass diese Welt Gesetzen gehorcht, die ein
jeder beobachten kann. Wenn man dasselbe Ding sieht, ist man
notwendigerweise mit dem Menschen, der neben einem steht,
einverstanden...
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau. Das ist die klassische Erklärung. Es ist sogar die
Erklärung, die dieser Richtung der klassischen Philosophie, die
man „Objektphilosophie“ nennt, zu eigen ist. Sie ist sogar sehr
objektivistisch... Sie enthält einen Trugschluss und eine falsche
Verallgemeinerung. Denn wer legt die Existenz der Gesetze in
physikalische und andere Erscheinungen hinein, wenn nicht der
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
233
erkennende Geist selbst? Die einzelne Übereinstimmung mit
einem einzelnen Mitmenschen bezüglich einer einzelnen
Betrachtung eines einzelnen Objekts ist nur aufgrund der
ausgeübten apriorischen Evidenz möglich, dass wir, er und ich
und alle Menschen, gemäß einer gewissen Zahl von
gemeinsamen Prinzipien wahrnehmen und denken. Diese
Möglichkeit besteht sogar, wenn die ausgeübte apriorische
Evidenz nicht reflexiv überdacht wird. Die besagten Prinzipien
sind „universal“ in uns, universell konstitutiv für unser Sein.
Aus dieser vordergründigen Evidenz schließen wir dann
implizit, aber richtig, dass es sich mit allem, was existiert,
genauso verhält, und also auch mit jedem „objektiven“
Phänomen.
Zum Glück hat das von Kant und seinen Schülern
durchgeführte transzendentale Überdenken der intellektuellen
Tätigkeit des Subjekts an sich bereits die apriorischen Formen
der Erkenntnis klargestellt. Nun muss man sich also fragen, ob
diese apriorischen Formen im Sein des Bewusstseins begründet
sind... und ob einige von ihnen — ganz offensichtlich nicht alle
— in jenem Bestandteil des Bewusstseins begründet sind, der
seine Vollkommenheit ausmacht. Wenn ja, dann ist man nahe
daran, eine für das Sein des Menschen wesentliche
Beziehungsbedingtheit anzuerkennen...
DER ERSTE PHILOSOPH
Vielen Dank für diese Erläuterungen... Genau das hatte ich
erwartet... Es ist wahr, dass die Universalität unserer
Vorstellungen, also all unserer Vorstellungen, sowohl der
wahren als auch der falschen, und daher auch jene von der
universellen Gültigkeit für alle erkennenden Geister, die sich in
derselben Weise Fragen stellen, nicht auf eine mutmaßliche
Beständigkeit der „Objekte“ gegründet ist. Dies spricht
tatsächlich für Beziehungsbedingtheit... Ich schließe meine
Klammer und lasse Sie weiterreden...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja! Sie tun gut daran, verschiedene Bedeutungen des Begriffs
„universal“ zu erwähnen, wenn es um Erkenntnis geht. Aber all
diesen Bedeutungen liegt die notwendige und bleibende
„universalisierende“ Tätigkeit des Bewusstseins zugrunde.
Dieses ist nämlich der „Hersteller“ der „Universalität“ all seiner
Vorstellungen in deren Anwendung auf seine Objekte im
234
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Allgemeinen, worin die „reflexiven Objekte“ eingeschlossen
sind, also unsere metaphysischen Vorstellungen. Aufgrund
seiner Reflexivität ist es also der „Begründer“ des universalen
Gültigkeitsanspruchs des Wissens für alle Subjekte. Unsere
Vorstellungen, die seine „Inhalte“ sind, sind von ihm
„gezeichnet“, wenn man das so sagen kann. Alle Inhalte unseres
Bewusstseins sind „universalisiert“ und haben daher einen
„universalen“
Charakter,
weil
unser
Bewusstsein
„universalisierend“ ist.
Und nun gehe ich zu einem anderen Aspekt unserer
bewussten Tätigkeit über, nämlich zu seiner Freiheit aus der
Sicht der klassischen Philosophie. Einerseits erkennt dieses
„einzelne Subjekt“, dieses solitäre „Cogito“ sich selbst mit einer
philosophischen oder metaphysischen Gewissheit als freies
Seiendes; andererseits zeigt die allgemeine Erfahrung ihm mit
empirischer und psychologischer Gewissheit die Existenz
anderer freier Subjekte. Die klassische Philosophie verfügt nicht
über die Möglichkeit, die Existenz eines Anderen tatsächlich,
von den Voraussetzungen der griechischen oder unitären
Ontologie ausgehend, mit metaphysischer Gewissheit
festzustellen. Sie ist für sie eine erwiesene objektive Tatsache,
aber sie wird nicht als transzendentale Notwendigkeit des Seins
erkannt. Sonst hätten wir es mit einer relationalen Philosophie
zu tun.
Hier kommt erneut der Mangel an Genauigkeit zu Vorschein,
den unser Versuch eines Übergangs aufweist, wenn wir von den
klassischen
Thesen
ausgehend
die
Existenz
einer
glaubenschaftlichen
Erkenntnis
induzieren
und
die
Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins anerkennen wollen.
Denn der Gewissheitsgrad der Schlussfolgerung einer
Überlegung kann denjenigen der schwächsten unter ihren
Prämissen nicht übertreffen. Und so können wir nur auf eine
empirische Gewissheit der Möglichkeit, zu glauben, schließen.
Und damit übertreffen wir das Zeugnis der gewöhnlichen
Erfahrung mit nichts. Dennoch spricht es für diesen Versuch,
dass er den „existentiellen Raum“ der glaubenschaftlichen Frage
absteckt. Fahren wir also fort mit unserer „Induktion“, mit
unserem Versuch eines Übergangs.
Durch seine gewöhnliche Erfahrung belehrt, schreibt der
klassische Philosoph allen individuellen Menschen dieselben
wesentlichen Fähigkeiten zu, wie sich selbst. „Die anderen, die
ihm ähnlich sind, sind auch freie Seiende“. Dies ist eine
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
235
verallgemeinerte Anwendung einer Wahrheit, die er in seiner
eigenen Individualität vorfindet. Aber hat er sich jemals die
reflexive und philosophische Frage danach gestellt, wie er
dieses „ähnliche Individuelle“ als frei erkennen kann, als ein
Seiendes, das ihm gegenüber frei handelt und sich ihm in seiner
freien Handlung an ihm frei zu erkennen gibt? Oder hat er diese
Frage nur als intentionale und empirische Frage gestellt?
Wer sich diese Frage stellt, begibt sich auf den Weg zur
Anerkennung der Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins
gegenüber einem Seienden, das sich frei zu erkennen gibt. Wenn
es darum geht, „den Anderen als freies Subjekt“ zu erkennen, ist
der klassische Philosoph auf eine Überlegung festgelegt, die auf
„Analogie“ mit seiner individuellen Erfahrung beruht.
Es gibt keine Möglichkeit, den Anderen als Freien durch ein
naturwissenschaftlich-experimentelles Vorgehen zu erkennen.
Er wird dann also lediglich in seiner Phänomenalität erkannt,
und nicht in seiner Freiheit. Und Letztere wird durch die
Universalisierung jener Eigenschaften postuliert, die das Subjekt
reflexiv in sich selbst vorfindet. Aber könnte der Andere, sobald
seine Freiheit bejaht ist, nicht auch in der Ausübung seiner
Freiheit mir gegenüber erkannt werden? Mir gegenüber, weil ich
es bin, der diese aktuell ausgeübte Freiheit erkennen muss. Und
aufgrund desselben Universalitätsanspruchs muss auch
postuliert werden, dass der Andere genauso meine Freiheit ihm
gegenüber erfahren muss.
Um dem von der klassischen Philosophie anerkannten
Universalitätsanspruch zu genügen, reicht es mir nicht aus, auf
eine objektive Analogie zurückzugreifen, die zwischen meinen
freien Handlungen an Dingen oder Personen, die mit Dingen auf
dieselbe Ebene gestellt wurden, und den Handlungen eines
Anderen an Dingen oder anderen Personen, die wiederum mit
Dingen auf dieselbe Ebene gestellt sind, besteht. Zum Glück ist
die menschliche Erfahrung weitaus reicher, als die
Untersuchung der Erkenntnis durch die klassische Philosophie
es vermutet!
GIBT ES EINEN METAPHYSISCHEN BEWEIS FÜR DIE
NOTWENDIGKEIT DER EXISTENZ DES ANDEREN?
DER DOMHERR
Zweifellos ist genau das der Grund, warum Max Scheler in
seiner Phänomenologie von einer Intuition der Existenz des
236
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Anderen und seiner Persönlichkeit spricht... Mir scheint, dass
ein gewisser Student Karol Wojtyla, heute Papst Johannes Paul
II, die Werke dieses Autors schätzte...
DER ANDERE PHILOSOPH
Nichts ist normaler als das! Ich denke, dass dieser Papst es nie
hingenommen hätte, sein Denken durch den individualistischen
Rahmen der klassischen Philosophie einengen zu lassen! War er
im Begriff, einen „Übergang“ zu einer relationalen
Existenzvorstellung zu vollziehen? Wie ich ihn auf Ihren
Wunsch hin skizzieren soll? Ich weiß es nicht.
Damit dem klassischen Universalitätsanspruch im Bereich des
Erkennens in seiner Anwendung auf die Person eines Anderen
genügt wird, muss es ganz gewiss gegeben sein, dass dieser
seine Freiheit nicht nur vor meinen Augen an irgendwelchen
Dingen oder als Phänomene betrachteten Personen ausübt,
sondern mir gegenüber, so dass ich mir seiner Freiheitsausübung
bewusst werden kann; also dass er seine Freiheit ausübt, indem
er sich so offenbart, dass ich ihn in seiner freien, auf mich
bezogenen Tätigkeit erkennen kann. Und umgekehrt. Das ist die
Erfahrung des Glaubens an einen Anderen. Die Erfahrung, in
der ich „ihm glauben“ kann, nämlich „aktiv“ an ihn glauben,
mich mit einer „glaubenschaftlichen Beziehung“ an ihn binden,
mit einer Bindung, die von ihm aus eine Beziehung der
Offenbarung ist, und von mir aus eine Beziehung des Glaubens.
Die Offenbarung, also die Wirklichkeit einer freien Person,
die sich mir in ihrer freien Zusage an mich offenbart: Das ist das
„allgemeine Objekt“ meines Glaubens, das „obiectum formale
intellectus fidei“, das „Formalobjekt des glaubenschaftlichen
Bewusstseins“, genauso wie das Sein im Allgemeinen das
Formalobjekt des „intellectus reflexionis“, also des reflexiven
Bewusstseins ist.
Die durch einen Anderen, insofern er ein freies Subjekt ist, an
mich ergangene Offenbarung seiner Zustimmung, meiner
Existenz eine größere Vollkommenheit zu verleihen, verhält
sich zum „glaubenschaftlichen Glauben“ — verzeihen Sie
diesen Pleonasmus — so, wie die Wirkungen der Dinge gemäß
ihren natürlichen Gesetzen zur naturwissenschaftlichen
Erfahrung und Erkenntnis, und auch so, wie die für das
Bewusstsein in seinem Sein wesentlichen Notwendigkeiten zum
Bewusstsein selbst, insofern es für sich selbst gegenwärtig ist,
also zur reflexiven philosophischen Erkenntnis.
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
237
Die Vervollständigung des Fächers der uns zur Verfügung
stehenden Erkenntnisweisen, die wir hier gerade unter
Anerkennung der Existenz einer glaubenschaftlichen Erkenntnis
vollziehen, setzt gewissermaßen voraus, dass wir auch unsere
Seinsvorstellung vervollständigen. Von welcher Art ist also die
bei der Anerkennung der Glaubenschaftlichkeit vorausgesetzte
Ontologie?
Die klassische Erkenntnisphilosophie, die die Glaubenschaft
nicht kannte, war grundsätzlich „individualistisch“, und ihre
Ontologie konnte „wesentlich“ auf die „vereinzelte“ Einheit der
Substanz in ihrer Individualität begründet sein, und nur
„nebenbei“ auf die Vielheit der in einer „akzidentellen Einheit“
bestehenden Beziehungen zwischen „Substanzen“.
Man kann der Glaubenschaftlichkeit also nur dann einen Platz
in der Erkenntnisordnung einräumen, wenn man eine Ontologie
voraussetzt, die nicht ausschließlich „substanzbegründet“ sein
darf, sondern die gleichzeitig substanzbegründet und relational
sein muss, ohne dass die Relationalität des Seins seiner
Substantialität „untergeordnet“ würde. Substantialität und
Relationalität der mit Bewusstsein begabten Person gehören
untrennbar zusammen und setzen einander mit gleichem Wert
und gleicher Vollkommenheit voraus. Weder übertrifft die
Substantialität des sich offenbarenden oder des glaubenden
Subjekts die Relationalität beider als Offenbarender oder
Glaubender an ontologischem Wert, noch umgekehrt.
Eine derartige Ontologie legt also mehrere Einheitsformen als
Anzeichen der Vollkommenheit des Seins fest: eine
Struktureinheit für die Beziehung „Offenbarer-Glaubender“,
eine Natureinheit für den Einen und den Anderen, und eine
Identitätseinheit eines jeden mit sich selbst. Das Sein, also „das,
was existiert“, ist eine relationale Einheit von Seienden, die mit
sich selbst eins sind in der Einheit, die für jeden von gleicher
Natur ist, und die gemäß ihrer gegenseitigen Beziehungen in
sich strukturiert ist.
Hier schließen wir also auf die Existenz einer Ontologie, die
in logischem Widerspruch steht (tertium non datur) zur
klassischen Ontologie, die in der Vollkommenheit des Seins
ausschließlich eine einzige Form von Einheit kannte: die
substantielle Identität mit sich selbst in der Natur des Selbst. Die
anderen in Wirklichkeit vorkommenden Formen von Einheit
sind akzidentelle Einheiten, die zur substantiellen Einheit des
238
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Subjekts hinzukommen und ihm also ontologisch unterlegen und
untergeordnet sind.
Wenn die Anerkennung der Glaubenschaftlichkeit des
Bewusstseins eine relationale und interpersonale Ontologie
voraussetzt, so ist auch das Umgekehrte wahr. Das heißt: Der
Beweis einer derartigen Ontologie gründet nicht auf der
Tatsache, dass man die Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins
zugibt, und noch weniger darauf, dass man sie wie eine
„Offenbarung“ oder einen Glaubensinhalt annimmt. Eine
derartige Ontologie kann ausschließlich durch die
philosophische Methode begründet sein, also durch eine
„Reflexion“ in unserem eigenen Sein, in einer transzendentalen
Suche nach den apriorischen Bedingungen der bewussten
Tätigkeit.
Die Glaubensfähigkeit und der Glaubensakt als Imperativ des
Lebens erlangen erst im Rahmen einer derartigen
philosophischen Ontologie ihre volle Bedeutung für den
Menschen. Existieren heißt, in einer glaubenschaftlichen
Beziehung zu existieren. Jeder offenbart dem Anderen seine
Verpflichtung, ihm die Existenz zu schenken. Der heilige
Thomas von Aquin betrachtete das Eigentliche des „Seinsakts“
in den „Quaestiones Disputatae de Potentia“ als das SichMitteilen gemäß dem vollen Umfang des eigenen Vermögens.
Darin lag nach ihm, und ich teile seine Meinung, das Eigentliche
des Seins in seiner Vollkommenheit, das Eigentliche des „InAkt-Seins“.
DER DOMHERR
Ich höre Ihnen aufmerksam zu und stelle fest, dass Sie
ausschließlich von einer Glaubensbeziehung zwischen
menschlichen Personen sprechen! Aber der Glaube an eine
andere menschliche Person ist nicht dasselbe wie der Glaube an
Gott. Von anderen Personen lerne ich nichts wirklich Neues.
Von Gott aber sehr wohl! Die Frohe Botschaft des Evangeliums!
Ich hätte erwartet, dass Sie uns aufzeigen, dass der Glaube an
Gott sehr wohl diese besondere, spezifische, auch rationale, und
die Philosophie und Naturwissenschaften ergänzende Erkenntnis
darstellt... Aber von all dem sehe ich nichts... Und Sie haben es
uns doch versprochen...
DER ANDERE PHILOSOPH
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
239
Sie können auf mein Versprechen bauen... ich will es halten.
Genau deswegen muss ich zuerst die Glaubenschaftlichkeit im
Bereich unserer Menschlichkeit an sich begründen, und das
sowohl auf der Ebene der Erkenntnis als auch auf jener der
Ontologie. Wie sollte man die Vernünftigkeit des Glaubens an
Gott begründen, wenn Glaubenschaftlichkeit nicht auf der rein
menschlichen Ebene eine Wirklichkeit ist?
Danach wird man sich auf die Frage nach dem absoluten
Grund einer derartigen relationalen menschlichen Wirklichkeit
stellen müssen. Daraufhin werden Sie verstehen, dass Gott
selbst dieser Grund ist, insofern er in sich selbst die
Gemeinschaft von drei unendlichen und vollkommenen
Personen ist, die „sich einander offenbaren“ und „sich einander
anvertrauen“, die Einen den Anderen. Dies sage ich, um unseren
Nachforschungen einen festen Anhaltspunkt zu geben. Ich kann
das jetzt nicht beweisen...
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Einen derartigen Meilenstein haben Sie bereits gesetzt, als Sie
sagten, dass, wenn Gott Schöpfer und Offenbarer ist, diese
beiden Vollzüge seiner uns gegenüber ausgeübten
Großzügigkeit in einer absoluten Großzügigkeit gründen
müssen, die genauso unendlich und vollkommen ist wie Gott
selbst. Diese Großzügigkeit ist das Wesen an sich der göttlichen
Natur.
Demnach ist Gott kein solitäres Seiendes, sonder ein
familiäres Sein. In diesem Zusammenhang erhält der Begriff
„Offenbarung“ eine beachtenswerte ontologische Dichte. Sich
einem Anderen „offenbaren“ heißt, ihm etwas von unserem Sein
weiterzugeben, ohne dass wir es verlieren würden, um ihn selbst
in einer vollkommenen Unterscheidung ins Sein zu rufen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau. Alles verhält sich tatsächlich so und alles ist einfach
zu verstehen... Von einem relationalen Standpunkt aus ist alles
so einfach. Aber es ist eine erworbene Einfachheit, denn es geht
darum, bereits am Anfang den ganzen reflexiven Reichtum der
Bewusstseinserfahrung zu erfassen.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Wenn ich richtig verstehe... dann
glaubenschaftlichen Beziehung zwischen
wird aus der
Offenbarer und
240
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Glaubendem eine ontologische, die für die Vollkommenheit des
Seins wesentlich ist...
DER ANDERE PHILOSOPH
Eine Beziehung der Seinsmitteilung... Ja.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Eine Beziehung, die das Herzstück der Ontologie bildet. Eine
Beziehung, die dem Sein seine volle Bedeutung verleiht und die
vom Sein ihre volle Wirklichkeit erhält.
DER ANDERE PHILOSOPH
Sehr richtig. Damit bringen Sie auf eindrückliche Weise
meine Gedanken zum Ausdruck, die ich äußerte, als ich sagte,
dass das Christentum eine Erkenntnisphilosophie braucht, die
dem „Glaubensakt“ seinen vollen Platz einräumt, einen Platz,
der ganz und gar rational ist, und dass die christliche Theologie
die offenbarte Wahrheit des Evangeliums unter Bezugnahme auf
eine relationale Ontologie zum Ausdruck bringen sollte, die als
einzige mit der schöpferischen und offenbarenden Tätigkeit im
Einklang steht, weil sie eben gerade relational ist und den
Glaubensakt begründet.
DER EXEGET
Die Überlegungen, die Sie gerade ausgetauscht haben, können
einen Exegeten nicht unberührt lassen. Ich sehe darin jetzt einen
positiven Bezugspunkt für die Auslegung der Texte. Die
Beziehung einer Differenzierung im Widerspruch zu den
Vorstellungen der klassischen Philosophie war bereits sehr
aufschlussreich. Sie konnte ermöglichen, dass man gewisse
Deutungsfehler vermeidet und Lesehindernisse umgeht. Ein
relationaler Blickwinkel erlaubt einen höheren Lesehorizont.
Und von noch größerer Bedeutung ist er, weil er den ganzen
Bereich der menschlichen Wirklichkeit abdeckt. Er ist nicht
begrenzt, wie gewisse historische und literarische Kriterien es
sind... die übrigens alle sehr nützlich und manchmal sogar
unverzichtbar sind.
DER DOMHERR
Vorausgesetzt, dass diese neue Ontologie nicht nur gut
begründet ist, sondern auch bei den zahlreichen Spezialisten in
all diesen Forschungsgebieten gut aufgenommen wird. Ich
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
241
persönlich gestehe, dass ich einige Bedenken hätte, meine
klassische und traditionelle Sichtweise aufzugeben... Und selbst
wenn ich mich zu dieser neuen Ontologie bekehren wollte, so
würde mir das zweifellos nicht gelingen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ihre Offenheit und Ehrlichkeit gereichen Ihnen zur Ehre, Herr
Kanonikus. Andere haben dieselben Schwierigkeiten wie Sie.
Sie haben davor eine irgendwie eine lähmende Angst, die sehr
entmutigend wirkt... Ein derartiges Hindernis kann man nur
dadurch überwinden, dass man eine klare und gut begründete
Vorstellung von einer relationalen Philosophie erwirbt, und aus
ihr eine feste Überzeugung schöpft, die sich von der
unglaublichen, „schwammigen und starren Trägheit“ der
allgemeinen Denkweise nicht überrollen lässt. Hier ist eine
„Überzeugung“ nötig — bitte beachten Sie, dass ich nicht das
Wort „Glaube“ gebrauche, obwohl es oft in diesem Sinn
gebraucht wird..., aber an dieser Stelle eine Verwirrung in
unsere Diskussion bringen würde — also eine Überzeugung, die
fähig ist, die Berge an Schwammigkeit, Lauheit,
Teilnahmslosigkeit und intellektueller Verkrustung abzubauen...
Tatsächlich ist die intellektuelle und psychologische
Voreingenommenheit der substantialistischen und auf ungeteilte
Einheit fixierten Philosophien beträchtlich. Sie durchzieht in der
zweifachen Gestalt des Individualismus und Kollektivismus und
allen
dazwischen
angesiedelten
Spielarten
der
„Kommunitarismen“ all unsere Kulturen.
Bei all diesen Tatbeständen ist es das — metaphysisch
falsche, aber psychologisch vorherrschende — Ideal von der
ungeteilten Einheit, das entweder auf individuelle Personen
angewendet wird, so dass sie dann ohne irgendeine wirklich
tiefere Beziehung nebeneinandergestellt werden, oder auf
Gruppen, die als starre Einheiten betrachtet werden, in denen die
Personen nicht mehr über eine wirklich autonome Existenz
verfügen.
Diese beiden Auffassungen verhalten sich zueinander als
logische Gegenteile und befinden sich in dauernder praktischer
Auseinandersetzung — manchmal sogar kriegerischer Art —,
und das sowohl in bürgerlichen als auch in religiösen
Gesellschaften. Formal gesagt können sie nicht beide
gleichzeitig wahr sein, aber sie können beide falsch sein. Und
konkret gesagt sind sie beide falsch.
242
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Dagegen schließt die relationale Philosophie beide logisch
aus. Zwei einander entgegengesetzten Fehlern gegenüber
erweist sie sich also als der wahre Standpunkt. Sie ist weder
individualistisch, noch kollektivistisch. Auf der theoretischen
Ebene gewährleistet sie die Autonomie einer jeden Person und
den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Sie tut das nicht, indem
sie ein umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen der
individuellen Autonomie und dem sozialen Zusammenhalt ins
Gleichgewicht bringt, sondern indem sie zeigt, dass es, wenn es
mehr wahrhaftige persönliche — natürlich relationale —
Freiheit gibt, es auch mehr Gemeinschaft gibt, und umgekehrt,
wenn es mehr — selbstverständlich relational strukturierte —
Einheit in der Gemeinschaft der Personen gibt, es auch mehr
persönliche Autonomie und Eigenständigkeit gibt. Anders
gesagt: Zwischen der individuellen Wirklichkeit der Personen
und der Wirklichkeit der Gemeinschaft der Personen besteht ein
direkt proportionales Verhältnis.
Dies verhält sich so, weil die ontologische Einheit der
Personen untereinander von glaubenschaftlicher Natur ist.
Umgekehrt ist die glaubenschaftliche Beziehung eine Beziehung
der seinsgebenden Seinsmitteilung. Daraus folgt, dass im
Bereich des täglichen Lebens diejenige Gesellschaft gut
aufgebaut ist, die auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut. Wer
könnte eine solch offensichtliche Beobachtung des gesunden
Menschenverstandes bestreiten...
DER SOZIOLOGE
Man kann diese offensichtliche Tatsache dann nicht
abstreiten, wenn man sie als ein Ideal betrachtet..., aber in der
Wirklichkeit, die der Soziologe beobachtet, ist man davon sehr
weit entfernt... sehr, sehr weit...
Indem ich Ihnen zuhörte, hatte ich den Eindruck, dass sie von
der Welt, in der wir leben, abgehoben haben... Aber ich stelle
fest, dass sie zu ihr zurückkehren... Das ist gut für mich... Ich
kann Ihnen wenigstens ins Bewusstsein rufen, wie weit das, was
wirklich existiert, von dem entfernt ist, was sie zu bewirken
träumen...
DER ERSTE PHILOSOPH
Machen Sie sich um uns keine Sorgen, mein Herr... Alle
Philosophen, sowohl die klassischen als auch die anderen, sind
sich dieser Kluft zwischen dem, was grundsätzlich in sich ist
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
243
und sein soll, und dem, was konkret getan wird und die
beobachtbare Wirklichkeit darstellt, bewusst.
Diese Kluft ist unvermeidlich. Sie ergibt sich aus unserer
Natur als endliche und begrenzte Seiende, die sich in Zeit und
Raum in Entwicklung befinden... Die Bemühungen, diese Kluft
zu überwinden, verleihen der Geschichte ihre Gestalt, mit ihren
Fortschritten und Rückschlägen. Und noch dazu ist ihr Verlauf
nicht harmonisch und kann es auch nicht sein. Auch ein
harmonischer Verlauf, in dem die Kluft schrittweise
überwunden wird, ist ein „Ideal“. Es wird nicht verwirklicht,
denn unsere Freiheit ist eine unvollkommene Freiheit, sie ist
fähig, Böses zu tun. Die Geschichte ist daher der Ort, wo das
Böse zwangsläufig Wirklichkeit wird... Natürlich nicht nur das
Böse! Ganz gewiss findet auch das Gute in ihr seinen Platz, aber
zwangsläufig auch das Böse... das man bekämpfen muss. Das
Nachdenken über Gut und Böse steht im Zentrum des
Bewusstseins eines jeden Menschen.
Übrigens ist es genau dieses moralische Bewusstsein in Ihnen,
das Sie zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit, die sie als
Soziologe beobachten, eine Kluft erkennen lässt. Das Ideal muss
ein Ideal bleiben, und die beobachtete Wirklichkeit muss eine
beobachtete Gegebenheit bleiben. Das eine kann nicht zum
anderen werden. Das häufige Auftreten einer unwürdigen
Verhaltensweise macht diese noch nicht moralisch gut. Die
beobachtete Wirklichkeit kann nicht als Ideal angenommen
werden, sonst kommt es zu einer Katastrophe... und das Ideal als
solches darf nicht für eine verwirklichte Wirklichkeit gehalten
werden. Es bleibt immer noch zu verwirklichen. Ansonsten
wären wir einer Täuschung anheimgefallen. Aber darin, dass
man sich ein Ideal gibt, liegt keine Täuschung. So wird man
auch nicht von Enttäuschung überrascht, wenn sich das Ideal
nicht vollständig verwirklichen lässt... Ein verwirklichtes Ideal
lässt ein neues Ideal entstehen, welches das erste Ideal übertrifft.
Dies ist wie eine Art Fortschritt unserer Fähigkeit, Ideale
auszudenken.
DER PSYCHOANALYTIKER
Wie Sie sicherlich wissen, sind Psychosen der Schwund oder
sogar Verlust der Persönlichkeit, bedingt durch schwere
organische Unausgeglichenheit oder Missbildungen der Zellen
oder Moleküle unseres Hormon- und Nervensystems. Neurosen
hingegen sind Störungen der Persönlichkeit in den
244
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
verschiedenen Beziehungen zu anderen Personen. So, wie der
Soziologe die gesellschaftlichen Gegebenheiten beobachtet,
beobachtet
der
Psychoanalytiker
die
psychischen
Gegebenheiten. Aber er hat zusätzlich eine heilende Funktion,
wohingegen die Soziologie genau dies an die Politiker und
Vertreter der Wirtschaft weiterleitet. Psychosen sind
Abormalitäten des Körpers, die eine normale psychische
Gegenwart des Subjekts in der Welt und anderen Personen
gegenüber verhindern. Die Person ist von ihrem Körper im Stich
gelassen, wie ein Behinderter oder Verstümmelter. Im Fall von
Neurosen hingegen sind unsere inneren und äußeren
Verhaltensweisen gestört und beeinträchtigt. Neurosen können
durch Psychotherapie geheilt werden, Psychosen nicht. Die
psychoanalytische Behandlung ist bei Letzteren gänzlich
wirkungslos.
Nehmen wir also die Existenz eines Glaubenstriebs und eines
Triebs der Anhänglichkeit an Andere an. Ich gehe auch davon
aus, dass die Psychoanalytiker diesen auf der Ebene des
Unbewussten deuten würden, sei es aus einem eher
individualistischen Blickwinkel, wie Freud dies getan hat, oder
aus einem eher kollektivistischen Blickwinkel, wie Jung es
vorschlägt, der ja ganz ausdrücklich von einem kollektiven
Unbewussten spricht.
Diese psychoanalytischen Deutungen sind daher auch, und
zwar ohne sich dessen bewusst zu sein, von einem
gesellschaftlich vorherrschenden kulturellen Unbewussten
abhängig. Das ist es, was mir aufgegangen ist, während ich
Ihren Überlegungen folgte und sie auf die Situation der
Psychoanalyse anwendete.
Wenn psychische Beziehungen die verschiedenen Facetten
einer glaubenschaftlichen Beziehung sind, die mindestens zwei
personalisierte Pole hat — auch ich greife diesen Begriff auf,
obwohl er nie zu meiner Fachsprache gehört hat — also einer
Beziehung, die gleichzeitig eine Offenbarungs- und
Glaubensbeziehung ist, eine Beziehung der Enthüllung und der
Empfänglichkeit, des Anbietens und der Antwort, der
schweigend oder ausdrücklich eingegangenen gegenseitigen
Verpflichtungen, dann schließe ich daraus, dass die Störungen
dieser mehrpoligen Beziehung niemals einzig von der
individuellen Subjektivität des Patienten bedingt sind. Sie
hängen von der einen oder anderen Rolle, die er in diesen
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
245
Beziehungen spielt, ab. Ich werde über die Folgerungen, die ich
aus dieser Feststellung ziehen muss, noch nachdenken...
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Erlauben Sie mir, dass ich kurz etwas anmerke, was ich Ihnen
verdanke, also der Überlegung, die Sie gerade angestellt haben.
DER PSYCHOANALYTIKER
Ah!
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Ja. Ich nehme die Art Ihres Gedankengangs wieder auf,... nur
die Art, nicht seinen Inhalt. Und ich ersetze das Wort
„Persönlichkeitsstörung“ durch den Begriff „moralischer Fehler
oder Sünde“. Ich spreche also von etwas ganz anderem. Und
eine Persönlichkeitsstörung sollte auf keinen Fall mit einem
moralischen Fehler verglichen werden, noch umgekehrt.
Wenn es also keine in ihrer eigenen Natur solitäre Person
gibt, und wenn die glaubenschaftliche Beziehung eine
ontologische Beziehung der seinsgebenden Seinsmitteilung ist,
und wenn die menschliche Freiheit sich wesentlich in dieser
Beziehung verwirklicht, dabei aber unvollkommen und endlich
ist, selbst in einer derartigen Beziehung, dann muss man daraus
schließen, dass die Möglichkeit des Bösen und der Sünde genau
im Bereich der ontologisch unvollkommenen freien
glaubenschaftlichen Beziehung liegt. Das Wesen des Bösen ist
also eine Selbstzerstörung des Menschen in seiner Bedingtheit
durch die Offenbarungs- und Glaubensbeziehungen. Und die
Möglichkeit eines „Heils“ für den Menschen liegt also auch in
diesem Bereich. Damit will ich meine Anmerkung schließen.
Und wie Sie, so werde auch ich über all ihre Folgen
nachdenken... Ich möchte Ihnen nochmals danken, dass sie mir,
ohne es zu wissen, ein Denkmodell bereitgestellt haben, das von
der psychologischen Ebene auf den Bereich der Moral und Ethik
übertragbar ist.
DER DOMHERR
Das war ein wahrer Geistesblitz!... Aber vergessen Sie etwa
nicht, dass die Sünde ein Ungehorsam gegen Gott ist, wie es das
dritte Kapitel des Buches Genesis erzählt?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
246
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Und was, wenn dieser Ungehorsam nichts weiter gewesen
wäre als eine Verfälschung oder eine Perversion der
glaubenschaftlichen Beziehung, deren Bestehen zwischen den
Menschen von Gott gewollt ist, und zwar mit einem Willen, der
im Innersten seines schöpferischen Handelns eingeprägt ist?
DER DOMHERR
Aber Adam und Eva haben in ihrer gegenseitigen Beziehung
keinen Fehler begangen, sondern beide zusammen gegen Gott!
DER EXEGET
Obwohl dieser Text für seine Zeit äußerst hellsichtig ist,
können Sie von ihm nicht verlangen, dass er sich bereits
ausdrücklich an einer interpersonalen Erkenntnisvorstellung
inspiriert. Trotzdem sollte man den Mangel an
Glaubensunterscheidung in der inneren Haltung des ersten Paars
nicht unterschätzen... Sie schenken den Worten der Schlange
mehr Glauben als denjenigen Gottes... Und wenn wir die Worte
der Schlange als eine Veräußerlichung der Gedanken der Beiden
verstehen, dann ist es genau die glaubenschaftliche Beziehung,
die am Anfang der Menschheit ins Wanken geriet... Und wird
diese Schlange in der Tradition nicht als der „Lügner aller
Lügner“ angesehen? Und ist die Lüge nicht dem wahren
Offenbarungswort entgegengesetzt? Und missbraucht das
lügnerische Wort nicht den spontanen Glauben an den Anderen?
DER DOMHERR
Genau... Die Glaubenschaftlichkeit kann uns tatsächlich in
vielen Bereichen neue Ansätze für das Verstehen liefern. Daher
wäre es interessant, die philosophische Untersuchung all ihrer
Folgen wieder aufzunehmen. Philosophia ancilla theologiae!
Vielleicht muss heute eine neue Magd angestellt werden... und
der aristotelischen Magd zugunsten einer zeitgemäßeren Magd
gekündigt werden...
DER ERSTE PHILOSOPH
Ohne jedoch die guten und treuen Dienste, die sie uns
erwiesen hat, zu vergessen... wie man zu sagen pflegt...
DER ANDERE PHILOSOPH
Nein, sie muss nicht entlassen werden... Sie hat der Theologie
große Dienste erwiesen, und sie kann das weiterhin tun, aber
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
247
man sollte nicht von ihr verlangen, dass sie Aufgaben
übernimmt, denen sie nicht gewachsen ist. Aber folgen wir ihr,
wo...
DER DOMHERR
In welchen anderen Bereichen kann das Prinzip einer
Relationalität Ihrer Meinung nach unsere Sichtweise verändern?
DER ANDERE PHILOSOPH
Zunächst sollten wir von der klassischen Philosophie die
Sorge um Genauigkeit beibehalten, und folgen wir ihr darin,
wenn es darum geht, gemäß einer sehr genauen Methode richtig
zu denken. Diese ist vom „Kenne-dich-Selbst“ des Sokrates und
Platon an schrittweise ausgearbeitet worden. Von Aristoteles
wurde sie bis auf die Höhe des Seins als solchem erhoben. Und
aus der Begegnung dieses Sich-seiner-selbst-Bewusstwerdens
auf der allgemeinen und universalen Ebene des Seins als
solchem ergab sich die „Reflexion“ im thomistischen Sinn des
Begriffs, und auch das kartesianische „Cogito“. Eine weitere
Verfeinerung erfuhr die Methode durch die Bemühung, die in
dieser primären und unbestreitbaren Erfahrung enthaltenen
Wahrheiten zu explizieren. Nach Leibnitz fand sie so ihre
endgültige Gestalt in den Werken Kants. Es geht also darum, die
„apriorischen Bedingungen der Möglichkeit jeglicher Tätigkeit
als solcher zu suchen“. Die Anwendung dieser Methode ist in
begrenzten und gut abgegrenzten Bereichen der menschlichen
Tätigkeit möglich. Sie kann auch auf der Ebene angewendet
werden, die all das einschließt, also auf der Ebene, wo die
Universalität des Denkens jenseits aller Grenzen ausgeübt
werden kann, also auf der Ebene der transzendentalen
Allgemeinheit, nämlich des Seins als solchem: nicht des
abstrakten Seinsbegriffs — dies wäre eine Sackgasse, in der
man zu Gefangenen der klassischen Unzulänglichkeiten würde
— sondern des konkreten Seins, das ich bin.
Es handelt sich also um eine „transzendentale reflexive
Analyse der Bewusstseins- und Freiheitstätigkeit, insofern sie
unsere persönliche, universale Erfahrung darstellt, und in sich
unwiderlegbar ist, da sie mit unserer eigenen Wirklichkeit
identisch ist“. Wer die Wahrheiten, die uns dieses reflexive
Vorgehen zeigt, leugnet, der leugnet unsere eigene Existenz.
Und das kann nicht sein. Ja, jeglicher Versuch der Verneinung
würde diese Wahrheiten sogar erneut vollumfänglich
248
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
heranziehen, um unseren Aussageakt zu untermauern, durch den
wir törichterweise versuchen, sie zu verneinen.
DER ERSTE PHILOSOPH
Und von der Anwendung dieser Methode versprechen Sie
sich, Wahrheiten sichtbar zu machen, die die klassischen
Philosophen angeblich nicht gesehen haben, oder zumindest
falsch eingeschätzt haben, aufgrund der Mangelhaftigkeit ihrer
Methode!
DIE NOTWENDIGKEIT DES DASEINS DES ANDEREN UND DIE
GLAUBENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz genau! Man kann konstitutive Apriorien aufzeigen, die
die notwendige Existenz des Anderen implizieren. Denn genau
darin liegt die letzte Bedingung der Möglichkeit der
Glaubenschaft.
DER DOMHERR
Und das haben sie getan? Haben Sie dafür auch den Beweis
erbracht?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Ich persönlich habe sein grundlegendes Werk gelesen. Darin
nimmt er die These seiner Dissertation über die Relationalität
des Seins wieder auf. Meiner Ansicht nach ist diese These
gültig. Um das abschätzen zu können, muss man den ganzen
Weg persönlich nachvollziehen. Er ist steil, natürlich, aber zu
einer derartigen Wahrheit kann man sich nicht ohne Mühe
aufschwingen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Es geht darum, nicht nur die tatsächliche Existenz des
Anderen anzuerkennen — die ja niemand leugnet —, sondern
reflexiv, in der eigenen persönlichen Wirklichkeit, die Spuren
seiner ihm zustehenden Existenz wahrzunehmen, wenn ich das
so sagen kann, und zwar besonders durch die Analyse der
Intentionalität
des
Bewusstseins
und
seiner
Universalisierungsfähigkeit.
Es handelt sich um die Eigenschaften der individuellen
bewussten Tätigkeit, die die Existenz des Anderen selbst in
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
249
seiner „methodologischen“ Abwesenheit aussagen, oder
vielmehr dank dieser Abwesenheit besonderer Art. Denn
tatsächlich kann ich die individuelle Wirklichkeit des
Bewusstseins eines Anderen nicht „reflexiv“ analysieren. Das ist
ganz und gar unmöglich. Und das ist gut so. Eine derartige
Möglichkeit würde bedeuten, dass man die Wirklichkeit der
Unterscheidung zwischen ihm und mir leugnet, um ihn mit mir
gleichzusetzen und daher seine Existenz in Abrede zu stellen.
Das wäre widersinnig.
Man würde dadurch aber auch jegliche Möglichkeit einer
glaubenschaftlichen Offenbarungs- und Glaubensbeziehung
ausschließen. Logisch gesehen gibt es in einer intellektuellen
Sichtweise der Verschmelzung zwischen mir und dem Anderen,
wie diese vom klassischen Ideal der ungeteilten Einheit
gefordert wird, keine Möglichkeit der Offenbarung und des
Glaubens. Wenn dieses Ideal als einziges Vollkommenheitsideal
angenommen wird, widersetzt es sich jeglicher relationalen
Gemeinschaftseinheit. Daher kommt es übrigens, dass die
klassische
Einheitsphilosophie
der
glaubenschaftlichen
Erkenntnis keinen Platz einräumen kann, wie wir auch in der
Philosophiegeschichte sehen können.
Es handelt sich um Anzeichen im individuellen Bewusstsein,
für die eigenständige Existenz des Anderen, nicht kraft einer im
individuellen menschlichen Subjekt vorhandenen Unvollkommenheit, sondern aufgrund seiner Seinsvollkommenheit.
DER PHYSIKPROFESSOR
Wie soll man denn die Gegenwart eines Dings in seiner
Abwesenheit feststellen können? Das scheint mir unstimmig zu
sein…
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich weiß… Es handelt sich hier um eine reflexive
Offensichtlichkeit, die man sich in keiner objektiven Form
vergegenwärtigen kann. Ich weiß keinen guten Vergleich, um
eine derartige Offensichtlichkeit besser verständlich zu machen.
Wie sollte man die Tatsache in Bilder fassen, dass, je mehr
Einheit zwischen dem jeweiligen Bewusstsein zweier Menschen
besteht, es auch umso mehr Unterscheidung des einen vom
anderen gibt, und dass die Kenntnis, die der eine vom anderen
besitzt, die Unterscheidung des einen vom anderen bestärkt?
Genauso verhält es sich mit der Liebe. Je mehr Gemeinschaft es
250
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
in der Liebe gibt, umso mehr Unterscheidung gibt es zwischen
den Personen, die sich lieben. Die Liebe, die zur Verschmelzung
führt, ist die Verneinung der wahrhaftigen Liebe.
Gelegentlich habe ich einen Vergleich mit zwei
Elektromagneten erwogen. Je höher die Zahl ihrer Windungen
ist, und daher ihre Größe und verschiedene Lage im Raum,
umso höher ist ihre gegenseitige Anziehungskraft… Aber dies
ist ein schlechter Vergleich. Er zieht keine wirkliche Parallele
zur reflexiven Offensichtlichkeit. Auf der Ebene des objektiven
und empirischen Denkens sind die Begriffe „Einheit“ und
„Unterschied“ eher antithetisch, so dass dort, wo eher Einheit
herrscht, weniger Unterschied ist, und dort, wo vor allem ein
Unterschied besteht, weniger Einheit vorhanden ist. Und auch
die Sprache der Psychologie erklärt die reflexive
Offensichtlichkeit keineswegs besser, denn sie schöpft ihre
Vergleiche aus dem greifbaren Bereich der Dinge.
Mit psychologischen Begriffen gesagt, also in einer
objektivierten und beschreibenden Sprache, müsste man
sagen… — Sie werden sehen, wie kompliziert, schwerfällig und
ungeschickt das tönt, wo die reflexive Intuition doch einfach
und dynamisch ist — dass es nicht möglich ist, sich selbst als
ein „Ich“ zu denken, ohne darin mitzudenken, dass dieses „Ich“,
das ich bin, von einem „Du“, das ich nicht bin, und das auch ein
„Ich“ ist, gezeichnet ist, und dass dieses „Ich“ genauso von
einem „Du“ gezeichnet ist, das es nicht selber ist, und das auch
ich nicht bin. Ohne das Zeichen dieses von einem „Du“, das ich
nicht bin, gezeichneten „Du“, wäre ich nicht das „Ich“, das ich
bin.
Diese Erklärung wird mit Schmunzeln und verhaltenen
Lachen aufgenommen…
Ich habe meine Vorkehrungen getroffen… und bin Euch
zuvorgekommen… Es ist nicht möglich, nicht zu lachen über
eine objektivierte Sprache, die versucht, eine reflexive Wahrheit
auszudrücken… Ihr Lachen bestärkt mich in der Überzeugung,
mit der ich die Erkenntnismethoden gut auseinanderhalte…
Je stärker also das Zeichen des vom „Ich“ verschiedenen
„Du“ im „Ich“ ist, um so mehr ist das „Ich“ es selber. Und das
ist noch nicht alles… Nun muss man noch mit einbeziehen, dass
dieses Zeichen des „Du“ im „Ich“ dynamisch ist. Es ist das
Wollen, dass der Andere sei und dass er sich selbst sei als
Wollen eines Anderen, von ihm wiederum verschiedenen, und
auch von mir verschiedenen. Daraus ergibt sich für uns eine
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
251
dreigliedrige Struktur der Beziehung der seinsgebenden
Seinsmitteilung. So stoßen wir hier wieder auf den Aufbau der
Familie, wie sie uns der Autor des zweiten Kapitels des Buches
Genesis mit viel Dichtkunst vor Augen gestellt hat, indem er uns
zusätzlich darüber ins Bild setzt, dass sie Werk Gottes als sein
Abbild ist… Ein erstaunliches und außergewöhnliches
Eintauchen in die Tiefen der authentischen menschlichen
Erfahrung… Nicht wahr?
Aber die philosophische Methode ist um Einiges langsamer.
Sie hält die einzelnen Schritte ihres Voranschreitens klar
auseinander. Bis jetzt haben wir nur das erkundet, was
gewissermaßen ihren Ausgangspunkt darstellt. Wie Aristoteles,
so sollten jetzt auch wir an den letzten Grund aller Dinge,
nämlich an Gott, denken. Aber das Bild, das sich die
Philosophen von Gott machen, ist ein Abbild ihres
Ausgangspunkts. Dafür wird das Gottesbild den angenommenen
Ausgangspunkt bestärken. Es wird je nach seiner Genauigkeit
oder Falschheit alle anderen Fragen der menschlichen Existenz
erhellen oder verschleiern…
DER DOMHERR
Welches Gottesbild entspricht also Ihrem Ausgangspunkt?
WENN DIE EXISTENZ DES ANDEREN NOTWENDIG IST, KANN GOTT
NICHT ALS EIN WESEN GEDACHT WERDEN, DAS ALLEIN IST.
DER ANDERE PHILOSOPH
Da mein Ausgangspunkt darin besteht, das persönliche
Subjekt in Beziehung der Seinsmitteilung zu denken, die
bewusst und frei ist, und sich anderen, ähnlichen Subjekten
gegenüber vollzieht, kann ich Gott nur als pluripersonales
Wesen denken. Und das aus zwei Gründen. Erstens wegen der
Parallele zur interpersonalen Wirklichkeit des Menschen, und
zweitens aufgrund des Schöpfungsaktes selbst.
Das göttliche Absolute, das der „urbildhafte“ Ursprung
unseres kommunikativen und relationalen Seins ist, muss in der
Tat in sich selbst als ein Absolutum der „seinsgebenden
Seinsmitteilung“ gedacht werden, einer vollkommenen
Mitteilung in Fülle, die jenseits aller Unvollkommenheit steht,
jenseits aller Ausweitung seiner Relationalität in die
Vielfachheit, wie sie bei der Menschheit von Generation zu
252
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Generation der Fall ist, und jenseits von allem Vergehen der
Zeit.
Die Anerkennung Gottes als Schöpfer, als fähig, das Sein so
weiterzugeben, dass seine Schöpfung als von ihm verschieden
existiert, setzt voraus, dass dieses Vermögen, ins Sein zu rufen,
in Gott vollkommen ist. Diese Schöpfungskraft, die in Gott ist,
kann nicht nur eine einfache Möglichkeit sein, denn Gott ist
reine Tätigkeit. Außerdem kann die Ausübung dieser Kraft nicht
von der Schöpfung abhängen, das heißt, es kann nicht sein, dass
sie sich, um seinsgebend zu sein, endlichen Seienden gegenüber
zur Ausübung bringen muss. Daher muss diese Kraft, ins Sein
zu rufen, die wir denken, wenn wir Gott als Schöpfer denken, in
Gott selbst vollkommen zur Ausübung kommen, und „Gott“
muss die in Akt befindliche Vollkommenheit dieser
Seinsmitteilungskraft sein.
Aristoteles hatte bereits verstanden, dass es in Gott keinen
Raum gibt für irgendeine „Potentialität“ und für einen in seinem
Sein selbst stattfindenden Übergang zu einer größeren
Vollkommenheit. Er sagte, dass Gott „reiner Akt“ ist, „reine
Energie“. Dieser Ausdruck wurde zu Recht von den christlichen
Theologen
übernommen.
Die
Unzulänglichkeit
des
Standpunktes des Aristoteles liegt darin, dass er diese
„Tätigkeit“ als „individuelle Einsamkeit“ dachte.
Wenn ich als Philosoph „Gott“ denke, dann denke ich: „Diese
transzendente Wirklichkeit, die in absoluter Vollkommenheit als
interpersonale Seinsmitteilung zwischen Mehreren existiert“. Er
ist der „Eine, der Andere und der Dritte in Beziehung“.
Zu meinen, dass ein in der totalen Einsamkeit der Einzigkeit
in seiner Natur existierendes Seiendes andere Seiende ins Sein
rufen könnte, ist ein ontologischer Widerspruch, eine
ontologische Unmöglichkeit. Ein derartiges menschliches
Denken
ist
nichts
weiter
als
ein
psychischer
Anthropomorphismus, in dem der Widerspruch nicht mehr
wahrnehmbar ist, und durch den wir Gott die Befähigung eines
menschlichen Individuums zur empirischen Herstellung von
materiellen Gegenständen in unendlicher, eingebildeter
Steigerung zuschreiben.
DER DOMHERR
So, wie Sie die klassische Philosophie in der Erforschung
unserer anfänglichen Seinserfahrung zu vervollständigen
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
253
meinen, so meinen Sie auch, das Gottesbild
Schlussfolgerung vervollständigen zu können.
ihrer
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja, so kann man das sagen!
DER DOMHERR
Und denken Sie, weil Sie eine Art „Übergang“ von einem
unitären und unizitären Denken zu einem relationalen Denken
annehmen, auch, dass es eine Art Übergang von der Vorstellung
von einem solitären Gott, wie jenem des Aristoteles, zu einem
als Personengemeinschaft gedachten Gott gibt?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz gewiss. Zunächst denke ich, dass die Vorstellung von
Gott
oder
einer
göttlichen
Transzendenz
immer
„monotheistischer“ Art war. Der Polytheismus ist in der Tat
nichts
anderes
als
ein
„hierarchisch
gegliederter
Monotheismus“. Die dazwischengeschalteten Gottheiten tun
nichts weiter, als die „Erhabenheit“ und Höhe des „Letzten“ zu
unterstreichen, der auch der „Erste“ ist. Sie sind der „Hofstaat“
des „Höchsten“, das Heer des „Herrschers über Himmel und
Erde“. Da diese Gottheiten den Menschen näherstehen, wurden
sie auch hingebungsvoller in vielfältigen Kulten verehrt. Die
Religionsgeschichte zeigt uns das zu Genüge.
Wegen der — relativen — Geschlossenheit der sozialen
Gemeinschaften und dem begrenzten Horizont der kollektiven
Denkweise dieser Gruppen bewegte sich diese Transzendenz
zwangsläufig innerhalb des Rahmens des Weltbilds ihrer Kultur.
Es
war
ein
„nationaler,
hierarchisch
gegliederter
Monotheismus“. Der „polytheistische Hofstaat“ spiegelte die
Gesellschaft wieder, und diese Wiederspiegelung war wiederum
ein kulturelles Element der Gesellschaft.
Der Übergang zu einem klareren Monotheismus vollzog sich
nicht etwa durch einen Fortschritt in der Vorstellung von dem,
was dieser „Höchste“, dieser „Allmächtige“ in sich selbst sein
könnte, sondern durch eine veränderte oder deutlichere
Vorstellung vom Seinsstatus seines „polytheistischen
Hofstaats“. Hatte dieses Heer von Gottheiten „göttliches Blut“
in den Adern? Wenn man das gedacht hatte, so hat man nach
und nach umgedacht. Diese Gottheiten waren nicht von
derselben Natur wie der All-Mächtige. Und wenn sich die Frage
254
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
erst jetzt stellte, beantwortete man sie verneinend. Von da an
wurden alle Mittlerwesen zwischen dem Höchsten und den
Menschen als „Werke“ des All-Mächtigen betrachtet. Sie hatten
nicht „sein Blut in den Adern“, waren nicht von seiner Natur.
Sie gehörten „zu seinen Werken“ und nicht „zu seiner Familie“.
Er, der „Höchste“, war „ohne Familie“. Das Gottesbild war
„entsexualisiert“, aber keineswegs „entobjektiviert“. Es war so
etwas wie die Vorstellung von einem „Superobjekt“.
Da diese Entwicklung in nationalen Gemeinschaften stattfand,
wirkte sich die „Abstufung“ zwischen dem „Höchsten“ und
seinem in seiner ontologischen Würde „zurückgestuften“
Hofstaat in Rivalitäten mit den benachbarten Gemeinschaften
aus. Jede Gruppe sagte: „Unser Gott“ — so oder so benannt —
ist der wahre All-Mächtige. Den beten wir an. Ihr, unsere
Feinde, seid lediglich die Diener seiner „Werke“. Ihr vertauscht
seine eigenen Werke mit dem „Höchsten“, wenn es nicht ganz
einfach eure eigenen Werke sind, die „Bilder“, die ihr euch von
ihm macht. Daher irrt ihr euch. Es sind falsche Götter. Wir
werden über euch siegen, weil wir uns auf die Seite des AllMächtigen schlagen. Ihr werdet besiegt werden, weil ihr nicht zu
ihm haltet.“
In ihrem Anfang ist die monotheistische Vorstellung also an
den Willen eines Volkes zur Macht über ein anderes Volk
gebunden, an den Willen, zu unterwerfen, oder zumindest
unabhängig zu sein. In dieser Situation wurde der politischreligiöse Wille des nationalen Monotheismus durch die logische
„Tyrannei“ der Idee einer „alles andere ausschließenden“,
unizitären Einheit bestärkt.
DER DOMHERR
Aber das Verschwinden des Polytheismus, oder, wie Sie
sagen, des „hierarchisch gegliederten Monotheismus“ müsste
doch einen Einfluss haben auf die Art und Weise, wie man sich
Gott vorstellt!
DER ANDERE PHILOSOPH
Um sich eine Struktur zu geben, griff der „hierarchisch
gegliederte und polytheistische Monotheismus“ häufig auf
Familien- und Generationenbeziehungen zurück, und zwar
sowohl auf wirklich existierende als auch auf rein imaginäre.
Der Übergang zu einem klareren Monotheismus verlangte daher
deren völlige Aufgabe. Und welche Art von Beziehungen blieb
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
255
dann übrig, um die Beziehung des All-Mächtigen zu den
Menschen symbolisch zum Ausdruck zu bringen? Die Frage
stelle ich an Sie. Was meinen Sie? ...
DER PSYCHOANALYTIKER
Da bleiben noch die Beziehungen zu Objekten...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja, es bleibt wirklich keine andere übrig... Oder aber man
müsste mit einer philosophischen Symbolsprache operieren...
Was noch weitaus schwieriger ist... eine Anstrengung, an die die
Religionen nicht gewöhnt sind...
Der erste Schritt dieser Entwicklung hin zum Monotheismus
bestand in der Behauptung der Existenz eines Demiurgen, der
die ungeordnete Materie ordnet. Das ist die so weit wie möglich
überhöhte Stellung des menschlichen Handwerkers.
Der zweite Schritt besteht darin, in Betracht zu ziehen, dass
Gott nicht ein ihm „objektiv“ gegebenes Substrat braucht, um
irgendetwas zu machen. Beim „Erschaffen“ ist er von allen
äußeren Dingen unabhängig. Er erschafft ex nihilo. Aber im
Vergleich zur Vorstellung vom Demiurgen hat sich unsere
„Vorstellung“ vom „handelnden göttlichen Subjekt“ um nichts
verändert. Auch dieses ist ein „Individuum“, ein Seiendes, das
in seiner „ungeteilten Einheit“ gedacht wird, einzig und „ohne
seinesgleichen“, „ohne Gefährten“. Man stellt es sich also
anhand eines „objektiven und empirischen“ Begriffs vor, als das
„Erste in einer Reihe, aber ohne nachfolgendes Glied“.
Wenn wir so sprechen, dann tun wir das, ohne uns die Frage
zu stellen nach der ontologischen Vereinbarkeit seiner —
gedachten — Stellung als allein-seiendes Subjekt mit der
„Fähigkeit, etwas ins Sein zu rufen, ohne dazu irgendetwas zu
brauchen“, die wir ihm ja zugestehen. Die Fähigkeit, zu
erschaffen, ist ja rational ganz sicher schon mit dem „ex nihilo“
eingestanden. Aber diese Fähigkeit Gottes wird noch nicht als
„wesentlich“ zu seinem Sein gehörend gedacht. Sie ist nicht in
unser Denken über das Sein Gottes eingefügt. Sie wird lediglich
festgestellt; in Abwesenheit der Dinge „zwischen den Zeilen
gelesen“: „ex nihilo“.
Ein Mensch, der sich als „Töpfer“ betätigt, hat in sich selbst
nichts, was der Gestalt eines „Topfes“ gleichen würde.
Zwischen ihm und dem Topf gibt es keinerlei „persönliche“
Beziehung. Mit der familiären Beziehung zwischen „Vater“ und
256
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
„Sohn“ verhält es sich anders. Auf Letztere werde ich später
noch zurückkommen. Und in Klammern gesagt: Im
muslimischen Denken fehlt sie übrigens immer noch. Im Koran
wird Gott nie „Vater“ genannt. Im Mensch, der „Vater“ ist, gibt
es etwas, was dem „Sohn“ entspricht. Letzterer ist nicht „ein
Werk seiner Hände“, aber sein „Blut“. Zwischen beiden besteht
eine Identität der Natur, die mit der Unterscheidung der
Personen vereinbar ist.
Das Bild vom Töpfer lässt sich mit der Vorstellung von der
personellen Einzigkeit des Handwerkers vereinen, selbst wenn
der Handwerker mehrere Lehrlinge hätte. Aber das Bild vom
Vater in seinem väterlichen Werk lässt sich nicht mit der
Vorstellung von seiner personalen Unizität vereinen. Wie auch
immer die künstlerische Vollendung sein möge, für die man den
Töpfer lobt: Sie ändert nichts an der Menschheit des Töpfers.
Dagegen vollendet der Sohn die Menschheit des Vaters. Ein
Vater kann nicht allein existieren. Der Töpfergott ist der große
Alleinstehende der Welten.
DER DOMHERR
Warum kann die Vorstellung von Einzigkeit, wenn sie sich
mit dem Bild vom Töpfer vereinbaren lässt, nicht auch auf Gott
angewandt werden? Es gibt nur einen Gott. Gott ist einzigartig.
Der Grund dafür ist, dass es nicht mehrere unendliche Seiende
geben kann.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ein allein-seiendes, vollkommenes Unendliches. Das heißt
aber nicht, ein individuelles Unendliches. Es gibt nur einen Gott.
Ganz gewiss. Aber Gott ist nicht allein. Gott ist einzigartig.
Ganz gewiss. Aber Gott ist nicht solitär.
DER DOMHERR
Das sind Wortspielereien...
DER ANDERE PHILOSOPH
Das ist nicht meine Art, Herr Kanonikus!... Vielmehr sind Sie
es, die verschiedene Bedeutungen ein und desselben Wortes
verwechseln, je nach dem, ob das Wort „einzigartig“ für das
Sein Gottes in sich selbst, oder für Gott in seiner Beziehung zu
den Menschen und der Welt gebraucht wird.
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
257
Aber zunächst wollen wir fragen, was die Vorstellung von
Unizität oder Einzigkeit genau bedeutet. Und was ist das
eigentliche Anwendungsgebiet dieser Vorstellung?
Die Vorstellung der Unizität gehört eigentlich ins
mathematische Denken. Sie impliziert die Verneinung eines
potentiell Unbestimmten, ohne dadurch eine „transzendentale
logische Positivität“ zu gewinnen. Daher kann sie nicht als
interne Eigenschaft des „göttlichen Wesens“ angenommen
werden. Das wäre wiederum ein Anthropomorphismus. Sie kann
von Gott ausschließlich in seiner Beziehung zur Schöpfung
ausgesagt werden.
Deswegen besteht das dritte Moment unserer Vorstellung von
einem in Beziehung zu uns einzigartigen Gott darin, ihn so, wie
wir es tun, als die in mehreren Personen verwirklichte
Vollkommenheit dieses „Vermögens, ins Sein zu rufen“ zu
betrachten. Wir haben gesagt, warum. Weil dieses Vermögen,
ins Sein zu rufen, das Gott uns durch seine Schöpfung zeigt, also
durch unsere Erschaffung und die Erschaffung der Welt, nicht
über eine absolute Vollkommenheit verfügt, da ja ihr
Endprodukt, nämlich die Welt und die Menschheit,
unvollkommen ist. Wenn dieses Vermögen göttlich ist, muss es
in Gott selbst vollkommen sein. Und das wiederum impliziert
eine seinsgebende Seinsmitteilung zwischen mehreren
vollkommenen Personen, die untereinander durch diese
Seinsmitteilung vereint sind. Und durch den Schöpfungsakt
widerspiegelt
sich
diese
interpersonale
göttliche
Vollkommenheit in der Seinsmitteilung und Lebensweitergabe
zwischen menschlichen Personen.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Aber um Gott zu sein, hatte Gott es nicht nötig, zu erschaffen.
Er hat freiwillig erschaffen. Er konnte es tun oder es auch nicht
tun. Weil die Schöpfung hypothetisch ist, kann man nicht aus
einer Hypothese auf eine Notwendigkeit in Gott schließen.
Wenn Gott nichts erschaffen hätte, könnte man nicht auf eine
Seinsmitteilung zwischen mehreren Personen in Gott schließen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Verzeihen Sie, aber mir ist nicht ganz klar, ob Sie damit eine
Binsenwahrheit zum Ausdruck bringen, oder ob Sie fragen, ob
die Dreieinigkeit in Gott von der „Ökonomie“ abhängig ist, also
vom rationalen Durchstrukturieren des Heils der Menschheit,
258
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
und folglich von der Fleischwerdung Gottes: eben von der
„ökonomischen“ Trinität, oder ob die ökonomische Trinität mit
dem fleischgewordenen Wort von der ontologischen Trinität des
göttlichen Wesens abhängig ist. Diese Frage war ein Streitpunkt
zwischen zwei großen Theologen: Karl Rahner und Hans Urs
von Balthasar. Und gleichzeitig stellen Sie die Frage nach der
Freiheit Gottes. Ich werde versuchen, Ihnen auf alle drei Punkte
der Frage zu antworten, im Rahmen meiner Kompetenz.
Zunächst will ich die Binsenwahrheit ausklammern. Sie haben
gesagt: „Wenn Gott nichts erschaffen hätte, dann könnten wir
nicht auf eine interpersonale Gemeinschaft in Gott schließen“.
Das ist die Offensichtlichkeit selbst: Wenn keine Schöpfung,
dann kein Mensch, und also keine philosophischen
Schlussfolgerungen, also... kein Seminar am heutigen Tag... Das
ist eine rein formale Offensichtlichkeit, die jeglichen
Wirklichkeitswertes entbehrt.
Aber vielleicht meinten Sie ja die folgende Frage: „Wenn
Gott nichts erschaffen hätte, dann hätte das Zugegensein der
Trinität in der Geschichte des Heils der Menschheit unter der
Gestalt „Gott Vater, Gott Sohn, und Gott Heiliger Geist“ keinen
Bestand. Auch das ist eine Binsenwahrheit. Aber die Frage kann
neu gestellt werden. Wäre Gott in seiner Abwesenheit von der
Schöpfungsgeschichte immer noch dreieinig?
Anders gesagt: Ist die Schöpfung der Weg, wie Gott sich als
Dreieinigkeit von Personen zur Erfüllung bringt? Braucht Gott
eine Welt und eine Menschheit, um in ihr Fleisch anzunehmen
und seinen Sohn zu zeugen, wie er das von aller Ewigkeit her
vorhersieht, und mit ihm seinen Geist zu übermitteln, und auf
diese Weise der „in Dreieinigkeit vollendete Gott“ zu sein? Das
wäre also die Frage. Bevor ich darauf zu antworten versuche,
werde ich mich fragen, ob sie einen „Sinn“ hat, ob sie als echte
Frage tatsächlich möglich ist, ob es sich also nicht um eine rein
terminologische Unklarheit handelt.
Man könnte der Frage Nachdruck verleihen, indem man ihr
jene des Thomas von Aquin anfügt: „Wäre Gott auch dann
Fleisch geworden, wenn der Mensch nicht gesündigt hätte?“
Diese Frage des Thomas ist von daher verständlich, dass man in
der Theologie oft sagt, dass Gott Fleisch geworden ist, um durch
sein Opfer am Kreuz den Menschen vor seiner Sünde und der
aus ihr folgenden Verdammnis zu retten.
Thomas von Aquin hat sich von einer derartig
„opferbasierten“
Inkarnationsvorstellung
gelöst.
Denn
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
259
tatsächlich antwortet er auf diese Frage — ich zitiere den
lateinischen Ausdruck, der in seiner Kürze äußerst viel aussagt
— „Ja, Gott wäre Fleisch geworden, selbst ohne die Sünde des
Menschen, propter Dei bonitatem communicandam“. Wörtlich
könnte man das übersetzen als „aufgrund der ‚mitgeteiltwerden-müssenden’ Gutheit Gottes“.
Das Verbaladjektiv „communicandam“ bezeichnet eine
Verpflichtung, oder sogar auch eine Notwendigkeit. Die
passivische Bedeutung dieses Verbaladjektivs kann kein anderes
Handlungssubjekt dieser Mitteilung bezeichnen als Gott selbst.
Der passivische grammatikalische Sinn nimmt also
pronominalen Charakter an. Man kann daher übersetzen:
„aufgrund der Gutheit Gottes, die sich mitteilen muss“, oder
„aufgrund dessen, dass Gott, der die Gutheit selbst ist, nicht
anders kann, als sich mitzuteilen“.
Wenn man trotzdem weiterhin sagt, dass das Ziel der
Fleischwerdung das Heil durch das Kreuzesopfer ist, dann muss
man auch sagen, dass Gott, um sich als dreieiniger Gott zu
vollenden, darauf angewiesen war, dass der Mensch etwas
Böses tat. Und hier tut sich ein Abgrund voll Absurditäten auf...
Dem berühmten Satz des Augustinus, „glücklich die Schuld
Adams, die uns einen derartigen Erlöser gebracht hat“ kann man
also nicht zustimmen. Es ist ein Ausruf der Bewunderung
angesichts der Inkarnation, der völlig „unangebracht“ ist, sobald
man darüber nachdenkt. Aber belassen wir ihn als das, was er
ist: die in Worte gefasste Sprachlosigkeit vor dem Kind in der
Krippe...
Und nun komme ich auf Ihren Einwand zurück. Gehen wir
von der Hypothese einer ökonomischen Trinität aus. Wenn Gott,
um Dreieinigkeit zu werden, auf die Schöpfung angewiesen ist,
dann können Sie nicht mehr sagen, dass er die Wahl hatte, zu
erschaffen oder nicht zu erschaffen. Es ist dann eine
Notwendigkeit, sogar eine Notwendigkeit, durch die er von
einer außerhalb seiner selbst stehenden Wirklichkeit abhängig
wird. Anders gesagt: Die Freiheit Gottes wäre nicht mehr eine
vollkommene Freiheit. Und dieser Gott wäre dann nicht mehr
der Gott, der Gott ist.
Daher ist es weitaus vorzuziehen, zu sagen, dass die
Dreieinigkeit der Personen in Gott eine Dreieinigkeit ist, die für
das göttliche Wesen wesentlich ist: eine ontologische Trinität.
Gott wäre nicht Gott, wenn er nicht Dreieinigkeit von Personen
wäre. Zu klären bleiben dann wohlverstanden immer noch die
260
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Beziehungen zwischen dieser in ihrer Göttlichkeit betrachteten
Dreieinigkeit und dem Werk dieser Dreieinigkeit in der
Geschichte und außerhalb der Geschichte, zum Heil der
Menschheit, und das alles unter Beobachtung der Tatsache, dass
die Menschheit in ihrer geschöpflichen Stellung von der
Möglichkeit, das Böse zu tun, betroffen ist.
Dazu würde ich sagen, dass...
DER MODERATOR
In diesem Augenblick, mein Herr, muss diese Frage nicht
unbedingt angeschnitten werden. Das Problem des Bösen ist zu
vielseitig. Klammern wir es für den Augenblick aus. Sie wissen,
dass dieses Vorgehen eine methodologische Notwendigkeit ist.
Man kann die Krankheit eines Organs nur dann erforschen,
wenn man vorher seinen guten Gesundheitszustand kennt...
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau... Jedoch würde ich gerne ein paar Bemerkungen
einstreuen zu der Freiheit, die mein Gesprächspartner Gott
zugesteht. Die Vollkommenheit der Freiheit besteht nicht darin,
dass man wählen kann. Diese Möglichkeit ist vielmehr die
Gestalt einer unvollkommenen Freiheit, nämlich jener des
Menschen. Aber für den Menschen selbst ist sie an seine
Unvollkommenheit
gebunden,
und
nicht
an
seine
Vollkommenheit. Denn tatsächlich wird die Mehrdeutigkeit der
Wahl überboten von der Freiheit des ethischen Anspruchs, der
nicht irgendeiner Wahl anheimgestellt sein kann, und daher
ausschließlich im moralischen Fehler „missachtet“ werden kann,
eben weil die menschliche Freiheit unvollkommen ist.
Daher ist es nicht angebracht, zu sagen, dass Gott „die Wahl
hat“, zu erschaffen oder nicht zu erschaffen. Dadurch würde
man seine schöpferische Tätigkeit, durch die wir ja gerade
erkennen, dass er transzendent ist, von einer Freiheitsform
abhängig machen, die ausschließlich dem endlichen Seienden
aufgrund seiner Endlichkeit zu eigen ist: von der Wahlfreiheit.
Wenn ich wählen muss, dann bin ich von den außerhalb meiner
selbst liegenden Wahlmöglichkeiten abhängig. Bei Gott ist das
nicht der Fall. Was aber den Menschen anbelangt: Wenn
offensichtlich ist, dass seine Freiheit innerhalb des Rahmens von
vielfältigen und hierarchisch angeordneten Entscheidungen zur
Ausübung gelangt, dann übersteigt die Ausrichtung, die er
seiner Entscheidung verleiht, dann die Vielfalt der
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
261
Wahlmöglichkeiten, wenn sie mit ethischem Anspruch die
„Treue“ seiner Tat zu seinem Seins konkretisiert.
Gott ist in absoluter Weise frei, weil seine Tätigkeit
ausschließlich darin besteht, Gott zu sein. Die Freiheit eines
Seienden
besteht
darin,
in
seiner
wesentlichen
Beziehungsbedingtheit durch sich selbst sich selbst zu sein.
Wenn man sagt, dass Gott dies oder das „wählt“, also sich
entscheidet, dies zu tun oder es nicht zu tun, also in diesem Fall
zu erschaffen, tut man nichts anderes, als einer neuen Gestalt
des psychologischen Anthropomorphismus anheimzufallen, und
mit Begriffen, die zu einer ontologischen Unmöglichkeit führen
müssen, von Gott zu reden.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Für den Menschen ist es aber äußerst schwierig, die Freiheit
anders zu verstehen als unter der Gestalt einer Wahl. Er spricht
also ganz spontan genauso von Gott.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Zweifellos. Aber es ist nötig, dass der Mensch sich dieser
Schwierigkeit bewusst wird... dass er aufmerksam ist und seine
spontane Sprache korrigiert. Was der Mensch spontan denkt,
und was seiner menschlichen Psyche und seinen menschlichen
Taten entspricht, ist nicht notwendigerweise ohne Anpassung
auf Gott übertragbar...
DER DOMHERR
Aber die ganze Bibel spricht doch von Entscheidungen
Gottes. Muss man also alles verbessern?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
In der Bibel muss nichts berichtigt werden... Was aber ganz
sicher korrigiert werden muss, ist die Brille, durch die wir sie
lesen und verstehen. Wenn man denkt, dass man alles
korrigieren muss, bleibt man immer noch hinter der schlechten
Lesebrille, also auf der Ebene einer „objektivierten“ Leseweise,
die sich an einer empirischen Denkweise orientiert, egal, ob sie
die Bibel nun mit dem Mantel der Geschichtswissenschaft oder
jenem der religiösen Dogmatik verdeckt. Die Bibel enthält eine
ganze Reihe von Bausteinen, die ganz sicher von vielfältigen
Wissenschaften zum Untersuchungsobjekt gemacht werden
können. Das ist unbestreitbar. Und diese Untersuchungen
262
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
müssen durchgeführt und in unserer Leseweise berücksichtigt
werden.
Aber die Bibel ist auch und vor allem ein — vielleicht von
vielen bevorzugtes — Zeugnis von der Art und Weise, wie
Menschen das schöpferische Handeln Gottes an ihnen
wahrnehmen, in Erinnerung bewahren, verstehen und dessen
Verständnis verändern und ununterbrochen neu auslegen, wenn
sie sich instinktiv und manchmal sogar unbewusst auf die Ebene
dieses glaubenden Bewusstseins stellen, dessen Beschaffenheit
und Wirkweise wir gerade rational, und vielleicht zum ersten
Mal, zu verstehen suchen, wenn ich das so sagen kann.
Bei der Entwicklung des biblischen Gedankenguts kommt das
menschliche glaubenschaftliche Bewusstsein nach und nach
zum Durchbruch. Es entsteht, entwickelt sich, irrt, findet seine
richtige Ausrichtung wieder, bleibt stehen, beginnt neu und hört
nicht auf, vorwärtstastend Fortschritte zu machen, später auch
methodisch, wie auch wir es jetzt gerade zu tun versuchen.
Wir schließen uns also dieser fortschreitenden Bewegung des
glaubenschaftlichen Bewusstseins an. Wir haben die ganze
Zukunft vor uns... Werden wir uns dessen bewusst... Versuchen
wir, „wahrhaftig zu glauben“, mit einem klaren Bewusstsein der
richtigen Art, zu „glauben“, und der Wahrheit dessen, was wir
glauben... nachdem wir die Echtheit des Offenbarers festgestellt
haben.
DER ERSTE PHILOSOPH
Womit gesagt ist, dass die fortschreitend verfeinerte
Entwicklung
des
Glaubensbewusstseins
und
die
Weiterentwicklung der monotheistischen Idee aus derselben
Quelle schöpfen...?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz genau das ist es, lieber Kollege...
DER DOMHERR
In welcher Weise entwickelt sich die monotheistische Idee,
unter Anbetracht des glaubenschaftlichen Bewusstseins, wie Sie
sagen, weiterhin fort?
DER ANDERE PHILOSOPH
Auch das glaubenschaftliche Bewusstsein und die relationale
Seinsauffassung stecken unter einer Decke. Durch das
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
263
Zusammendenken beider waren wir auch gezwungen, die
Begriffe „Einheit“ und „Einzigkeit“ mit mehr Genauigkeit zu
gebrauchen. Je nach „ontologischem Ort“, an dem sie zum
Einsatz gelangen, ändern sie ihre Bedeutung.
Nur durch die rationale Vorstellung von der Einzigkeit Gottes
in der Einzigkeit einer Seinsmitteilung unter mehreren Personen
wird die absolute Transzendenz Gottes konsequent bejaht.
Diese Transzendenz, so sagte ich, wurde zunächst durch die
zwischen Gott und die Menschheit geschalteten mittleren
Gottheiten bejaht, wenn auch auf unangebrachte Weise. Diese
Gottheiten bedeuteten einen „Abstand“, indem sie einen
Zwischenraum ausfüllten. Und die Engel, die Botschafter
zwischen Gott und den Menschen sind, spielen in den
monotheistischen Religionen heute noch diese ursprüngliche
Rolle.
In einer späteren Phase bejaht die Vorstellung von der
Erschaffung „ex nihilo“ diese Transzendenz wiederum, und
zwar gegenüber der Existenz eines „ersten ungeformten
Objekts“, das dazu bestimmt war, vom Demiurgen
durchgestaltet zu werden. Diese Vorstellung lässt sich am
Beispiel von einem Wort zeigen, das die Wirklichkeit, die es
bedeutet, auch bewirkt: „Gott sprach ‚Licht’ und das Licht
wurde“. Dieses Wort dreht tatsächlich die Beziehung des
Objekts, das sich unseren Sinnen aufdrängt und dann benannt
und womöglich noch gebraucht wird, um.
Bis zum heutigen Tag, und wahrscheinlich auch in Zukunft,
können die Menschen für das schöpferische Handeln Gottes
keine bessere Veranschaulichung beibringen als jene des
Wortes, das das, was es benennt, ins Sein ruft. Aber könnte man
in der Bejahung der Unabhängigkeit Gottes von der Welt nicht
noch einen Schritt weiter gehen? Nichts ist leichter, als zu
sprechen oder nicht zu sprechen.
Um zu erschaffen, braucht Gott nichts weiter zu tun als zu
« sprechen », auf seine Art natürlich, aber er könnte sehr wohl
auch nicht « sprechen »; er könnte sehr wohl nicht erschaffen.
Die Entscheidung, zu erschaffen oder nicht zu erschaffen, hängt
von nichts und niemandem anderem ab als von ihm. Könnte
man sich eine höhere Transzendenz als diese vorstellen? Es ist
jene seines guten Willens... So überlegt das klassische Denken...
Hier befinden wir uns auf der äußerten Höhe der
Behauptungen der göttlichen Transzendenz, die vom objektiven
und psychologischen Denken des Menschen vorgeschlagen
264
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
werden können. Bleiben die Religionen an dieser Grenze
stehen?... Was meinen Sie?
DER DOMHERR
Sie wollen eine Antwort! Also gut! Dass die Religionen die
Transzendenz Gottes behaupten...
DER ANDERE PHILOSOPH
Gewiss! Aber wie? Die religiösen Aussageweisen der
Transzendenz Gottes drücken sich nur demgemäß aus, wie sie
sich die Welt und den Menschen vorstellen, indem sie ihm die
inneren
Haltungen
der
Unterwerfung,
Erniedrigung,
Schuldgefühle oder sogar der tiefsten Ängste, also der
Nichtigkeit gegenüber Gott zuteilen. Wenn Gott es wollte,
würde ich aus dem Sein verschwinden und zu Nichts werden.
Wir sehen das im Koran. Die Feinde Gottes werden damit
bedroht, zu Nichts gemacht zu werden...
Durch die Absicht, die Transzendenz Gottes dadurch zu
behaupten, dass man die absolute „Nichtigkeit“ seiner
Schöpfung behauptet, überträgt man zwangsläufig die
menschlichen Umrisse unserer an die Vergänglichkeit der
Ereignisse gebundenen Freiheit auf Gott. Außerdem stellt man
sich die Freiheit Gottes oft als eine uneingeschränkte Wahl vor.
„Gott kann irgendetwas ins Sein rufen, oder überhaupt nichts“,
stellt man sich vor...
Und hier befinden wir uns in einer Sackgasse. Die
Transzendenz Gottes wird mit den Unvollkommenheiten der
menschlichen Freiheit versehen, wie wir bereits gesagt haben.
Als man sich die Transzendenz noch anhand von objektiven
Bildern der „Distanz“ und der „absoluten Macht“ über die
Dinge, und der alles bestimmenden „imperativischen“ Worte
vorstellte, gab es diesen Widerspruch nicht. Aber sobald sich
das „reflexive Denken“ in die Diskussion einmischte, kam er
klar zum Vorschein. Es versteht sich, dass die für die Religion
Verantwortlichen, die ja auf ihre objektiven Vorstellungen
festgefahren sind, für Philosophen nur wenig übrig haben...
Im Christentum scheint die Transzendenz Gottes
vordergründig wegen des Dreifaltigkeitsdogmas noch
schwieriger zu begründen, und vor allem, wenn erklärt werden
soll, dass Gott eine Dreieinigkeit von Personen ist, denkt man
sich eine Lösung aus, die Gott sozusagen zwingt, den Umweg
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
265
über die Schöpfung zu nehmen, um sich als Dreieinigkeit zu
vollenden.
Zudem wünschen sich viele Christen, dass dieses Dogma in
Vergessenheit geraten möge... Aber so geht es auch nicht! Denn
im richtigen Verständnis dieses Dogmas liegt der Schlüssel zu
einer wahrhaftigen und höheren Bejahung der göttlichen
Transzendenz, und zugleich auch die Grundlegung unseres
Glaubens an Gott und an seine Offenbarung.
DER PHYSIKPROFESSOR
In dieser Sache möchte ich Ihnen meine Verlegenheit
mitteilen... Eine Verlegenheit, die jene meiner erwachsenen
Kinder wiedergibt. Zunächst sage ich Ihnen, was sie vom
Unterricht, den sie erhalten, verstehen. Ich sage nicht, dass man
es ihnen so beibringt, aber dass sie es in den
Seelsorgeeinrichtungen der Fakultäten, in Bibelkreisen oder in
theologischen Cafés (wo sie übrigens viel Spaß haben), in
Predigten, in Zeitungsartikeln und sogar durch liturgische
Formeln mitkriegen.
Für sie ist Gott-Vater der Gott des Alten Testaments. Er ist
der Schöpfer. Gott-Sohn ist der Gott des Neuen Testaments.
Gott hat sich des Menschen Jesus bemächtigt, der daher seit
seiner übernatürlichen Geburt sein Sohn ist, um ihn in den Tod
zu führen. Gelegentlich wird sein Tod als Löseopfer für unsere
Sünden dargestellt, gelegentlich auch als Zeugnis für die Güte
dieses Gottes, der ihn ergriffen hat. Man weiß das nicht so
genau... Und Gott, der Heilige Geist, ist immer noch derselbe
Gott, der die Kirche führt und erleuchtet. Theoretisch sagt man,
dass er alle Menschen, natürlich auch die Frauen, erleuchtet...,
aber ganz offensichtlich erleuchtet er vor allem den Klerus und
seine Hierarchie... Kurz gesagt ist die Dreieinigkeit für sie ein
und dieselbe Person, Gott, in drei aufeinander folgenden Rollen
oder Funktionen, die dann irgendwie eine nach der anderen
bleibenden Charakter annehmen. Gott hatte diese Funktionen in
seiner großen Weisheit immer schon vorherbestimmt. Gott ist
also gleichzeitig Schöpfer, dann Erlöser und schließlich der, der
die Menschheit in seiner Liebe sammelt.
Das ist also das, was meine Kinder mitkriegen... Darin finden
sie eine Art Leitfaden, um sich in der Welt zurechtzufinden. Sie
sind nicht allzu kritisch, ... mit Ausnahme meines ältesten
Sohns, der das alles ein bisschen „blöde“ findet. Die Rolle
Gottes in der Schöpfung mag ja noch angehen, aber seine Rolle
266
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
als Erlöser und Sammler... da ist er skeptisch... „Wenn das nicht
völlig danebenliegt... dann ist da noch viel dran zu arbeiten...“
sagt er.
Mir
persönlich
scheint
das
eher
eine
Art
Geschichtsphilosophie aus theologischer Sicht zu sein, als die
wirkliche Wahrheit einer Offenbarung. Meine Kinder fassen den
ganzen Gedankengang eher als eine Art „christlichen
Marxismus“ auf, wohingegen der Marxismus für sie so etwas ist
wie eine Messiaserwartung ohne Gott. Der „Umbruch“ mit oder
ohne Gott? Das eine oder das andere bezeugen? Sich für das
eine oder für das andere einsetzen, in „Demos“ oder in
religiösen Prozessionen und Kulthandlungen... Das ist es!
DER MODERATOR
Wer möchte auf dieses Zeugnis eingehen? Muss man in dieser
Vereinfachung des christlichen Dogmas einen von gewissen
Klerikern unternommenen Versuch sehen, „das Dogma unter
den Teppich zu kehren“? Führen ihre Bemühungen um „Dialog“
mit dem Judentum und Islam nicht dahin, dieses grundlegende
Dogma und jenes der Inkarnation zu beseitigen?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Wenn das so wäre, wäre es ein echter theologischer
Rückschritt... Aber ich bin nicht dieser Meinung. Es ist vielmehr
die Folge einer heute in der Kirche verbreiteten intellektuellen
Faulheit, oder auch des Fehlens einer echten theologischen
Forschung, wegen der Angst der konservativen Strömungen...
Neuerungen in diesem Bereich laufen immer Gefahr, die
theoretischen Grundlagen der Verwaltung der Kirche zu
untergraben. Diese ist wiederum, ob man will oder nicht, auf ein
Gesellschaftsmodell gegründet, das sich nach den Grundsätzen
der klassischen Philosophie ausrichtet und dem Ideal der
ungeteilten Einheit gehorcht, woher ja auch ihre hierarchische
Gliederung mit einer « einzigen » Person an der Spitze kommt...
Ein Kirchenbild, das mit einer « relationalen » Gliederung der
Gewalten die Dreifaltigkeit bezeugt, kommt nicht von heute auf
morgen.
Wenn man die Sache dagegen vom Zeugnis des Paulus
ausgehend betrachtet, stand die Urkirche unter der Leitung eines
Dreierkollegiums. Paulus sagt, dass er den «Säulen der Kirche »
begegnet sei: Jakobus, dem jüngeren Bruder Jesu und Vertreter
seiner Familienzugehörigkeit, Petrus, dem Haupt der Zwölf und
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
267
endzeitlichem Vertreter der zwölf Stämme Israels, und
Johannes, dem persönlichen Freund und vertrautem
Gesprächspartner Jesu, der auch aufgrund seiner priesterlichen
Bindung an den Tempel Vertreter der « Göttlichkeit » Jesu ist.
Die politische und religiöse Geschichte hat davon nichts
weiter übriggelassen als die « apostolische » Struktur, die in
ihrem Aufbau dem unitären Schema des Römischen Reichs
folgt, mit seinen Regionalverwaltern und dem Kaiser an der
Spitze.
DER ANDERE PHILOSOPH
Trotzdem wäre es wichtig, dass die christliche Religion dahin
gelangt, die göttliche Transzendenz Gottes klar und stimmig zu
bejahen, auch wenn sie in ihr die Möglichkeit des Schöpfungsund Heilswerkes Gottes sieht.
WELCHER MONOTHEISMUS? EIN GOTT, DER EIN INDIVIDUUM IST,
ODER EIN INTERPERSONALER MONOTHEISMUS?
DER DOMHERR
Wie? Ich würde jetzt gerne noch den Rest der Antwort auf
meine Frage bezüglich der Weiterentwicklung des
Monotheismus hören.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich bin dazu gerne bereit,... aber Sie sehen selbst, dass die
Weiterentwicklung der monotheistischen Idee von einem
Schöpfergott viele damit zusammenhängende Fragen aufwirft...
Die monotheistische Idee von einem Nicht-Schöpfergott, wie
etwa bei Aristoteles, wirft nicht so viele Fragen auf, aber andere,
nämlich bezüglich der Vorstellung vom Menschen und der Welt.
Diese Schwierigkeiten würden uns dann notwendigerweise
wieder auf jene anbetreffs eines Schöpfergottes zurückführen.
Wir müssen unsere Überlegung also bis zum Ende
durchziehen...
DER DOMHERR
Also los!
DER ANDERE PHILOSOPH
Man muss also sagen, dass Gott, um die Liebe, Güte,
Gemeinschaft, Gabe, Lebensschwung, Treue und Großzügigkeit
268
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
zu sein, in sich selbst von der „Hypothese“ eines
Schöpfungsaktes unabhängig ist, dass er also nicht dazu
angehalten ist, die „Wahl“ zu treffen, ob er endliche Seiende
erschafft oder nicht.
Außerdem ist er, um der dreieinige Gott zu sein, nicht auf
einen Umweg durch das Werden der Geschichte angewiesen,
wie das etwa Hegel dachte, der das Sein und das Werden des
Seins in einer letzten „spekulativen Einheit“ zusammenfügen
wollte. Diese Einheit ist relational-ontologischer Art. Gott ist in
sich selbst die Kraft und der Akt, vom Unendlichen bis zum
Unendlichen und vom Unendlichen zum Endlichen ins Sein zu
rufen. Er ist in unendlicher Vollkommenheit Seinsmitteilung in
sich selbst.
Als Seinsmitteilung in unendlicher Vollkommenheit ist Gott
also auch absolut frei, jenseits aller Mehrdeutigkeit einer Wahl,
einzig kraft seiner Treue, mit der er sich selbst treu ist, zu
erschaffen, ohne dazu verpflichtet zu sein, irgendeine Wahl zu
treffen, die eine Begrenztheit in ihn hineinbringen würde. Gott
ist also ein absolut freier Schöpfer, weil er Dreieinigkeit der
Liebe, der Güte, der Seinsmitteilung, des Geschenks des Lebens
ist. Er ist Schöpfer, weil er in sich selbst in einer lebendigen
Beziehungseinheit existiert: der Eine, der Andere, und der
Dritte.
Ich hoffe, Herr Kanonikus, dass ich auf Ihre Frage
geantwortet und gezeigt habe, dass die Anerkennung der
Transzendenz Gottes nicht darin besteht, das Reden über ihn
dadurch abzulehnen, dass man sich weigert, Fragen über ihn zu
stellen oder behauptet, dass er der Ganz-Andere sei, über den
man nichts sagen kann... Genau darin besteht nämlich das
Verhalten des Knechts, der von seinem Herrn ein „Talent“
empfängt und es vergräbt... Das sind innere Haltungen der
intellektuellen Faulheit und des Mangels an Mut... Dadurch,
dass wir die Beziehungsbedingtheit Gottes bejahen, anerkennen
wir auch, wie zutiefst unmöglich es uns ist, irgendeine
Erfahrung davon zu erlangen, oder irgendeine andere Erkenntnis
davon zu besitzen als jene unserer Glaubenschaftlichkeit
zwischen menschlichen Personen und mit Gott.
DER DOMHERR
Vielen Dank. Ich werde das alles nochmals mit großem
Interesse überdenken...
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
269
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Ich meine, Sie haben ganz nebenbei gesagt, das Geheimnis
der Dreieinigkeit sei auch die Grundlage des Glaubens. Was
meinen Sie damit? Wollen Sie damit sagen, dass dieses Dogma
das Herzstück des katholischen Glaubens ist? Wenn man das
Trinitäts- und das Inkarnationsdogma aus der katholischen
Lehre entfernen würde, also anders gesagt, die Gottheit Jesu,
dann gäbe es keinen christlichen Glauben mehr. Es gäbe im
äußerten Fall eine Spielart des Judentums, eine Art Judentum für
die Heiden, ein in seinen Anforderungen herabgesetztes
Judentum mit weniger anspruchsvollen Normen, wie nicht
wenige Juden das meinen, die gegenüber den Christen, mit
denen sie sich im Dialog befinden, oft sehr wohlwollend sind.
Was sagen Sie dazu?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ihre Frage enthält mehrere Fragen. Ich werde zuerst auf jene
eingehen, auf die ich lieber nicht antworten würde, weil meine
Antwort für die Betroffenen keine Bedeutung hätte. Sie sind
Theologieprofessor, also ein gewissermaßen der katholischen
Kirche verpflichteter Professor. Als solcher können Sie als
Berater verschiedener Kommissionen tätig sein, die sich mit den
offiziellen Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und
den entsprechenden Autoritäten des Judentums beschäftigen. Es
obliegt ihren Mitgliedern, auf die Fragen zu antworten, die sie
sich stellen.
Ich persönlich bin Philosoph und glaube an Gott, so wie ich
seine Offenbarung in Jesus verstehe, dank des Zeugnisses, das
ich in der katholischen Kirche antreffe, und auch in anderen
Kirchen und genauso außerhalb der Kirchen. Dieses Zeugnis
deute ich im Licht der Philosophie, um deren möglichst
rationale Ausarbeitung ich mich bemühe. Das konnten Sie
bereits feststellen... Aber ich bin mit nichts an irgendeine
religiöse Autorität gebunden. Wenn mein Verständnis des
Glaubens mit der Glaubenslehre dieser oder jener Gruppe
übereinstimmt, umso besser. Dann gibt es keine Spannungen...
Ich würde mich sogar in „Glaubensgemeinschaft“ fühlen. Aber
nicht diese Übereinstimmung bestärkt mich in meinem Glauben,
und genauso wenig verunsichern mich Gegensätzlichkeiten...
Ich glaube also an Jesus, der als Jude geboren wurde, der der
jüdischen Kultur angehörte, der das Judentum auf die damals
übliche Weise praktizierte, der als Jude gestorben ist. Die
270
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Zeugnisse, die ihn betreffen, stammen im Wesentlichen von
Juden, wurden dann aber von Nichtjuden weitergegeben, die
hier und da nichtjüdische Spuren hinterlassen haben, die ins
spannungsgeladene Gebiet der menschlichen Emotionen
abglitten. Diese Zeugnisse wurden auch in einer von ihrer
Entstehungskultur verschiedenen Kultur gelesen und verstanden,
nämlich in der griechischen, wovon wir bereits gesprochen
haben, während sie aus den offiziellen und öffentlichen
Lesungen der Juden mit Ablehnung entfernt worden sind.
Aber diesen Zeugnissen zufolge, die unabhängig von den
bestehenden Spannungen von der einen Seite angenommen
werden, und von der anderen abgelehnt, — was für die
Bedeutung dieser Zeugnisse durchaus eine Rolle spielt — war
dieser Jude nicht nur ein Mensch. Und genauso wenig
bedeutungslos ist es, dass die Tatsache, dass er nicht nur ein
Mensch war, in Bezug auf seine jüdische Menschlichkeit zutage
trat.
Und nun antworte ich auf Ihre übrigen Fragen. Gäbe es ohne
die Trinität und die Inkarnation keinen christlichen Glauben?
Das scheint mir offensichtlich. Es ist das Wesentliche. Der
ganze Rest der Lehre erhält ihren Sinn erst im Bezug auf diese
beiden zentralen Aussagen, und wäre ohne sie nichts weiter als
Geschmackssache oder eine Anzahl von zur Wahl stehenden
Meinungen... oder Mitgliedschaften bei dieser oder jener
Gruppe... Wir würden uns nicht mehr im Bereich des echten
Glaubens, der Glaubenschaft als solcher, befinden, sondern im
Bereich der sozialen Zugehörigkeit zu einer religiösen
Gruppierung. Kurz gesagt, im Bereich der gesellschaftlichen
Christentümer, falls dieser Ausdruck noch verständlich ist...
Wenn ich aber sage, dass die Trinität die Grundlage unseres
Glaubens ist, bleibe ich nicht auf der Ebene der Glaubenslehre
stehen. In meiner Eigenschaft als rational Glaubender begebe
ich mich in die ontologische Ebene der Glaubenschaftlichkeit.
Der dreieinige Gott ist die unerlässliche Voraussetzung zur
Begründung der Wirklichkeit der menschlichen glaubenschaftlichen Beziehungen, sowohl für die Begründung der
Existenz eines Offenbarers, als auch jener des menschlichen
Glaubenden.
Wenn ich am Anfang unserer Zusammenkünfte auf dem
Vorrang der reflexiven Analyse eines Glaubensbewusstseins
bestanden habe, um die Gültigkeit einer Offenbarungsrede
einzuschätzen
und
nicht
auf
Scheinoffenbarungen
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
271
hereinzufallen, dann habe ich das deshalb getan, weil wir uns im
Bereich der Erkenntnis bewegten. Jetzt aber sprechen wir
ontologisch. Es geht nunmehr darum, zu verstehen, was dieses
glaubenschaftliche Bewusstsein im Sein begründet. Wir
bewegen uns im Bereich der Ontologie.
Den Übergang von einer Analyse des Erkennens zu einer
Analyse im Bereich des Seins haben wir vollzogen, als wir uns
nach der Wirklichkeit fragten, die während der
Weiterentwicklung des Monotheismus unserem Gottesbild
entsprechen könnte. Und zweifellos haben wir denselben
Übergang jedes Mal in Kürze auch dann vollzogen, wenn wir
sagten, dass die Struktur der Erkenntnisordnung auf die Struktur
der Seinsordnung gegründet sein muss.
DER MODERATOR
Könnten Sie also, um auf die Frage eines für die Ausbildung
des Klerus Zuständigen vollständig zu antworten, das
Wesentliche Ihrer Vorstellung von der Trinität, insofern sie die
Grundlage der natürlichen Glaubensfähigkeit des Menschen ist,
zusammenfassen?
DER ANDERE PHILOSOPH
In der Tat ist es die Vorstellung und Bejahung einer
interpersonalen Beziehungsbedingtheit in Gott, die uns
verstehen lässt, was der Offenbarungs- und Glaubensakt sind. In
ihrer Wirklichkeit sind sie mit dem Schöpfungsakt identisch,
und letzterer ist wiederum nur deshalb möglich, weil Gott in
sich selbst seinsgebende Seinsmitteilung ist.
DER MODERATOR
Darf ich Sie bitten, ihre These etwas mehr zu erklären...
EIN INTERPERSONALER MONOTHEISMUS ZUM VERSTÄNDNIS DER
MÖGLICHKEIT DER SCHÖPFUNG UND DER OFFENBARUNG
DER ANDERE PHILOSOPH
Indem er in der materiellen Welt bewusstseinsbegabte
Seiende erschafft, zeigt Gott nach außen hin, dass er in sich
selbst Seinsmitteilung ist. Er « offenbart sich »..., auf einer
zweifachen beziehungsbedingten Ebene: a) er offenbart dem,
den er erschafft, was er in sich selbst ist, und zwar in dem Akt,
272
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
in dem er ihn erschafft, und b) gleichzeitig offenbart er, was er
für denjenigen ist, den er erschafft.
Er zeigt sich also nicht Seienden, die vorher schon existieren.
Sonst wäre seine Selbstdarstellung von ihnen abhängig. Er ist
nicht ein offenbarender Demiurg. Letztere Phantasievorstellung
ist nichts weiter als die Projektion der menschlichen Stellung
dessen, der sagt: „Dir sage ich, dass...“. Da Gott „ex nihilo“
erschafft, zeigt er sich „ad nihilum“. Das bedeutet, dass er sich
ausschließlich seinem Werk zeigt und nur in seinem Werk, und
„nichts anderem“, und in nichts anderem, genauso, wie er
„nichts anderes“ für sein Werk braucht.
Es handelt sich also um eine im geschaffenen Sein immanente
Offenbarung, die dieses gemäß seiner „Bewusstseinsbegabtheit“
zu einem „Glaubenschaftlich-Sein“ macht. Indem sich der
Mensch bewusst ist, in seiner menschlichen Wirklichkeit das zu
sein, was Gott von sich selbst, insofern er Gott ist, zeigt, und
zwar für den Menschen, insofern er Mensch ist, empfängt er
sich selbst, und zugleich diese Offenbarung, die er selbst ist. Er
ist also als „Glaubender“ in seinem Sein begründet. Von einem
Gott erschaffen zu sein, der nicht ein „Gott-Künstler“ ist,
sondern ein in „familiärer“ Beziehungsbedingtheit seiender
Gott, heißt nichts anderes, als in glaubenschaftlicher
Seinsverfasstheit erschaffen zu sein.
Umgekehrt erkennen wir dann, wenn wir unsere wesentliche
Glaubenschaftlichkeit erkennen, auch die Tatsache, dass wir von
einem dreieinig personalen Gott geschaffen sind. Wir haben es
so mit einem absolut transzendenten Werk zu tun. Die natürliche
„Glaubenschaftlichkeit“, die für das menschliche Bewusstsein
wesentlich ist, und nicht ein angeblich hinzugefügtes
„Geschenk“ ist, ist die tätige Bejahung der absoluten
Transzendenz Gottes in seiner absoluten Nähe zum Menschen.
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler
Da Ihre Analyse philosophisch ist, wenn sie auch in einem
religiösen Zusammenhang steht, wäre sie also für jeden
Menschen gültig, ganz unabhängig von der Zustimmung zu
einer besonderen Religion, wie etwa zum Christentum. Sie
bewegen sich also auf der Ebene dessen, was man als die
natürliche Religion bezeichnen könnte.
DER ANDERE PHILOSOPH
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
273
Dem könnte ich zustimmen. Aber ich fürchte, dies könnte zu
Missverständnissen führen. Von einer „natürlichen Religion“ zu
sprechen heißt, dass man sich auf der Ebene der Geschichte und
der Kultur bewegt, also in einem Bereich von objektiven
Erscheinungen. Was ist eine „natürliche Religion“ für die
Historiker und Religionssoziologen? Die Religiosität? Ich weiß
es nicht. Ich weiß nur, dass sie sie bei den primitiven Religionen
suchen...
Ich bewege mich nicht auf der Ebene der Religionsforschung,
und auch nicht auf jener der Theologie einer bestimmten
Religion, etwa des Christentums. Ich bewege mich auf der
Ebene der reflexiven Analyse des menschlichen Bewusstseins als
solchem, in seiner glaubenschaftlichen Dimension. Dass der
Mensch sich, insofern er glaubenschaftlich ist, zum Ausdruck
bringt, sich entwickelt, Fortschritte macht und Rückschläge
erleidet, und dadurch vorankommt, dass er den „Religionen“
eine Gestalt verleiht, ist wahr. Sie wissen, dass der Mensch,
insofern er natürlich und wesentlich Philosoph ist, sich genauso
in philosophischen Werken und Strömungen zum Ausdruck
bringt und darin er selbst wird. Für das reflexive Denken sind
die philosophischen Schulen das, was die Religionen für das
glaubenschaftliche Bewusstsein sind.
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
Aber ich kann der Meinung sein, dass dieser oder jener
Philosoph die ersten und grundlegenden Wirklichkeiten der
menschlichen Existenz besser und wahrheitsgemäßer ausdrückt.
DER ANDERE PHILOSOPH
Richtig! Dann sind Sie mehr als ein Historiker. In der
Berührung mit dem, was Sie studieren, werden Sie Philosoph...
DER MODERATOR
Gut! Sie sagen, dass Sie Philosoph des glaubenschaftlichen
Bewusstseins sind, und Glaubender. Gut! Wenn Sie nun auch
ein bisschen Theologiegeschichtler oder Religionsgeschichtler
werden würden, im umgekehrten Sinne wie ich: welche Religion
wäre Ihnen zufolge diejenige, die die Wirklichkeit des
glaubenschaftlichen Bewusstseins, wie Sie sie auffassen, am
besten zum Ausdruck bringt, oder ihr wenigstens am nächsten
kommt? Anders gesagt: In welcher Religion würden Sie die am
274
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
ehesten gelungene Umsetzung, wenn ich das so sagen kann,
Ihrer philosophischen Analyse sehen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Damit stellen Sie mir eine Frage, die etwas... Wie soll ich das
sagen?
DER MODERATOR
Etwas indiskret?
DER ANDERE PHILOSOPH
Das nicht gerade... etwas persönlich... sagen wir,... als ob Sie
mich fragen würden, ob ich meine Frau liebe... Ich würde Ihnen
antworten: „Natürlich, ich liebe sie“. Die eheliche Liebe ist eine
Beziehung der hervorragendsten Glaubenschaftlichkeit der
menschlichen Existenz, sie ist Abbild der ewigen
Glaubenschaftlichkeit, die Gott selbst ist. Ich antworte also auf
Ihre Frage...
Auf der Ebene der Analyse der natürlichen und universalen
Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins, und auf diese Ebene
will ich mich beschränken, ist es das Judentum, das die beste
geschichtliche Verwirklichung dieses Bewusstseins darstellt. Es
war und ist immer noch die beste Verwirklichung. Das ist also
meine Antwort.
DER MODERATOR
Gut! Vielen Dank! Darüber diskutiert man nicht. Genauso
wenig wie darüber, ob Sie Ihre Frau lieben...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja, aber ich bin mit meiner Analyse der Glaubenschaftlichkeit
noch gar nicht fertig! Ich muss ihnen auch sagen, dass meine
Frau und ich fünf Kinder haben, die wiederum Kinder haben...
Und so haben auch Gott und das jüdische Volk, die ja einander
lieben, eine Nachkommenschaft... Es handelt sich um Jesus.
Und da er ein Werk Gottes ist, ist er auch Offenbarung Gottes,
und ich glaube an diese Offenbarung...
DER ERSTE PHILOSOPH fragt mit Verwunderung...
Und Sie verfügen auch über eine philosophische Analyse
dieser Offenbarung?
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
275
DER ANDERE PHILOSOPH
Eine philosophische Analyse, die es mir ermöglichen würde,
an Jesus, diesen Menschen, der vor zweitausend Jahren gelebt
hat, zu glauben? Nein. Das habe ich nicht... Es kann keine
geben. Der Philosoph kann aus den wesentlichen
Notwendigkeiten seines Seins auf kein einziges geschichtliches
Ereignis schließen. Aber er kann unter diesen Notwendigkeiten
ein Verlangen ausmachen, das sein ganzes Sein durchzieht... ein
bleibendes Verlangen, das auch im Tiefsten eines jeden
Menschen angelegt ist... ein Verlangen, das ein fragendes
Warten auf Gott ist... ein Verlangen, das durch die
Unzulänglichkeiten seines glaubenschaftlichen Elans und durch
die Möglichkeit des Bösen, das sich in diesen hineinmogelt,
abgestumpft ist... ja, der Philosoph kann ein derartiges
Verlangen ausfindig machen...
DER PSYCHOANALYTIKER
Ein Verlangen nach was?
DIE FORDERUNG NACH EINER VOLLKOMMENEN ERFÜLLUNG
DER MORALISCHEN PFLICHT, ODER DAS MESSIANISCHE
VERLANGEN, VOM BÖSEN BEFREIT ZU WERDEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Ein Verlangen danach, ohne Fehler, Rückschläge, Sadismus,
Masochismus, Verrat, Verraten-werden, und ohne gegenseitiges
Zerstören in unserer glaubenschaftlichen Beziehung zum
Anderen und zu Gott zu leben.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Sie wollen also sagen, in einer Gemeinschaft zu leben, die aus
vollkommenen, vom Bösen befreiten Beziehungen besteht?
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau. Ein Verlangen, vom Bösen befreit zu werden... vom
Bösen, das in unser endliches Sein eingeschrieben ist. Ein Übel,
das wir anderen zufügen und durch sie erleiden. Ein Übel, das
wir nicht und absolut nicht unmöglich machen können, selbst
wenn wir gut handeln, selbst wenn wir alles tun, was wir
können... Verstehen Sie die Wörter „fähig, möglich und
unmöglich“ bitte in ihrer vollen reflexiven philosophischen
276
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Tragweite, und nicht nur gemäß ihrer allgemeinüblichen
psychologischen Bedeutung.
Und dennoch verstehen wir, dass in der glaubenschaftlichen
Beziehung der Schöpfung der Pol der glaubenschaftlichen
Vollkommenheit bei Gott liegt, und der Pol der
Unvollkommenheit auf unserer Seite.
Und außerdem, weil ja die glaubenschaftliche Beziehung
gewissermaßen die größtmögliche Gleichheit der „AnVerglaubenschaftlichten“ verlangt, also der „in einen
glaubenschaftlichen ontologischen Bund Getretenen“, befragen
wir Gott über diese Ungleichheit, die das Böse, das in seine
Schöpfung eingeschrieben ist, in uns hineinlegt. Natürlich
werfen wir Gott überhaupt nichts Böses vor... Wir sind es, die
das Böse tun... Aber die Möglichkeit, das Böse zu tun, „uns
Böses zu tun“, gehört sehr wohl zu seiner Schöpfung... Kann
Gott sein Werk des Sich-selbst-Schenkens in diesem Stadium
noch vorzeitig beenden? …
DER DOMHERR
Aber das ist unsere Freiheit... Gott hat uns als freie Menschen
erschaffen... Wir können wählen, ob wir das Gute tun oder das
Böse... Gott nimmt unsere Freiheit ernst...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ah... Mit diesem Einwand hatte ich nicht mehr gerechnet...
Aber er kommt doch nochmals... Und es ist immer noch
derselbe psychologische Fehlschluss bezüglich der Freiheit,
bezüglich der Freiheit des Menschen, und schlimmer noch,
bezüglich der Freiheit Gottes...
Verzeihen Sie, Herr Kanonikus, aber die Männer der Kirche
entmutigen uns Philosophen manchmal...
DER DOMHERR
Es gibt auch andere Philosophen, die Ihnen widersprechen
und Sie entmutigen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Gut! Beruhigen wir uns... Ihre letzter Einwand ist berechtigt,
sehr berechtigt... zu meiner Entmutigung sind alle klassischen
Philosophen da... also jene, deren Geist vom tyrannischen Ideal
der ungeteilten Einheit beherrscht ist... Aber kommen wir zu
unserem Thema zurück.
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
277
Was die Freiheit anbelangt... Der Mensch findet seine
Erfüllung als freies Subjekt, wenn es ihm die objektiven
Wahlmöglichkeiten erlauben: manchmal mehr, manchmal
weniger. Zwischen Gut und Böse gibt es lediglich dem Wortlaut
nach eine Wahl, aber nicht eine wirkliche Alternative, denn das
Böse „steht nicht zur Wahl“. Der Mensch unterliegt der Pflicht,
das Gute zu tun, der freien inneren Notwendigkeit, sich gut zu
tun. Descartes pflegte derweil zu sagen, dass es umso mehr
Freiheit gibt, je mehr das ganze Sein mit Elan, ohne das
geringste Zögern, darauf hinstrebt, das Gute zu tun.
Die Freiheit ist vollkommen, wenn die Unmöglichkeit, das
Böse zu tun, gegeben ist. Das trifft im Fall Gottes zu. Die
geschaffene Endlichkeit des Menschen bringt diese
Unvollkommenheit der Freiheit mit sich, eben die Möglichkeit,
das Böse zu tun, trotz des Antriebs der ethischen Verpflichtung,
uns gemäß unserer wesentlichen Beziehungen zu vollenden.
Und dennoch existiert diese Möglichkeit, das Böse zu tun,
ausschließlich in Abhängigkeit vom glaubenschaftlichen
ethischen Antrieb, und ist diesem untergeordnet. Der
glaubenschaftliche ethische Antrieb, eine Forderung der Liebe,
existiert an sich, wenn man das so sagen kann; die Möglichkeit
des Bösen hingegen existiert nicht an sich. Sie ist nichts weiter
als die „Unvollkommenheit“ des glaubenschaftlichen ethischen
Antriebs in der gegenwärtigen Schöpfung.
DIE KRANKENSCHWESTER
Aber angesichts der Gegenwart dieses Bösen darf der Mensch
nicht aufgeben, nicht einmal jetzt, nicht einmal dann, wenn es
sich um ein « natürliches » Übel handelt, wie etwa um eine
Krankheit...
DER ANDERE PHILOSOPH
Es ist also folgerichtig und natürlich, dass in der Menschheit
ein Verlangen danach aufkommt, vom Bösen befreit zu werden,
von falschen Entscheidungen befreit zu werden, von der
Möglichkeit, das Böse zu wählen... von dieser in unsere Stellung
als Geschöpfe eingeschriebenen Fähigkeit, sich selbst Böses
zuzufügen... Die Erfüllung dieses Verlangens durch uns selbst
ist aber radikal unmöglich, nicht wegen unseres bösen Willens,
sondern wegen des radikalen Unvermögens unseres guten
Willens in unserem gegenwärtigen ontologischen Zustand als
Geschöpfe in dieser Welt. Es ist also ganz natürlich, dass wir
278
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
uns gemäß der Funktionsweise unseres glaubenschaftlichen
Bewusstseins an Gott wenden. Daher das Verlangen nach Heil
für alle, das Verlangen, dass Gott der Retter der ganzen
Menschheit sei... Das ist mehr als ein psychisches Verlangen
nach Glück, als ein gesellschaftliches Streben nach Frieden. Es
ist ein ontologisches Verlangen, das, indem es diesen anderen
bruchstückhaften und begrenzten Sehnsüchten Nachdruck
verleiht, sie bei weitem übersteigt.
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
Ich stelle Ihnen meine Frage erneut. Welche Kultur lässt Ihrer
Meinung nach dieses Verlangen nach vollständiger Befreiung
vom Bösen unter verschiedenen Gestalten, bis hin sogar zur
Vernichtung der Möglichkeit selbst, es zu tun, am besten zur
Geltung kommen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Sie können meine Antwort erraten, denn es ist dieselbe wie
vor wenigen Augenblicken. Es ist das Verlangen nach dem
Messias, das im Umfeld des religiösen jüdischen Glaubens
entstanden ist. Die Ausdrucksweise dieses Verlangens ist
jüdisch, sie ist in Zeit und Raum eingefügt, aber die Natur dieses
Verlangens ist einfach nur menschlich, universal menschlich,
sogar in den Kulturen, wo es nicht zur Geltung kommt, oder wo
es vielmehr noch nicht zur Geltung gekommen ist, wo es aber
im Herzen eines jeden Menschen eingeschrieben ist. Sogar bei
Aristoteles findet man eine Spur davon, der ja seine Ethik auf
das Verlangen nach Glück begründet: « Jeder Mensch verlangt
danach, glücklich zu sein ».
DER ERSTE PHILOSOPH
Und wie sehen Sie als Philosoph die Erfüllung dieses
Verlangens? Sie haben gesagt, dass sie nicht durch den
Menschen geschehen kann. Sie kann also ausschließlich von
Gott vollbracht werden. Verfügen Sie als Philosoph über
Informationen über die Handlungsweise Gottes? Ich wüsste
gerne...
FÜR EINE OFFENBARUNG ZUGUNSTEN SEINER SCHÖPFUNG
HANDELT GOTT IM ANSCHLUSS AN DIE ART,
WIE ER SICH BEIM ERSCHAFFEN OFFENBART
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
279
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich verfüge über dieselben Informationen wie Sie, geschätzter
Kollege... Sie sind rational und stehen Ihnen zur Verfügung. Ich
bringe Ihnen nichts bei, was Sie nicht selbst herausfinden
könnten. Es sind die Informationen, die Gott mir gibt..., die Gott
Ihnen in seinem offenbarenden Schöpfungswerk gibt. Ich habe
versucht, zu zeigen, dass die erste Offenbarung Gottes für den
Menschen in der Wirklichkeit des Menschen selbst besteht,
insofern er sich als von Gott geschaffen erkennt, von Gott, der
sich frei auf diese Weise für den Menschen und für sein Glück
einsetzt. Gott offenbart sich in der Wirklichkeit des Menschen.
Der Mensch ist nicht ein « Gefäß », das mit der Offenbarung
gefüllt wird; er ist diese Offenbarung, das ist seine Identität. Die
Information, die ich daraus gewinne, ist einfach. « Gott
offenbart sich ausschließlich durch die Identifikation seiner
Offenbarung mit der Wirklichkeit einer Person».
Wenn Gott auf das Verlangen des Menschen nach einem
Messias antwortet, dann kann er das nur gemäß der göttlichen
Handlungsweise, die ihm zu eigen ist: durch die persönliche
Wirklichkeit eines Menschen. Sein Handeln kann keine Rede
und auch kein Sprechakt sein. Es kann nichts anderes sein als
die Wirklichkeit einer Person und deren Leben. Diese sagt
daraufhin, indem sie sich ihrer personalen Wirklichkeit bewusst
ist, was diese Offenbarung, die sie selber ist, gemäß den
räumlich-zeitlichen Umständen der menschlichen Existenz ist.
Die innere Ordnung und Gliederung einer transzendenten
Offenbarung fügt sich also lückenlos der Struktur der
Schöpfung-Offenbarung an.
Alles Übrige ist psychische Einbildung, deren Stückchen
Wahrheit darin besteht, dass sie einen unbeholfenen Versuch
darstellt, im Verlauf der Geschichte unsere ontologische
Stellung als Geschöpfe zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein
ungeschickter Versuch, der dann zu Irrtum und Lüge wird, wenn
er im wörtlichen Sinn für unsere ontologische Stellung gehalten
wird. Ja, im Reich der Blinden sind die Einäugigen König...
DER ERSTE PHILOSOPH
Zweifellos,... aber wenn der Mensch sich seines Verlangens
nach einem Rettergott bewusst wird, lebt er nicht mehr im ersten
Augenblick seiner Erschaffung, wenn ich das so sagen kann.
Obwohl die Schöpfung Gottes bleibend ist, hat sie den
Augenblick der « Fertigstellung » des Menschen bereits hinter
280
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
sich. Wie könnte Gott einem Menschen, den er nicht mehr in der
Existenz « einrichten » muss, antworten, ohne ihm gegenüber
irgendetwas in seinem Schöpfungsakt oder in seiner Beziehung
zu ihm zu verändern?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich denke, jetzt stellen Sie die richtige Frage! Der Klarheit
halber sollten wir jetzt von einer « transzendenten
Offenbarung »
sprechen.
Sie
vollzieht
sich
durch
Seinsmitteilung, immer noch durch die « Immanenz eines
göttlichen Werkes », — natürlich im aktivischen Sinn des
Wortes, wie bei der Schöpfung —, aber diesmal durch
persönliche an Gott gemessene Seinsmitteilung an einen mit
Bewusstsein begabten, ganz und gar in menschlicher,
erschaffener Glaubenschaftlichkeit konstituierten Menschen.
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
Und diese philosophische Schlussfolgerung hat in der
Geschichte das konkrete Gesicht Jesu! Ein Gesicht, das Sie
wohlverstanden nicht « schlussfolgern » können. Aber von Ihrer
Schlussfolgerung aus verstehen Sie dieses Gesicht... Ist es so?
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau. Aber um Missverständnisse zu vermeiden, lege ich
Wert darauf, zu erwähnen, dass ich, um es so zu sagen, auf der
psycho-geschichtlichen Ebene der Entwicklung meiner
philosophischen Forschungen zuerst vom Katechismus und der
Unterweisung der katholischen Kirche bezüglich der Person
Jesu intellektuell genährt wurde. Und gerade indem ich über
diese Unterweisung nachdachte, und über die Holzwege, auf
denen ich mich mit ihr befand, habe ich die Frage nach Jesus
von Grund auf wieder aufgerollt.
Man sollte daher nicht meinen, man könnte in der jüdischen
Kultur vor Jesus und zur Zeit Jesu die Formen einer
theoretischen Untersuchung finden wie jener, die ich als
Philosoph unter Anwendung der transzendentalen und
kantianischen reflexiven Methode durchführe, nach zwanzig
Jahrhunderten der christlichen Selbstforschung und dreißig
Jahrhunderten der jüdischen Selbstforschung.
Aber durch meine philosophische Überlegung kann ich
erkennen, dass es sehr wohl ein derartiges Verlangen nach
einem Messias war, das, wenn ich das so sagen kann, in der
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
281
« glaubenschaftlichen » Kultur des jüdischen Volkes aufkeimte
und Blüten trieb, auf dem sehr bewegten Nährboden seines
gesellschaftlichen und politischen Lebens. Ich denke auch, dass
eine derartige Überlegung notwendig ist, um dieses tiefe
Verlangen und seine Beschaffenheit zu verstehen, und dass ein
Historiker, der diesen roten Faden nicht findet, an der tiefsten
Wirklichkeit des Volkes Israel vorbeischaut. Dieses Verlangen
kam wiederum im jüdischen Umfeld Jesu seiner reinen
Wesenheit am nächsten, denn in diesem Menschen Jesus hat
Gott seine Antwort gegeben, eine Antwort, die sich an seine
Schöpfung
anschließt,
an
eine
Schöpfung,
deren
Verständlichkeit sich in der philosophischen Überlegung auftut.
DER EXEGET
Sie wären also der Meinung, dass das Christentum die
geschichtliche Gestalt der Offenbarung ist, als Antwort auf ein
universales Verlangen nach einem Messias?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ihre Frage bringt mich nicht wenig in Verlegenheit... Ich kann
nicht auf sie antworten, da ich sie so nicht annehmen kann...
DER EXEGET
Verzeihen Sie... Aber warum?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich bin in Verlegenheit, aber keineswegs überrascht... Sie sind
überrascht, aber nicht in Verlegenheit... Aber reden wir offen...
denn wir beide sind der Person Jesu sehr, sehr verbunden.
Jesus war ein Jude. Er ist niemals Christ gewesen, obwohl er
am Ursprung des Christentums steht. In der Geschichte und als
Antwort auf ein Verlangen nach einem Messias hat Gott sich
nicht in einem Christen, sondern in einem Juden als Retter
offenbart. Der Grund dafür ist ganz einfach. Dieses Verlangen
hatte im Judentum seine konkrete « notwendige und
ausreichende » Form gefunden, so dass seine Antwort auf dieses
Verlangen gehört werden konnte. Ich sage nicht
« vollkommene » Form. Denn Gott erwartet nicht, dass wir
irgendetwas Vollkommenes tun. Hat nicht er selbst dieses
Verlangen in seine Schöpfung, beziehungsweise in seine erste in
unserem Sein immanente Offenbarung, hineingelegt?
282
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Man könnte sich sogar vorstellen — aber das ist lediglich
menschliche Psychologie —, dass er es eiliger hatte, uns zu
antworten, als wir uns eilten, die richtige Frage zu finden, mit
der wir unser Verlangen nach der Befreiung von allem Bösen an
ihn herantragen könnten... Seine Absicht, die Antwort zu
verwirklichen, ist so fest, dass er sie in die Tat umsetzt, noch
bevor wir die Frage richtig gestellt haben. Er gibt sich mit
unbeholfenen Fragen zufrieden...
Wie ein Professor, der mittels einer aktiven Pädagogik
versucht, seine Studenten dahin zu bringen, in seinem
Fachgebiet gute Fragen zu stellen, um ihnen dann die richtige
Antwort zu geben. Er ist dann aber manchmal gezwungen, sich
mit annähernd richtigen, aber unverzichtbaren Fragen
zufriedenzugeben, und derweil schon zur Darlegung der
Antwort überzugehen.
Die Antwort Gottes wurde von den Juden tatsächlich gehört.
Nicht von allen Juden. Die meisten von ihnen bilden ihre
Identität im Glauben an den Schöpfer, also in einem Glauben,
der im Verlangen nach einem Messias gipfelt. Sie bezeugen also
weiterhin diese notwendige und ausreichende Bedingung für die
Aufnahme des Rettergottes und seines Heils in einer
glaubenschaftlichen Beziehung. Dieses Zeugnis ist wichtig, da
es uns trotz eigenen Unzulänglichkeiten vor den irrigen
Auslegungen des Heils Gottes warnt.
Im Anschluss an diese Juden, die die Offenbarung des Heils
Gottes erkannt haben, bezeugen auch Nicht-Juden, und zwar in
beachtenswerter Anzahl, die Offenbarung dieses in der Person
Jesu vollbrachten Heils. Um objektiv zu sprechen, muss man
von der « evangelischen Offenbarung », und nicht von der
christlichen Offenbarung, sprechen. Man kann von einem
« christlichen Glauben » an die evangelische Offenbarung
sprechen.
DER EXEGET
Da im Werk Gottes zwischen der menschlichen
Glaubenschaftlichkeit in ihrer geschichtlichen jüdischen Gestalt
und der Person Jesu am Ursprung des Christentums eine
derartige
Einheit
besteht,
wie
erklären
Sie
das
Auseinanderbrechen von Judentum und Christentum, das in der
Ordnung
der
menschlichen
und
geschichtlichen
Bewusstwerdung des Werkes Gottes stattgefunden hat?
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
283
DER ANDERE PHILOSOPH
Die Aufnahme dieser transzendenten Offenbarung durch
Menschen krankt an derselben Unvollkommenheit wie die
Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung. Auch sie muss also
von dieser Unvollkommenheit befreit werden, und sie wird
tatsächlich befreit sein, in der Weise, wie Gott die
Verwirklichung der Befreiung von allem Bösen in der Person
Jesu offenbart. Während des Wartens bleibt gegenwärtig die
ethische Forderung, dass wir die Wahrheit des Gottes, « der sich
offenbart », suchen. Für den Christen bestärkt die Offenbarung
des Heils in einer rechtfertigenden Auferstehung diese
Forderung.
Theoretisch sind dazu zwei Fragen zu stellen. Aber es obliegt
nicht mir, sie zu stellen, insofern sie existentielle Fragen der
Glaubenschaftlichkeit sind. Die Juden haben eine von ihnen zu
stellen, die Christen die andere. Aber sie weisen in dieselbe
Richtung, weil sich die transzendente Offenbarung Gottes im
jüdischen Bewusstsein von seiner immanenten Offenbarung
vollzogen hat.
Die Christen haben zu fragen: « Verstehen wir die
Offenbarung Gottes in Jesus richtig, in Übereinstimmung mit
dem jüdischen Glauben und seinem Verlangen nach einem
Messias, durch die seine Offenbarung erwartet und
aufgenommen wurde? » Diese Offenbarung des Heils Gottes ist
mit der Person Jesu identisch. Denn in der Tat ist ein
offenbarendes « Wort » Gottes eine persönliche Wirklichkeit,
eine Person in ihrer Wirklichkeit, genauso, wie eine immanente
Offenbarung Gottes mit der menschlichen Wirklichkeit
identisch ist.
Die Juden haben zu fragen: « Ist unser Verständnis der
Offenbarung Gottes in unserer gegenwärtigen Existenz wirklich
richtig, und wird unser Verlangen nach einem Messias auch
heute noch gut genug verstanden? Vielleicht durch einige von
uns, die in Jesus eine Antwort angenommen haben, die ihrer
Ansicht nach vom ewigen Gott stammt, und die wir
gewissenhaft überprüfen müssen? »
DER EXEGET
Tatsächlich habe ich meine letzte Frage schlecht gestellt, denn
im Wesentlichen bin ich mit Ihnen einverstanden, unter anderem
auch
mit
den
vorausgegangenen
methodologischen
Ansatzpunkten... Ich habe es Ihnen gesagt. Ich hätte meine
284
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Frage folgendermaßen formulieren sollen: « Ist das Christentum
die geschichtliche Gestalt des menschlichen Verständnisses der
durch das Zeugnis der Evangelien bekannten Offenbarung
Gottes in Jesus? »
DER ANDERE PHILOSOPH
Hier werde ich ganz sicher bejahend antworten. Aber da das
Christentum ein menschliches Verständnis ist, kann sich unser
christliches
Verständnis
verbessern...
Mögen
unsere
Diskussionen zu diesem Forstschritt einen Beitrag leisten...
DER EXEGET
Welche
philosophischen
Überlegungen
zu
dieser
evangelischen Offenbarung stellen Sie an, die unserer Textkritik
eine Richtung weisen und es uns so möglicherweise erlauben
würden, die Zeugnisse des Neuen Testaments besser zu
verstehen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Meine Antwort wird Philosophie und Theologie etwas
vermischen. Ich hoffe, dass Sie sich trotzdem darin werden
wiedererkennen können... Ich nehme diejenigen meiner Ideen
wieder auf, die den letzten Wortmeldungen vorausgegangen
sind... Es ist nämlich in der Tat wichtig, zu verstehen, dass eine
« Offenbarung » Gottes immer eine « Wirklichkeit » und nicht
eine « Rede » ist, selbst wenn der Mensch den Sinn dieser
Wirklichkeit durch eine « Rede » übersetzt, und dann dazu
neigt, sie Gott zuzuschreiben. Dies « als Fundamentalist » zu tun
und zu denken ist ein reiner und einfacher Irrtum.
Die Schöpfung wäre dann nicht mehr ein « Offenbarungsakt »
Gottes, wenn Gott nur die nicht mit Erkenntnis und Bewusstsein
begabten materiellen Dinge erschaffen würde. Sie wären nicht
mehr als ein ach so schwacher « Widerschein » Gottes. Aber für
wen? Sie hätte keine Bedeutung. Es ist so, als ob man Folgendes
denken würde, indem man von dem, der denkt, abstrahiert: « die
erste Wirklichkeit vor dem Big Bang hat, indem sie explodiert
ist, das Universum erschaffen ». Einer derartigen Behauptung
einen ontologischen Wert beizumessen läuft darauf hinaus, dass
man das experimentelle wissenschaftliche Vorgehen, das
verlangt, dass der Wissenschaftler nicht mit dem Phänomen, das
er studiert, in Wechselwirkung tritt, in irrationaler Weise
verallgemeinert.
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
285
Nun ist es aber der Mensch, der die Wissenschaft von der
wahrnehmbaren Wirklichkeit betreibt... Und diese ist nicht die
ganze Wirklichkeit. Auf der Ebene des Seins im Allgemeinen,
auf dem sich die Philosophie bewegt, muss der Mensch
gegenwärtig sein und ist es, damit die materielle Welt das
Loblied der Herrlichkeit Gottes sein kann...
Die Schöpfung ist insofern „Offenbarung“ Gottes, als er
Seiende erschafft, die „sein Ebenbild“ sind, die sich ihres Seins
bewusst sind und die auch fähig sind, ihr Sein als „geschaffenes
Sein“, als „empfangenes Sein“ und als „Sich-selbst-geschenktSein“ zu verstehen.
Im Sein derartiger Seiender also „zeigt sich Gott und macht
sich sichtbar, also dem Bewusstsein gegenwärtig“, im
Bewusstsein, das der Mensch von seinem Sein als
„erschaffenem“ Sein erlangt. Der (von Gott her betrachtete)
„Offenbarungs-Schöpfungsakt“ verleiht dem Menschen eben
gerade eine glaubenschaftliche Existenz. Der Mensch verfügt
seinerseits über das Bewusstsein, dass die Handlung Gottes
„Schöpfung-Offenbarung“ ist. Achten Sie bitte darauf, dass ich
die Begriffe „Offenbarung“ und „Schöpfung“ dann umgekehrt
anordne, wenn ich vom Menschen aus betrachtet spreche.
Gott ruft den Menschen nicht als ein „Ding“ ins Sein, das
einfach nur „da“ ist, einfach in der Stellung eines Objekts
hergestellt wurde, das zwar die Spuren seines Urhebers (die
vestigia Dei) in sich trägt, aber niemandem etwas über den
Schöpfer sagt. Ein Tier läuft über weichen Boden. Es hinterlässt
eine Spur, die nichts weiter ist als eine Veränderung der
Bodenoberfläche. Sie ist keine bedeutsame „Spur“, außer für
den Fallensteller und Jäger. Der Jäger kennt die Bedeutung der
„Spur“, die auch er auf dem Boden hinterlässt...
Gott hat den Menschen erschaffen. Er hat ihn „in Beziehung
zu Anderen in der Welt seiner selbst bewusst seiend“ gemacht.
Er hat ihn also als Subjekt gemacht, das fähig ist, sich als mit
Anderen in der Welt „erschaffen“ zu erkennen, als in seiner
eigenen Menschheit „sich selbst gegeben“. Der Mensch erkennt
so sich selbst als das Ziel „in persona“, als das Ziel eines
absoluten und absolut freien Einsatzes, den ein Anderer, absolut
Transzendenter geleistet hat, damit dieser Mensch mit Anderen
existieren kann. Kurz gesagt: Gott erschafft den Menschen als
fähig, die zweifache glaubenschaftliche Dimension seines Seins
„reflexiv“ zu erkennen: die Glaubenschaftlichkeit gegenüber
286
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Anderen, die „Ihm ähnlich sind“, und jene der Anderen Ihm
gegenüber.
Dieses reflexive Erkennen unser glaubenschaftlichen
Interpersonalität bewirkt eine Zustimmung — unter der
ethischen Forderung nach Übereinstimmung mit unserem Sein
— zu dieser göttlichen Offenbarung, die unsere eigene
menschliche Wirklichkeit ist. Die göttliche Handlung, die unser
Sein erschafft und das Sein des Schöpfers offenbart, gibt uns
eben dadurch den Seinsstatus eines bewusstseinsbegabten, als
„Glaubender“ erschaffenen Seins. So ist der Mensch der
bewusst Empfangende dieser den absoluten „Offenbarer“
offenbarenden Seinsmitteilung.
Indem ich mich als in dieser Weise erschaffen erkenne,
glaube ich „an Gott“, weil ich dann verstehe, dass Gott der „Gott
für mich“ sein will, dass er sein Sein darauf ausgerichtet haben
will, dass wir „alle“ in seinsvollkommener Beziehung seien.
„Gott, Du willst, dass wir seien wie Du, weil Du aus Deinem
ganzen Sein nur Glück hervorbringen kannst“. Wir existieren
nicht aufgrund einer göttlichen Wahl, sondern aufgrund der
absolut freien inneren Notwendigkeit, kraft derer Gott Gott ist
und in sich selbst die Vollkommenheit der Seinsmitteilung ist.
Die Schöpfung ist nicht ein Gegenstand der göttlichen
Offenbarung, wobei „Offenbarung“ hier im psychologischen
Sinn zu verstehen wäre, also als eine Information, die den
Menschen über den Zustand der Dinge der Welt gegeben wird,
und sie ist auch nicht so etwas eine Eingebung, wo der Dichter,
der zu Recht angesichts der Schönheit der Natur voll
Bewunderung ist, behauptet, dass die Himmel die Herrlichkeit
Gottes besingen, und sie ist auch nicht so etwas wie die
Verbreitung eines himmlischen Geheimnisses. Für den
bewusstseinsbegabten
Menschen
ist
die
geschaffene
Wirklichkeit des Menschen die „Offenbarung“ Gottes in seinem
Sein.
Der Mensch besitzt die Fähigkeit, zu erkennen, und zwar
wenn möglich reflexiv und ganz und gar rational, dass sein
interpersonales Sein (ich mit Anderen) mit der „SchöpfungOffenbarung“ Gottes identisch ist. Diese Fähigkeit, — sage
ich — die für ihn zusammenhängt mit der Möglichkeit, unter der
ethischen Verpflichtung der Freiheit seinem Mit-Anderen-Sein
zuzustimmen, gemäß der ihm eigenen Relationalität mit dem
Schöpfer-Offenbarer, fällt in eins mit der spezifisch
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
287
„theologalen“ „Glaubenschaftlichkeit“ des menschlichen
Bewusstseins.
Weil der Mensch sich seiner selbst in seinem geschaffenen
Sein bewusst ist, ist er als „glaubensfähig“ geschaffen, und in
ethischer Treue gegenüber seinem Sein bindet er sich in
tatsächlichen Verhaltensweisen des Glaubens, die nach und nach
verbessert werden und im Lauf der Geschichte ihrem
einleuchtenden Ideal näher kommen. Die Glaubenschaftlichkeit
des Bewusstseins muss als Schlussfolgerung eines richtig
vollzogenen
Bewusstwerdens
unserer
ontologischen
Abhängigkeit vom göttlichen Absoluten entdeckt werden.
Dieses Bewusstwerden ist gewissermaßen das Zeichen, dass
die „göttliche Ursächlichkeit“ nicht mehr von der Kosmologie
her verstanden wird, sondern personenbezogen, durch ein
reflexives Denken. Wenn die göttliche Offenbarung die
geschaffene, persönliche Wirklichkeit des Menschen ist, und
nicht eine „Rede“, dann ist es nicht möglich, ausschließlich an
einige „Offenbarungsreden“ zu glauben. Glaube wird dann
immer Glaube an einen Offenbarer- und Schöpfergott sein, in
einer Beziehung der Glaubenschaftlichkeit, die reflexiv
verstanden und nach außen hin in religiösen Verhaltensweisen
psychisch gezeigt wird.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Entspricht diese Glaubensform, deren ontologischen Aufbau
Sie nochmals erklären, dem, was wir in den biblischen
Erzählungen und im Glauben des Volkes des Alten Testaments
feststellen können?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz genau. Der Glaube des alttestamentlichen Menschen ist
aber für ein „Mehr an Offenbarung“ offen, weil die Schöpfung
„unvollendet“ ist. Gott weiß, dass er mit der Erschaffung des
Menschen in der Geschichte sein Werk noch nicht vollendet hat.
Die gesamte in der Zeit vergangene, gegenwärtige und
zukünftige Geschichte bedarf einer jenseits der Geschichte
liegenden Zukunft, damit das einzige Seinsmitteilungswerk
Gottes verwirklicht werde.
Tatsächlich hat der Mensch in dieser Geschichte seine tiefste,
an der Wurzel seiner Freiheit liegende ontologische Endlichkeit
in der Möglichkeit des Fehlers und in seiner tatsächlichen Sünde
gesehen, und er sieht sie und wird sie immer sehen, wobei er
288
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
sich als „durch den Schöpferakt dazu verpflichtet und bestimmt“
sieht, in einer vollkommenen Großzügigkeit gegenüber anderen
und in vollständig verwirklichter glaubenschaftlicher Annahme
jener Großzügigkeit Gottes zu existieren, die im Wirken des
Schöpfers sichtbar geworden ist.
Der Mensch — allerdings nicht unbedingt alle Menschen mit
derselben Einsicht — strebt also nach einer Art neuer
Schöpfung,
einer
Schöpfung,
die
einen
höheren
Vollkommenheitsgrad aufweist und in der dieses Ideal jenseits
von der gegenwärtigen Schöpfung erfüllt sein soll, und die ihn
gerade dadurch vom Vermögen, nochmals zu sündigen, befreien
wird.
Dieses « Mehr » an Offenbarung ist die Offenbarung Gottes
durch die Fleischwerdung des « göttlichen Wortes », der
zweiten Person der Dreieinigkeit, in Jesus. Diesmal findet die
« Offenbarung » durch Gott persönlich statt, Offenbarung des
letzten und die ganze Geschichte durchziehenden Ziels des
anfänglichen und bleibenden Schöpfungsaktes in der Zeit. Des
letzten Ziels, das der Mensch unter der Gestalt eines Strebens
wahrnahm, dessen Erfolg erforderlich war, aber außerhalb seiner
Reichweite lag.
DER DOMHERR
« Außerhalb seiner Reichweite »? Was soll das heißen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Dass der Mensch zunächst unfähig ist, dazu die Initiative zu
ergreifen und sich tatsächlich von dieser Möglichkeit, das Böse
zu tun, zu befreien, selbst wenn er das größtmögliche Gute tut,
zu dem er fähig ist... Durch eine klare Untersuchung wird dies
offensichtlich. « Außerhalb seiner Reichweite » bedeutet auch,
dass der Mensch die Erfahrung einer derartigen Befreiung nicht
im Lauf dieser Geschichte machen kann... Gott selbst kann uns
nicht in dieser Geschichte von dieser Möglichkeit des Bösen
befreien. Ansonsten hätte er es bereits getan... Und hätte eine
Menschheit erschaffen, die ohne das Vorhandensein dieser
Möglichkeit des Bösen in ihr existiert... Träumen wir nicht von
etwas in sich Widersprüchlichem... von einem « quadratischen
Kreis »,... von einer Menschheit, die sich in der Welt und in der
Zeit entwickelt, ohne dass es in ihr die Möglichkeit gäbe, das
Böse zu tun...
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
289
Aber das Streben nach der Befreiung von der Möglichkeit,
das Böse zu tun, setzt notwendigerweise eine jenseits der Zeit
gelegene Verwirklichung voraus, weil diese Befreiung die « Zukunft » der ganzen zeitlichen und geschichtlichen Menschheit
ist. Insofern dieses Streben im Menschen notwendigerweise an
die Verpflichtung, das Gute zu tun, und an die ethische Pflicht,
dem Guten immer näher zu kommen, gebunden ist, ist es eine
« Wirklichkeit im Menschen ». Als « Wirklichkeit im
Menschen » offenbart es den Willen Gottes, dass es Erfolg habe.
Die Welt und der Mensch sind übrigens von Gott einzig im
Hinblick auf eine Vollkommenheit des Seins in die
gegenwärtige unvollkommene Existenz geworfen worden,
nämlich im Hinblick auf eine Seinsmitteilung seinerseits, die so
großzügig wie nur möglich ausfallen wird. Sie kommt einer
wahrhaftigen « Vergöttlichung » gleich, die uns eben dadurch,
jenseits unseres Todes, von der in unserer gegenwärtigen
Schöpfung gegebenen Fähigkeit, das Böse zu tun, befreit, so wie
es die « Auferstehung » des Menschen Jesus bezeugt.
Die Auferstehung Jesu ist das Wahrwerden der
transzendenten Offenbarung Gottes an die Menschen. Die
transzendente Offenbarung unserer befreiten und vergöttlichten
Existenz ist nicht ein « Programm », und auch nicht ein
vorgezeichneter Ablauf, und auch nicht eine « virtuelle »
Projektion dessen, was uns erwartet, und auch nicht eine
« Vision » dessen, was wir in dieser neuen Existenz sein
werden. Sie ist eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit eines
« vergöttlichten Menschen ». Sie ist die Wirklichkeit einer
Vergöttlichung eines Menschen, der geboren wurde, gelebt hat,
sich seiner Bestimmung bewusst wurde, der gestorben ist und
der wirklich in diese « Vergöttlichung » eingetreten ist, in das
« Wesentliche dieser Offenbarung », kraft des göttlichen
Wirkens in ihm, kraft einer persönlichen Gegenwart Gottes in
ihm.
Jede Offenbarung Gottes an die Menschen besteht in einer
Wirklichkeit. Daher ist auch die Offenbarung unserer
befreienden Vergöttlichung eine Wirklichkeit: jene der
Auferstehung eines Menschen — nicht einer « Auffassung » von
der Auferstehung — die die « Zu-kunft » der Menschheit
sichtbar macht. Sie ist eine « Offenbarung », weil diese « Zukunft » in ihm vollendet ist. Ausschließlich daher ist er für uns
« Offenbarung Gottes ».
290
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Durch diese transzendente Offenbarung vervollständigt Gott
das, was er in der ersten Zeit seiner seinsgebenden
Großzügigkeit, also in der Zeit der Schöpfung, von sich
offenbaren will. In der Person Jesu zeigt er also in seiner
Schöpfung das, was jenseits seiner Schöpfung liegt, nämlich die
« vergöttlichende Auferstehung », auf die hin er begonnen hat,
den Menschen mit der Fähigkeit, das Böse zu tun, und der
messianischen Erwartung, davon befreit zu werden, zu
erschaffen.
Diese Vergöttlichung, Werk Gottes — nicht eine
Vergöttlichung und menschliche Erhebung « zur Ehre der
Altäre », was nichts weiter wäre als Schein — ist nur jenseits
des Todes wirklich, aber wir können uns ihrer genauso sicher
sein wie unserer eigenen gegenwärtigen Existenz. Sie ist die
zweite Zeit seiner das Sein außerhalb seiner selbst mitteilenden
Tätigkeit. Sie ist vollkommen in der trinitarischen
Seinsmitteilung begründet, die er in sich selbst ist. Sie ist eine
Teilhabe an seinen trinitarischen Beziehungen, und zwar nicht
nur « nach Seinem Bild », nicht nur « nach dem Bild » seiner
trinitarischen Beziehungen.
Weil die Schöpfung der Menschheit durch Gott nach dem Bild
seiner trinitarischen Beziehungen ist, und daher die ethische
Verpflichtung zum Guten einschließt, also die Verpflichtung,
die Wahrheit zu suchen, die Liebe zu wollen und richtige
glaubenschaftliche Beziehungen einzugehen, und gleichzeitig
auch deshalb, weil sie die Möglichkeit, das Böse zu tun, in sich
trägt, ist zur Befreiung von dieser Möglichkeit eine
Seinsmitteilung seitens Gottes nötig, die die Existenz « als
Abbild » überbietet... Sie setzt also eine « Eingliederung »,
gewissermaßen eine Inthronisierung in die trinitarischen
Beziehungen an sich voraus. Es ist also ganz natürlich, dass Gott
in der Offenbarung unserer Vergöttlichung in der Person Jesu
kraft seiner personalen trinitarischen Beziehungen wirkt, und
nicht nur aufgrund seiner trinitarischen Struktur, also « als
Abbild » seiner selbst.
In Jesus ist die Offenbarung-Schöpfung Gottes vollendet, und
zwar in der Weise der Immanenz, wie für den in seiner
Befindlichkeit des geschaffenen, begrenzten Seins seienden
Menschen. Als Immanenz in der Person Jesu vollendet, ist sie
für uns eine transzendentale Offenbarung, deren immanente
Verwirklichung in Gott noch aussteht, nämlich durch unsere
Auferstehung nach unserem Tod. Das ist auch die wahre
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS
291
Bedeutung des Wortes „Offenbarung“. Wir müssen diesen
Begriff von der empirischen Vorstellung befreien, die ihm als
Bedeutung gegeben wird.
Der göttliche Offenbarer setzt sich also immer für die
Entfaltung dessen, oder vielmehr derer ein, deren Glauben er
anregt, indem er sie notwendigerweise als „glaubenschaftliche
Seiende“ geschaffen hat. Auch kann das glaubenschaftliche
Bewusstsein eine Offenbarung nicht anders authentisch
begreifen als auf seine personale und beziehungsbedingte
Entfaltung hin ausgerichtet, sowie auch auf jene aller Menschen,
ohne Ausnahme. Das „Heil“ Gottes, also das Geschenk des
„vollkommenen Lebens in der Liebe“, muss alle Menschen
erreichen und erreicht sie; nicht einer wird davon
ausgeschlossen sein, und nicht einer wird sich davon
ausschließen...
Die Sprache der Psychologie passt hier genau zu dieser
philosophischen Analyse. Man „vertraut“ dem, der uns Gutes
will; man „misstraut“ dem, der uns bedroht. Drohungen fallen
dem glaubenschaftlichen Bewusstsein „in den Rücken“, denn sie
sind die Verneinung einer Seinsmitteilung. Zwischen Eheleuten
und von den Eltern zu den Kindern bestehen Verhaltensweisen
der Offenbarung, und zwischen Eheleuten und von den Kindern
zu ihren Eltern bestehen Verhaltensweisen des Glaubens und
Vertrauens. Dies alles sind Formen der Glaubenschaftlichkeit,
die nun erforscht werden müssten, denn sie sind die Struktur des
göttlichen Handelns der Offenbarung-Schöpfung. Ontologisch
gesehen veredelt die theologale Glaubenschaftlichkeit die
familiäre Glaubenschaftlichkeit, während epistemologisch
gesehen die familiäre interpersonale Glaubenschaftlichkeit uns
die theologale Glaubenschaftlichkeit verständlich macht. Diese
beiden glaubenschaftlichen Dimensionen verweisen uns
gemeinsam
auf
die
ewigen
Beziehungen
der
Glaubenschaftlichkeit, die zwischen den göttlichen Personen
bestehen, also auf die ewige Seinsmitteilung, die Gott selbst ist.
DER MODERATOR
Lieber Kollege, erlauben Sie mir, dass sich Sie hier
unterbreche.
DER ANDERE PHILOSOPH
Sie unterbrechen mich keineswegs. Ich meine, ich habe auf
die mir gestellten Fragen geantwortet...
292
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER MODERATOR
Das ist wahr... Aber ich habe doch den Eindruck, dass sie
gerade einen neuen Ausblick eröffnet haben... auf andere
Fragen. Das wird uns bei unserer nächsten Zusammenkunft
beschäftigen...
Die Sitzung ist beendet... Ich wünsche allen einen schönen
Abend... Bis morgen!
SECHSTE BEGEGNUNG
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN
INTERPERSONALITÄT
Am nächsten Morgen...
DER MODERATOR
Guten Morgen... Zu Beginn dieser sechsten Zusammenkunft
eine kleine Anekdote... Gestern Abend habe ich mich im
Restaurant mit einigen befreundeten Archäologen getroffen. Sie
unterhielten sich natürlich über die den antiken Religionen
eigenen Symbole.
Um seine Deutung zu untermauern, berief sich der eine von
ihnen auf mich: « Mir scheint, dass es in Ihrer Werkstätte einen
Psychoanalytiker gibt, der Vorkämpfer für die Idee der Existenz
eines « Glaubenstriebs » sein soll. Wenn er recht hat, könnte die
Existenz eines derartigen Triebs die Auswirkung gewisser
Symbole auf die menschliche Psyche erklären, sowie auch das
Vorhandensein dieser Symbole in verschiedenen Religionen, die
ganz offensichtlich keine geschichtliche Verbindung zueinander
haben. »
Ich war angenehm überrascht, zu sehen, dass die Ideen
unseres Psychoanalytikers bereits außerhalb unserer Gruppe die
Runde gemacht haben.
« Der von Ihnen geprägte Begriff erregt Aufmerksamkeit, wie
Sie sehen! »
DER PSYCHOANALYTIKER
Offen gesagt, das liegt nicht an mir... Es wäre schön, wenn all
unsere Untersuchungen zum Nachdenken anregen würden...
Darüber würde ich mich noch mehr freuen.
294
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DIE ANWÄLTIN
Die mit mir befreundete Historikerin und ich selbst wären
froh, wenn auch der gegenseitige Glaube von Eheleuten
behandelt werden könnte. Wir haben hier bereits mehrmals
darauf angespielt... Gestern Abend haben wir unter uns ebenfalls
darüber diskutiert. Was ist dieser Glaube genau?
Von Berufs wegen haben wir beide vor allem mit Vertrauensmissbrauch und Verrat in diesem Bereich zu tun... Wäre unser
Glaubenstrieb dann nicht wirkungslos? Und wenn er auf der
menschlichen Ebene wirkungslos wäre, wie könnte er dann noch
helfen, den religiösen Glauben zu verstehen? Welchen Platz in
unseren Überlegungen sollten wir all dem Scheitern im
Eheleben einräumen?
DER MODERATOR
Diese Fragestellungen erweitern das Spektrum unserer
Untersuchungen... Wer möchte auf diese Fragen eingehen?
DER ERSTE PHILOSOPH
Erlauben Sie bitte, meine Dame, dass ich die Begriffe etwas
genauer fasse! Sie haben von « religiösem Glauben »
gesprochen. Wollten Sie damit sagen « Glaube an Gott », oder
wollten Sie den Begriff « religiöser Glaube » absichtlich
beibehalten? Es gibt nämlich tatsächlich zwei sehr
unterschiedliche Arten von Fragestellungen. Die Untersuchung
der Beziehungen zwischen den Gott zugewandten « religiösen
Glaubensrichtungen » und den diesen Überzeugungen eigenen
ehelichen Einrichtungen, hängt von der Geschichte, der
Soziologie, dem Recht und den anderen « beobachtenden »
Wissenschaften, wie etwa der Psychologie ab... Wenn Sie
hingegen die Frage nach dem « Glauben an Gott » stellen, wie
wir ihn bereits in seinem Wesen zu definieren versucht haben,
und nach den Beziehungen des ehelichen Glaubens, nach dessen
Wesen wir ebenfalls suchen müssen, dann stellen Sie damit eine
philosophische, reflexive Frage.
DIE RELIGIONEN UND IHRE AUFFASSUNG VOM PAAR MANN-FRAU
DIE HISTORIKERIN
Beide Arten von Fragen sind interessant. Wir verwechseln sie
nicht. Wir sind uns auch bewusst, dass man, um über die
Beziehungen zwischen den religiösen Überzeugungen und ihren
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 295
jeweiligen Vorstellungen von der Ehe zu urteilen, über
Bezugspunkte verfügen muss. In Ermangelung von
unbezweifelbaren philosophischen Bezugspunkten, oder um
nicht Partei zu ergreifen,... geben wir uns oft mit einfachen
Vergleichen
zwischen
den
verschiedenen
religiösen
Gesellschaften und ihren Regeln für das Eheleben zufrieden.
Wenn wir an diesem Seminar teilnehmen, dann genau deshalb,
um unsere Bezugspunkte klarer zu sehen und einzuordnen...
DIE ANWÄLTIN
Wir können übrigens feststellen, dass sich niemand mit mehr
Eifer in die Beziehungen zwischen Mann und Frau einmischt,
als die religiösen Oberhäupter; obwohl ihre Aufgabe theoretisch
doch darin bestehen würde, sich um die Beziehungen der
Menschen zum Göttlichen zu kümmern. Warum verhalten sie
sich so? Verpflichtet ihre Gottesvorstellung sie, zu entscheiden,
was die Beziehungen zwischen Mann und Frau sein sollten?
DER PHYSIKPROFESSOR
Ich meinerseits denke, dass zwischen Gottesvorstellung und
der Vorstellung vom menschlichen Ehepaar und seiner Familie
ein Zusammenhang besteht. Es ist daher ganz normal, dass die
Religionen diese Beziehungen, zumindest die wesentlichen
Beziehungen zwischen Mann und Frau, im Einklang mit der
Vorstellung bestimmen, die sie sich von Gott machen. Das
bringt mich nicht aus der Fassung. Auch Frauen haben eine
Beziehung zum Göttlichen... Dieselbe wie Männer? Ich weiß es
nicht... Also muss es auch eine Verbindung zwischen dem
Ehepaar und der Gottesvorstellung geben... Ich meine jedoch, in
Ihrer Frage eine Regung der Entrüstung und des Aufbegehrens
festzustellen. Wodurch meine kleine Überlegung sehr
unzulänglich wird...
DIE ANWÄLTIN
Genau... Und Sie gießen noch Öl ins Feuer, wenn Sie sich
fragen, ob die Rolle der Frauen dieselbe ist wie jene der
Männer! Hier sieht man wieder einmal, dass die Religionen den
Frauen nicht dieselbe Stellung zugestehen wie den Männern...
Gehört diese Diskriminierung wesentlich zum religiösen
Glauben, oder ist sie nur ein Überbleibsel aus primitiven
Gesellschaften?
296
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER PHYSIKPROFESSOR
Ich würde Ihre Entrüstung teilen — die ich ungewollt vertieft
habe — und zwar nicht über das Vorhandensein eines
Zusammenhangs zwischen der Vorstellung vom Ehepaar und
der Gottesvorstellung, sondern über die Art und Weise, wie man
diesen Zusammenhang auffasst. Vielleicht haben die
monotheistischen Religionen hier eine falsche Vorstellung. Dies
würde die Diskriminierungen, über die Sie sich empören,
erklären...
Aber daraus folgen mehrere Fragen. Mir scheint, zunächst
müsste man das Ehepaar selbst ins Auge fassen, und sich davon
unabhängig von jeder Bezugnahme auf religiöse Inhalte eine
Vorstellung zu geben.
DER MODERATOR
Das wäre dann also eine philosophische Vorstellung vom
Ehepaar?
DER PHYSIKPROFESSOR
Genau... Dann kann man seine psychologische Seite, seine
ethische Seite und auch die eigentliche Beschaffenheit seiner
Wirklichkeit ins Auge fassen...
DER ERSTE PHILOSOPH
Sie meinen: seine ontologische Dimension oder Verfasstheit?
DER PHYSIKPROFESSOR
Ja... Ist das Ehepaar eine einfache Vereinigung oder mehr als
das? Kann die Ehe eine vorläufige, mehr oder weniger
dauerhafte Einheit bleiben, oder muss sie zu einer endgültigen
Selbstverpflichtung werden? Dringt sie ins Innerste der
Persönlichkeit eines jeden ein oder bleibt sie in einem weiter
außen liegenden Bereich stehen? Baut sich die Persönlichkeit
« in der Ehe » auf, oder ist die Ehe nur « der Rahmen » für das
Individuum?
Dann, nachdem so eine bestimmte Vorstellung von der Ehe
ausgearbeitet sein wird, werden wir sie zur Gottesvorstellung in
Bezug setzen, zuerst zu bestimmten philosophischen
Gottesvorstellungen, dann zu den religiösen Vorstellungen, die
diese oder jene Gesellschaft von der Ehe und von Gott hat.
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 297
Um in der physikalischen Forschung Fortschritte zu erzielen,
schreibt man Versuchsprotokolle. Und in ähnlicher Weise
sollten wir hier ein Protokoll führen.
DIE ANWÄLTIN
In diesem Punkt bin ich mit Ihnen einverstanden... Genau
deshalb habe ich darum gebeten, dass wir uns heute die Frage
stellen, was « Glaube » in der Ehe sein könnte und ob dieser
Glaube mit dem Glauben an Gott irgendetwas zu tun hat.
DER MODERATOR
Ich sehe, dass wir hier heikle Frage anschneiden... Um sie in
Angriff zu nehmen, wurde sogar vorgeschlagen, dass wir ein
Protokoll erstellen und führen. Mir scheint das eine gute Idee zu
sein.
DER ERSTE PHILOSOPH
Mit oder ohne Protokoll... — aber ich bin dafür...— müssen
wir bei der Wortwahl genau sein. Die reflexiven Fragen nach
dem Wesen der Dinge sind eine Sache, und jene nach der
festgestellten, vorhandenen Wirklichkeit derselben Dinge eine
andere. Zweifellos muss unser Verständnis vom Idealzustand
dieser Dinge so beschaffen sein, dass es uns erlaubt, auch die an
diesen Dingen im Vergleich zu ihrer idealen Wesenheit
beobachteten Fehlschläge zu verstehen.
Hier haben wir das ganze Problem des Irrtums und des Bösen
in der Welt, vor allem, wenn es um die Taten der Menschen
geht. Eine Sache ist das Idealverständnis der ehelichen Liebe,
und eine andere Sache ist das konkrete Leben der Ehepaare, die
versuchen, sich diesem Ideal anzunähern.
Und damit man versuchen kann, sich diesem Ideal
anzunähern, muss es außerdem fehlerfrei gedacht werden. Man
wird es niemals fertigbringen, ein in sich widersinniges Ideal zu
verwirklichen. Das gilt übrigens genauso für die Umsetzung
eines Ideals des Glaubens an Gott in den geschichtlichen,
religiösen Formen dieses Glaubens. Um ein « Ideal » fehlerfrei
zu denken, muss man es gleichzeitig als wirklich machbar und
als fähig, auch unvollkommen zu sein, also schlecht umgesetzt
zu sein, denken.
DER ANDERE PHILOSOPH
298
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Ich schließe mich der Anmerkung meines Kollegen voll und
ganz an. Das Ideal einer menschlichen Verhaltensweise zu
denken heißt, sie gemäß all jenen bezeichnenden Eigenschaften
zu bedenken, die sie braucht, um das zu sein, was sie von ihrem
« Wesen » her ist. Das Fehlen einer dieser bezeichnenden
Eigenschaften, wo dies möglich ist, zieht das Verschwinden
dieser Verhaltensweise nach sich. Nehmen wir als Beispiel die
Verhaltensweise des « Dialogs ». Sie verlangt die Gegenwart
von mindestens zwei Personen. Ich kann nicht mit mir selbst
allein einen Dialog führen. Jeder versteht, dass das Stilmittel
« Dialog mit sich selbst » nichts weiter ist als eine literarische
Ausdrucksweise, und dass ich in einem « Selbstgespräch »
mindestens zwei verschiedene Rollen spiele... Es können die
Rollen sein von demjenigen, der die Fragen stellt, und dem, der
darauf antwortet, oder die Rollen von demjenigen, der seine
Behauptung erklärt, und dem, der ihr widerspricht, usw.
Aber es gibt bezeichnende Eigenschaften unserer
menschlichen Verhaltensweisen, die so grundlegend sind, dass
man sie nicht wegdenken kann. Ihre Gegebenheit ist für jegliche
menschliche Existenz absolut notwendig. Man kann sie nur
dadurch in Worten oder Gedanken leugnen, dass man sie im
Sprech- oder Denkakt selbst anwendet, in demselben
Augenblick, wo man spricht oder denkt. Gegen sie zu handeln
ist wiederum nichts anderes als sie auf die Art der Lüge, des
Verrats oder des Verbrechens anzuerkennen. Wie etwa, wenn
ich sage « ich sage nichts »; wenn ich denke « ich denke nicht »;
wenn ich urteile « ich urteile nicht »; wenn ich als wahr
hinstelle, « dass es keine Wahrheit gibt »; wenn ich « die
Existenz der Verneinung » verneine oder wenn ich behaupte,
dass ich sie nicht verstehe; wenn ich die « Beziehung des
Widerspruchs » als Widerspruch ablehne; wenn ich für all meine
Vorstellungen « ihre Eignung, auf die von ihnen bezeichneten
Gegenstände universal anwendbar zu sein » allgemein ablehne;
wenn ich « nicht wollen » will; wenn ich wähle « nicht zu
wählen »; wenn ich es mir zur Lebensregel mache, « dass es
keine Regel gibt »; usw.
DER MODERATOR
Diese Art von Argumenten wurde gewissermaßen schon von
Aristoteles entdeckt. Er nannte sie « elegchos ». Wir könnten
das als « Ablehnung wegen Widersinnigkeit » übersetzen. Das
Wort kommt vom Verb « élegchô », was so viel heißt wie
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 299
« jemandem beschämt machen », « von einem Fehler, einem
Irrtum überzeugen ». Es ist ein Argument, das der Philosoph in
Streitgesprächen gegen einen unglaubwürdigen Gegner benutzt,
oder gegenüber einem eher naiven und etwas anmaßenden
Gegner, der negative Teilwahrheiten unzulässigerweise
verallgemeinert. Weil es wahr ist, dass es sichere Irrtümer gibt,
hat man noch lange nicht das Recht, zu sagen, dass « alles
Irrtum ist », und dass es keine Wahrheit gibt. Das wäre eine
unzulässige Verallgemeinerung. Durch ihren angeblich
absoluten Wert bringt sie ihren Urheber in « ausgeübten »
Widerspruch zu sich selbst und lässt ihn « in der Ausübung »
das behaupten, was er mit Worten ablehnt oder woran er durch
seine Taten Verrat übt.
Diese Art von an sich unumstößlichen Argumenten hat
derweil den Nachteil, dass sie denjenigen verärgert, der die
« Wahrheit, die er ja dennoch in sich trägt », wie Sokrates zu
sagen pflegte, nicht sehen will, und zwar nicht als ein
« vergessenes Wissen », an das er sich erinnern soll, sondern in
seiner eigenen freien und bewusstseinsbegabten menschlichen
Wirklichkeit. Das « reflexive » Feststellen eines ontologischen
Merkmals, das wesentlich zu uns gehört, ist ein Vorgehen, das
der Widerlegung durch Widersinnigkeit vorzuziehen ist. Eine
Erziehung zur « Reflexion » braucht Zeit und Geduld. Das
Gelingen dieser Pädagogik ist eine besondere Belohnung.
DER ANDERE PHILOSOPH
Dem Wunsch nach methodischer Genauigkeit und klarer
Wortwahl möchte ich noch eine zweite Bemerkung anfügen, die
das von unserem Physiker vorgeschlagene Protokoll anbelangt.
Wenn wir dieses Protokoll führen — und es gibt keinen Grund,
es nicht zu führen — werden wir den Blickwinkel, unter dem
wir die Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins behandeln,
vollständig
ändern.
In
unseren
vorausgegangenen
Zusammenkünften bewegte sich unsere Diskussion innerhalb
eines um religiöse Überzeugungen kreisenden Rahmens. Um
theologische Probleme zu klären, haben wir je nach Bedarf aus
den jeweiligen philosophischen « Vorräten » Begriffe und
Überlegungen hervorgeholt.
Diese Zusammenkunft hingegen wurde durch eine
aufgebrachte Frage eröffnet. Sie wendet sich gegen die
religiösen Überzeugungen, die Frauen betreffen. Wir sollten sie
nicht auf die leichte Schulter nehmen.
300
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Ihre Einsprache, meine Dame, passt bestens zu Ihrem Beruf,
und hat darüber hinaus die Zustimmung der hier anwesenden
Damen gefunden...
DER MODERATOR
Wir haben die Frage nicht auf die leichte Schulter
genommen... Genau aus diesem Grund hat unser Physiker dann
vorgeschlagen, die religiösen Überzeugungen auszuklammern.
Er schlägt vor, dass wir die Analyse der Glaubensbeziehungen
in der Ehe « unabhängig von jeder Bezugnahme auf religiöse
Inhalte» durchführen. Genau mit diesen Worten hat er sich
ausgedrückt... Auch ich möchte mein Einverständnis mit ihm
unterstreichen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Das heißt, dass wir uns jetzt in entgegengesetzter Richtung
fortbewegen... Wir werden von einer ausschließlich
philosophischen Analyse ausgehen, um danach auf die
theologischen Fragen zurückzukommen. Zweifellos werden wir
sie dann kritischer unter die Lupe nehmen.
DER THEOLOGIEPROFESSOR, in scherzendem Tonfall:
Dann wünschen wir Ihnen also « gute Fahrt » und haben nun
weiter nichts zu tun, als darauf zu warten, dass Ihr auf die
Theologie zurückkommt...
DER ERSTE PHILOSOPH, im gleichen Tonfall:
Die Fähigkeit zur Philosophie fehlt den Theologen
keineswegs... Machen Sie sich also mit uns auf den Weg...
IST DAS KARTESIANISCHE COGITO EIN HINREICHENDER
AUSGANGSPUNKT, UM ZU EINER GANZHEITLICHEN
PHILOSOPHISCHEN WAHRHEIT VORZUDRINGEN?
DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler:
Richtig! Wovon gehen Sie aus? Das ist jetzt die Frage...
Descartes, « dieser französische Reiter, der so schnell
davongaloppiert ist », wie Péguy sagte, bedient sich des
« Zweifels ». Die Möglichkeit, zu zweifeln, ist für ihn ein
Werkzeug der Erprobung, und zwar nicht unserer erworbenen
Kenntnisse, sondern unserer « Erkenntnisweisen », um durch ein
Ausschließungsverfahren diejenige Erkenntnisform ausfindig zu
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 301
machen, die uns zu einer absolut unbezweifelbaren Wahrheit
vordringen lassen wird. Er erwähnt, dass er den Wert der
naturwissenschaftlichen Erkenntnis in Zweifel ziehen kann. Er
schiebt sie daher beiseite... Er treibt es so weit, dass er sogar die
mathematische Erkenntnis anzweifelt. Auch sie schiebt er also
beiseite... als ob es sich um falsche Erkenntnisse handeln würde.
Es liegt eine unglaubliche intellektuelle Askese darin, dass
man sich in dieser Weise den Geist von einer Einschränkung
und Beschränkung auf die naturwissenschaftlichen und logischmathematischen menschlichen Erkenntnisweisen freimacht.
DER PHYSIKPROFESSOR
Und wohin führt ihn das?
DER MODERATOR
Dazu, dass er die reflexive Erkenntnisart entdeckt, also die
eigentlich philosophische Erkenntnisweise, die es ihm erlaubt,
zu unbezweifelbaren, absolut notwendigen Wahrheiten
vorzudringen.
Der Text aus dem vierten Teil des Discours de la Méthode ist
glasklar: « Aber gleich danach wurde ich darauf aufmerksam,
dass, während ich in dieser Weise denken wollte, dass alles
falsch ist, es doch notwendig war, dass ich, der es dachte, etwas
sei. Und indem ich bemerkte, dass diese Wahrheit: Ich denke,
also bin ich, dermaßen unumstößlich und sicher war, dass selbst
die aller ausgetüfteltsten Annahmen der Skeptiker sie nicht
erschüttern können, urteilte ich, dass ich sie ohne jegliches
Zögern als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte,
annehmen konnte.» (1)
Für Descartes ist der unbezweifelbare Ausgangspunkt der
Philosophie die Behauptung des « ich bin », also die
Anerkennung der bewusstseinsbegabten und freien individuellen
Person. Descartes wird daraus schrittweise seine ganze
Philosophie herleiten.
DIE KRANKENSCHWESTER einer Abteilung für Palliativmedizin
Ich gebe ja gerne zu, dass die Wahrheit « ich bin » eine
unbezweifelbare Wahrheit ist, aber ich sehe nicht, wie sie
irgendjemanden in einer Abteilung eines Krankenhauses, oder
auch eine Familienmutter in ihrem Haushalt, motivieren könnte.
DER MODERATOR
302
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Es stimmt, dass man gegen das « Ich denke, also bin ich » des
Descartes oft einwendete, es sei ein mit sich selbst
alleinseiendes Subjekt. Seine erste ontologische Beziehung wäre
die zu Gott. Und dieser wiederum würde ihm dann die
Erkenntnis der Welt und der anderen Menschen gewährleisten.
Das ist der Schwachpunkt der kartesianischen Philosophie.
Ich gebe es zu. Denselben Vorwurf kann man auch
Malebranche machen. Und wir kennen auch den Ausspruch
Bossuets, « ich allein und mein Gott ».
DER ERSTE PHILOSOPH
Und doch war das Vorgehen des Descartes richtig. Der
intellektuelle Weg, den er zurückgelegt hat, ist einwandfrei.
Aber leider ist er wenige Schritte vor dem Ziel stehengeblieben.
Oder, besser gesagt, nachdem er das Ziel gerade erreicht hatte,
konnte er es nicht vollständig explizieren. Schauen wir uns das
im Text an. Wir alle kennen ihn auswendig, da wir uns so oft
mit ihm beschäftigt haben... In dem Augenblick, wo Descartes
denken will, dass alles falsch ist, bemerkt er die Notwendigkeit
seines Denkens und seiner Existenz. Es ist tatsächlich nötig,
dass er, der es denkt, etwas ist. Im Text sehen wir, dass das
direkte Objekt, das das Verb « denken » ergänzt, langsam
verschwindet. Zunächst ist es ein untergeordneter Aussagesatz:
« dass alles falsch ist ». Danach wird es zu einem einfachen
Pronomen: « es », und verschwindet ganz und gar in der Formel
« ich denke, also bin ich ».
DER MODERATOR
Und wie erklären Sie, dass Descartes so völlig aus den Augen
verliert, dass sein Denken immer ein Objekt hat, wie das
Brentano und Husserl aufzeigen?
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich schlage vor, dass wir die Erklärung in den ersten Worten
dieses Satzes suchen: „Aber gleich danach wurde ich darauf
aufmerksam, dass... “ Gleich danach! Hier haben wir die
Tragödie... Danach! Das ist zu spät...
Um die ersten Notwendigkeiten, d. h. die ersten notwendigen
Grundeigenschaften unseres Seins durch Überlegung zu
erfassen, muss man sich in den Denkakt selbst hineinversetzen,
und nicht in die „Erinnerung“ an ihn, sei sie auch noch so frisch.
Sobald die Erinnerung dazwischentritt, gleiten wir in die
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 303
Selbstbetrachtung ab. Und so befinden wir uns dann in der
Psychologie; und nicht mehr in der Philosophie.
Platon war auf dieses Problem aufmerksam geworden,
obwohl er es nicht hat lösen können. Er spricht von
„Wiedererinnerung“. Das war nicht die Erinnerung an
irgendetwas Vergangenes, an ein Ereignis, das fortan aufhört, zu
existieren, sondern das Wiedererwachen im Geist von etwas, das
in uns bleibt.
DER ZWEITE PHILOSOPH
Ich schließe mich Ihnen voll und ganz an, geschätzter
Kollege. Die philosophische Methode, die wir als reflexiv
bezeichnen, besteht tatsächlich darin, dass man die wesentlichen
Notwendigkeiten des Aktes des Bewusstseins und der Freiheit
während dieses Aktes wahrnimmt, und nicht in einer flüchtigen
Erleuchtung, sondern im Bleiben dieser Tätigkeit.
Wie unser Gruppenleiter sehr gut aufgezeigt hat, ist es
tatsächlich nötig, dass man, wie Descartes es tut, nicht
eingegrenzt bleibt, weder auf den objektiven Bereich unseres
Denkens, den wir « die Welt » nennen könnten, noch auf den
logisch-mathematischen Bereich, in dem wir unsere Erkenntnis
dieser Welt « formalisieren ». Vielmehr müssen wir daraufhin
den Bewusstseinsakt, « die Welt sinnlich wahrnehmbar zu
denken », und auch den Bewusstseinsakt, « die Welt formal zu
denken », und alle anderen Bewusstseinsakte, in ihrer
dauerhaften Ausübung direkt angehen.
DER ERSTE PHILOSOPH
Im Anschluss an Franz Brentano, aber auch an andere
Philosophen, sogar vor Descartes, müssen wir uns also sehr
wohl bewusst sein, dass wir, wenn wir denken, immer an
irgendetwas denken. Thomas von Aquin nannte dieses Prinzip
« Intentionalität ». Dieser Begriff bringt die auf etwas hin
ausgerichtete Bewegung des Bewusstseins gut zum Ausdruck.
« Jedes Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas », sagte Franz
Brentano. Oder?
DER ZWEITE PHILOSOPH
Ich persönlich ziehe die lateinische Formulierung Husserls
vor: « Cogito cogitatum », die ich, um die Parallele zu Descartes
zu vervollständigen, ergänzen würde mit einem « ergo sum cum
cogitato ».
304
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER ERSTE PHILOSOPH
Das ist eine mögliche Vorliebe... denn in jedem Fall sind die
beiden Formulierungen gleichwertig...
DER ZWEITE PHILOSOPH
Verzeihen sie... Die beiden Formulierungen sind nicht
gleichwertig... und die von Husserl, mit meiner Ergänzung, ist
ganz offensichtlich vorzuziehen. « Cogito cogitatum, ergo sum
cum cogitato existente in re. »
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich sehe den Grund dazu nicht... Würde ihn aber gerne
erfahren...
DER ZWEITE PHILOSOPH
Verzeihen Sie mir nochmals... Aber ich merke, dass sich
unsere Wege bereits hier scheiden werden. Sie werden bei einer
substanzialistischen und individualistischen klassischen Analyse
bleiben, während ich bereits beginnen werde, die Relationalität
eines persönlichen Bewusstseins hervorzuheben.
DER ERSTE PHILOSOPH
Das kann sein...
DER ZWEITE PHILOSOPH
Sie werden mir nun erwidern, dass das Bewusstsein, das ja
immer « Bewusstsein von irgendetwas ist », um sich selbst zu
bejahen auf sich selbst zurückkommt, nachdem es diese andere
Sache bejaht hat. Und Sie werden sich des lateinischen
Lehrsatzes « reditio completa ad seipsum » bedienen, also der
Lehre von der « vollständigen Rückkehr des Bewusstseins zu
sich selbst », nachdem es sich zuerst dem Objekt zugewendet
hat.
Selbstverständlich kann man die Reflexion als ein Auf-sichselbst-Zurückkommen des Bewusstseins auffassen. Der Begriff
stimmt damit semantisch überein. Aber in diesem Fall bewirkt
dieser « Umweg » über das ausgesagte Objekt, dass wir
wiederum zu spät kommen; zu spät, um die
Bewusstseinsaktivität in ihrer Unmittelbarkeit in sich selbst
festzustellen, und dann ihren ganzen Reichtum auszufalten.
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 305
Sie haben den vom kartesianischen Cogito eingeschlagenen
Umweg sehr umsichtig beschrieben. Hier liegt die
Schwachstelle!
Es
impliziert
eine
Diskontinuität,
gewissermaßen eine Zeitverschiebung, zwischen dem
Augenblick der Aufhebung unseres auf die Objekte unserer
naturwissenschaftlichen
und
logisch-mathematischen
Erkenntnisse bezogenen Urteilens und dem Augenblick des
Erfassens des « ich denke, ich bin ». Sie haben daraus sehr
richtig geschlossen, dass Descartes sich die Erkenntnis des
Objekts des « Ich denke » entgehen ließ, in diesem Fall das
Ergebnis all seines In-Zweifel-Ziehens, also « dass alles falsch
war ».
Aber bereits in eben diesem Moment wäre es nötig gewesen,
darauf aufmerksam zu machen, dass sich die Zweifel nur auf das
beziehen, was wir von diesen Objekten aussagen, worin wir
irren können, nicht aber auf die Existenz einer « objektiven »
Erkenntnisform, also einer Bewusstseinsaktivität, die sich auf
« Objekte » bezieht, auf Wirklichkeiten, die vom erkennenden
Subjekt unterschieden sind und die es in ihrer Existenz erkennt
und anerkennt. Das ist also der Grund, warum ich Husserls
Formulierung « Cogito cogitatum » vorziehe, die allerdings
ergänzt werden muss: « ergo sum cum cogitato existente in re ».
In demselben Augenblick, wo ich mein Urteil über all mein
objektives und formales Wissen aufhebe, werde ich mir meiner
selbst und meiner Existenz bewusst, wobei ich zugleich gerade
dabei bin, Erkenntnisformen anzuwenden, nämlich die objektive
und die formale, in denen ich auf Gründe zum Zweifeln stoßen
kann, und in denen ich ermächtigt bin, mein Urteil aufzuheben,
während ich doch in diesem reflexiven Bewusstwerden, zu dem
ich ausschließlich dadurch gelangen konnte, weil ich die Kraft
hatte, nicht in diesen objektiven Erkenntnisformen
eingeschlossen zu bleiben, in keiner Weise zweifeln kann. Ich
bewege mich also notwendigerweise im Innersten einer
Wahrheit, die ich mit einem Gefühl der absoluten Sicherheit
aussprechen kann. Die unmittelbare Erkenntnis des
Bewusstseins, das meines ist, und meiner Existenz schließt
sowohl meine Intentionalität als auch die Existenz einer in ihrem
Blickfeld liegenden « objektiven » Welt, die auf sie
zugeschnitten ist und die das ihr « angemessene Objekt »
enthalten muss, in ein und dieselbe Wirklichkeitsaussage ein.
Ich kann all mein objektives und formales Wissen anzweifeln,
aber nicht die Wirklichkeit der formalen und objektiven
306
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Intentionalität meines Bewusstseins, denn diese Intentionalität
wird intuitiv erfasst, in ein und demselben reflexiven Akt, durch
den das Bewusstsein sich selbst wahrnimmt.
DER ERSTE PHILOSOPH
Geben Sie zu, dass es nicht einfach ist, eine Wirklichkeit, die
Sie mit kilometerlangen Sätzen beschreiben, auf einmal
aufzufassen...
Einige Teilnehmer lächeln wohlwollend...
DER ZWEITE PHILOSOPH
Das gebe ich gerne zu... Aber die vorausgegangenen Beiträge
haben mich gezwungen, auf den Problemkreis rund um
Descartes einzugehen... Übrigens war es gar nicht schlecht,
Descartes als Bezugspunkt zu nehmen...
Wenn Sie jedoch lieber von jeglicher kulturellen Bezugnahme
absehen wollen, um die grundlegende und unzerlegbare
reflexive Intuition zu beschreiben, die wir alle ununterbrochen
im Leben umsetzen, dann reicht es eigentlich, zu sagen... oder
vielmehr reicht es, dass ein jeder sagen könnte: « Ich bin, und
ich bin mir meiner selbst bewusst als in mir selbst
notwendigerweise das Bewusstsein tragend vom Anderen, das
von mir unterschieden ist, und mit mir in Existenzbeziehung
steht ».
DIE ANWÄLTIN
Ah, das kann man bereits viel besser verstehen...
DER ERSTE PHILOSOPH
Und warum verschmähen Sie den Ausspruch Brentanos:
„Alles Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas“?
DER ANDERE PHILOSOPH
Erlauben Sie mir auch, diesen Ausspruch zu verbessern,
indem ich ihn umgekehrt formuliere. „Alles Bewusstsein von
etwas ist Bewusstsein seiner selbst“. Im Bezug auf das
kartesianische Cogito ist diese Verbesserung die Umkehrung der
durch Husserl beigebrachten Verbesserung. Gemeinsam mit
Husserl vervollständigen wir die Aussage des Cogito auf
derselben ontologischen Ebene durch die Behauptung seiner
Beziehung zu einer „existierenden objektiven Wirklichkeit“.
Indem wir die Formulierung Brentanos umdrehen, ergänzen wir
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 307
die bewusste Bejahung einer „phänomenalen“ objektiven
Wirklichkeit, — daher der Name dieser philosophischen
Richtung: die Phänomenologie —, durch die auf derselben
ontologischen Ebene liegende Aussage des Bewusstseins seiner
selbst, oder des Selbstbewusstseins.
Es muss nämlich um jeden Preis vermieden werden, dass das
Selbstbewusstsein ausschließlich als eine Art zweites
„Phänomen“ wahrgenommen wird, das sich dem Bewusstsein
von den objektiven Wirklichkeiten anschließt.
Wenn die „Re-flexion“ des Bewusstseins in sich selbst nichts
weiter wäre als die Rückkehr zu sich selbst,... also nichts weiter
wäre als die „reditio ad seipsum“ einer intentionalen
Bewusstseinsbewegung, die zunächst auf das phänomenale
Objekt zusteuert, und dann von diesem Objekt zum bewussten
Subjekt zurückkehrt, dann hätten wir auf diesem Weg die
konstitutive Beziehung des bewussten Subjekts zu etwas anderem
verloren. Das Subjekt würde erneut als eine in sich selbst
eingeriegelte Individualität wahrgenommen, genauso wie das
Objekt, das der in sich geschlossene Zielpunkt der Intentionalität
des Bewusstseins ist.
Wir hätten dann also nichts weiter als eine „objektivierte“
Erkenntnis unserer bewussten Subjektivität. Wir würden uns so
erkennen, wie wir ein „Objekt“ erkennen. Das wäre
„objektivistische“ und nicht mehr „reflexive“ Erkenntnis.
In diesem Fall hätten wir sogar den ganzen Nutzen der
kartesianischen Askese des Zweifels verloren, die darin bestand,
uns zu « ent-begrenzen », unser « Eingeschlossen-Sein » in der
intentionalen objektiven Erkenntnis aufzuheben. Trotz all
unserer naturwissenschaftlichen Erkenntnis des Universums und
des Menschen würden wir, im Vergleich zu einem richtigen
Verständnis unseres eigenen Wesens, in einem bedauernswerten
Halbschatten verbleiben, wie angekettete Gefangene in einer
Höhle, nach dem Höhlengleichnis des Platon.
DER ERSTE PHILOSOPH
Wenn ich Sie recht verstehe..., möchten Sie, dass die
Beziehungsbedingtheit des Bewusstseins « am Anfang » des
Lebens des Geistes erkannt werde, in unserer grundlegendsten
Seinsintuition, und daher, folglich, als « das erste Prinzip » der
Philosophie, die Sie uns näher bringen wollen...
DER ANDERE PHILOSOPH
308
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Genau. Dieses Kompliment nehme ich an. Nicht für mich,
aber für die Wahrheit der beziehungsbedingten Selbstintuition,
die jeder von sich selbst hat.
DIE HISTORIKERIN
Wir sind überzeugt... Wir leben nicht in einer Welt aus
« nebeneinandergestellten Einsamkeiten »... Der Beweis ist
erbracht...
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Ich bin Ihrer Diskussion mit großem Interesse gefolgt. Ich
denke, die Ontologie der reinen, starren Einheit ist überholt...
Für die Theologie ist das äußerst wichtig... Dennoch frage ich
mich immer noch, ob diese intentionale Relationalität des
Bewusstseins, die Sie vorschlagen, wirklich eine interpersonale
Relationalität ist. Wie soll man im individuellen Subjekt diese
interpersonale Dimension aufzeigen?
Die objektive Offensichtlichkeit der Gegenwart der Anderen,
um mich herum, seit meiner Geburt, ja sogar von meiner
Empfängnis an bis zu meinem Tod, kann nicht geleugnet
werden... Aber ist sie mehr als eine unbestreitbare Tatsache? Ist
sie mehr als eine biologische Notwendigkeit, wie das Atmen
und die Nahrungsaufnahme? Und kommt diese biologische
Notwendigkeit der Generationen und der Gesamtheit der
familiären Beziehungen von außen zur geistigen Natur der
Personen hinzu? Ist sie, wie einige deutsche idealistische
Philosophen zu sagen pflegten, eine « List der Natur », um die
Individuen zu vermehren,... eine Art Waffeleisen? Oder muss
man das Gegenteil annehmen, nämlich dass die Struktur der
Reproduktion eine bestimmte körperliche Ausdrucksweise einer
noch grundlegenderen geistigen Struktur im menschlichen Sein
ist?
Sie wissen auch, dass gemäß der klassischen Theologie, und
das im Anschluss an den Platonismus und Aristotelismus, die
Eltern die « körperliche Materie » ihrer Kinder bereitstellen,
während Gott unmittelbar die individuellen Seelen erschafft.
Was soll man davon halten? Diese Sichtweise hat den Vorteil,
dass sie das heikle Verständnis einer Erschaffung einer geistig
relationalen Menschheit durch Gott umgeht! Aber wie dem auch
sei: Dürfen die Schwierigkeiten beim Verständnis einer
derartigen Hypothese uns davon abhalten, sie zu formulieren
und zu versuchen, sie verständlich zu machen?
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 309
DER MODERATOR
Wohin werden uns Ihre Fragen noch führen? Sollten wir
dieses Kapitel nicht lieber schließen?
DER PSYCHOANALYTIKER
Indem ich Ihnen zuhörte, fragte ich mich, ob ich jetzt nicht
eine Sexualität der Geister ins Auge fassen müsste,... außerhalb
der Körper? Entschuldigen Sie, dass ich diese noch
„ungeschliffene“ Frage so, wie sie ist, in den Raum stelle! Aber
all das ist wie...
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Ich war auf viele intellektuelle Schwierigkeiten gefasst, aber
nun stelle ich fest, dass wir auch emotionale Schwierigkeiten
stoßen!... Ja...
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich denke, wir sollten in dieser Sache eine der Regeln der
Methode des Descartes anwenden, nämlich jede Schwierigkeit
in so viele Teile zerlegen, wie nötig ist, um sie zu lösen... Was
halten Sie davon?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich denke tatsächlich, dass in erster Linie gezeigt werden
müsste, dass eine interpersonale Dimension zur Intentionalität
des Bewusstseins gehört.
DIE INTERPERSONALE DIMENSION DER INTENTIONALITÄT
DES BEWUSSTSEINS
DER MODERATOR
Und wie gedenken Sie vorzugehen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Indem wir auf unsere reflexive Selbstintuition zurückkommen
und sie weiter ausführen. Ich sehe keinen anderen möglichen
Weg. Uns unserer selbst in Beziehung zu Anderem bewusst,
verstehen wir also, jeder für sich, dass wir mit uns selbst « eins »
sind, und dass wir nicht das sind, zu dem wir in Beziehung
stehen.
310
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Reden wir schlicht und einfach: An diesem Tisch sitzend, bin
ich mir bewusst, dass ich nicht dieser Tisch bin, und dass ich
nicht « Sie » bin, die Sie mir zuhören. So erfasse ich intuitiv die
« Verneinung ». Ich bin ich und ich bin nicht du; und du bist du
und nicht ich. Die Verneinung ist ins Innerste des Seins
eingeschrieben, insofern sie die Unterscheidung zwischen den
Seienden ist.
Mein Verständnis der Verneinung ist nicht jenes des « NichtSeins ». Das Wort « Nichts » ist nichts weiter als ein Wort und
hat keine Bedeutung. Sagten Sie mir nicht, dass Sie nicht
verstehen, was ich da sage, denn dadurch würden Sie implizit
sagen, dass Ihr Denken nicht meines ist, oder umgekehrt, und
dass Sie Ihren Einwand verstehen. Sagen Sie mir nicht, dass Sie
Ihren Einwand nicht verstehen, denn dann bin ich nicht mehr
angehalten, Ihnen zu antworten... Eine Weigerung und
Verneinung, die Sie dann ganz gewiss verstehen würden!!!
DIE ANWÄLTIN
Was für eine Dialektik! Verneinungen wie ein Wasserfall!...
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau! « wie ein Wasserfall »... Durch diesen bildhaften
Vergleich haben Sie gerade den « verallgemeinernden »
Charakter unseres intentionalen Bewusstseins, von dem wir
auch eine unmittelbare reflexive Erkenntnis besitzen, dargelegt.
All das, was wir denken, ist wie ein « unbegrenzt fließender
Wasserfall »...
DIE ANWÄLTIN
Was wollen Sie damit sagen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Und noch etwas sehr Einfaches,... aber es zu erklären, ist alles
andere als einfach. Schaut mal her! Alles, was Sie denken, ist
immer auf « universale » Weise gedacht. All unsere Begriffe
sind « Universalien », wie die Philosophen sagen. Das bedeutet,
dass sie mit derselben Bedeutung unbegrenzt Objekte
bezeichnen können, die sich voneinander unterscheiden.
Begriffe werden in Worten ausgedrückt, ohne mit ihnen in eins
zu fallen.
Sprechen wir ganz einfach! Wenn ich « Baum » sage und
« Baum » denke, dann bin ich mir bewusst, dass der Begriff
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 311
« Baum », den ich denke, für diesen Baum hier gilt, und für
jenen Baum dort, und auch für noch einen anderen Baum da
hinten, und so weiter, unbegrenzt.
Dasselbe trifft für alle anderen Begriffe genauso zu wie für
den Begriff « Baum »... Wie Sie sehen, habe ich den Begriff
« Begriff » in universalisierter Weise gebraucht. Der Begriff
« Begriff » ist ein universaler Begriff.
DIE ANWÄLTIN
Aber da haben wir so etwas wie die Schlange, die sich in den
Schwanz beißt!...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz genau. Es ist das Bild vom Zirkel. Und dieses Bild vom
Zirkel oder von der Kugel wurde seit der Morgenröte der
griechischen Philosophie von Parmenides gebraucht, um die
Einheit des Wirklichen mit sich selbst aufzuzeigen. Hegel hat
das wieder aufgenommen. Er pflegte zu sagen, dass das
philosophische Denken ein Kreis aus Kreisen ist. Damit wollte
er sagen, dass es die Dichte des Wirklichen durch ein
spiralförmiges Vorantasten erschließt.
DIE ANWÄLTIN
Aber wenn ich etwas denke, das nur in einem einzigen
Exemplar existiert, wie zum Beispiel « der Mond », dann stimmt
das alles nicht mehr. Ich kann diesen Begriff nicht unbegrenzt
anwenden...
DER ANDERE PHILOSOPH
Richtig! Dann geht es sogar noch besser... Denn wenn ich
« Mond » denke, dann denke ich diesen Begriff als unbeschränkt
anwendbar auf alle möglichen gedachten Monde... Aber aus der
Erfahrung weiß ich, dass es nur einen einzigen Mond gibt, dass
es also nicht mehrere davon gibt, dass es nicht zwei davon gibt,
dass er einzigartig ist. Um zu sagen, dass er einzigartig ist, muss
ich zunächst denken, dass es mehrere davon geben könnte, und
dann diese unbegrenzt gedachte Möglichkeit « verneinen ».
Ausschließlich dadurch, dass ich einen « universalen » Begriff
besitze und anschließend eine « Verneinung » gebrauche, um
jegliche Vielheit der Anwendungen des Begriffs auszuschließen,
bin ich fähig, zu sagen, dass der Mond « einzigartig » ist.
312
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Wir sollten nebenbei auch bemerken, dass die Anwendungen
eines Begriffs, was auch immer für ein Begriff das sein mag,
immer begrenzt sein werden, obwohl der Begriff als solcher
unbegrenzt anwendbar ist.
Ein Verständnis von Einmaligkeit kann ich also nur unter der
Voraussetzung haben, dass ich vorher, in einer noch
grundlegenderen Bewusstseinserfahrung, die Intuition meiner
Einheit habe, die Intuition meiner Unterscheidung von einer
anderen Einheit und von einer Vielheit von Einheiten, von
denen eine jede nicht eine der anderen ist.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Für das Bewusstsein ist es also offensichtlich unmöglich, nur
in sich selbst Bewusstsein nur seiner selbst zu sein. Seine
Beziehungsbedingtheit zu leugnen käme dem gleich, dass man
sich der « Verneinung » bedient, deren Verständnis mir in der
gelebten Intuition dieser Beziehungsbedingtheit selbst gegeben
ist. Man würde sie also anwenden, während man sie leugnet.
Wo dies nun klargestellt ist, sehe ich, dass es eine
Möglichkeit gibt, zu behaupten, dass der Andere, der
Mitmensch, existiert, aber es ist bis jetzt nichts weiter als eine
Möglichkeit. Die Notwendigkeit, seine Existenz zu behaupten,
sehe ich noch nicht.
DER ANDERE PHILOSOPH
Wir stehen kurz vor dem Ziel. Aber einige Schuppen müssen
uns noch von den Augen fallen... Die Universalität ist für all
unsere Begriffe dieselbe, für alle, ganz und gar alle, was auch
immer ihr « Allgemeinheitsgrad » sein möge, vom speziellsten
bis hin zum allgemeinsten, wie der Begriff « Sein ».
Reden wir nochmals ganz einfach... Der Begriff « Katze » ist
ein Gattungsbegriff. Die Begriffe « Hauskatze, Tiger, Löwe,
Panther, Jaguar, usw.... » sind Artbegriffe. Miteinander
verglichen sind diese Begriffe wiederum mehr oder weniger
umfassend, da ihr Anwendungsbereich mehr oder weniger
umfangreich ist... Die Allgemeinheit eines Begriffs ist eine
veränderliche
Eigenschaft.
Alle
Arten
der
naturwissenschaftlichen Einteilungen, also geologische,
botanische, zoologische, usw., zeigen das zu Genüge... Die
umfangreichsten aller Begriffe nennt man « transzendental »,
weil sie alle klassenbildenden Unterschiede einschließen... Das
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 313
sind zum Beispiel die Begriffe: « Sein, Ding, Einheit, Wahrheit,
usw.... ».
Die Universalität unserer Begriffe selbst verändert sich nicht.
Sie ist für all unsere Begriffe dieselbe. Das bedeutet, dass diese
Eigenschaft nicht von dem, was wir erkennen, abhängt, sondern
von unserer Bewusstseinsaktivität selbst. Unser Denken ist das,
was « universalisierend » ist. Es universalisiert alles, was es
begreift, und prägt so all unseren « Begriffen » sein Siegel auf.
Wir können nicht wählen, ob es « universalisierend » sein soll
oder nicht. Es ist es. Diese Eigenschaft zwingt sich uns in der
Ausübung an sich unseres Bewusstseins als relationaler
Gegenwart zu sich selbst auf.
Wir sollten hier beachten, dass wir hiermit nichts herleiten,
und keine Erfahrungswerte sammeln, sondern dass wir lediglich
die Bewusstseinsaktivität so beschreiben, wie sie sich uns
reflexiv auferlegt, in der aller grundlegendsten Weise.
Wie sollen wir unsere Beschreibung zu Ende führen, um jetzt
der Ganzheitlichkeit unserer Bewusstseinsaktivität in seiner
dreifachen reflexiven, intentionalen und universalisierenden
Ausdehnung Rechnung zu tragen?
Insofern es universalisierend ist, lässt uns unser Bewusstsein
einsehen, dass unsere Intentionalität gleichermaßen menschlich
ist, da sie von derselben Natur ist, egal, ob wir sie in ihrem
Ursprung und ihrem Zielpunkt, oder in der weiteren Offenheit
ihres Zielpunktes betrachten. In ihrem Ursprung: der Mensch,
der ich bin, als « Seiendes ». Und in ihrem Zielpunkt: also in
einem anderen « Seienden », das genauso menschlich ist. Der
Andere, zu dem ich « du » sage. Und noch dazu ist diese
Intentionalität von Person zu Person in der menschlichen Natur
offen für andere mögliche menschliche Personen.
Gehen wir nun mit Kant noch einen kleinen Schritt weiter,
und stellen wir die Frage: « Unter welcher Voraussetzung hat
unser Bewusstsein dieses Vermögen, alles, dessen es sich
bewusst ist, zu universalisieren, und an allererster Stelle seine
eigene personale Natur zu universalisieren...? Drängt sich diese
Frage nicht auf?
Unsere Bewusstseinsaktivität könnte nicht universalisierend
sein, wenn die Wirklichkeit des Menschen nicht eine relationale
Struktur zwischen mehreren Personen wäre, und wenn unsere
Intentionalität nicht in ihrem Sein ganz und gar menschlich
wäre. Unsere Intentionalität ist also in ihrem Sein interpersonal.
Sie ist Beziehungsbedingtheit zwischen menschlichen Personen.
314
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Meine bewusste Existenz setzt durch ihren ontologischen
Aufbau die notwendige Existenz eines Anderen voraus, also
eine Beziehung zum anderen Mensch, der sich von mir
unterscheidet, und die für weitere menschliche, von uns
unterschiedene Andere, offen ist.
DER MODERATOR
Klar! Um dahin zu kommen, mussten wir das kartesianische
Cogito durch das phänomenologische Cogitatum ergänzen, und
daraufhin beide in der relationalen Universalität des Geistes
umgestalten. Die Methode ist von Kant entliehen und auf die
Ebene des Seins angewandt, statt nur auf die abstrakten
Kategorien des Denkens.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ein kleiner zusätzlicher Hinweis, der uns zeigt, wie nötig es
ist, der universalisierenden Dynamik des Bewusstseins
Rechnung zu tragen, ist, dass sie die Bedingung der Möglichkeit
der Mathematiken und der Logik ist. Indem ich die Intuition
meiner personalen Einheit setze, setze ich die formale Einheit:
die « 1 ». Und ich setze sie in universalisierter Weise: « eine
unendliche Anzahl von 1 von derselben Art wie die erste 1, und
sie sind alle voneinander unterschieden ». Indem ich die
Struktur meiner Intentionalität setze, setze ich die Operation
« +1 », und ich setze diese Operation in universalisierter Weise.
Das wiederum erlaubt mir, Zahlen zu bilden: Ich setze « 1+1= »,
und ich nehme diese Gruppe in der Einheit wahr, die ihr als
« Summe » von 2 zukommt. Da diese Operation
notwendigerweise universalisiert gedacht wird, kann ich sie für
jede Zahl erneut durchführen « 1+1+1... ». So kann ich die
Reihe der sogenannten « ganzen » positiven Zahlen bilden, und
von dort ausgehend die ganze Mathematik. Da mein
Bewusstsein universalisierend ist, setze ich tatsächlich, dass jede
« Operation » möglich ist. Ich erkläre also, dass die Umkehrung
der Addition, nämlich die Subtraktion, immer möglich ist. Ich
kann immer subtrahieren, selbst wenn es keine positiven Zahlen
mehr gibt... So bilde ich die « negativen ganzen Zahlen ». Und
genauso verfahre ich für die anderen Operationen und die
anderen Zahlengruppen. Tatsächlich betrachte ich in der
Mathematik, aber auch in der Logik, nichts weiter als die reine
Anwendbarkeit meiner universalisierenden Aktivität, und
abstrahiere von den Grenzen jeglicher empirischen Anwendung.
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 315
In diesem Sinn könnte man also sagen, dass der letzte oder
tiefste Grund meiner Fähigkeit, Mathematik zu betreiben, in der
ontologischen Struktur meines zum Anderen in Beziehung
stehenden Bewusstseins liegt. « Ich betreibe Mathematik, also
ist der Andere ».
Dies ist nicht eine Schlussfolgerung, sondern die im Bereich
des Wirklichen als solchem gemachte Behauptung eines
Aufbruchs und einer Ankunft. Wenn ich in Paris in einen
Eurostar « Paris-London » steige, kann ich sagen: « ich steige in
Paris ein, daher werde ich in London ankommen ». Ich sage das,
weil ich die Strecke und die Fahrpläne der Eurostars, so, wie sie
sind, kenne. Wenn ich meiner Fähigkeit, Mathematik zu
betreiben, auf den Grund gehen will, dann würde ich von
Bedingungen zu Bedingungen aufsteigen bis hin zur Struktur
meines Bewusstseins, die mir am Ende meines Nachforschens
zeigen wird, dass ich notwendigerweise in Beziehung zu
anderen Personen existiere.
DER MODERATOR, in scherzhaftem Tonfall:
Und wer würde nach all dem noch wagen zu behaupten, dass
die Mathematiken eine entmenschlichende Wissenschaft sind,
und von « kalter Berechnung» sprechen?
DIE HISTORIKERIN
Könnten Sie sich nochmals « ganz einfach » ausdrücken, wie
Sie sagen, um mir zu helfen, zu verstehen, dass ich mir beim
Denken vorstellen muss, dass ich mich in der Gegenwart von
irgendjemandem befinde?
DER ANDERE PHILOSOPH
Es ist eine sehr gute Idee, innerlich mit der Idee, sich in der
Gegenwart eines Anderen zu befinden, zu leben; vorausgesetzt,
dass die Gefühle, die Sie dazu anregen, edle Gefühle der
Anerkennung und der Zuneigung sind, und nicht des
Misstrauens, des Neides oder des Hasses.
Auf der psychologischen Ebene kann unsere Vorstellung von
der Existenz des Anderen mehrdeutig sein. Wenn Sie in
natürlicher Weise, also ohne vorgefasste Vorstellung, auf Ihre
Selbstintuition zurückkommen, dann stellen Sie nicht nur fest,
dass Sie existieren, sondern dass Sie existieren wollen, und dass
Sie mit Ihrem Sein einverstanden sind, dass Sie immer besser
sich selbst sein wollen. Aber da Ihr persönliches Sein in seiner
316
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Ganzheit notwendigerweise in Beziehung zu etwas anderem
steht, stellen Sie nicht nur fest, dass dieses andere Etwas
existiert, sondern Sie wollen auch, dass es existiert, und Sie sind
mit seinem Sein einverstanden, Sie wollen, dass es immer besser
es selbst sei.
Außerdem verfügen Sie auch über das Bewusstsein, ein
« menschliches Bewusstsein » zu sein, und Sie leben diese
« menschliche Natur », deren Sie sich in sich selbst bewusst
sind, notwendigerweise als eine Natur aus, die auch jene einer
von Ihnen unterschiedenen Wirklichkeit sein kann. Ihr
Bewusstsein ist tatsächlich eine Aktivität, die all das, dessen es
sich bewusst ist, « universalisiert ». So ist es Ihnen unmöglich,
ihre eigene « menschliche Natur » als eine ausschließlich Ihrer
Person gehörende Natur zu denken. Wenn es sie für Sie gibt,
wie für mich und für alle... (Sie sehen, bin ich dabei, meine
gegenwärtige Überlegung zu universalisieren) dann deshalb,
weil das Sein Ihres persönlichen Bewusstseins tatsächlich und
wirklich in notwendiger Beziehung zu anderen persönlichen
menschlichen Seienden steht.
Und schließlich geben Sie sich nicht damit zufrieden, diese
notwendige Beziehung zu einem Anderen, zu anderen Personen,
die genauso menschlich sind wie Sie, festzustellen, sondern Sie
sind damit einverstanden, Sie wollen sie, Sie wollen, dass diese
andere Person sich selbst sei, ganz und gar sich selbst, von Ihnen
unterschieden. Den Anderen nicht ganz und gar für ihn selbst zu
wollen, würde bedeuten, dass man sich selbst zerstört. Sobald
man zu diesem reflexiven Verständnis seiner selbst gelangt, liegt
das unmittelbar auf der Hand. Die interpersonale Beziehung zur
anderen Person besteht niemals darin, dass man den Anderen
mit dem Selbst identifiziert, noch das Selbst mit dem Anderen,
und auch nicht im Verschmelzen in ein Gemisch, oder in
Eingliederung durch Unterordnung oder hierarchische
Gliederung in eine Gesamtheit. Die interpersonale relative
Verneinung (zwischen « du » und « ich ») ist tatsächlich ins
Sein eingeschrieben, und ihr kommt dieselbe Vollkommenheit
zu wie der Identität des Ich mit sich für eine jede der in
notwendiger Beziehung stehenden unterschiedenen Personen.
Darf ich das in einfachen Worten zusammenfassen?
Mehrere Stimmen
*Ja,... Selbstverständlich,... Aber gewiss...
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 317
DER ANDERE PHILOSOPH
Aber in einer komplexen Verknüpfung,...
Verknüpfung, die je länger je komplexer wird?
in
einer
DER MODERATOR
Lassen Sie uns wenigstens Zeit, zu folgen...
DER ANDERE PHILOSOPH
« Cogito ». Ergo, ich bin ich, du bist du, ich bin nicht du, du
bist nicht ich. Und weil ich ich bin, will ich, dass du du bist, und
dass du nicht ich bist. Weil ich so vollkommen wie möglich
mich selbst sein will, will ich, dass auch du so vollkommen wie
möglich dich selbst bist, und dass du so vollkommen wie
möglich nicht mich bist. Und weil ich so vollkommen wie
möglich dadurch mich selbst sein will, indem ich will, dass du
ganz und gar dich selbst seiest, will ich, dass du ganz und gar
dich selbst seiest, indem du einen Anderen willst, der von dir
vollkommen unterschieden ist, und der nicht ich bin, da ich will,
dass du dich selbst seiest in vollkommener Unterscheidung von
mir, indem du dadurch dich selbst sein willst, dass du einen von
dir unterschiedenen Anderen willst. Bitte sehr! Alles ist gesagt.
DER PSYCHOANALYTIKER
All das scheint sehr konkret zu sein... Man hört: Ich, dann Du,
dann nochmals Ich und nochmals Du... Das sind Ausdrücke, die
jeder versteht... Aber das Ganze scheint mir noch sehr abstrakt
zu sein... Um sein Cogito zu behaupten, stellte sich Descartes
vor, dass er keinen Körper hätte... Stellen auch Sie Ihr Denken
in denselben gedanklichen Zusammenhang?
DER ANDERE PHILOSOPH
Keineswegs! An meiner Körperlichkeit kann ich genauso
wenig zweifeln wie an meiner Existenz. Mein Körper ist der
Ausdruck an sich meiner Identität mit mir selbst und meiner
Intentionalität anderen gegenüber, mit denen ich mich
gemeinsam in der Welt der Dinge befinde. Der Körper verhält
sich zu unserer interpersonalen menschlichen Wirklichkeit so,
wie unsere Worte zu unserem dialogischen Denken. Ohne
unsere Unterredungen würden wir keine Gedanken austauschen.
Aber unsere Gedanken sind mehr als das Hervorbringen von
Tönen durch die Stimme. Die Laute unserer Stimmen bringen
318
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
nicht unsere Gedanken hervor. Mein Körper bringt nicht meine
Person hervor, aber meine Person ist nicht ohne den Körper.
Mein Körper ist jedoch nicht einfach ein Instrument meines
Bewusstseins, und genauso wenig dessen Umkleidung oder
Behausung. Wenn ich als geistige, bewusstseinsbegabte und
freie Personen nicht mein Körper bin, so bin ich doch
körperlich. Zögern wir also nicht, zu sagen, dass unser
Bewusstsein körperlich ist, ohne dass es deswegen die
Dinglichkeit unseres Körpers ist. Vom Bewusstsein verlassen ist
diese Dinglichkeit nichts weiter als eine Leiche, die dann nicht
mehr dazu taugt, in der materiellen Welt Ausdruck dieses
Bewusstseins zu sein.
Wir könnten auch sagen, dass unsere Körper die
« Ausdrucksweisen » unserer Geister sind, also unserer geistigen
Persönlichkeiten, und dass wir unsere Persönlichkeiten in
unseren Körpern sehen, so, wie wir in den von uns
hervorgebrachten Lauten unsere Gedanken hören, und wie wir
in unseren Gebärden die Bewegungen unserer freien Willen
sozusagen berühren und fühlen. Die Gesamtheit unseres Körpers
ist dieses Zum-Ausdruck-Bringen. Jeder menschliche Körper ist
ganz und gar von unserer bewussten und freien Geistigkeit
durchdrungen, ohne dass sie von ihm als untergeordnet oder
angegliedert abhängen würde, und ohne dass sie sich seiner
entledigen könnte, denn aus einem ihr auferlegten inneren
Antrieb muss sie sich in ihm zum Ausdruck bringen.
DER PSYCHOANALYTIKER
Lässt sich all das, was Sie über die menschliche Geistigkeit
und den Körper sagen, auch auf die Sexualität anwenden?
DER ANDERE PHILOSOPH
Aber das liegt doch auf der Hand! Die Sexualität wird
ausschließlich in einer individualistischen und solipsistischen
philosophischen Sichtweise unbeachtet gelassen, die einen
unfähig macht, den Sinn und die Rolle der Sexualität zu
verstehen. Aber da sie sich trotz allem aufdrängt, betrachtet die
klassische Philosophie sie, wenn nicht als Fremdkörper, dann
doch wenigstens als ein drückendes Überbleibsel aus unserer
Verwandtschaft mit den Tieren... Sie wird als Gegensatz zur
Geistigkeit der Person aufgefasst.
Wie sollte man auch eine körperliche Funktion, deren
Beziehung zu einer anderen Person als Partner nur allzu
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 319
offensichtlich ist, in eine Sichtweise der Selbstgenügsamkeit
integrieren?
DER PSYCHOANALYTIKER
Dann kann ich also alles, was Sie über die interpersonale
Beziehungsbedingtheit des Bewusstseins mehrerer Personen
sagen, auf den Bereich der Sexualität übertragen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Das kann man nicht nur, das muss man...
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Wenn ich recht verstehe,... drehen Sie wiederum die
klassische Sichtweise um, die besagte, dass Sexualität in den
biologischen Bereich gehört, den wir mit den Tieren gemeinsam
haben, und dass das Bewusstsein daher durch sie « von außen »
beeinflusst wird. Sie hingegen sagen, dass sich das geistige
Bewusstsein in einer sexualisierten Körperlichkeit zum
Ausdruck bringt, weil es ontologisch relational ist und insofern
es geistig ist, und dass es daher eine « innere » geistige
Notwendigkeit gibt, dass das biologische Leben sexuell sei,
damit sich die menschliche interpersonale Beziehung darin
ausdrücken, zeigen und ausfalten kann, also kurz gesagt, sich
selbst darin verwirklichen kann.
Das würde für mich als Theologen jetzt bedeuten, dass Gott
durch das Auftauchen der Sexualität in der Evolution die Welt
im Hinblick auf die Erschaffung des Menschen eingerichtet hat.
DER ANDERE PHILOSOPH
Das ist eine logische Folgerung daraus.
DER PSYCHOANALYTIKER
Die Beziehung « Mann-Frau » ist also eine hervorragende
Form der interpersonalen Intentionalität?
DER ANDERE PHILOSOPH
Das scheint mir, sowohl ausgehend von philosophischer
Überlegung, als auch psychologisch gesehen, eine
offensichtliche Erfahrungstatsache zu sein. Darin liegt übrigens
auch der Grund, warum einen das Scheitern in diesem Gebiet
dermaßen in Mitleidenschaft zieht, und die Psychoanalyse also
eine heilende Funktion hat. Damit sie diese Funktion gut ausübt,
320
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
ist es nötig, dass sie von der menschlichen Sexualität ein so
genaues Bild hat wie nur möglich. Erlauben Sie mir, zu
wünschen, dass die Psychoanalytiker nicht nur eine klinische,
sondern ebenso eine gute philosophische Ausbildung hätten.
DIE ETHISCHEN ANWENDUNGEN DER INTERPERSONALITÄT
DES SEINS GEMÄSS DER FAMILIÄREN DREIHEIT:
VATER-MUTTER-KIND
DER PSYCHOANALYTIKER
Ich nehme Ihre Bemerkung zur Kenntnis.
DER ANDERE PHILOSOPH
Allerdings ist die Sexualität im eigentlichen Sinne nicht die
Gesamtheit unserer Körperlichkeit. Sie ist eine Funktion unter
anderen Funktionen unseres Körpers, auch wenn Sie ihn ganz
und gar durchzieht. Der Mann ist ganz und gar Mann, und die
Frau ganz und gar Frau. Wenn wir die Gesamtheit der
menschlichen interpersonalen Beziehung ins Auge fassen
wollen, dann müssen wir die Beziehung « Mann-Frau » auch
unter dem Gesichtspunkt « Ehemann-Ehefrau » betrachten,
insofern sie eine elterliche Beziehung « Vater und Mutter Kind » impliziert. Die familiären Beziehungen sind der
angemessene Ausdruck der menschlichen Beziehungsbedingtheit als geistiger Beziehungsbedingtheit.
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich verstehe, dass die relationale Philosophie begrifflich das
Gegenteil der klassischen Philosophie ist. Aber ist sie dermaßen
erfolgreicher darin, uns dazu zu bringen, unsere Beziehungen zu
Anderen authentisch zu leben? Begrifflich lässt sie uns vielleicht
verstehen, dass der Andere notwendigerweise existieren muss,
und dass unsere familiären Beziehungen eine für die klassische
Überlieferung ungeahnte Würde aufweisen, aber sie gibt uns
nicht mehr « Erfahrung » des Anderen. Durch sie begegnen wir
dem Anderen in seiner Person nicht mehr als durch die
klassische Philosophie. Für unser alltägliches Leben ist sie also
nicht wirksamer.
Unsere Teilnehmerin aus einer Abteilung für Palliativmedizin
hat gesagt, dass sie aus dem Cogito kaum inneren Antrieb für
ihren hingebungsvollen Dienst schöpfen kann. Fühlt sie sich
nun, nachdem sie unserer Diskussion gefolgt ist, ermutigt?
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 321
DIE KRANKENSCHWESTER
Wenn diese Kreuzfahrt beendet sein wird und ich meinen
Patienten wieder begegnen werde... Ich werde sicher nicht alle
wieder vorfinden, einige werden bereits gestorben sein... Der
Herr wird sie bei sich aufgenommen haben..., wird sich in
meinem Dienst nichts geändert haben... Und doch meine ich, im
Laufe unserer Unterhaltungen etwas Neues verstanden zu
haben... Es ist, dass...
DER MODERATOR
Fahren Sie ruhig fort... Zögern Sie nicht...
DIE KRANKENSCHWESTER
... dass die Schmerzen des Körpers auch etwas vom Leiden
der Geister und der Herzen zum Ausdruck bringen. Und dass die
Gemeinschaft im Leiden auch zur Gemeinschaft in der Existenz
gehört. Sie zeigt uns eine Unzulänglichkeit dieser Existenz, der
unser Verlangen nach Glück nicht als definitiv zustimmen
kann... Wenn es in meiner persönlichen Existenz eine dermaßen
starke Forderung gibt, dass der Andere existiert, dann ist diese
Forderung denen gegenüber, die wir gekannt und geliebt haben,
umso wahrer... Unsere Existenz, die weiterhin besteht, auch
wenn die Verwandten gestorben sind, kann also nicht ertragen,
dass sie nicht mehr existieren. Ansonsten könnte ich nicht mehr
sagen: « Ich existiere, also bist du, also sind sie ». Und unser
Leiden besteht darin, nicht mehr zu ihrer vollen Entfaltung
beitragen zu können, obwohl wir es müssen... obwohl diese
Verpflichtung nie vergeht... denn, wie Sie gesagt haben,
« wollen wir, indem wir unserer Existenz zustimmen, dass die
anderen so vollkommen wie möglich sich selbst seien »... So
irgendetwas haben Sie gesagt...
DER MODERATOR
Kant hat darauf aufmerksam gemacht, dass die moralische
Pflicht und deren Ausübung absolut notwendig sind. Wenn sie
nun in unserer gegenwärtigen Existenz nicht voll erfüllt werden
kann, dann muss dies in einer Existenz nach dem Tod
stattfinden. Und Gott, der laut Kant ihr Urheber ist, wacht
darüber, dass diese Erfüllung voll und ganz stattfindet.
Wenn es eine moralische Pflicht gibt, zu wollen, dass der
Andere in sich selbst existiert, und wenn sie den Gedankengang
322
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Kants gelten lassen, dann können Sie annehmen, dass die vom
Leiden in unsere Existenz hineingebrachte geistige Qual der
moralischen Forderung nach geteiltem Glück weichen muss.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Genau das ist die eine Seite des Heils der Menschheit. Das in
der Person Jesu verkündete Heil ist kein individuelles Heil,
sondern auch ein beziehungsbedingtes Heil. Wir werden nicht
« individuell » gerettet, genauso wenig, wie wir « individuell »
erschaffen sind. Nicht durch zu uns hinzugefügte und unnötige
Verbindungen, sondern durch eine uns wesentliche
Beziehungsbedingtheit sind wir in Beziehung zueinander
geschaffen. Wir können sagen « ich bin gerettet, daher bist auch
du gerettet ». Kein Mensch kann gerettet werden, ohne dass alle
gerettet werden. Hier haben wir auch eine neue Auffassung vom
Heil, die uns die relationale Philosophie besser verständlich
macht. Vielleicht werden wir auf dieses Thema noch
zurückkommen!
Aber durch die Verallgemeinerung dieser durch Reflexion
errungenen Wahrheit können wir bereits jetzt sagen, indem wir
sie auf Jesus anwenden: « Er ist auferstanden, also sind auch wir
auferstanden ». Was nicht heißt, dass diese ontologische
Wahrheit bereits für und in unserer eigenen Zeitlichkeit erfüllt
ist. Dafür müssen wir auf unseren Tod warten, wie das auch für
ihn der Fall war.
DER ANDERE PHILOSOPH
Danke, dass Sie mir eine neue Anwendung gezeigt haben,...
die ja sehr zentral ist,... für unseren einer relationalen Ontologie
folgenden Glauben, den wir nun gemeinsam haben.
Außerdem wollte ich meinem Kollegen auf die Frage nach
dem « Umsetzen im Leben » einer relationalen Philosophie
antworten. Sie sagen, dass die relationale Philosophie mir nicht
die Erfahrung des Anderen in seiner Person gibt... Das ist wahr.
Sie gibt sie mir nicht, weil sie es nicht kann, und sie kann es
nicht, weil sie es nicht darf. Die philosophische Re-flexion in
meiner persönlichen Wirklichkeit zeigt mir, dass mein Sein für
diese notwendige Begegnung vorgeformt, vorbestimmt, in sich
selbst dazu strukturiert ist, aber sie kann diese Begegnung nicht
verwirklichen, ohne sich selbst zu verneinen. Sie zeigt mir im
Gegenteil, dass die Begegnung mit dem Anderen eine absolute
Eigenständigkeit aufweist.
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 323
Diese Begegnung trägt einen Namen, auf den wir bereits
gestoßen sind: die Glaubenschaftlichkeit. Die Selbstoffenbarung
an den Anderen, damit der Andere er selbst sei, und die
glaubenschaftliche Aufnahme dieser Offenbarung, der Glaube
an den Anderen, der sich für meine Existenz und ihre volle
Entfaltung einsetzt.
Die philosophische Re-flexion kann mir tatsächlich sagen,
was die menschliche Liebe ihrem Wesen nach ist. Sie kann
dieses « ich liebe dich », das einen sich frei einsetzenden Gatten
offenbart, in keiner Weise hervorbringen. Und umgekehrt: Wie
viele « ich liebe dich » werden ehrlich ausgesprochen, ohne dass
eine wahrhaftige Erkenntnis des zu verwirklichenden Ideals
dahinter steht, und daher ohne dass sie aus der moralischen
Kraft, die ein richtiges Ideal im alltäglichen Leben schenken
kann, Nutzen ziehen können!...
DIE HISTORIKERIN
Sie haben mehrmals einen Vergleich gezogen zwischen dem
Glauben an den Ehepartner und den Glauben an Gott. Auch jetzt
erwähnen Sie wieder die Erfahrungen des Ehelebens, um die
Hoffnungen darzulegen, die wir einer relationalen Philosophie
entgegenbringen können. Aber Sie haben uns noch nicht gesagt,
wie Sie den Glauben zwischen einem Mann und einer Frau, die
sich lieben, auffassen würden.
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau. Verzeihen Sie mir... Ein kleiner Schritt zurück... ganz
kurz.
Die „Glaubenschaftlichkeit“ ist also diese Bewusstseins- und
Erkenntnisform, die einer relationalen ontologischen Struktur
der
Seinsmitteilung
entspricht.
Unsere
menschliche
Glaubenschaftlichkeit lässt sich anhand ihrer unterschiedlichen
Grade
an
Tiefgang
einteilen:
gesellschaftliche
Glaubenschaftlichkeit, Glaubenschaftlichkeit unter Freunden,
und die tiefsten Glaubenschaftlichkeiten, nämlich die eheliche
und kindliche. Man könnte eine ganze Phänomenologie sowohl
ihrer authentischen Verwirklichungen wie auch ihrer
Scheinverwirklichungen
und
Perversionen
ausarbeiten.
Phänomenologen und Romanschreiber bemühen sich darum,
aber in Unkenntnis des Seinsstatus der Glaubenschaftlichkeit.
Durch den gesellschaftlichen Glauben vertraue ich jenen, die
sich freiwillig einsetzen, um mir in den Dingen dieser Welt
324
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
vielfältige Dienste zu erweisen: also was Dinge, Wissen oder
Handlungen anbelangt. Diese bleiben als solche außerhalb der
glaubenschaftlichen Beziehung selbst. In dieser Weise
« glaube » ich dem Polizisten, der mir in einer Stadt, die ich
kaum kenne, meinen Weg erklärt.
Im Glauben unter Freunden pflegen wir eine gegenseitige
persönliche Beziehung, im Hinblick auf ein gemeinsam zu
vollbringendes Werk, das allerdings wiederum außerhalb
unserer selbst bleibt, wie sehr auch immer wir uns dafür
einsetzen. In der ehelichen Glaubenschaftlichkeit haben
Offenbarung und Glaube die Wirklichkeit an sich unserer
Personen in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand, worin also auch
die bereits genannten Aspekte des gesellschaftlichen und
freundschaftlichen Glaubens eingeschlossen sind.
Für das liebende Subjekt heißt « sich ehelich zu offenbaren »,
in seinem ganzen Sein existieren zu wollen als der, der sich ganz
in die glaubenschaftliche Beziehung hineingibt, und sich in
unbedingter Freiheit für den Anderen will, damit der Andere
kraft des einzigen Grundes, dass er « ist », « sei ». « Ehelich
glauben » heißt, dass man die Wahrheit anerkennt, die der
Andere für mich ins Sein ruft, und zwar nicht in Objekten,
sondern in seiner eigenen Person. Die Wahrheit, die sich dem
ehelichen Glauben anbietet, ist nicht mehr nur ein « dies oder
das für dich », sondern die Wahrheit des Seins des Anderen,
insofern er in unbedingt freier Weise seine Existenz zu einer
Existenz für mich macht, damit auch ich absolut für einen von
ihm unterschiedenen Anderen sei, also für einen « Dritten » im
Bezug auf mich und auf ihn, und damit dieser Dritte sei.
Diese Wahrheit der ehelichen Bindung ist weder empirischer,
noch
naturwissenschaftlicher,
noch
formaler,
noch
philosophischer Art. Dennoch ist eine anspruchsvolle
philosophische Überlegung notwendig, um ihre Natur zu
verstehen. Zudem wendet die Verwirklichung einer derartigen
Bindung eine Unmenge von objektiven Erkenntnissen und
Fähigkeiten an, die aus einer großen Vielfalt von Gebieten: —
psychologischem, ökonomischem, juristischem, biologischem,
physikalischem, praktischem und ästhetischem Wissen —
geschöpft werden.
Nicht durch reflexive Analyse nehme ich die Offenbarung
eines „ich liebe dich“ an, sondern allein durch den Glauben an
eine authentisch freie Initiative des Anderen. Und die Echtheit
der Liebe kann man nicht anhand der mehr oder weniger
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 325
gelungenen Anwendung von äußeren Mitteln (Geld,
Lebensqualität, Schönheit, Gesundheit) beurteilen, oder anhand
des Gebrauchs von eher persönlichen Begabungen (Know-How
und
verschiedene
Begabungen),
oder
anhand
des
Zusammenspiels der Temperamente und Charaktere, sondern
allein durch den Glauben an den Anderen, der sich frei für mich
will, mir das sagt, und davon selbst in den Achtlosigkeiten, die
man einander zufügt, nicht ablässt.
Der echte „eheliche Glaube“ an eine echte eheliche
Offenbarung verlangt also keine „Beweise“, keine objektiven —
und daher außerhalb der Freiheit der Ehepartner stehenden —
Zeichen, die die Wahrheit der Worte bezeugen würden. Das zu
verlangen, würde heißen, dass man den „ehelichen Glauben“
verunmöglicht, und die Begegnung zwischen Mann und Frau
auf eine Interessengemeinschaft beschränkt, die sexuellen
Interessen darin eingeschlossen; oder auf eine Freundschaft im
Hinblick auf ein Werk: Haushalt, gegenseitige gefühlsmäßige,
wirtschaftliche und berufliche Unterstützung, Zusammenarbeit
in der Erziehung des Nachwuchses. All das ist ... kann und muss
in der ehelichen Glaubenschaftlichkeit eingeschlossen sein, aber
es macht nicht ihr Wesen aus. Diese tieferliegende Wirklichkeit
muss entdeckt werden.
Die eheliche Liebe besteht nicht im „ich liebe dich“, weil du
dies oder das hast... was mir Vorteile bringen kann... (das wäre
die Ebene des gesellschaftlichen Glaubens), und auch nicht, weil
du dies oder das mit mir tun kannst,... Tätigkeiten, die uns sehr
wohl weiterbringen können (das wäre die Ebene des
freundschaftlichen Glaubens).
Die eheliche Liebe ist auch nicht — obwohl das schon besser
wäre — ein « ich liebe dich », weil « du es bist », der
liebenswürdig ist und mir gefällt und mich an sich zieht
(klassische Sichtweise), sondern ein « ich liebe dich », weil
« ich bin ». Und an dich glaube ich, weil ich von dir mit
Sicherheit weiß, dass ich geliebt bin, weil « Du bist », damit wir
ehelich seien, damit Es kindlich sei, unser Kind.
DIE KRANKENSCHWESTER
Kann man eine derartige Intuition der Liebe haben? Vielleicht
im Idealfall,... aber sie ist so unscheinbar,... so selten... Sie ist
die Ausnahme!
DER DOMHERR
326
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
« Ich liebe dich, weil ich bin », « Du liebst mich, weil du
bist »! Indem ich Ihnen zuhöre, habe ich den Eindruck, dass Sie
ein bisschen « Gott » spielen wollen. Nur Gott kann wahrhaftig
sagen: « Ich mache dies, weil ich bin ». Mir scheint das sehr
anmaßend und wenig realistisch,... und daher entmutigend...
DER ANDERE PHILOSOPH
Verzeihen Sie mir, Herr Kanonikus, aber Ihr Einwand ist es,
der entmutigend ist... In der klassischen Philosophie wird die
Liebe als unwiderstehliche Anziehung gesehen, die von außen
kommt, um eine Leere im Menschen auszufüllen oder ein
Bedürfnis zu stillen. Es ist das zu liebende Objekt, das von mir
Besitz ergreift... Und ich werde von einem Wahn getrieben...,
von einer Verrücktheit... Die romantische Literatur sieht darin
den Verlust meiner Freiheit... All das sind Szenen für das
Theater, vielleicht auch wirkliche Tragödien, aber es sind
philosophische Irrtümer und Fehlschläge der Existenz.
Rufen wir uns nochmals in Erinnerung, dass die relationale
Philosophie die klassischen Vorstellungen umkrempelt. Zu
sagen „ich liebe dich, weil ich bin“, heißt noch lange nicht, dass
man sich für Gott hält. Es heißt, zu behaupten, dass die Liebe
nicht von der nicht notwendig gegebenen, vorübergehenden,
vielleicht sogar illusorischen Gegenwart eines „Objekts“
abhängt, mag es sich dabei auch um eine „Person“ handeln. Es
heißt nur, anzuerkennen, dass der Grund der Liebe mit der
Wirklichkeit der Person identisch ist. Es gibt kein „Ich“, das
sich seiner selbst bewusst ist und nicht gleichzeitig ein aus
innerem Antrieb kommendes Wollen ist, dass der Andere, das
Du, in sich selbst existiere, als Anderer, für sich selbst geliebt.
DER DOMHERR
Klassischerweise sagt man, dass die wahre Liebe darin
besteht, vom in sich vollkommen zu-liebenden Seienden
angezogen zu sein, und dass dieses Seiende Gott ist. Durch die
Liebe zu endlichen Seienden nähern wir uns Gott an.
DER ANDERE PHILOSOPH
Das ist tatsächlich sehr klassisch... Sie hoffen, durch diese
Behauptung die Unvollkommenheit jener Liebe überwinden zu
können, mit der man mangelhaften Wesen anhängt, wie Dingen
oder anderen Personen. Und die Theoretiker, die diese
Vorstellung vertreten, fügen hinzu, dass die von uns geliebten
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 327
unvollkommenen Seienden nichts weiter sind als Mittel oder
Vermittlungen unserer Liebe zu Gott. Der verheiratete Mann,
der Gott nicht « unmittelbar » lieben kann, liebt ihn durch seine
Frau... Wir kennen die zweideutige Formulierung: « die anderen
aus Liebe zu Gott lieben ». Das läuft darauf hinaus, zu sagen,
dass man sie nicht um ihrer selbst willen liebt.
Das würde wiederum implizieren, dass Gott die Menschen
nicht um ihrer selbst willen liebt, sondern um seiner selbst
willen, für die reine Freude an seinem eigenen Sein. Die
Formulierung des Aristoteles könnte man dann — nicht ohne
eine gewisse Unstimmigkeit — folgendermaßen ergänzen:
« Gott ist das Denken seines Denkens und all seiner Gedanken
für sich, und der Wille seines Willens und all seines Wollens für
sich. »
Es ist sehr wohl schwierig, in diesem individuellen Verlangen
nach Verschmelzung mit einem äußerst attraktiven Göttlichen,
oder danach, durch ihn mit ihm verschmolzen zu werden, noch
zu erkennen, dass wir Abbild Gottes sind. Wenn Gott aber im
Gegenteil die auf seine Schöpfung zugehende Initiative der
Liebe ist, weil er zunächst in sich selbst zwischen Mehreren die
Initiative der Liebe ist, dann bedeutet das zumindest, dass er
uns, wenn er uns nach seinem Bild erschafft, auch in Initiative
der Liebe zum Anderen erschafft.
Zu behaupten: « Ich liebe dich, weil ich bin », impliziert eine
weitaus anspruchsvollere Auffassung von der ehelichen Liebe
als jene, die man durch die Formulierung « Ich liebe dich, weil
du du bist » erfasst. Ein Ehevertrag, der auf der Ebene einer
gesellschaftlichen und freundschaftlichen Glaubenschaftlichkeit
bindet, also eine Ehe aus Interessengemeinschaft oder rein
psychologischer Ergänzung, der diese Ebenen nicht übersteigt,
ist nicht spontan dauerhaft. Er ist vielmehr vergänglicher Art.
Wenn er aber aufgrund der Gegenwart des anderen
abgeschlossen wird und aufgrund des Bleibens dieser
Gegenwart durch ein « ich liebe dich, weil du es bist », dann
gehört er in den Bereich der Treue bis zum Tod. Die Regel
lautet: « Ich werde dir treu sein bis zu deinem Tod ». Allerdings
ist die Erfahrung der Liebe dann fähig, sich dadurch zu
vertiefen, dass sie die Existenz des Anderen auch jenseits seines
Todes will. Die Erfahrung und die gelebte Re-flexion können
uns so dem wahrhaftigen Wesen der menschlichen Liebe näher
bringen: « Ich liebe dich, du bist es, den ich liebe, weil ich es
bin ».
328
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Ihre Maxime lautet: « Ich werde dir treu sein —
glaubenschaftlich liebend — bis zu meinem Tod und darüber
hinaus, denn unsere Liebe ist ein relationales Abbild Gottes
selbst, und als solche ein Werk von ewigem Wert ». Dieses
moralische Ideal übersteigt die juristische, ihrem Wesen nach
auf die gegenwärtige Existenz beschränkte Ordnung. Es
unterliegt also keiner Rechtsprechung. Es hängt allein von der
Pflicht ab, die die bewusstseinsbegabten menschlichen
Freiheiten sich aufzuerlegen fähig sind, indem sie ihrer
wesentlichen Interpersonalität zustimmen.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Damit Ihre Kritik nicht einseitig bleibt, muss auch gesagt
werden, dass viele Christen sich heute wirklich mehr vom
Evangelium und dem Beispiel Christi leiten lassen, als von
theologischen
Standpunkten,
die
dem
klassischen
philosophischen Individualismus hörig sind. In der Person Jesu
zeigt der dreieinige Gott konkret — und das ist nicht nur eine
reflexive Schlussfolgerung — dass er die Menschen um ihrer
selbst willen liebt, jetzt schon, in ihrem Leben, und das für ihr
im tiefsten Sinn des Wortes verstandenes « Heil », also für ihre
Vollendung in ihrer Auferstehung, in einem vollkommenen, all
ihre menschlichen Beziehungen umfassenden Glück, und
zusammen mit Gott.
DIE KRANKENSCHWESTER einer Abteilung für Palliativmedizin
Wenn die menschliche Liebe so erhaben von Gott reden kann:
Warum erklärt man das den jungen Paaren nicht zuerst, und
begleitet sie dann besser in ihrer Existenz? Am Ende des Lebens
kann diese Hoffnung auf die Ewigkeit eines geteilten Glücks
auch für die älteren Paare ein großer Trost sein, scheint mir.
DER ANDERE PHILOSOPH
Sie haben recht... Man darf nicht müde werden, zu sagen, dass
die Menschheit sich in ihren tiefsten geistigen Beziehungen im
ehelichen Glauben und in der familiären Liebe verwirklicht.
Von da aus verwirklicht sie sich als Werk der Ewigkeit: Ewig
sind die Personen, und ewig die Gegenseitigkeit des Glaubens
und der Seins- und Lebensmitteilung, die die Vollendung des
Glaubens ist. Wenn Beziehungen als wahrhaftige Schöpfungen
der menschlichen Freiheit geformt wurden, dann sind sie
unauslöschlich ins Sein eingeprägt.
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 329
Der eheliche Glaube steht also in ganz natürlicher Verbindung
zum menschlichen theologischen Glauben und zum
dementsprechenden Gottesbild. Wie die Beziehung des Mannes
zur Frau in einer gegebenen menschlichen Kultur aufgefasst
wird, so wird folglich die Beziehung Gottes zur Menschheit
aufgefasst, und ebenfalls die Beziehung Gottes zu sich selbst,
wenn ich das so über Gott sagen kann... In Abhängigkeit von der
in einer Kultur angenommenen Ontologie des Ehepaares und der
Familie wird das kulturelle Gottesbild die Vorstellung von einer
genauso glaubenschaftlichen Beziehungsbedingtheit in Gott
selbst zulassen oder ausschließen.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Sie können die Anordnung Ihrer Vergleiche auch umkehren:
wie die Vorstellung von der Familie, so das Gottesbild. Aber
auch: wie das Gottesbild, so die Vorstellung vom Ehepaar und
der Familie. Sie haben tatsächlich, in Ihrer Eigenschaft als
Philosoph, die einer Erkenntnisweise eigene Reihenfolge
genommen. Wenn man ins ontologische Gebiet überwechselt,
kehrt sich die Anordnung des Vergleichs um. Das ist die
Reihenfolge, der die Theologen häufig folgen, die sich auf eine
Offenbarung des Geheimnisses Gottes berufen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Das trifft zu. Wenn eine Theologie also stufenweise zu diesen
« ersten Offensichtlichkeiten » niedersteigt, die die Philosophie
als ihren festen und gesicherten Ausgangspunkt betrachtet, dann
sehe ich darin ein sicheres Zeichen für die Echtheit der von
dieser Theologie vorausgesetzten Offenbarung.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Wo sehen Sie die Gelenkstelle zwischen dem absteigenden
Vorgehen der Theologie und dem aufsteigenden Vorgehen der
Philosophie? Zwischen beiden muss es so etwas wie einen
Wendepunkt geben. Anders gesagt: Es muss gegeben sein, dass
man nach dem Aufstieg auf demselben Weg absteigen kann.
Diese Möglichkeit fehlt bei Aristoteles. Er zeigt uns eine
gewisse Art des « Aufsteigens », dank seines Beweises der
Existenz Gottes als eines « Ersten unbewegten Bewegers ».
Aber wenn man einmal auf dem Gipfel angelangt ist, wird man
ebenfalls von Unbeweglichkeit befallen. Man kann nicht mehr
« absteigen », also ausgehend von dem, was dieser « Beweger »
330
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
ist, die Wirklichkeit der Welt und der Menschheit, zu der man
gehört, verstehen. Ohne die Behauptung dieses unbeweglichen
Bewegers wäre das Werden des Menschen und der Welt sinnlos,
und ihre Möglichkeit wäre erklärender Gründe beraubt. Aber
nach dieser Behauptung sind Welt und Mensch nicht
verständlicher als vorher. Die aristotelische Gottesbehauptung
hilft dem Menschen nicht, sich selbst besser zu verstehen, als er
sich verstehen würde, wenn er Gott nicht kennen würde.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich schließe mich Ihrer Frage und Ihrer Beurteilung an. Die
klassischen Gottesbeweise der griechisch-aristotelischen
Tradition sind nicht falsch. Aus der Bedingtheit der Welt auf ein
unbedingtes Seiendes zu schließen; aus ihrer Kontingenz auf ein
notwendiges Seiendes; aus ihrer Veränderlichkeit auf ein
unveränderliches Seiendes; aus den Abstufungen des endlichen
Seins auf eine Stufe der unendlichen Wirklichkeit; all das sind
erfolgreiche intellektuelle Vorgänge. Es ist tatsächlich nicht
möglich, dass das, was existiert, ausschließlich relativ,
kontingent, veränderlich oder endlich ist. Ausschließlich
Relatives zu denken, als relativ zu Relativem..., nur
Kontingentes, aus Kontingenz kontingent..., nur Veränderung
der Veränderung, usw..., läuft darauf hinaus, dass man etwas
Unmögliches, etwas, das aus Nichts besteht, also Nichts denkt.
Wenn man sich die Frage nach der Möglichkeit des Daseins der
Dinge stellt, dann muss man, um nicht in Sinnlosigkeit zu
verfallen, Gott bejahen. Natürlich steht es jedem frei, sich diese
Fragen gar nicht zu stellen. Die Leugnung der Existenz Gottes
läuft dann darauf hinaus, dass man zugibt, dass man sich von der
letzten Frage nach der Welt und unserer Existenz abwendet.
Die Schwäche dieser Beweise liegt in ihrem „Formalismus“.
Sie sind „entpersönlicht“. Es ist so, als ob Eltern sich ihren
Kindern gegenüber für alle Beziehungen zu ihnen damit
zufriedengeben würden, sie einfach nur zu „zählen“.
1+1+1+1+1: 5. Sie sind da! Das ist nicht falsch, aber sehr, sehr
wenig...
Gottesbeweise müssen durch unsere Wirklichkeitserfahrung
angereichert werden, durch unser Bewusstsein, mit Anderen in
der Welt zu sein. Das Sein und Existieren als Person findet in
meiner Beziehung zu den Anderen statt, kennen und erkannt
werden, wollen und gewollt werden. Sein heißt, das Sein
weiterzugeben, ins Sein zu rufen und ins Sein gerufen worden
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 331
sein. Die Bedingtheit, Kontingenz, Entwicklungsbedürftigkeit
und Endlichkeit dieser interpersonalen Erfahrung der
Seinsmitteilung verweist mich auf eine Fülle der Wirklichkeit in
vollkommener Seinsmitteilung in sich selbst.
Folglich kann es zwischen unserer endlichen interpersonalen
menschlichen Wirklichkeit und der Unendlichkeit einer genauso
interpersonalen transzendenten Wirklichkeit keine anderen
Beziehungen geben als interpersonale Beziehungen der
Existenzgebung. Diese ist die göttliche Großzügigkeit des
Geschenks des Seins, des Seins mit all seinen relationalen
Facetten und Eigenschaften: die räumlich-zeitliche Schöpfung,
die offenbarende Inkarnation, und die von allen
Unvollkommenheiten und allen Formen des Bösen befreiende
Neuschöpfung jenseits des Todes.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Der Wendepunkt zwischen dem philosophischen Aufstieg zu
Gott und dem Herabsteigen einer Offenbarung Gottes zu den
Menschen liegt also in der Schöpfungsvorstellung. Er fehlt bei
Aristoteles tatsächlich. Aber hat die Philosophie ihn im
christlichen Umfeld nicht durch die Prinzipien der
Wirkursächlichkeit und Zielursächlichkeit eingeführt?
DER ANDERE PHILOSOPH
Zweifellos liegt darin ein gewisser Fortschritt... Aber man
verbleibt in einem Universum des „kosmologischen“ Denkens,
das die Schöpfungstätigkeit mit jener eines Handwerkers
vergleicht... Nun sagt uns aber die berufliche Tätigkeit des
Handwerkers nichts über seine geistige Persönlichkeit. Von
einer als Herstellung von Gegenständen verstandenen
Schöpfung, zu einer als interpersonale Beziehung der
Lebensweitergabe, und daher als immanente Selbstoffenbarung
an Andere verstandenen Schöpfung, ist noch ein weiter Weg
zurückzulegen...
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Und Sie sind der Ansicht, dass dieser Fortschritt durch eine
Philosophie und Ontologie der interpersonalen Beziehungen
ermöglicht wird?
DER SCHÖPFUNGSAKT ALS OFFENBARUNGSAKT
DES SCHÖPFERS VERSTANDEN
332
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich lasse Sie selbst über diese Möglichkeit urteilen... Aber
was mich anbelangt, und mir selbst gegenüber, bin ich davon
überzeugt.
Erlauben Sie mir nun, den Schöpfungsakt in absteigender
Dialektik zu erläutern. Der interpersonale göttliche
Schöpfungsakt ist in einer Seinsmitteilung zwischen Mehreren
in Gott selbst begründet, und zwar im philosophischen Sinn, das
heißt, er findet in dieser Seinsmitteilung die Bedingungen seiner
Möglichkeit. Symmetrisch zu seinem Ursprung verwirklicht er
sich in seinem Handlungsziel in Seienden, die gemäß ihrem
eigenen Vollkommenheitsaspekt « als Abbild » Gottes genauso
Seinsmitteilung sind. Das sind die menschlichen Seienden in der
Struktur des Familienlebens: Ehemann-Vater; Ehefrau-Mutter;
Söhne und Töchter.
Diese Familienstruktur « verallgemeinert sich » in der
gesamten Menschheit. Daher sind die Struktur der Familie und
ihre internen Beziehungen der Vollkommenheitsaspekt der
Beziehungen zwischen Menschen, und die Grundlage einer
allumfassenden Brüderlichkeit. Genauso gut kann man sagen,
dass die « allgemeinen Werte » des Menschen ihrem Wesen
nach
intersinguläre
Beziehungen
sind,
und
nicht
„gleichförmige“, auf den gleichen Nenner gebrachte
Eigenschaften.
Die
„allgemeinen
Werte“ sind
die
interpersonalen Vollkommenheitsaspekte, die « universalisiert »
sind, und nicht abstrakte „Verallgemeinerungen“ von guten
Eigenschaften unserer Handlungen.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Die
konkreten
Formen
der
menschlichen
Glaubenschaftlichkeit können also als Vergleichsgrundlage
dienen, um unser reflexives Schöpfungsverständnis, insofern die
Schöpfung die erste „Offenbarung Gottes“ in unserer
geschöpflichen Wirklichkeit darstellt, „auszudrücken“. Diese —
methodisch erarbeitete, oder ungeschickt intuitive — reflexive
Auffassung bringt also in uns dem Schöpfer gegenüber ein
Glaubensverhalten hervor.
Der „theologische Glaube“ greift also auf die Zeichenwelt der
sozialen Glaubenschaftlichkeit, wie etwa „König, Hoheit,
Königreich“
zurück
—
Symbole
der
schwachen
Glaubenschaftlichkeit —, oder auf die Zeichenwelt der starken
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 333
Glaubenschaftlichkeit, in Analogie zum ehelichen und
kindlichen Glauben. Gott wird « Vater » genannt. Die religiöse
Sprache, und insbesondere jene der Bibel, der Thora und der
Evangelien, greift sehr gezielt auf diesen Vorrat an Analogien
zurück.
DER ANDERE PHILOSOPH
Bitte beachten Sie nebenbei, dass die Sprache auf die
Beziehungen der starken Glaubenschaftlichkeit zurückgreift, um
den Symbolen der schwachen Glaubenschaftlichkeit mehr
Gewicht zu verleihen. Vom « König » sagt man, dass er der
« Vater » seines Volkes ist... Das ist nur ein Beispiel für das
Phänomen der „Universalisierung“ der ehelichen und familiären
Glaubenschaftlichkeit...
DER ANDERE PHILOSOPH
Sie haben gesagt, dass diese Auffassung von der Schöpfung
als in unserer menschlichen Wirklichkeit immanente
Offenbarung falsch verstanden werden kann. Wenn man sie nun
zusätzlich noch durch die Psychologie der familiären
Beziehungen hindurch zum Ausdruck bringt, besteht eine
beachtliche Gefahr, dass man einem Anthropomorphismus
anheimfällt.
Bei den kosmologischen Gottesbeweisen besteht diese Gefahr
nicht. Mir scheint daher, dass man den Gebrauch von aus dem
Bereich der Familie entnommenen Symbolen durch aus dem
Bereich der Dinge entnommene Symbole „temperieren“ sollte.
Dinge sind weniger nahe bei Gott, wenn ich das so sagen kann,
als Menschen. Daher läuft man dabei weniger Gefahr, Gott
Eigenschaften zuzuschreiben, die ausschließlich Geschöpfen
zukommen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Diese Gefahr besteht tatsächlich dann, wenn die Symbole aus
dem familiären Bereich psychologisch verstanden, und anhand
einer klassischen Ontologie der Einheit gedeutet werden; also
zum Beispiel, wenn die Beziehung « Ehemann-Ehefrau »
anhand von den hierarchisch gegliederten Schemen der
„Unterordnung“ verstanden wird; oder anhand von einem
platonisierenden Dualismus: „Körper-Geist“, als ob die
Unterschiede ausschließlich körperlicher Art wären, und ihre
gleichförmige, natürliche Identität geistiger Art wäre. Da man
334
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
sehr häufig auf solche Deutungen stößt, muss man vorsichtig
sein. Und zwar wegen des Mangels an Bildung bei gewissen
Zuhörern. Wenn die Vergleiche aber relational-reflexiv
verstanden werden, dann besteht keinerlei Gefahr des
Anthropomorphismus. Es ist übrigens äußerst schwierig, sich
reine Beziehungen irgendwie vor Augen zu führen und sich
daraus « eingebildete Formen » des Göttlichen zu machen, die
dann „Götterbilder“ wären.
Dagegen muss man sich sehr wohl bewusst werden, dass die
der Natur entnommenen Symbole die Gefahr in sich bergen, die
relationale und interpersonale Dimension des menschlichen
Seins und des Seins Gottes zu verundeutlichen oder ganz zu
verbergen. Die dinglichen Vergleiche müssen also
„entschlüsselt“ werden; man muss hinter ihrer Dinghaftigkeit
die Zeichen einer geistigen Relationalität entdecken. Ich denke
gerade an die Symbole „Brot, Wasser, Weinstock“ in den
Evangelien. Hier bringe ich einen Gedanken auf, dem man auf
den Grund gehen sollte...
Und nun würde ich gerne noch eine zweite Bemerkung zu den
Vorteilen und Nachteilen der aus der Natur entnommenen
Symbole im Vergleich zu den aus der menschlichen Existenz,
besonders aus der Familie, entnommenen Symbolen einstreuen.
Die Symbole der Natur sind eher statisch: der Fels, das Wasser,
das Feuer, das Licht, der Wind... Nun entfalten sich die
Beziehungen des Menschen mit Gott aber in der Geschichte. Sie
sind Bewegung und Entwicklung. Auch die menschlichen
Beziehungen
sind
geschichtlich.
Die
Glaubenschaftlichkeitsbeziehungen zwischen menschlichen
Personen stimmen also tiefer mit den an Gott gerichteten
Glaubenschaftlichkeitsbeziehungen überein.
DER EXEGET
Diese historische Dimension ist besonders für den Exegeten
von Interesse, da er sich bemüht, die Texte einer
„Heilsgeschichte“ zu verstehen. Die Schöpfertätigkeit Gottes,
die Sie mir beharrlich als interpersonale Bewegung der
Seinsmitteilung erklären, geschieht in der Zeit. Sie kann also auf
zwei Arten ins Auge gefasst werden: einerseits ausgehend von
ihrer in Text gelebten Gegenwart hin zu ihrer Quelle, ihrem
übrigens immer gegenwärtigen Ursprung hin; und andererseits
im Hinblick auf ihr Ziel, indem man ihre Gegenwart als
notwendige Offenheit für ihre Zukunft betrachtet, als ein
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 335
Gegenwärtigsein, das noch nicht voll und ganz das ist, was es
von seiner zukünftigen Bestimmung her ist.
Diese beiden Bewegungen lassen sich nicht voneinander
trennen, aber man kann gelegentlich mehr die eine, zum
Ursprung hin gerichtete, oder die andere, auf das Ziel gerichtete,
betonen. Das, was wir bis anhin über die Erschaffung der
Menschheit durch Gott, seine Offenbarung und den Glauben an
diesen sich selbst in seiner schöpferischen Tätigkeit
offenbarenden Gott gesagt haben, würde ich gerne in diese
zweifache historische Perspektive hineinstellen.
In der jüdischen Religion können wir ein auf den Ursprung
ausgerichtetes glaubenschaftliches Bewusstsein beobachten. Der
jüdische Glaube wendet sich dem Schöpfergott nicht nur in
seinem Handeln am Anfang der Zeit, sondern am Ursprung der
Gegenwärtigkeit der Zeit, in dem Augenblick, wo der Text
entsteht, zu. Dieser Glaube an Gott glaubt an Gott, insofern er
der „Urheber der Geschichte“ ist.
Da einerseits unsere vorausgegangenen Diskussionen uns
davor bewahren, in kontingenten Gegebenheiten das Göttliche
zu sehen, und es andererseits völlig klar ist, dass unsere
konkrete menschliche Wirklichkeit das Wort Gottes ist, würde
ich jetzt sagen, dass Gott „sich im geschichtlichen Sein des
Menschen offenbart“, und nicht in den „Umtrieben“ der
Geschichte.
Ereignisse erhalten für den Glaubenden nur im Bezug auf
unsere Auffassung von der Schöpfung Gottes in der Geschichte
einen Sinn. Diese Sinngebungen sind zunächst unreflektiert und
sehr empirisch, und werden dann schrittweise kritisch
umgeformt. Ich bin der Ansicht, dass ich mich von nun an in
dieser Weise ausdrücken muss, wenn ich, im Anschluss an
unsere Diskussionen, nicht mehr bei den psychologischen
Formen unserer Glaubensüberzeugungen stehenbleiben werde,
sondern wenn ich dem Glaubensleben eine ontologische Dichte
der „Glaubenschaftlichkeit“ zugestehe.
In Zukunft werde ich die Heilsgeschichte als die Ausbreitung
einer glaubenschaftlichen Ontologie verstehen, trotz all ihrer in
unserer Endlichkeit liegenden inneren Spannungen, und nicht
mehr als eine für gültig erklärte und verabsolutierte
« Erzählung ». Tatsächlich kann man nur ausgehend von unserer
notwendigen glaubenschaftlichen Beschaffenheit auch das
verstehen, was an den Religionen kontingent ist.
336
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER MODERATOR
Eine Teilnehmerin unserer Zusammenkunft möchte das Wort
ergreifen... Ich meine, es ist Ihr erster Beitrag... Würden Sie sich
bitte kurz vorstellen?
DAS BIBLISCHE BEWUSSTSEIN, DASS GOTT IN DER SCHÖPFUNG
DEM EHEPAAR NACHWUCHS VERSPRICHT
DIE DAME, die sich zum ersten Mal zu Wort gemeldet hat:
Also,... Ich bin Gynäkologin. Mein Mann Kardiologe. Wir
beide sind unserer jüdischen Religion sehr verbunden.
Ich bin nicht gewohnt, auf die Art zu denken, wie Sie das tun.
Unser bevorzugtes Vorgehen ist der Vergleich von
Vorstellungen oder das Suchen nach bildhaften Vergleichen.
Auch Bedeutungsinhalte, die gelegentlich sehr weit voneinander
entfernt sein können, vergleichen wir durch Rückgriff auf die
Begriffe, wenn sich bei der Addition der Zahlwerte ihrer
Buchstaben derselbe numerische Wert ergibt.
Indem ich Ihnen von den ersten Begegnungen an zuhörte, ist
mir aufgegangen, dass hier einige Vergleiche zu ziehen sind.
Seit dem Beitrag ihres Kenners der Schrift wird mir das je
länger je klarer. Sie vergleichen den Glauben an Gott mit dem
Glauben an den Ehepartner. Nun ist der Glaube zwischen
Ehepartnern aber gerade ein Glaube an das Versprechen, das
jeder dem anderen gemacht hat, ihm eine Nachkommenschaft zu
schenken. So ist Abrahams Glaube an Gott eben gerade ein
Glaube an das Versprechen, mit dem der ewige Gott ihm eine
Nachkommenschaft zugesichert hat. Im Buch Genesis, Kapitel
15, Vers 6, lesen wir: « Und Abraham glaubte, oder hatte
Glauben an Gott, und Gott rechnete es ihm als Gerechtigkeit an,
oder als Rechtfertigung », oder, laut der Übersetzung der
jüdischen Gemeinde, « er rechnete es ihm als Verdienst an ».
Unsere Rabbiner und Kenner der Schrift diskutieren viel über
die richtige Übersetzung dieses Verses. Und ich weiß, dass die
ersten religiösen Oberhäupter des Christentums, nämlich Paulus
von Tarsus und Jakobus von Jerusalem, dies ebenfalls taten.
Natürlich maße ich mir nicht an, mich in all diese Debatten
einzumischen. Ich stelle lediglich fest, dass der unter dem
Hochzeitsbaldachin besiegelte Glaube zwischen einem Mann
und einer Frau, und der unter dem Zelt besiegelte Glaube
Abrahams an Gott, jeweils die Geburt eines Kindes zum
Gegenstand haben. Und ich denke, für die Christen verhält es
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 337
sich mit der Geburt Jesu genauso. Kann denn der Glaube
irgendetwas anderes zum Gegenstand haben als Geburten!
Ich vergleiche auch die Geburten mit der Geschichte und
daher die Geschichte mit dem Glauben. Auf Hebräisch bedeutet
ein und dasselbe Wort « toledot » sowohl « Geschlechterfolge »,
als auch « Geschichte ». Kann die Geschichte etwas anderes sein
als eine Entwicklung der Glaubens- und Geburtsbeziehungen?
Sind nicht die Glaubensbeziehungen durch eine Geburtenfolge
hindurch die Bewegkraft der Geschichte?
Wenn ich als Ärztin einer Frau Geburtshilfe leiste, dann sage
ich mir, dass ich an der Neugeburt des Bundes Gottes mit der
Menschheit teilhabe, oder, bescheidener ausgedrückt, dazu
Hilfestellung leiste. Trotz der Spannung, die in der biblischen
Erzählung durch die Unfruchtbarkeit Saras bis ins
fortgeschrittene Alter zustande kommt, hat Abrahams Glaube an
Gott nicht die unglaubhafte Geburt eines Sohnes zum
Gegenstand, sondern die Geburt selbst in ihrem ganz normalen
Verlauf. Die Schwierigkeiten bei der Geburt Isaaks sind nichts
weiter als ein Zeichen der Schwierigkeiten, von denen die
gesamte Geschichte des Volkes Israel gezeichnet ist, dessen
Existenz in ihrem menschlichen Bestandteil seit seinem Beginn
Schwierigkeiten unterworfen ist.
Das beste Unterpfand für Geburten ist in den Ehepaaren der
gegenseitige Glaube der Ehepartner, trotz gelegentlicher
körperlicher Fehlbildungen. Das beste Unterpfand für die
Fruchtbarkeit des Bundes Gottes mit Israel — für Israel und
durch Israel für die ganze Menschheit— ist der Glaube an Gott.
In diesem Eheschluss Gottes mit meinem Volk ist nicht Gott es,
der einen Fehltritt begehen könnte. Er ist immer der « Treue »,
in dem Sinn, wie Sie das Wort erklärt haben: « derjenige, der
dauerhaft an den anderen glaubt ». Der Glaube des Menschen ist
es, der vergänglich ist. Durch den beharrlichen Hinweis darauf,
dass Sara Fruchtbarkeitsprobleme hatte, zeigt der Text, dass
Abrahams Glaube ein fester Glaube war. Und wenn die Geburt
normal ist, so sollte der Glaube genauso fest sein... Leider läuft
der Glaube an Gott genau dann Gefahr, schwächlich zu werden
oder nicht mehr fähig zu sein, das Geschenk des Bundes
anzuerkennen, wenn die Geburten normal sein können und es
sind. Gott bedauert dann dieses Verbleichen des Glaubens, weil
seine Großzügigkeit für den Menschen dann zweckentfremdet,
abgeblockt, totgeschwiegen und erdrückt wird. Er kann den
Menschen dann nicht mehr für ihr Vertrauen in sein
338
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Versprechen Anerkennung zollen, wie Abraham, und sie für die
Richtigkeit ihrer Antwort, für ihr « tsedaka », beglückwünschen.
Da mein Mann und ich unsere Gedanken in der französischen
Übersetzung dieses Verses nicht wirklich wiedererkennen,
umschreiben wir ihn folgendermaßen: « Abraham nahm von
ganzem Herzen das Versprechen Gottes als Wahrheit an, und
Gott beglückwünschte ihn für sein gerechtes Verhalten ».
DER MODERATOR
Ich danke Ihnen für ihr Zeugnis... Wie die anderen weiblichen
Teilnehmer, so bringen auch Sie in dieser Woche den Reichtum
ihrer konkreten Lebenserfahrung in unsere Debatten ein.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Auch Ihnen danke ich für Ihr Zeugnis. Ich denke, dass ich
aufgrund dieses Zeugnisses nun weniger Schwierigkeiten haben
werde, zu sagen, dass die Hebräer und nun auch die Juden ihre
persönliche Existenz, und auch die des in allen Ländern
verteilten ganzen Volkes, in Abhängigkeit von einer göttlichen
Initiative verstehen. Gott geht mit ihnen einen Bund ein. Sie
bringen daher in den Kategorien des wesentlich dialogischen
glaubenschaftlichen Bewusstseins ihre gegenwärtige Stellung
als bewusstseinsbegabte und geschichtliche Geschöpfe zum
Ausdruck.
In diesem Sinn ist die jüdische religiöse Erfahrung für uns
immer noch gültig. Insofern sie unsere Beziehung zu Gott von
ihrem Ursprung, also der ersten Schöpfung her versteht, hat sie
bleibenden Wert.
« Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde »...
Gott sagte: « es werde Licht, und das Licht wurde »...
Gott sagte: « Lasst uns Menschen machen als unser
Abbild »...
Gott sprach zu Abraham: « geh, für dich... », also im Hinblick
auf deine Erfüllung... Das ist die Schöpfung, die weitergeht.
Die Juden lesen diesen Text. Der Text besagt, dass Gott
spricht... und beschreibt dieses Wort. Der Text, der dieses Wort
ausdrückt, ist also nicht Wort Gottes... Wenn ein Text sagt: „In
der Mitte des Gartens steht ein Baum...“, dann ist der Text nicht
dieser Baum. Wenn der Text diesen Baum beschreibt, dann ist
der Text nicht der beschriebene Baum. Der Text, der also nicht
Wort Gottes ist, ist das Verständnis, das der Mensch von diesem
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 339
Wort hat, genauso, wie die Beschreibung des Baumes die
Wahrnehmung des Baumes durch den Menschen ist...
Das an das jüdische Volk gerichtete Wort Gottes ist in seiner
objektiven Wirklichkeit nicht eine Ansammlung von Wörtern,
sondern seine eigene, nicht nur „allgemeine“, sondern
„geschichtliche“ menschliche Wirklichkeit, insofern es sich in
persönlicher Beziehung zu Gott sieht. Und diese als Abbild
Gottes verstandene menschliche Wirklichkeit wird dann von
Juden, anonymen Schriftstellern, Propheten... in „Texten“ und
durch diese Texte ausgedrückt, in Gedankengängen, in
relationalen Situationen des universalen, menschlichen,
glaubenschaftlichen Bewusstseins.
Daher stammt der nicht „sakrale“, sondern „heilige“
Charakter des Textes der Thora. Dieser Text versucht, die
Heiligkeit des „Gottes, der sich offenbart“, auszusagen, positiv
in dem auszusagen, was im Menschen heilig ist, und negativ
auszusagen durch das, was im Menschen Sünde ist. Gott
„spricht“ in diesem Sinn die Heiligkeit des Menschen und die
Sünde des Menschen in Bezug auf seine eigene göttliche
Heiligkeit (Lv. 19, 2f.) aus.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich finde Ihre Analyse beachtenswert, und auch die schönen
Schlussfolgerungen, die Sie als Theologe aus dem Text ziehen
können, wenn dieser nicht buchstäblich als « ausgesprochenes
Wort » Gottes verstanden wird, sondern als menschliches
Verständnis dieses Wortes, das der Mensch selbst ist, der in
seiner Wirklichkeit unendlich reicher ist als der geschriebene
Text. Das ermöglicht uns, es ununterbrochen neu auszulegen,
indem wir durch es hindurch den Horizont der Wirklichkeit des
schöpferischen und offenbarenden Wortes Gottes erforschen,
nämlich den Menschen in seiner geschichtlichen Existenz. Die
jüdischen Kommentatoren sind in solchen Neuauslegungen
besonders bewandert.
Allerdings haben nicht alle Auslegungen denselben Wert,
denn sie nähern sich nicht alle mit derselben Richtigkeit der
menschlichen Wirklichkeit, in der Gott sich selbst offenbart.
Aber genauso ist es wahr, dass man umso eher auf Fortschritte
in der Wahrheit hoffen kann, je mehr Versuche man dazu
unternimmt. Dagegen gibt es nichts Schlimmeres, als nur über
eine einzige Leseweise des Textes zu verfügen, und obendrein
340
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
noch über die schlechteste, nämlich, dass man den Text
buchstäblich in einem unmittelbar empirischen Sinn versteht.
Es ist nämlich ganz offensichtlich, dass Gott nicht im
psychologischen Sinn « spricht ». Das zu denken, wäre nichts
anderes als religiöser Empirismus, eine Form von primärem
Anthropomorphismus. Denn es ist ganz offensichtlich, dass
Sprechen, so, wie der Mensch in seinen vielfältigen Sprachen
spricht, eine bezeichnende Eigenschaft eines geistigen
Lebewesens ist, das aber auch körperlich ist. Nun ist Gott aber
ganz und gar nicht-körperlich. Er spricht also nicht; er hält keine
Reden, diktiert uns nichts, atmet nicht, lässt uns keinen Text
erzählen, weder unmittelbar, noch durch einen « objektiven »
Mittler — etwa durch einen Engel — oder was auch immer es
sein mag.
Wenn wir sagen, dass „Gott spricht“, dann müssen wir das so
verstehen, dass er „in Vollkommenheit spricht“, und nicht mit
der Beschränktheit und Unzulänglichkeit der menschlichen
Sprache. Denn was ist ein an den Andern gerichtetes Wort für
uns? Es ist ein Akt, durch den wir irgendetwas für den Anderen
ins Sein rufen wollen. Es kann sich um eine einfache Mitteilung
handeln, aber auch um weitaus mehr, wie etwa, wenn wir ihm
sagen, dass wir ihn lieben. In diesem Fall ist unser Wort
wirkkräftig. Aber menschlich gesehen ist es so wenig
wirkkräftig, dass Taten folgen müssen, um es zu erfüllen! Gott
spricht „mit Vollkommenheit“, in einer in Fülle wirkkräftigen
Weise. Sein Wort ist „schöpferisch“.
Das „Wort Gottes“ kann also nichts anderes sein als „eine
Wirklichkeit“, und nicht eine „Sprache“. Es gehört dem Sein an,
nicht nur insofern, als es ein wirkliches Wort ist, sondern
insofern seine Wortwirklichkeit „ein Seiendes“ ist. Das Wort,
das Gott an den Menschen richtet, ist also nichts anderes als die
Wirklichkeit an sich des Menschen, die dem Menschen
gegebene Wirklichkeit, für den Menschen selbst, der sich seiner
als ihm geschenkt bewusst wird. Der Mensch ist daher sich
selbst geschenkt als sich-bewusst-werdend, dass er die
Wirklichkeit dieses göttlichen Wortes ist, und dass es Gott ist,
der sich in diesem Wort selbst dem Menschen offenbart.
Im innersten meiner menschlichen Natur, und nicht in einem
Wachtraum oder religiösen Wahn, kann ich mir sagen: „Ich bin
die Wirklichkeit des Wortes, das Gott an mich richtet, und ich
bin die Wirklichkeit dieses Wortes nicht als solitärer Mensch,
sondern notwendigerweise mit Anderen, in der Geschichte. Und
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 341
das, weil das Wort Gottes mir in einem reflexiven
Gedankengang sagt, dass es nicht gut ist, dass ich allein sei, und
bewirkt, dass ich in meinem Sein der Wille sei, dass ein von mir
verschiedener Anderer sei. Wir sind uns dessen in einer
reflexiven
Analyse
bewusst
geworden.
Meine
Selbstverwirklichung ist also unsere Verwirklichung zu
Mehreren. In diesem Sinn ist unsere Zukunft göttliche
Verheißung. Und die göttliche Verheißung sichert uns unsere
Zukunft zu. Und unsere Zukunft, das ist unsere
Nachkommenschaft, eine Geburt. Indem er uns erschafft,
verspricht Gott sie uns, und indem er sie verspricht, macht er
uns fähig, aufgrund seiner Großzügigkeit an ihn zu glauben.
Diese Wahrheit nehmen wir auf, indem wir unserer
interpersonalen menschlichen Natur zustimmen. Und Gott lobt
uns für die Richtigkeit unseres Glaubens an ihn.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Da sein Bewusstsein « universalisierend » ist, kann der
Mensch die in seiner persönlichen Menschennatur
vorgefundenen Wahrheiten auch auf andere übertragen. Ein
anonymer biblischer Autor kann Gott und den Menschen als
Gesprächspartner auftreten lassen. Dieses Gespräch ist nicht
psychologisch. Es ist die psychologische Übertragung einer
universalen, interpersonalen, ontologischen Beziehung. Der
biblische Autor schreibt: « Gott versprach Abraham... », und der
Text erzählt uns eine Geschichte, die dazu passt und dem
Urvater zugeschrieben wird...
DER DOMHERR
Wollen Sie damit sagen, dass die Geschichte Abrahams ein
sich gleichbleibendes Urmotiv, eine ganz und gar erfundene
Geschichte ohne historischen Wert ist?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Das habe ich niemals gesagt! Lesen Sie den Text der Bibel
etwa, als ob es sich um eine von einem großen Reporter
verfasste Schilderung handeln würde? Was unzweifelhaft
geschichtlich ist, ist der Text. Und der Text offenbart uns
zunächst die Persönlichkeit seines Autors oder seiner Autoren,
und dann ihr kulturelles Umfeld, und zuletzt die universale
menschliche Seele.
342
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Dass die in der Bibel geschilderten Ereignisse nicht so, wie
sie erzählt werden, geschehen sind, ist nicht besonders wichtig.
Das Wichtige ist der Text, der bezeugt, dass Menschen ihre
Existenz in einer derartigen Weise und mit so viel Tiefgang
überdacht haben, dass sie diese Texte geschrieben haben. Der
Wert der Gestalt Abrahams ist nicht ereignisgebunden, sondern
glaubenschaftlich und ontologisch. Unzählige Menschen haben
sich in ihm wiedererkannt und erkennen sich auch heute noch in
ihm wieder, und alle, indem sie mehr oder weniger
gelungenermaßen und zutreffend ihr eigenes religiöses Gesicht
auf ihn übertragen.
Man kann sogar sagen, dass die Wahrheit oder Falschheit, die
Erhabenheit oder Mittelmäßigkeit der Gestalt Abrahams vom
Gottesbild, das man sich macht, abhängt. Das Paar GottAbraham oder Abraham-Gott ist der Spiegel unserer
theologischen, glaubenschaftlichen Beziehungsbedingtheit, und
des Bewusstseins, das wir davon haben.
Der Text sagt uns also: „Gott versprach Abraham eine
Nachkommenschaft...“. Dieses Versprechen war die Vollendung
Abrahams selbst. Abraham hat an dieses Versprechen geglaubt.
Er stimmte in sich selbst seiner Menschennatur zu, in der Gott
sich offenbarte. Er hatte Glauben an Gott. Gott urteilte, dass sein
Verhalten gerecht war. Nicht nur Abraham, sondern Abraham
und Sara... Und Israel wurde…
Gott sagte: „Licht“, und das Licht wurde. Gott sah, dass das
Licht gut war. Es wurde Abend, es wurde Morgen. Der erste
Tag.
[...]
Gott sprach: „Lasst uns Menschen machen... Er erschuf sie als
Mann
und
Frau
mit
dem
Versprechen
einer
Nachkommenschaft... Gott sah, dass es sehr gut war. Der
sechste Tag.“
Für den siebten Tag umschreibe ich den Text der
Schriftgelehrten, der nach dem babylonischen Exil geschrieben
wurde. Ich mache mir die Mehrdeutigkeit ihres Textes zunutze,
um ihre Gedanken noch zu übersteigen... „Am siebten Tag hörte
Gott auf, zu arbeiten... um zu arbeiten...“
Lassen wir Gott also sagen: „Hören wir heute auf, allein zu
arbeiten... um mit dem Menschlichen zu arbeiten und der
Geschichte eine Geburt zu verleihen, und so das Werk unserer
Großzügigkeit später, jenseits der Geschichte, zu vollenden“.
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 343
Und Gott spricht weiter: „Machen wir einen Mann und eine
Frau, die verstehen, dass wir „die Einzigartigen, die alles geben“
sind. Auf dass sie jetzt verstehen mögen, dass sie von Anfang an
unser Abbild sind, und dass wir, um dieses Abbild in unserer
Ähnlichkeit zu vollenden, ihnen von Anfang an versprochen
haben, dass sie sich gegenseitig eine Nachkommenschaft geben,
und dass wir dieses Versprechen von Anfang an mit ihnen
eingelöst haben.
Auf dass sie jetzt verstehen mögen, dass wir deswegen gesagt
haben, dass es sehr gut sei, weil wir sie in unserer Großzügigkeit
großzügig erschaffen haben, als Abbild unserer selbst in unserer
ewigen Großzügigkeit.
Und Abraham und Sara, die dem Ruf, ihre Vollendung zu
verstehen, gefolgt sind, indem sie in ihrer Nachkommenschaft
die Großzügigkeit Gottes angenommen haben, stehen im
Verlauf des siebten Tages.
Und Gott sagt ihnen, dass dieser Glaube an seine
Großzügigkeit das Gerechteste war, was sie nur hätten tun
können.
So kam nach dem sechsten Tag der siebte Tag...
Und es ist immer noch der siebte Tag...
DER ANDERE PHILOSOPH
Und was ist mit dem achten Tag? In der Tat haben Sie uns
gesagt, dass die Geschichte in einer verglaubenschaftlichten
Darstellung wie in der Schrift auch das Wort Gottes ist.
DER ERSTE PHILOSOPH
Aber die Geschichte enthält viele Tragödien und
Verbrechen... Sind auch sie Worte Gottes? Werden Sie Hegel
folgen, der im Werden der Geschichte die Verwirklichung des
absoluten Geistes sieht? Das wäre dann allerdings dramatisch...
DER ANDERE PHILOSOPH
Mitnichten, da ich Gott nicht mit seinem Werk gleichsetze.
Das Bezeichnende des Handelns Gottes besteht darin, dass er
sein Werk wirklich von sich selbst unterscheidet. Und dies
wiederum kann er genau deshalb tun, weil jede wahrhaftige
Seinsmitteilung die „Trennung“, also die achtungsvolle
„Verneinung“ des in sich selbst begründeten Anderen
voraussetzt.
344
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Die Schöpfung ist wirklich von Gott unterschieden; sie ist
nicht eine Emanation Gottes oder seine Entfaltung in der Zeit;
denn Gott ist wirklich in sich selbst zu Mehreren. Der Eine ist
nicht der Andere, und auch nicht der Dritte in Gott. Die
Unterscheidung zwischen ihnen ist vollkommen, genauso, wie
ihre unauflösliche, gegenseitige Einheit vollkommen ist.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Mit traditionellen theologischen Begriffen kann man also
sagen, dass die Schöpfung und der Mensch deshalb nicht Gott
sind, und in keiner Weise Gott werden können, weil Gott
Dreieinigkeit ist, und weil in der Dreieinigkeit der Vater auf
keine Weise der Sohn ist, noch der Sohn und der Vater der
Heilige Geist.
Die Vollkommenheit der Unterscheidung zwischen den
göttlichen Personen ist daher die Grundlage und Gewährleistung
der Unterscheidung zwischen Gott und dem Menschen, wie
hoch auch immer die Würde sein möge, zu der Gott den
Menschen ruft, um ihn von allem Bösen zu befreien und sich
ihm im vollen Ausmaß seines göttlichen Vermögens
mitzuteilen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau. Mit einer relationalen Ontologie ist jede Möglichkeit
irgendeines Pantheismus ausgeschlossen. Dies ist bei einer
klassischen Ontologie, die die ungeteilte Einheit als
transzendentale Seinsvollkommenheit annimmt, nicht der Fall,
ja, die Philosophie Spinozas neigt nur allzu deutlich dazu.
Aber kommen wir auf die Ebene der menschlichen
Wirklichkeit der Geschichte zurück.
Aufgrund der Tatsache, dass seine Beziehungsbedingtheit
unvollkommen und universalisiert ist, ist der Mensch ein
geschichtliches Seiendes, dessen Sein sich so weit erstreckt wie
die Zeit. Als solcher ist er in seiner geschichtlichen Wirklichkeit
das „Wort“, das Gott an ihn richtet.
Der Mensch hört das „Wort Gottes“ also dann, wenn er sich
in menschlichen Worten sagt, was er in Wahrheit ist. Aber wenn
er sich bezüglich der Wahrheit seiner Existenz irrt, verdunkelt er
das Wort Gottes. Und die Beschaffenheit unserer konstitutiven
Glaubenschaftlichkeit nur teilweise oder sogar falsch zu
verstehen, heißt, taub zu sein für dieses Wort, oder sogar an ihm
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 345
Verrat zu üben. Verstehen wir das, bitte, ohne Psychologismus
und ohne psychische Phantasiegebilde!
Und weil das „Wort Gottes“ auch immer von der
menschlichen religiösen Art, wie wir es auffassen und
ausdrücken, geformt wird, sollen wir es niemandem aufzwingen
durch
Gewalt,
Verfolgung,
Verwünschungen,
Glücksversprechungen, List oder Verführung, und auch nicht
durch sogenannte „Ehrenverbrechen“ an dem, der meint, Gott in
einer anderen Religion, in der er nicht erzogen wurde, besser zu
verstehen. Es reicht, das Wort durch den Verstand für den
Verstand und durch das Herz für das Herz darzulegen.
DER EXEGET
Sie haben mich gefragt: „Und wann ist dann der achte Tag?“
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja, da das „Wort Gottes“ sich in der Geschichte erfüllt, in der
Er sich offenbart, indem er uns erschafft...
DER EXEGET
Ich denke, er folgt nicht auf den Siebten, sondern er ist
gleichzeitig mit ihm... so paradox das auch sein mag...
Tatsächlich kann die Geschichte durch die glaubenschaftliche
Ausrichtung in zweifacher Weise als Heilsgeschichte gelebt
werden: erstens, wenn sie von ihrem Ursprung her verstanden
ist; und zweitens, wenn sie ausgehend von ihrer Gegenwart auf
ihr Ziel hin, also auf ihre mehr oder weniger letzte Bestimmung
hin, verstanden wird... Ich komme auf meine Darstellung
zurück... vor den letzten Wortmeldungen...
Im Anschluss an die Predigttätigkeit Jesu stellen wir ein
glaubenschaftliches Bewusstsein von der in der Offenbarung
ihrer absoluten Zukunft verstandenen gegenwärtigen Schöpfung
fest. Es handelt sich tatsächlich nicht mehr um ein von einer
zeitlichen Zukunft ausgehendes Verständnis der Gegenwart,
anhand von einem Plan derselben familiären „Abstammung“
wie alle menschlichen Pläne, die die ursprüngliche Schöpfung
vollenden.
Es handelt sich um eine Zukunft des geschichtlichen
Menschen als solchem, also der gesamten vergangenen,
gegenwärtigen und zukünftigen Menschheit, der gesamten
menschlichen Geschichte, jenseits der Geschichte an sich, also
346
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
um eine transzendente Zukunft, die von Gott selbst als Erfüllung
seines gegenwärtigen und eigenständigen Einsatzes als Schöpfer
offenbart ist.
DER PHYSIKPROFESSOR
Warum ist eine derartige Erfüllung nötig?
DER EXEGET
Diese Frage überlasse ich den Philosophieprofessoren und
Dogmatikern. Aber Ihre realistische und nicht mehr wörtliche
Auffassung von dem, was Offenbarung ist, mache ich mir zu
eigen. Verzeihen Sie, dass ich sie (sie ] die Frage) ins Aus kicke...
Andere würden sie wieder einwerfen... Daran zweifele ich nicht!
Diese transzendente Offenbarung vollzog sich auf der
Grundlage der ontologischen Offenbarungsprinzipien, die auch
den Geist der Thora ausmachen. In ihr haben Hebräer und Juden
für sich und die Welt ihr in Bundesschluss erschaffenes
„menschliches Sein“ ausgesagt, und es anschließend bewusst
durch die Texte des Exodus hindurch gelebt. Indem sie ihre
Existenz und Geschichte verstanden, verstanden sie die
Offenbarung, die Gott an sie ergehen ließ. Und darüber
schrieben sie den Text.
Eine transzendente Offenbarung Gottes kann also nichts
anderes sein als eine lebendige Wirklichkeit, wie etwa die
Offenbarung Gottes in unserer gegenwärtigen menschlichen
Beschaffenheit. Sie ist also nicht ein „Text“, sonder ein Mensch,
der tatsächlich und in Fülle „Wort Gottes“ ist, also ganz und gar
und gesamthaft von der göttlichen Wirklichkeit erfasst, und
nicht mehr nur ein Geschöpf ist. Diese transzendente
Offenbarung, die das, was sie offenbart, auch bewirkt, ist,
genauso wie die ursprüngliche schöpferische Offenbarung, eine
menschlich gegenwärtige, göttliche Person, die gemäß allen
menschlichen Umständen in unserer Geschichte gegenwärtig ist.
Dieser von einer Person Gottes erfasste Mensch „sagt“ uns —
und daher ist er „Wort für uns“ — in seiner Beziehung zur
Menschheit sein göttliches Sein, indem er es schrittweise auf
menschlich-reflexive Weise entdeckt. Und für unsere
Menschheit wird die Offenbarung Gottes in ihm durch das
sichtbar, was sich in ihm vollzieht. Und weil diese Offenbarung
wirkkräftig ist, ist das, was sich in seiner Menschheit vollzieht,
auch die zukünftige Wirklichkeit unserer Menschheit. Daher ist
sein „eigenes Jenseits-der-Geschichte“, das er gelebt hat, auch
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 347
unser Jenseits. Anders gesagt: Die Offenbarung Gottes in der
Auferstehung Jesu impliziert die Verwirklichung unserer
eigenen universalen Auferstehung. Diese gewissermaßen
spontan von allen Christen in der ganzen Überlieferung der
Kirche „geglaubte“ Wahrheit steht also in vollkommenem
Einklang mit der Wirklichkeit der Offenbarung, die das jüdische
Volk empfangen hat, indem es seine eigene Existenz
glaubenschaftlich verstand, selbst wenn zwischen den beiden
Religionen lehrmäßige Unstimmigkeiten bestehen.
DER ANDERE PHILOSOPH
In unserer Auffassung von der Geschichte als „Wort Gottes“
stimmen wir überein. Vom Gesichtspunkt der relationalen
Ontologie aus, der eine vereinheitlichte Sichtweise der
Geschichte unterstützt, muss hinzugefügt werden, dass die in
ihrer Menschheit die „Offenbarung Gottes für die Menschen“
vollziehende göttliche Person in irgendeiner Weise ewig die
„persönliche Offenbarung Gottes in Gott“ sein muss, also die in
Gott in Göttlichkeit durch den Ersten gesetzte Andere Person,
mit der gemeinsam er einem Dritten eine ewige Geburt
schenken will. Nochmals stoßen wir auf die Trinität als
Grundlage unserer Existenz und Geschichte, sowie auch unserer
Auferstehung jenseits der Geschichte. Der vom Ersten
unterschiedene Andere ist Wort für den Dritten. Der In-seinerMenschheit-Andere ist Wort für den „Dritten“, und die
Menschen sind dieser Dritte.
Aufgrund dieser relationalen Strukturen lässt sich die
„vergöttlichte“ Existenz, die Gott durch seine persönliche
Gegenwart in einem „geborenen, gestorbenen und
auferstandenen“ Mann transzendent offenbart, und die eben
dadurch die von seiner Großzügigkeit für alle Menschen
vorherbestimmte transhistorische Zukunft ist, auch mit dem
Gebären eines Dritten vergleichen.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Vorausgesetzt, dass Gott nicht in einer aus Worten
bestehenden Sprache, sondern durch Wirklichkeiten spricht,
muss er das, was die Wirklichkeit jedes Menschen jenseits seiner
gegenwärtigen Geschichte ist, in der Wirklichkeit eines
Menschen offenbaren, der jenseits seines Todes das Leben in
Fülle hat. Er muss es aus absolut freiem inneren Antrieb, und er
kann es auch, weil er in sich selbst das unbegrenzte Vermögen
348
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
der Weitergabe jenes Lebens ist, das durch nichts bedroht
werden kann. Was der Mensch, wie Abraham in den alten Tagen
seiner Ehe, als Herausforderung an das Unmögliche erhoffen
kann, ist derweil die Regel der glaubenschaftlichen Beziehung.
Weil Gott Dreieinigkeit ist, ist er fähig, sie zu erfüllen. Das
anzuerkennen ist die gerechte Lebensweise. Auch hier kann
Abraham als Urbild unseres Verhaltens angesehen werden. „Er
vergewisserte sich seiner Zukunft in Gott, und Gott bestärkte ihn
in seinem gerechten Verhalten“. Ich danke Ihnen, meine Dame,
für diese Übersetzung.
Sara, deren Mütterlichkeit abgestorben war, wird Mutter sein.
Der Mensch, dessen gegenwärtige Geschichte tot ist, wird
leben.
Jeder christliche Glaubende anerkennt, dass Gott im
Menschen Jesus dieses jenseits aller Geschichte stehende
Jenseits sichtbar gemacht hat. Es ist die „Auferstehung“. Darin
liegt das Wesentliche der Offenbarung Gottes in Jesus. Nicht
das „Christentum“ ist offenbart. Es ist der Zeuge dieser
Offenbarung, und zwar aufgrund der Offenbarung Gottes in
seiner Schöpfung, deren erste Zeugen die Hebräer und Juden
sind. Die Hebräer und dann auch die Juden sind sich dessen
bewusst geworden und machen es weiterhin den Nationen
verständlich. Im Anschluss an sie obliegt es auch allen
Menschen, darin eingeschlossen den Christen, dies zu vertiefen.
GESCHICHTLICHE UND RELATIONAL-ONTOLOGISCHE
BEZIEHUNGEN ZWISCHEN JUDENTUM UND CHRISTENTUM
DIE GYNÄKOLOGIN, Angehörige des jüdischen Glaubens:
Ich sehe die positiven Absichten, die sie für das Judentum
hegen. Dazu haben Sie meine volle Zustimmung. Etwas irritiert
bin ich allerdings durch die... ich würde sagen, „abstrakte“, aber
irgendwie unzeitliche Art, mit der Sie die Rolle Israels
verstehen, obwohl Sie doch dauernd von Geschichte und vom
geschichtlichen Menschen sprechen. Es ist so, als ob Sie, die
einen und die anderen, die Dinge in ihrem Sein im „Ratschluss“
Gottes sehen würden... Das ist ein bisschen zu hoch... im
Vergleich zur Erde...
Für uns ist die Erinnerung an die Geschichte wichtiger als
Spekulationen über ihren Sinn. Auch verstehen wir die
Beziehungen zwischen Judentum und Christentum in erster
Linie einfach geschichtlich, und nicht theologisch und
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 349
philosophisch. Und auf dieser Ebene waren die Beziehungen
äußerst gespannt und konfliktgeladen, um nicht mehr zu sagen...
Zweifellos befinden sich die Beziehungen zwischen unseren
beiden Gemeinschaften, der Kirche und der Synagoge, heute in
einem begrüßenswerten Wandel, hin zu mehr gegenseitigem
Verständnis. Die Historiker vereinfachen die Gründe der
anfänglichen Trennung nicht mehr so sehr wie in der
Vergangenheit. Sie versuchen, die kulturelle Vielfalt des
Zeitalters des Römischen Reiches besser mit einzubeziehen.
Dennoch bleibt es wahr, dass die jüdischen und christlichen
Standpunkte auf der Ebene der geschichtlichen Analyse der
Vorstellungen und Lehrgebäude schwer zu vereinen sind, oder
sogar unvereinbar sind. Mir scheint also, dass die Verbesserung
unserer Beziehungen darin besteht, dass ein jeder sich
entschieden hat, diese lehrmäßigen Unvereinbarkeiten nicht
mehr in ein feindseliges religiöses Gefühlsleben zu übersetzen...
Man nimmt es hin, dass ein jeder die Wahrheit seiner eigenen
Überlieferung beibehält und lebt, und lässt sich dabei
möglicherweise vom anderen über diesen oder jenen Punkt
unseres gemeinsamen Erbes aufklären.
DIE HISTORIKERIN
Die historischen Untersuchungen der letzten fünfzig Jahre
bringen uns dazu, zu verstehen, dass die nachträgliche
Übertragung einer klaren Dualität von Judentum und
Christentum den Umständen ihrer Entstehung nicht gerecht
wird. Das biblische Judentum, also jenes gegen Ende des
Zweiten Tempels, am Anfang des Römischen Reiches, war sehr
vielfältig. Die religiösen Bewegungen wahren zahlreich:
Sadduzäer, Pharisäer, die Schule von Schammai oder die Schule
des Hillel, die Essener, und in der wichtigen jüdischen
Gemeinde Ägyptens die Therapeuten, und die hellenisierenden
Juden und die an ihre Volksgruppe gebundenen Juden.
Außerdem gab es die endzeitliche Literatur und die Hassidim,
also die zahlreichen Kreise von „Frommen“, darunter den Kreis
des „Jesus von Nazareth“. Sie alle gehörten zu einer einzigen
großen Familie, nämlich jener des „biblischen Judentums“. Die
oft äußerst wichtigen Unterschiede waren derweil kein Anlass
zu Trennung oder einem Auseinanderbrechen. Viele dieser
Bewegungen verschwanden nach dem Aufstand gegen die
römische Besatzungsmacht im Jahr 66 und der tragischen
Zerstörung des Tempels im Jahr 71. Dieser ersten Katastrophe
350
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
folgten zwei weitere: die Zerstörung Jerusalems im Jahr 135,
nach und im Anschluss an einen letzten Aufstand, und dann die
Zerstörung der jüdischen Gemeinde Ägyptens.
Zwei Bewegungen haben diese Wirren überlebt: die der
Pharisäer, vor allem jene der Überlieferung des Hillel, und die
der frommen Schüler Jesu. Alle beide machten in dieser Zeit
auch eine tiefgreifende Veränderung durch, jede auf ihre Art.
Daraus ergaben sich schließlich das rabbinische Judentum und
das Christentum.
Ihre Trennung lässt sich durch zwei Gruppen von Gründen
erklären, die man nicht voneinander trennen darf: ihre jeweils
eigene Spiritualität und die geschichtlichen Umstände. Was
wäre beim Fehlen eines dieser beiden Gründe geworden?
Ohne diese dramatischen geschichtlichen Hintergründe wären
ihre jeweils eigenen Spiritualitäten, obwohl sie sehr
unterschiedlich sind, unter einem Dach geblieben, nämlich dem
„des Hauses Israel“, mit zwei Hauptwohnungen. Könnte man
rein „hypothetisch“ sagen, dass es ein „umfassendes und offenes
biblisches Judentum“ gegeben hätte, innerhalb dessen sich nach
und nach wahrscheinlich zwei Hauptrichtungen abgezeichnet
hätten: nämlich eine hillelitisch-pharisäische und eine
nazoräisch-messianische?
Da die Anhängerschaft des biblischen Judentums bereits mehr
als zehn Prozent der Bevölkerung des Römischen Reichs
ausmachte, kann man durchaus der Ansicht sein, dass es durch
seinen nazoräisch-messianischen Ableger nicht etwa zu wachsen
aufgehört hätte. Daraus wiederum hätten sich vielfältige
lehrmäßige Annäherungen ergeben. Aber... es kamen Wirren
und das Verschwinden des biblischen Judentums. Allerdings
war es nicht ein Verschwinden mit Stumpf und Stiel,... sondern
vielmehr eine Umgestaltung...
Wenn die Verkündigung Jesu nicht neue Elemente zur Lehre
hinzugefügt hätte, dann wäre das Christentum sicherlich nicht
entstanden. Denn nicht die Wirren oder der Untergang des
biblischen Judentums haben es entstehen lassen und die Jünger
hervorgebracht, die seine Lehre dann verbreiteten. Welche
anderen Bewegungen des biblischen Judentums hätten durch
eine Umwandlung ihrer selbst auf die Wirren folgen können?
Hätte das rabbinische Judentum die Sache des biblischen
Judentums selber aus dem Schiffbruch retten können, die vom
Christentum bewahrt wurde, weil das Christentum sich bereits in
der heidnischen Welt festgesetzt hatte? Diese heidnische Welt
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 351
hatte den Tempel von Jerusalem in Schutt und Asche gelegt, und
wollte nicht, dass er neu beginnt. Welche Möglichkeit zur
Wiederherstellung des biblischen Judentums hätte er gehabt,
wenn er nur sich selbst überlassen gewesen und nur von seinem
Anteil am Erbe genährt worden wäre? War das Christentum
trotz seiner Rivalität und später Feindseligkeit gegen das
rabbinische Judentum nicht auch sein objektiver Verbündeter für
die Bewahrung der Überlieferung des biblischen Judentums?
Und das Christentum? Wäre es sich selbst wirklich treu
geblieben, wenn es nicht das rabbinische Judentum an seiner
Seite hätte? All das sind zweifellos hypothetische Fragen! Aber
sie können der historischen Forschung den Weg zu einem
besseren gegenseitigen Verständnis weisen.
DER EXEGET
Als Jüdin haben Sie, meine Dame, gesagt, dass für Sie die
Erinnerung an die Geschichte wichtiger ist als das Spekulieren
über ihren Sinn...
Ich kann mit Ihnen einverstanden sein. Ich schätze es sehr,
dass das zeitgenössische rabbinische Judentum hierin eine
bezeichnende Eigenschaft des biblischen Judentums bewahrt.
Von einem anderen Gesichtspunkt ausgehend habe ich gesagt,
dass der Glaube des Judentums dem Ursprung zugewandt ist,
dem schöpferischen Handeln Gottes, und dem, was es als sein
Handeln in der Geschichte verstand. Es geht hier sehr wohl um
einen Erinnerungsvollzug... Dagegen richtet sich das
Christentum aufgrund der Lehre Jesu und dessen, was an seiner
Person nach seinem Tod geschehen ist, eher auf die Zukunft aus,
und sogar auf die Zukunft der in ihrer Gesamtheit betrachteten
Geschichte. Diese Eigenschaft des christlichen Glaubens
begünstigt tatsächlich das „Spekulieren über den Sinn der
Geschichte“.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Genügt nun aber die Erinnerung, um uns die geschichtliche
Existenz des Menschen verstehen zu lassen? Ist die Erinnerung
an die Geschichte Israels, selbst an ihre wichtigsten Ereignisse,
wie jene am Sinai und die Inbesitznahme des Landes Kanaan,
oder seine Rückkehr aus Babylon, ausreichend, um uns den Weg
des Glaubens Israels verstehen zu lassen, der ja doch aus der Art
und Weise, wie Israel diese Ereignisse versteht und im
Gedächtnis behält, herausgelesen werden kann? Ich denke, dass
352
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
im Glauben der Menschen Israels eine Tiefe liegt, die durch
diese Ereignisse niemals hätte hervorgebracht werden können,
sondern die ihnen im Gegenteil ihren Sinn verliehen hat.
Dasselbe gilt auch für die Person Jesu, einen ganz und gar
jüdischen Menschen, der aber nicht zum rabbinischen Judentum
gehörte, da er ein Jahrhundert vorher lebte. Seine Lehre konnte
er ausschließlich auf der Grundlage dieses besonderen
biblischen Glaubens verkünden. Und die in seiner Person
geschehene Wirklichkeit, nämlich seine Auferstehung, — für
die in der Ereignisgeschichte lediglich die Zeugen jener, denen
sie offenbart wurde, in Erscheinung treten, weil sie in ihrer
Wirklichkeit außerhalb der gegenwärtigen Geschichte liegt —
kann ausschließlich durch den Vergleich zu der Art und Weise,
wie Israel das auch außerhalb der Ereignisgeschichte stehende
Handeln Gottes auffasst und versteht, aufgefasst und verstanden
werden.
Auch denke ich, und das möchte ich allen Historikern sagen,
dass es zum Verständnis der Spiritualität und des Glaubens
Israels und der Person Jesu nicht ausreicht, einzig die
beobachtbaren menschlichen Faktoren in Betracht zu ziehen.
Die Geschichtswissenschaft allein — so unverzichtbar sie ist —
reicht nicht aus, um die ganze Spannweite der durch göttliches
Handeln in Israel, in der Person Jesu, des Juden, geschehenen
Wirklichkeit zu verstehen, deren Gedächtnis das Christentum
bewahrt.
Um zu verstehen, dass rabbinisches Judentum und
Christentum einander im Tiefsten ergänzen, was jedoch keine
Gleichsetzung bedeutet, ist philosophische und theologische
Überlegung unabdingbar. Die Historiker sind in ihrer
Eigenschaft als Menschen dazu fähig, aber sie dürfen es nicht
unter dem Vorwand der methodologischen Einschränkung
unterlassen. Diese gegenseitige Ergänzung muss zweifellos noch
theologisch entdeckt und kulturell in Tatsachen ausgedrückt
werden. Diese beiden Religionen geben zu, dass sie aus einem
gemeinsamen Erbe schöpfen: aus der reichen und vielfältigen
Überlieferung des biblischen Judentums. In diesem hat sich ein
menschliches Bewusstwerden der Schöpfung als Offenbarung
Gottes vollzogen. Das rabbinische Judentum legt weiterhin
davon Zeugnis ab. Dieses glaubenschaftliche Bewusstsein des
biblischen Judentums war für Gott die geschichtlich notwendige
und zureichende Bedingung, um sich persönlich als Schöpfer
unserer jenseits der Geschichte liegenden Vollendung zu
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 353
offenbaren, genauso, wie er der Schöpfer unserer Entwicklung
in der Geschichte ist. Dazu hat er einen Israeliten mit seiner
Gegenwart ergriffen: Jesus. Das Christentum legt weiterhin
davon Zeugnis ab. Die beiden Zeugnisse verweisen auf ein und
dasselbe Werk Gottes für die Menschheit, welches eben gerade
gewährleistet, dass die beiden sich ergänzen. Ist diese tiefste
Ebene der menschlichen geschichtlichen Wirklichkeit für die
Geschichtswissenschaft, die sich auf das Beobachtbare
beschränkt, erfassbar? Ich bin der Ansicht, dass das
Geschichtsverständnis
sich
für
ein
reflexives
Existenzverständnis öffnen sollte.
DER ANDERE PHILOSOPH
Die Fragen, die der Historiker sich nicht innerhalb seiner
methodologischen Grenzen stellen kann, sondern deren
Formulierung er wünschenswerterweise von metaphysisch
denkenden Philosophen und Theologen, die sich der
wesentlichen
Glaubenschaftlichkeit
des
menschlichen
Bewusstseins bewusst sind, übernehmen sollte, sind folgende:
Erstens: Ist der Wirklichkeitshorizont des schöpferischen
Handelns Gottes auf die gegenwärtige geschichtliche Existenz
beschränkt, oder setzt er sein eigenes Überstiegen-Werden
voraus, und warum? Zweitens: Ist das glaubenschaftliche
Bewusstsein, das die Menschen in Israel von dieser Schöpfung
im Rahmen des biblischen Judentums gewonnen haben, die
Bedingung... — und um von Kant einen Fachbegriff
auszuleihen, den ich nun auf paradoxe Weise anwenden werde
— also die historische Bedingung a priori einer Offenbarung
ihres eigenen Überstiegen-Werdens in einem von der
gegenwärtigen Schöpfung jenseitigen Jenseits, und wie?
Wenn die Antworten bejahend sind, dann wird es jenseits der
Wirren um die Zerstörung des Tempels und der Tragödie der
lang andauernden Trennung von rabbinischem Judentum und
Christentum möglich werden, den Familiengeist und seine
brüderliche Einmütigkeit zu suchen, die so schnell
verlorengegangen sind,… wie die ursprüngliche Unschuld des
ersten Ehepaares.
Aber das Böse ist in dieser Schöpfung unvermeidlich,
aufgrund der Unvollkommenheit der menschlichen Freiheit.
Denn der Mensch ist in der Tat von Gott als fähig, zu sündigen,
geschaffen, und er sündigt auch wirklich. Und könnte auch die
Offenbarung eines Überschreitens der Geschichte, in dem diese
354
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Möglichkeit des Bösen beseitigt sein wird, angenommen
werden, ohne wiederum vom Bösen beeinträchtigt zu werden?
Ohne das Böse! Das ist unmöglich. Trägt Jesus nicht die Last
der Sünde? Eine Formulierung, die man mit Verstand auffassen
muss,... wohlgemerkt...
Die Annahme der Offenbarung unserer Befreiung wird selber
erst in der Verwirklichung dieser Offenbarung jenseits des
Todes ganz und gar vom Bösen befreit werden.
Aber die immer noch andauernde, unüberwindliche
Gegenwart des Bösen befreit uns keineswegs von der
Verantwortung, nach dem Guten zu streben. Ganz im Gegenteil:
In diesem Fall verpflichtet sie uns, ein besseres gegenseitiges
Verständnis des rabbinischen Judentums und des Christentums
zu suchen, nicht nur aus einem allgemeinen Prinzip heraus,
sondern insofern sie sich für ein ganzheitliches Verständnis des
Werkes Gottes und eines wahrhaftigen Glaubens an ihn
gegenseitig ergänzen. Ohne angesichts der kulturellen
Unvereinbarkeiten wirklichkeitsfremd zu werden, sollten wir
bedenken, dass diese Verpflichtung auch die anderen Formen
von Religion einschließt.
DER DOMHERR
Warum bringen Sie nebst sehr verlockenden Ideen auch
immer abschreckende ins Spiel? Ich verstehe diese
Vorgehensweise nicht!
DER ANDERE PHILOSOPH
Um die verlockenden durch den Gegensatz besser ins Licht zu
rücken... Nehmen Sie daran keinen Anstoß...
DER DOMHERR
Im Ernst!... Warum sagen Sie, dass das Böse unvermeidbar
ist? Es war eine Wahl des Menschen. Zu sagen, dass der Mensch
sich nicht enthalten konnte, das Böse zu tun, kommt dem gleich,
dass man Gott dafür verantwortlich macht. Das ist untragbar...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich kann diese Verantwortlichkeit Gottes sehr gut ertragen...
Nach der Sintflut bereut Gott, dass er die Menschheit hat
untergehen lassen...
Nachdem er Adam ganz allein erschaffen hatte, findet er, dass
es nicht gut ist, dass er allein sei... Ist das, was er gemacht hat,
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 355
also nicht gut?... Natürlich ist es nicht gut, weil auch Gott selbst
in seiner Gottheit nicht einsam lebt... Und Gott lässt einen tiefen
Schlaf über Adam fallen... Er nähert sich ihm und lässt Eva aus
ihm hervorkommen... die ihn aufweckt...
Und genauso höre ich ihn sagen, nachdem er den Menschen
unvollkommen und zur Sünde fähig erschaffen hat — nicht ich
sage das, sondern Gott ist es, der spricht, und ich tue nichts
weiter, als zu hören… in mir —: „Es ist nicht gut, dass die
Menschen fähig bleiben, das Böse zu tun... Natürlich ist es nicht
gut, dass sie Sünder bleiben und in ihren Sünden sterben, denn
wir selbst, wir Drei unter uns, sind ausschließlich unendliche
Liebe füreinander... In einem endgültigen Schlaf werde ich mich
ihnen nähern und sie bis zu mir erhöhen, damit meine Heiligkeit
sie ganz und gar durchdringt, und so werde ich sie von dieser
hassenswerten Fähigkeit, sich gegenseitig zu zerstören,
befreien... Und dann werde ich es nicht zu bereuen haben, sie
vollkommen nach unserem Abbild geschaffen zu haben.
Übrigens ist das immer noch das, was ich von Anfang an
gedacht habe, noch bevor wir alle drei uns an die Arbeit
gegeben haben, ein jeder auf seinem Platz...“
DER DOMHERR
Sie ahmen Ihre Klassiker gut nach...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich lasse mich von ihnen immer noch sehr stark inspirieren...
Sie sehen also, dass die Erschaffung des unvollkommen freien
Menschen die Möglichkeit, zu sündigen, impliziert. Gott kann
kein vollkommenes Seiendes erschaffen. Er allein ist
vollkommen. Der Mensch, den er erschafft, ist
notwendigerweise zum Guten vorherbestimmt, aber er ist ein
Sünder. Und dennoch kann Gott aufgrund seiner unendlichen
Vollkommenheit nicht zulassen, dass das Vorhandensein dieser
Fähigkeit, das Böse zu tun, endgültig sei. Er schuldet es sich,
sich dem Menschen in Fülle seinsgebend mitzuteilen, weil der
Mensch sich bewusst ist, dass er von Gott in seinem Sein mit der
moralischen Pflicht, sich vollkommen zu verwirklichen,
geschaffen wurde. Einige sind sich dessen tatsächlich bewusst.
Die anderen könnten es sein...
Es handelt sich also um eine neuartige Seinsmitteilung, so
dass wir von unserer Fähigkeit, das Böse zu tun, befreit sein
werden. Das ist ausschließlich in einer von allen
356
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Unvollkommenheiten der gegenwärtigen Welt befreiten
Existenz möglich. Diese „zweite Schöpfung“ richtet sich an ein
bewusstseinsbegabtes Seiendes, das sie notwendigerweise
ersehnt und sich ihrer bewusst wird. Diejenigen Seienden, die
von Natur aus sich nicht ihrer selbst und daher auch nicht Gottes
bewusst sein können, und die daher nicht an ihn „glauben“
können, sind davon nicht betroffen.
Dagegen erwartet der glaubenschaftliche innere Elan vom
Anderen alles, was er ihm aufgrund seiner Initiative als
Offenbarer und Mitteiler offenbaren kann. Der glaubenschaftlich
Glaubende beruft sich also auf keinerlei Verdienst seinerseits,
um als Gegenleistung eine „Belohnung“ zu erhalten, also etwas,
das ihn für das „entschädigt“, was er geopfert hat, und wofür er
als Ausgleich einen Vorteil erhofft. Der glaubenschaftlich
Glaubende glaubt — also er weiß mit Gewissheit, weil er in
seinem geschaffenen Sein die Offenbarung dessen, was Gott
war, erkannt hat — dass er von Gott alles erhoffen kann, nicht
weil sein Glaube ein „Verdienst wäre — das wäre ja dann nicht
mehr glaubenschaftlich —, sondern weil Gott „Gott“ ist, also in
sich selbst dreieinige Seinsmitteilung. In Glaubenschaftlichkeit
kann ich sagen: „Ich erhoffe von Gott all das, was ich erhoffen
kann“. Das darf allerdings nicht psychologisch auf die
gegenwärtige Zeit bezogen werden, sondern auf die Dauer
Gottes.
Gott kann also seinen Einsatz für alle Menschen in einem
Menschen in Fülle sichtbar machen. Diese Fülle des Geschenks
ist durch ihn bemessen, weil er Gott ist, aufgrund seiner
unendlichen Vollkommenheit, und nicht weil er es sich
gedanklich als Plan oder Vorhaben zurechtlegt, was man sich
dann auch anders vorstellen könnte. Dieser in seinem
„göttlichen Sein“ gründende Einsatz für die Vollkommenheit
des Menschen ist daher notwendig, und zwar vom ersten
Augenblick der Schöpfung an. Sein Plan mit den Menschen ist
von Anfang an unteilbar. Für Gott handelt es sich um die Fülle
der Mitteilung seines göttlichen Seins an seine Geschöpfe, die
sich seiner bewusst sind und ihm daher ihren „Glauben“
schenken.
Und dies kann er nur dadurch tun, indem er „persönlich“, also
durch eine seiner Personen, in einem Mann gegenwärtig ist:
durch die göttliche Person, deren Persönlichkeit darin besteht,
„göttlich als sich schenkend empfangen zu sein“, um zu den
Menschen von ihrem „im Überfluss zu empfangenden Sein“
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 357
„sprechen“ zu können. Das ist die Inkarnation. Diese
Inkarnation ist auch die Offenbarung der Fülle der
Seinsmitteilung für die ganze Menschheit. Auch ist das
trinitarische Seinsmitteilungswerk in einem Mann kundgetan,
gemäß der Art und Weise Gottes, der in seinen eigenen
interpersonalen Beziehungen die Menschen an dieser
trinitarischen Wesensmitteilung teilhaben lassen kann, nämlich
in der „Form“ einer Geburt in die Vergöttlichung, in den Stand
der „Drei“, als gemeinsame Nachkommenschaft des „Ersten“
und des „Anderen“, durch seine Inkarnation und sein in
Auferstehung vollendetes Leben. Hier drücke ich mit
ontologischen Begriffen das aus, was Formulierungen wie
„Jesus geboren aus dem Geist,... Jesus geleitet vom Geist,...
Jesus auferweckt vom Geist“ offenbaren.
Bitte beachten Sie eine letzte Parallele zur ontologischen
relationalen Glaubenschaftlichkeitsstruktur, nämlich zur
Struktur der „Offenbarung“ und des „Glaubens“, oder ganz
einfach zur interpersonalen Struktur der seins- und
lebensmitteilenden Liebe.
Gott ist trinitarische Struktur des Ersten zum Anderen, der so
das Sein aus dem Sein des Ersten ist, dass sie zusammen zum
Dritten hin sind, der von beiden kommt. Mit den Worten der
Evangelien gesagt: Der Vater zum Wort, das sein Gezeugter ist,
indem er zusammen zum Geist ist, der vom Vater und vom Wort
gezeugt oder „gehaucht“ ist.
Als ihr Abbild erschafft Gott den Menschen in dreigliedriger
Struktur: der Mann zur Frau. Der Mann hat nicht die absolute
Initiative, die Frau ins Sein zu rufen, da er nicht Gott ist. Es ist
Gott, der sie selbst aus dem Mann „herauszieht“, indem er dafür
sorgt, dass der Mann als Geschöpf in seinem ganzen
geschaffenen Sein „zur Frau hin“ ist. Der Mann „erkennt“ die
Frau als „Fleisch von seinem Fleisch“. Gott vertraut ihnen
daraufhin die Initiative an, gemeinsam auf das Kind zuzugehen,
das ihr gemeinsam Gezeugtes ist.
In der Schöpfungsordnung kann diese Struktur nicht in
vollkommener Verwirklichung funktionieren, wie die
trinitarische göttliche Struktur es tut. Sie ist „universalisiert“. In
der Nachkommenschaft des Mannes und seiner Frau bildet sich
ein
neuer
Ausgangspunkt
einer
Seinsund
Lebensmitteilungsinitiative heraus. Das Kind wird ein Junge
oder Mädchen, ein zukünftiger Mann oder eine zukünftige Frau.
Und so weiter... Wir befinden uns in einer notwendigerweise
358
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
unvollkommenen und kontingenten, unbegrenzt für dieselben
Möglichkeiten offenen „Schöpfung“.
Das glaubende Ehepaar, wie Abraham und Sara, weiß, dass
ihre Zeugungsinitiative selbst in Beziehung steht zur göttlichen
Initiative, die mit ihnen das Kind erschafft. Das menschliche
Ehepaar hat also in Bezug auf Gottes väterliche Initiative
gewissermaßen eine eheliche und mütterliche Funktion. Und das
auf universalisierte Weise...
„Gott versprach Abraham und Sara eine Nachkommenschaft,
so zahlreich wie die Sterne des Himmels“.
In der Ordnung unserer „Vergöttlichung“ oder unserer
Erhebung in die Transzendenz, und also jenseits der
gegenwärtigen Schöpfung, inkarniert sich die trinitarische
Struktur Gottes in der trinitarischen Struktur der Menschheit.
Das ewige Wort nimmt in einem menschlichen Ehepaar Fleisch
und Menschheit an: Joseph und Maria, ein von Abraham und
Sara abstammendes glaubendes Ehepaar. Ihr vom Wort in Besitz
genommenes Kind ist Jesus.
Der Vater verhält sich so zu seinem Wort, damit das Wort zu
den Menschen geht, wie es zum Geist geht, den es mit dem
Vater „zeugt“. Indem der Vater sein Wort in Menschheit aus
einem menschlichen Ehepaar gestaltet, und indem das Wort
menschliche Natur annimmt, gehen sie gemeinsam auf die
Menschen zu, um sie im Geist, der die ganze Menschheit
aufnimmt, zu „zeugen“. Unsere von allem Bösen und aller
Unvollkommenheit befreiende „Vergöttlichung“, die den
absoluten Willen Gottes verwirklicht, sich in Fülle den
Menschen mitzuteilen, ist ein „Werk des Zeugens-Gebärens“,
durch den inkarnierenden Vater und das inkarnierte Wort und
die „Geburt“ einer Menschheit im Geist, die als eigenen Anteil
die Fülle Gottes erhält.
Aber eine Analogie enthält immer auch einen radikalen
Unterschied. Da die dreigliedrige Struktur der menschlichen
Familie universalisiert ist, und aufgrund ihrer anfänglichen
Unvollkommenheit in der gegenwärtigen Schöpfung unbegrenzt
für andere mögliche Familien offen ist, ist die Struktur unserer
„Vergöttlichung“ einzigartig und von einer vollendeten
„Aktualität“, denn es gibt nicht mehrere Inkarnationen, und auch
nicht mehrere Auferstehungen, sondern nur eine, für eine
einzige Erhebung der ganzen Menschen im Geist. In unserer
Vergöttlichung wird jegliche Kontingenz, sowie auch jede
unbegrenzte und unerfüllbare Offenheit in der reinen Aktualität
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 359
der göttlichen Großzügigkeit überwunden. Anderenfalls würden
wir uns dann erneut in einer begrenzten und unvollkommenen
Welt befinden. Unsere Freiheit wäre dann noch genauso
mangelhaft und immer noch dem Bösen unterworfen. Aber die
Auferstehung Jesu ist einzig und endgültig. Unsere Befreiung
vom Bösen ebenfalls. Die in Fülle verwirklichte Großzügigkeit
Gottes genauso.
DER MODERATOR
Falls wir heute Mittag nicht auf das Essen verzichten wollen,
müssten wir jetzt zu einem Ende kommen. Ich denke nicht, dass
die kräftigen intellektuellen und geistigen Speisen dieses
Morgens uns die anderen ersetzen... Ganz im Gegenteil,
zweifellos...
Würden Sie also, um zu schließen, das Wesentliche nochmals
kurz in Erinnerung rufen... in zwei Minuten...
DER ANDERE PHILOSOPH
In zwei Minuten? Na gut. Ich könnte es in zwei Redeweisen
tun... Die eine ist reflexiv, die andere glaubenschaftlich. In der
ersten spreche ich „von Gott“. In der zweiten „zu Gott“. Gut!
Ich werde Philosoph bleiben und „von Gott“ sprechen. Ich
werde es einem jeden überlassen, „zu Gott“ zu sprechen, anhand
von dem, was er von ihm verstanden haben wird. Die
hervorragendste glaubenschaftliche Sprache ist das Gebet.
Indem er den Menschen als bewusstseinsbegabtes Seiendes
erschuf, und als in seinem Sein bewusst, dass sein Sein ihm
mitgeteilt ist, macht Gott ihn auch fähig, sich seiner
persönlichen göttlichen Initiative auf ihn hin bewusst zu werden,
und fähig, sein Bewusstsein von dieser Beziehung
glaubenschaftlich auszudrücken. Der Mensch entdeckt sich „im
Bund“ mit Gott.
Indem Gott also in dieser Weise durch seinen Schöpfungsakt
mit dem Menschen, den er geschaffen hat, einen „Bund“
eingegangen ist, hat er sich ihm gegenüber Selbst verpflichtet,
die in seiner Schöpfung begonnene Seinsmitteilung zur
Vollendung zu führen. Es ist also eine Verpflichtung zur
vollkommenen Seinsmitteilung, eine Verpflichtung zur
„Vergöttlichung“ des Menschen, der ganzen Menschheit. Zu
einer „Vergöttlichung“, die gemäß der trinitarischen Struktur
seiner interpersonalen Mitteilungsbeziehungen stattfindet, also
360
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
durch den Vater und das inkarnierte Wort und in der
Herrlichkeit im Geist.
Wie nun die Seinsmitteilung die Grundlage der Ethik und
ihrer Forderung nach Liebe ist, so stellt die vollkommene
Seinsmitteilung seitens Gottes den Menschen in eine
allumfassende ethische Vollkommenheit, jenseits der
Unvollkommenheiten dieser Welt und all des zu erleidenden
Bösen und selbst der Möglichkeit, selbst noch Böses tun zu
können.
Die Verwirklichung der theologischen Glaubenschaftlichkeit
in ihrer jüdischen und in ihrer christlichen Form, können beim
Zeugnis für die Gesamtheit des Werkes Gottes für den
Menschen nicht ohne einander sein. Die eine kann die andere
nicht ersetzen, noch sich an ihre Stelle setzen, noch sie in sich
aufnehmen, noch sie ausschließen. Judentum und Christentum
befinden sich auch gewissermaßen „in einem Bund“
miteinander. In der Geschichte ist der jüdische Glaube für die
evangelische Offenbarung „offen“, aber er führt nicht durch
innere menschliche Notwendigkeit dort hin. Das menschliche
messianische Verlangen wirkt auf Gott nicht „zwingend“.
Aber „ex parte Dei“ ist die Vergöttlichung notwendig
vorausgesetzt, und daher ist auch ihre Offenbarung in der
Schöpfung seit ihrem Beginn in Gottes „Plan“ als solchem
enthalten. Aber im jüdischen menschlichen glaubenschaftlichen
Bewusstsein von der Schöpfung gibt es keine notwendige
Implikation der evangelischen Offenbarung. Wenn es irgendeine
innere Notwendigkeit gäbe, vom einen zum anderen
überzugehen, dann gäbe es keine besondere „transzendente
Offenbarung“ Gottes in Jesus. Wir würden uns dann ganz
einfach in der Ordnung einer schöpfungsimmanenten
Offenbarung befinden. Aber die Wirklichkeit des menschlichen
Glaubens in seiner jüdischen Ausformung ist sehr wohl die
„apriorische geschichtliche Bedingung“ dieser Offenbarung.
„Als die Zeiten vollendet waren...“, lesen wir.
Während aber das Judentum in der Geschichte keineswegs
des Christentums bedarf, um zu sein, was es ist; bedarf das
Christentum des Judentums als Bedingung der Verständlichkeit
der Offenbarung Gottes in Jesus, aufgrund der Tatsache, dass
die offenbarende Inkarnation die Schöpfung nicht nur als „erste
Gegebenheit in der Wirklichkeit“ voraussetzt, sondern insofern
und wie sie von den Hebräern und Juden glaubenschaftlich
verstanden wird. Das jüdische, thoragemäße Leben ist die
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 361
geschichtliche Bedingung der Möglichkeit der Existenz der
transzendenten Offenbarung Gottes in Jesus.
Der göttliche Schöpfungsakt, in dem Gott sich universal
offenbart, impliziert die durch Gott zu geschehende universale
Vergöttlichung der ganzen Menschheit, und deren
geschichtliche Offenbarung in einem Mann, eine Offenbarung,
die daher notwendigerweise in der Zeit begrenzt ist, aber
uneingeschränkt Erkenntnis gibt. Der Christ anerkennt, dass
dieser Mann Jesus war, und schenkt ihm seinen Glauben, weil
diese „universale Vergöttlichung“ in ihm bereits persönlich
sichtbar geworden ist.
Auf dieser Grundlage ist es möglich, die Beziehungen des
„Bundes“ zwischen Judentum und Christentum so aufzufassen,
dass sie, in ihrer notwendigen Unterscheidung voneinander, die
Einheit des Werkes Gottes bezeugen, und zwar in seinen beiden
Bestandteilen, der Schöpfung und der Vergöttlichung.
DIE ANWÄLTIN ergreift energisch das Wort...
Sie sagen dauernd, dass eine transzendente Offenbarung in
einem „Mann“ gebraucht wird. Und warum nicht in einer
„Frau“? ...
DER MODERATOR
Drei Minuten... Sie sind fast im zeitlichen Rahmen
geblieben... Aber hier haben wir nun eine unerwartete Frage...
DIE ANWÄLTIN
Für Sie unerwartet,... entschuldigen Sie,... aber ich versuche
schon länger, sie anzubringen... Gewähren Sie uns beiden bitte
noch drei Minuten...
Indem sie sich an den anderen Philosophen wendet...
Wenn in ihrem Vergleich zwischen Familie und Trinität die
Frau das Bild des ewigen Wortes ist, hätte das Wort sich dann
nicht eher in einer Frau, und nicht in einem Mann, inkarnieren
sollen?
DER DOMHERR
Ah! Eine irreführende Frage...
DER ANDERE PHILOSOPH
362
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Keineswegs
irreführend,...
wenn
man
die
Wirklichkeitsebenen, auf denen die trinitarische Analogie
angewendet wird, mit einbezieht... Ihre Frage, meine Dame, ist
sehr berechtigt.
In der Schöpfungsordnung ist der Mann, Gatte und Vater, das
Vergleichsstück zu Gott, dem Ersten, dem Vater. Die Frau,
Gattin und Mutter, ist das Vergleichsstück zu Gott, dem
Zweiten, dem Wort. Und das (männliche oder weibliche)
menschliche Wesen, das die Stellung der Kindschaft innehat, ist
das Abbild des Heiligen Geistes, des Dritten Gottes.
In der Ordnung der transzendenten Offenbarung an die
Menschheit befindet sich die ganze Trinität in der ersten oder
väterlichen Stellung, und die glaubenschaftlich glaubende
Menschheit in der zweiten oder mütterlichen Stellung. In Israel
erlangt sie eine in den Augen Gottes hinreichende Reife in
dieser Glaubenschaftlichkeit, und in Israel ganz besonders das
Ehepaar Joseph und Maria. Und in diesem Ehepaar, natürlich
Maria. Jesus, die Menschheit des Wortes, hat darin die Stellung
des Dritten ausgelebt, aus dem Geist geboren und Sohn des
Ehepaars.
DIE ANWÄLTIN
Richtig! Und warum ist das Wort als Junge inkarniert und
nicht als Mädchen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Auch zu Recht! Weil Jesus in seiner männlichen Menschheit
derjenige ist, der in seiner Person den handelnden dreieinigen
Gott offenbart. Er bringt die „väterliche“ Rolle zum Ausdruck,
in erster Initiative, in dieser Geschichte, insofern er der
Offenbarer ist, der sich an die Menschheit richtet.
Die Menschheit ihrerseits befindet sich einerseits in der
„mütterlichen“ Stellung in erfüllter Alterität, und zwar im
biblischen Israel und bei den Eltern Jesu. Andererseits befindet
sie sich auch in der „kindlichen“ Stellung, um in der Kirche den
biblischen Glauben an die Schöpfung und die evangelische
Offenbarung unserer von aller Unvollkommenheit befreienden
Vergöttlichung in Fülle zu empfangen.
Aber Jesus behält im Werk des dreieinigen Gottes für die
Menschheit, dass er als Mann offenbart, indem er es als
inkarniertes Wort zur Vollendung führt, in Einigkeit mit dem
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 363
Vater seine „mütterliche“ Stellung als
Rechtfertiger des Menschen im Geist bei.
vergöttlichender
DER SOZIOLOGE
Außerdem wäre es für Gott eine schlechte Entscheidung
gewesen, sich in einem Mädchen zu inkarnieren, da es Frauen in
Israel damals nicht erlaubt war, öffentlich die heiligen Texte zu
kommentieren.
DER ANDERE PHILOSOPH
Verzeihen Sie, lieber Kollege, aber ich denke nicht, dass Gott
sich menschlichen Gepflogenheiten anpassen würde, die
zumindest sehr fragwürdig sind,... und sicherlich jeglicher
ontologischer
Grundlage
entbehren...
Christus
hat
gesellschaftliche Gegebenheiten, die zum Ideal der Schöpfung
im Widerspruch stehen, wie etwa jene der „gesellschaftlichen
Unterordnung der Frau“, zunächst nicht in sein
Offenbarungswerk integriert, auch wenn er ihnen in seinem
Leben begegnet ist.
DER MODERATOR
Gut! So verbleiben wir... Ich schließe die Diskussion.
Ich wünsche allen einen guten Appetit, und wir sehen uns
morgen wieder. Nutzen Sie den freien Nachmittag richtig aus!
--------------1)…„Alsbald aber fiel mir auf, dass, während ich auf diese
Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich,
der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, dass diese
Wahrheit „ich denke, also bin ich“ so fest und sicher ist, dass die
ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu
erschüttern vermöchten, so entschied ich, dass ich sie ohne
Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte,
ansetzen könne.“
Übers. Lüder Gäbe. Hamburg: Meiner Verlag 1990.
SIEBTE BEGEGNUNG
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
DER MODERATOR
Die heutige Zusammenkunft soll dem Austausch über unsere
gestrigen Unterhaltungen gewidmet sein. So werden wir gewisse
Einzelheiten klarer erläutern, oder bereits angesprochene
Themen unter einem anderen Gesichtspunkt wieder aufnehmen.
Damit übergebe ich Ihnen das Wort.
IN WELCHEM SINN IST GOTT DER URHEBER DER IN DER BIBEL
DARGESTELLTEN GESCHICHTE?
DIE HISTORIKERIN
Ich möchte zwei Fragen stellen. Ein Theologe hat von Gott als
dem „Urheber der Geschichte“ gesprochen... Und beiläufig
haben Sie, als Philosoph... ganz philosophisch..., den Historikern
einige Ratschläge gegeben...
Die erste Frage: Ich persönlich bin in historischen
Dokumenten noch nie auf Spuren Gottes gestoßen. Meinen Sie
die göttliche Vorsehung, die den Verlauf der Geschichte
hintenherum gestalten würde?
Zweite Frage: Sie haben den jüdischen Glauben analysiert.
Waren sich die Hebräer und Juden bewusst, in der Weise an
Gott zu glauben, wie Sie es darstellen? Welche geschichtlichen
Fakten haben wir, um diesen Punkt zu belegen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Aus der Art und Weise, wie Sie Ihre erste Frage stellen,
scheint mir hervorzugehen, dass Sie die Vorstellung von einem
„eingreifenden“ Gott ablehnen. In diesem Punkt gehe ich mit
366
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Ihnen eins. Gott greift in keiner Weise in den Verlauf unserer
Geschichte ein, um ihre natürlichen und menschlichen Ursachen
zu verändern. Aus dem einfachen Grund, dass er nicht « in der
Geschichte » existiert, ist er kein geschichtlicher Handelnder.
Gott steht « außerhalb » der Geschichte, eben deshalb, weil er
der Schöpfer des Menschen ist, der ein geschichtliches Seiendes
ist. Weil der Mensch, oder besser gesagt, die Menschen, in der
Zeit existieren, sind sie in ihr für ihre Geschichte verantwortlich,
auf Gedeih und Verderb. Obwohl Gott nicht auf die Art eines
außergewöhnlichen oder übermenschlichen Menschen in die
Geschichte eingreift und in ihr große Taten vollbringt, so steht
er doch nicht « außerhalb » der Geschichte, wie etwa ein
Mensch, der aus vollkommener Untätigkeit in ihr keinerlei Rolle
spielt und die Ereignisse so geschehen lässt, als ob es ihn nicht
gäbe. Daher gibt es in der Geschichte keinerlei objektive Spuren
Gottes. Sie haben vollkommen recht. Aber da Gott der
transzendente Schöpfer des Menschen als geschichtlichem
Seienden ist, können Sie außerdem sagen, dass Gott in der
Geschichte „überall handelt“, und aus diesem Grund nicht hier
mehr handelt als dort. Gott ist der Urheber der gesamten
Geschichte, weil er der Schöpfer des Menschen ist, der
wiederum der Urheber der Vorgänge ist, die sich in ihr ereignen.
Wenn Gott also in der Geschichte « aktiv » ist, dann als
Schöpfer und in der Weise seiner schöpferischen Kraft. Und
selbst unter der Hypothese, dass Gott in die menschliche
Geschichte « eingreifen » müsste, würde dieses Eingreifen
immer noch in einer Art und Weise geschehen, die seiner
Schöpferkraft entspricht, und in vollkommenem Einklang mit
ihm selbst.
DER PHYSIKPROFESSOR
Sie glauben also nicht an „Wunder“, die nichts anderes sind
als Gott zugeschriebene Ereignisse?
DER ANDERE PHILOSOPH
Vom Gesichtspunkt der experimentellen Wissenschaft
gesehen gibt es keinerlei Grund, von Wundern zu sprechen,
weder in der Natur, noch im Menschen. Alles, was geschieht,
geschieht anhand von Gesetzen. Das heißt nicht, dass es keine
„überraschenden“ Tatsachen gibt, deren Gesetzmäßigkeiten wir
nicht kennen. Die universale Existenz von Gesetzen ist nichts
anders als der methodologische Grundsatz des Determinismus.
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
367
Aber das heißt nicht, dass es ein Gesetz gibt, welches festlegt,
dass dies sich so ereignen muss, wie es sich gewöhnlich
ereignet.
Als Schöpfer gewährleistet Gott irgendwie, dass sich alles
gemäß der Natur der Dinge ereignet, der wichtigen und
unwichtigen, in Bezug auf sich selbst und in ihrer Beziehung zur
Gesamtheit des Universums. Gott handelt nicht so in der
Geschichte, dass er die Natur der Dinge dabei verändern würde,
weder in ihnen selbst, noch in der Komplexität ihrer
Beziehungen. Nochmals: Gott greift nicht ein, indem er
„Wunder wirkt“, also wie ein Mensch, ein außergewöhnlicher
Übermensch, der über besondere Fähigkeiten verfügt...
Aber es gibt Menschen, die an Gott glauben und die ihrer
Glaubensweise folgend bestimmte einzelne, ungewöhnliche
Ereignisse, die sich vom gewöhnlichen Lauf der Dinge abheben,
als von Gott gewirkte Wunder verstehen. An Wunder zu
glauben ist also gewissermaßen eine Art, an Gott zu glauben und
zu verstehen, dass Gott in der Geschichte mit uns ist. Und dass
Gott in der Geschichte mit uns ist, stimmt, denn er ist unser
transzendenter Schöpfer. Und das ist es, was am „bewundernswertesten“ und wirklich „wunder-bar“ ist. Sich Gott
als jemanden vorzustellen, der gelegentlich den natürlichen
Gang der Dinge belässt, und gelegentlich eingreift und ihn
verändert, ist eine Vorstellung, die von einer bestimmten
menschlichen Glaubenspsychologie abhängt, für die man eine
besondere hermeneutische Methode braucht. Aber ich denke,
dazu benötigen wir ein besseres und vor allem erweitertes
Verständnis der Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins in ihrer
Wechselwirkung mit unserer Intentionalität, also mit unserer
Art, in der Welt zu sein.
DER DOMHERR
Aber gibt es nun Wunder oder nicht?
DER ANDERE PHILOSOPH
Das hängt von der Bewusstseinshaltung ab, die der Mensch
einnimmt. Der von Ihnen eingenommenen religiösen
Bewusstseinshaltung zufolge gibt es Wunder, während es für
den Mathematiker oder Physiker keine gibt. Aber für den
Philosophen ist nicht das die eigentliche Frage, da es nicht
darum geht, anzunehmen, dass es eine Art „übernatürliche
Physik und Chemie“ gibt, die von Gott vorbereitet und für
368
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
bestimmte Situationen bereitgehalten wird. Die sachgemäß
gestellte Frage lautet, ob diejenigen, die an Wunder glauben, mit
sich selbst wahrhaftig im Einklang stehen. In welchem Maß tun
sie das?
Sie stehen mit sich selbst im Einklang, insofern sie ihren
Glauben an Gott ausdrücken, und dadurch zugeben, dass Gott in
der Geschichte wohlwollend an ihnen handelt. In diesem Fall
könnten sie in ihrem Glauben Forstschritte erzielen, indem sie
Gott nicht nur für das, was für sie eine außergewöhnliche
Wohltat war, be-wundern, sondern für alle Augenblicke ihres
Lebens und jenes der anderen Menschen; für alle Augenblicke,
die alle genauso wunderbare Geschenke Gottes sind.
Vor einem festlich gedeckten Tisch können Kinder sagen:
„Mutti hat uns einen guten Kuchen gebacken, heute hat sie uns
lieb!“ oder auch: „Mutti hat uns heute einen guten Kuchen
gebacken, sie hat uns sehr lieb!“ Wählen Sie! Sie haben die
schönere Antwort der Kinder sicherlich schon ausgemacht,
obwohl Sie bedachten, dass dieser Kuchen nach demselben
Rezept gebacken wurde, das auch von anderen Feinbäckern
benutzt wird!
Aber diejenigen, die aus der Geschichte Wunder Gottes
herauslesen, hören dann auf, sich wahrheitsgetreu zu sich selbst
und zu Gott zu verhalten, wenn sie in einer Art und Weise von
Wundern sprechen, dass man sich fragt, warum Gott nicht
zugunsten von Anderen ebenso handelt, vor allem dann, wenn
diese sich im Elend und in extremen Notlagen befinden. Spricht
Gott und zeigt er seine Güte nur an heiligen Orten, und bleibt in
Konzentrationslagern, wenn Kinder gefoltert werden,
schweigsam und gefühllos? Zu glauben, Gott handle hier oder
dort mit mehr Güte als anderswo, kommt dem gleich, zu
behaupten, er spreche nicht und handle anderswo nicht mit
derselben Güte. Ein derartiges Wunderverständnis führt zu einer
berechtigten, weil logischen, Anklage gegen Gott. Gott wäre
ganz einfach ungerecht und parteiergreifend. Wäre er dann noch
Gott? Diejenigen, die in dieser Weise glauben, verhalten sich
also unwahrheitsgetreu zu sich selbst und zu Gott.
Einen authentischen Glauben an Gott und seine allumfassende
Liebe kann man nicht auf außergewöhnliche kontingente
Ereignisse begründen, genauso wenig, wie man eine Liebe, mit
der man ununterbrochen geliebt wird, gültig erkennen kann,
wenn man ausschließlich für ihre außergewöhnlichen, für uns
überraschenden Zeichen empfänglich ist, und für die anderen
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
369
nicht. Und außerdem: Wie könnte man diese Liebe als
allumfassend erkennen, wenn man sie nur aufgrund von
Wohltaten bekennt, die im Einzelfall für uns bestimmt sind?
Unmöglichkeit oder Widerspruch. Wie könnten die Kinder an
die alle einschließende Liebe ihrer Eltern glauben, wenn diese
ihre Zuneigung ungleich verteilen und die einen bevorzugen, die
anderen übergehen?
Wenn wir die Verkündigung unseres Glaubens an Gott auf
„Wunder“ oder wunderbare Ereignisse begründen, kann das,
anstatt dem Glauben an Gott zu einem besseren Ansehen zu
verhelfen, Anstoß erregen und ihn in Verruf bringen. Die
ungleiche Verteilung des Glücks und Unglücks im irdischen
Dasein darf in ihrer Singularität und Individualität nicht so mit
Gott in Beziehung gebracht werden, als ob es sich um seinen auf
den jeweiligen Fall bezogenen, ausdrücklichen und endgültigen
Willen handeln würde.
DER DOMHERR
Aber wenn es um Ereignisse geht, die alle Menschen angehen,
wie etwa der Bund Gottes mit Abraham, Gottes Erscheinung vor
Moses, seine Inkarnation in Jesus?
DER ANDERE PHILOSOPH
Sie könnten sogar sagen, dass sich diese Ereignisse jedes Jahr
wiederholen... An Pessach, Ostern, zieht das hebräische Volk
von damals, das jüdische Volk von heute, aus Ägypten aus und
empfängt an Schawuot, an Pfingsten, die Tafeln des Gesetzes;
und jedes Jahr an Weihnachten kommt Jesus wieder zur Welt...
Die liturgische Sprache bringt auf symbolische, aber sehr
verdichtete Weise eine Wahrheit zum Ausdruck, die uns alle im
Tiefsten angeht, und die wir zu verstehen suchen. Aber wir
können nicht einfach so behaupten, dass ein Ereignis als
Ereignis durch den ganzen Lauf der Zeit hindurch andauert,
Vergangenheit und Zukunft eingeschlossen.
Dagegen geht das, was von Menschen in diesen Ereignissen
in besonderer Weise gelebt worden ist, alle an. Das ist richtig.
Aber in welchem Sinn? In dem Sinn, dass darin ein wesentlicher
und universaler menschlicher Wert in einer geschichtlich
gelungenen Weise Gestalt angenommen hat, die Erinnerung
verdient... Und auch dann, wenn sich die Einzigkeit einer
Beziehung (die einzige Offenbarungs- und Seinsmitteilungsbeziehung) Gottes und einer einzigen, ganzen Menschheit
370
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
gemäß einer einzigen Möglichkeit in einer einzigen
menschlichen Person verwirklicht. Ich bin der Ansicht, dass sich
diese von mir bereits erwähnte, für Gott bestehende
Notwendigkeit, sich in Fülle persönlich mitzuteilen, in Jesus
erfüllt hat. Aber das ist eine ganz andere Frage als jene nach
dem ereignishaften Eingreifen Gottes in die Geschichte!...
Darüber haben wir gestern nachgedacht.
Um vollständig auf Ihre erste Frage zu antworten, meine
Dame, würde ich sagen, dass Gott nicht eine Vorsehung ist, die
so über den Verlauf der Geschichte wacht, wie ein Dirigent, der
eine Symphonie oder eine Oper dirigiert. Vielmehr handelt er in
der Geschichte, indem er jedes Ding erschafft und ihm
ermöglicht, nach seiner jeweiligen Natur zu handeln. Das trifft
auch auf den Menschen zu, und auf seine Taten, die die
Geschichte bilden. Gott handelt zum Beispiel für die
Gerechtigkeit, indem er ein Gerechtigkeitsideal, das sein eigenes
Abbild ist, in den Menschen, den er ununterbrochen erschafft,
hineingelegt hat,... oder vielmehr hineinlegt; nicht aber dadurch,
dass er die Güter und Übel dieser Welt verteilt. Die Menschen
können sich, wie die Hebräer am Sinai, dieses Gesetzes
bewusstwerden und in Gott seinen Urheber sehen.
Aber dieses von Gott ins Herz des Menschen gelegte ethische
Ideal kann vom Menschen verraten werden, so dass er für seinen
Bruder zur Bestie wird. Aber dennoch schweigt Gott nicht. Das
drückende Gewicht der menschlichen Bosheit darf nicht als ein
drückendes Gewicht des Schweigens Gottes empfunden werden.
In unserer Welt besteht das Wort Gottes, das Handeln Gottes, im
Wort des Menschen, im Handeln des Menschen in seiner
Wirklichkeit an sich, wenn der Mensch in Übereinstimmung mit
seinem geschaffenen Sein und dessen Erfordernissen handelt.
Wo eine Bosheit des Menschen vorliegt, kann man sicherlich
nicht sagen, dass Gott „spricht“. Er spricht nicht darin. Der
gedemütigte und gefolterte Mensch, der Opfer des Bösen ist,
wird niemals hören, wie Gott „unmittelbar“ zu ihm spricht und
etwas für seine Befreiung tut. Gott wartet, Gott will für ihn
dadurch sprechen, dass Menschen gemäß der Echtheit des
Herzens und der Gesinnung, in der Gott sie erschaffen hat, dem
Opfer gegenüber handeln und zu ihm sprechen. Gott wartet
sogar auf eine noch tiefere Weise auf „die Stunde“ seines
Sprechens und Handelns. Es ist der Augenblick, in dem Bosheit
und sogar Güte für einen Menschen keinerlei Wirkung mehr
haben, nämlich wenn er in den Tod eintritt, wo alle
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
371
menschlichen Wirklichkeiten, insofern sie Worte Gottes sind,
der alleinigen göttlichen Tätigkeit weichen, wo der Mensch also,
anders gesagt, dermaßen unter dem alleinigen Einfluss dieser
göttlichen Tätigkeit steht, dass er an diesem Wort Gottes, das er
nun vollkommen geworden ist, keinen Verrat mehr üben kann,
weil er dann von allem Bösen befreit ist.
Eine bestimmte Art und Weise, aufgrund der von den
Religionen in Erinnerung gehaltenen Wunder an Gott zu
glauben, steht in logisch kontradiktorischem Gegensatz zur
Allgemeinheit und Unendlichkeit seiner Güte. Ich sage
„logisch“, da ich sehr wohl überzeugt bin, dass sie in
Wirklichkeit eine implizite Anerkennung letzterer ist, wenn
auch auf ungeschickte Weise: „Wenn Gott schon dieses Wunder
für mich, für unser Volk, für unsere Kirche oder Gemeinschaft
vollbringt..., was wird er dann nicht noch weiterhin tun und für
die ganze Welt!“ Diese Argumentationsweise setzt die
unendliche Güte Gottes a priori voraus, ungefähr als Obersatz
eines Vertrauenssyllogismus, und wendet diesen Obersatz auf
einen bestimmten Fall an, der gerade Be-Wunderung hervorruft,
um darin als Schlussfolgerung ein Handeln Gottes zu erkennen.
Aber der Mensch, der diesen apriorischen Obersatz eines
Vertrauenssyllogismus nicht anerkennt, sieht darin zu Recht ein
irreführendes Postulat, einen Trugschluss. Zudem macht die
Situation des Elends, die die seine ist, daraus einen „Aufstand“.
Gegen Gott? Nein. Gegen eine menschliche Argumentationsweise, die methodologisch falsch von Gott spricht. Die
unechten Formen des Glaubens an Gott fördern den Zweifel,
den Aufstand oder den Atheismus.
Der „Vertrauenssophismus“ lässt sich seiner Methode nach
mit der „Schlussfolgerung der Fatalisten“, von der Leibniz
sprach, vergleichen. In beiden Fällen haben wir es mit einer
„objektivistischen“ und nicht „reflexiven“ Deutung des
Handelns Gottes an der Welt zu tun. Der Glaube an Gott
entartet, wenn er sich mit den Begriffen eines objektiven
empirischen Bewusstseins zum Ausdruck bringt. Und er strebt
seine Unverfälschtheit an, wenn er versucht, sich als
wesentlicher Grundvollzug des Bewusstseins zu verstehen. In
der Geschichte ist aber diese „objektivistische Entartung“ des
Glaubens gewissermaßen eine notwendige Übergangsform der
Glaubenschaftlichkeit, die sich selbst zu entdecken sucht. Genau
wie die Philosophie, so hat sich auch die Glaubenschaftlichkeit
zunächst in Denkschemen und Gedankengängen zum Ausdruck
372
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
gebracht, die dem objektiven Wissen um die Dinge und ihrem
objektiven Gebrauch angemessen sind.
Was nun Ihre zweite Frage anbelangt, meine Dame: Darf ich
Sie bitten, sie nochmals zu formulieren?
DIE HISTORIKERIN
Waren sich die Hebräer und später die Juden der
Beschaffenheit ihres Glaubens an Gott, so, wie Sie ihn
darstellen, bewusst? Gibt es historische Zeugnisse, die Ihre
These untermauern?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich denke nicht, dass sich Texte finden lassen, die dieselben
Begriffe gebrauchen wie ich. Ich kann meine Thesen auch nicht
durch wörtliche Zitate der jüdischen Bibel verteidigen. Ich habe
übrigens noch nie versucht, dies zu tun, da ich nicht die Arbeit
eines Historikers erledige, und auch nicht jene des christlichen
Exegeten oder des rabbinischen Kommentators. Ganz im
Gegenteil stütze ich mich auf ihre Arbeiten, um den jüdischen
Glauben „in seiner Ausübung“ zu beobachten, wenn ich das so
sagen kann, und um daraufhin sein „Wesen“ zu denken, um
seine Wirklichkeit und Ursprünglichkeit in der tiefsten Tiefe der
universalen menschlichen Wirklichkeit zu verstehen.
Erlauben Sie mir einen Vergleich. Die Ilias ist kein
Logiktraktat. Das heißt aber nicht, dass Homer nicht
argumentiert. Es ist daher möglich, seine Denkweise zu
untersuchen, ohne ein einziges Zitat zu finden, das die
angestellte Untersuchung explizit bestätigt. Indem man die Ilias
in solcher Weise untersucht, dringt man sehr wohl auch ins
Innerste des menschlichen Denkens vor.
DER PSYCHOANALYTIKER
Wissen Sie, was Sie tun, wenn Sie so vom Judentum reden?
Ich sage es ihnen: Sie betreiben eine Art Psychoanalyse. Freud
suchte nach dem verborgenen Sinn dessen, was den expliziten
Inhalt der Träume ausmachte. Sie suchen die verborgenen
Spannkräfte der menschlichen Seele, die sich in den expliziten
Formulierungen der biblischen Glaubensüberzeugungen zu
verwirklichen suchen.
DIE GYNÄKOLOGIN
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
373
Ich als Jüdin fühle mich angesichts dieser „Psychoanalyse“
bloßgestellt und nehme sie also mit gemischten Gefühlen auf,
etwas betreten, aber auch mit Stolz, da die jüdische Seele trotz
allem „schön“ ist. Und wegen dem, was „schön“ ist, soll man
nicht rot werden.
DER PSYCHOANALYTIKER
Ich stimme Ihnen zu, meine Dame, und sogar in doppelter
Hinsicht. Zunächst, weil Sie sich positiv in unseren
Meinungsaustausch einbringen, und dann auch, weil Sie mir
Anlass geben, eine im Volk weitverbreitete Vorstellung von
Psychoanalyse ein wenig zu berichtigen. Nur allzu oft setzt man
Psychoanalyse nämlich mit einer „psychoanalytischen Therapie“
gleich. Der Arzt ist per definitionem derjenige, der die Kranken
heilt. Krankheiten sind nie schön oder gut. Was schön und gut
ist, ist die Gesundheit. Das gilt auch für die Psychoanalyse. Aber
das, was schön und gut ist, ist das psychische Leben.
Nun sollte man dieses psychische Leben aber nicht auf das
Gefühls- und Liebesleben zurückführen, und dieses wiederum
auf die rein biologische Sexualität reduzieren. Die Sexualität in
die Gesamtheit des Gefühlslebens einzuordnen, und dieses
wiederum in die Gesamtheit des geistigen Lebens: Das ist
Schönheit. Daher ist der Versuch, aus der Gesamtheit des
geistigen Lebens heraus zu verstehen, was Glaube ist, sehr
interessant. Meiner Meinung nach enthält das Unbewusste
weitaus mehr Edles, als man gewöhnlich darin sieht. Der auf
Psychoanalyse spezialisierte Arzt ist zwar verpflichtet, die
Krankheiten dieses Unbewussten zu diagnostizieren, um sie zu
heilen. Aber das, worauf seine Therapie dann ausgerichtet ist, ist
die Gesundheit dieses Unbewussten und also ein gewisser
Großmut der Seele...
Die Gruppe verharrt einen Augenblick lang in Schweigen...
DER MODERATOR
Wer möchte nun das Wort ergreifen? Im Anschluss an unsere
gestrigen Unterhaltungen möge ein jeder seine Fragen aufs
Tapet bringen... Zwei melden sich... Gut! Dann los...
GIBT MAN DEM « HANDELN DES GLAUBENS »
DADURCH EINE GRUNDLAGE, DASS MAN BEHAUPTET,
SEIN BESTEHE DARIN, „DAS SEIN ZU GEBEN“?
374
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER ERSTE PHILOSOPH
Mit Ihrem Begriff vom Sein als Seinsmitteilung oder
Vermögen, ins Sein zu rufen, scheinen Sie mir Behauptungen
der Phänomenologie wieder aufzunehmen. Heidegger behauptet
nämlich, dass Sein Mitsein ist. Und auch Gabriel Marcel. Und
der gute alte Aristoteles war bereits der Ansicht, dass der
Mensch, wenn er allein wäre, entweder ein Scheusal oder Gott
wäre. Wie soll man also die dem „existierenden Seienden“ (ens)
eigene Qualität des „Mitseins“ verstehen, und das dem „esse“
eigene „coesse“?
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Wo bringen Sie in ihrem Seinsbegriff, mag er nun neu sein
oder nur erneuert, den Glauben unter? Gestern hatte ich den
Eindruck, dass wir den Glauben überall sahen. Was ist der
genaue „ontologische Ort“ des Glaubens, wenn ich das so sagen
kann? Oder, anders gesagt: In welche Bereiche des Seins streckt
der Glaube seine Wurzeln aus? Laut der Überlieferung der drei
monotheistischen Religionen ist Abraham der erste Glaubende
und Vater aller Glaubenden. Woher ist ihm der Glaube
zugekommen? Gab es vor Abraham keine Glaubenden?
DIE ANWÄLTIN
Auch ich würde gerne etwas sagen... Von Berufs wegen
begegne ich natürlich Glaubenden, aber auch vielen
Nichtglaubenden, oder Personen, die der Religion gegenüber
gleichgültig sind. Viele Kollegen und Richter haben vom Recht
außerdem eine rein positivistische Auffassung, in dem Sinn,
dass sie jegliche Bezugnahme auf ein göttliches, in die Herzen
eingeschriebenes Gesetz, wie Antigone es nannte, ausschließen,
oder auch ein Gesetz, das der unmittelbare Ausdruck des Wortes
Gottes wäre, wie jenes der Bibel. Oder? Kann das Anerkennen
der glaubenschaftlichen Dimension des Bewusstseins auf unsere
Vorstellung von Moral und Recht einen Einfluss haben? Meine
Frage geht vielleicht über den religiösen oder philosophischen
Rahmen des Glaubens hinaus. Ich weiß es nicht. Ich überlasse es
Ihnen, dafür zu sorgen, dass wir im Rahmen unseres Seminars
verbleiben.
DER MODERATOR
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
375
Hier haben wir es mit Fragen zu tun, die an den Vertreter der
interpersonalen Philosophie gerichtet sind! Es ist an Ihnen, Herr
Debruquel, zu antworten...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich werde mein Bestes geben, um auf diese drei Fragen zu
antworten. Nehmen wir die erste. Gestern habe ich sie
angeschnitten... vielleicht etwas oberflächlich... Ich muss sie
also „fachlicher“ beantworten... mit etwas Latein,... da man mir
die Frage auf Latein stellt...
Zunächst skizziere ich den klassischen Standpunkt. Bitte
ermahnen Sie mich, wenn ich zu weit abschweife... Mit
Heidegger haben Sie die moderne Phänomenologie erwähnt,
aber Sie haben seine Idee, dass wir nicht alleine, sondern mit
Anderen auf der Welt sind, auch mit Aristoteles in Verbindung
gebracht. Das ist scharfsinnig. Die phänomenologische
Feststellung, dass „jedes menschliche Bewusstsein immer
gleichzeitig Bewusstsein seiner selbst und anderer Dinge ist“,
scheint mir der so weit wie möglich gefasste, unumgängliche
Ausgangspunkt jeglicher philosophischen Überlegung zu sein.
Gestern suchten wir dieser Anforderung ebenfalls zu
entsprechen.
Aber das ist erst der Ausgangspunkt. Eine zweifache Frage
drängt sich dazu auf. Sind diese Beziehung des Bewusstseins zu
etwas Anderem, von ihm verschiedenen, und seine klare und
aktive Selbstgegenwart zwei Eigenschaften, die jeweils mit
demselben Recht zur Bildung des Seins des Bewusstseins
gehören? Oder gibt es einen Vorrang und/oder eine größere
Würde des einen im Vergleich zum anderen? Es geht tatsächlich
nicht nur darum, festzustellen, dass die Gegenwart des
Bewusstseins zu sich selbst, also seine Reflexivität, immer an
seine Intentionalität zu anderen Dingen hin gebunden ist und
umgekehrt, sondern auch darum, die Beschaffenheit dieser
Verbindung in der ungeteilten Einheit des Bewusstseins
wahrzunehmen. Denn das Bewusstsein seiner selbst ist in der
Tat das Bewusstsein, selbst als Bewusstsein von etwas
Anderem, von einem selbst Verschiedenem, zu sein.
Mir scheint, dass die traditionellen Richtungen der
klassischen Philosophie dem Bewusstsein, insofern es „sich
selbst gegenwärtig ist“, in jeweils unterschiedlicher Weise den
Vorrang geben. Darin würde seine „substantielle“ Seite
bestehen, das Zeichen seines Verbleibens in der Existenz und
376
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
seiner Transzendenz gegenüber dem Verlauf der Zeit, also kurz
gesagt, sein in Akt befindliches Sein selbst und seine Einheit mit
sich selbst.
Dagegen setzt die Tatsache, dass es Bewusstsein-vonanderen-Dingen ist, in ihren Augen nicht dieselbe
Wirklichkeitsart, nicht nur deshalb, weil die „intentionale“
Einheit in sich selbst eine Unterscheidung enthält, sondern weil
sie eben aufgrund dieser unauslöschlichen Unterscheidung
weniger vollkommen ist als die strikte Identitätseinheit des
Bewusstseins mit sich selbst, die ohne Unterscheidung ist. Die
Intentionalität des Bewusstseins würde sich also im Bereich der
„Akzidentien“ der Substanz entwickeln, die wie ihre
Vervollständigungen sind, und zweifellos notwendig sind, aber
von ihr abhängen, um den Status der Existenz „zu erreichen“.
Die intentionale Bewusstseinstätigkeit scheint ebenfalls nicht
über dieselbe Seinsaktualität zu verfügen, da dieses „andere
Etwas“ ununterbrochen veränderlich ist, wohingegen das
Bewusstsein etwas Bleibendes ist. Das Bleiben seiner
Intentionalität gegenüber den wechselnden Objekten scheint also
dem Bleiben des Bewusstseins im Bleiben seiner Gegenwart zu
sich selbst nicht an Würde gleichkommen zu können.
Eine Deutung der Reflexivität des Bewusstseins als eine
„Rückkehr“ des intentionalen Bewusstseins zu sich selbst läuft
auf dasselbe heraus, nämlich auf eine ontologische
Unterscheidung zwischen dem Bewusstsein als für sich
existierendem Seiendem (esse per et in se) und seinen
intentionalen Akten, in denen es sich selbst mittels der
Verschiedenheit seiner „Objekte“ berührt, und die ausschließlich
in ihm und den betroffenen Objekten Wirklichkeit aufweisen
(esse ab et in alio).
Die Frage nach der Verbindung zwischen der „Reflexivität“
des Bewusstseins und seiner „Intentionalität“ stellt sich nach
und nach auch bezüglich der daraus folgenden Aussage „esse est
coesse“. Behauptet diese Aus-Faltung des esse im coesse
lediglich die empirische Feststellung der „tatsächlichen“
Existenz der (aus der Natur und der Gesellschaft bestehenden)
Welt für das Bewusstsein?
Oder anerkennt diese Aus-Faltung eine „notwendige
Verbindung“ zwischen der Existenz des Bewusstseins und der
Existenz dieser Welt; eine Verbindung, die für das Wesen an
sich des Bewusstseins grundlegend ist? Und ist diese
Verbindung schließlich einförmig gleichförmig, oder müssen
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
377
anhand ihres Bezugs zu den Dingen und zu den Anderen — den
Mitmenschen — grundsätzlich verschiedene Arten dieser
Verbindung unterschieden werden?
DER ERSTE PHILOSOPH
Sie heben besonders die von der klassischen Philosophie
gestellten Fragen hervor, die tatsächlich ernsthafte Fragen sind.
DER ANDERE PHILOSOPH
Skizzieren wir also eine Antwort. Der Mensch ist ein
„Seiendes in der Welt“. Daran haben die Philosophen niemals
gezweifelt. Nicht einmal Descartes auf der härtesten Etappe
seiner Pilgerfahrt des Zweifels! Bringt er nicht in seiner Ersten
Meditation das Misstrauen zur Sprache, dass man jenem
gegenüber haben sollte, der uns bereits in die Irre geführt hat,
um an seinen Sinnen zu zweifeln? Aber Descartes liefert uns das
Beispiel eines Philosophen, der durch den Gebrauch seiner
abgestuften Zweifelsfähigkeit versucht, die Beschaffenheit und
den Notwendigkeitsgrad seiner intentionalen Verbindung mit
der Welt einzuschätzen. Diese ist zweifellos durch einen Zweifel
anfechtbar. Ihre Notwendigkeit ist also nicht absolut.
Der Mensch ist auch ein „Seiendes mit Anderen“. Die
Verbindung des Ich „mit“ Anderem muss ebenfalls zum
Gegenstand eines Versuchs der philosophischen Begutachtung
gemacht werden. Hierin wird sich die von Kant begründete
transzendentale Fragestellung als erfolgreicher erweisen als die
Unterscheidung durch Zweifel.
Ist die Beziehung zum Anderen im Sein des Menschen mit
jener, die er zu den Dingen unterhält, „homogen“, oder ist sie in
seinem Sein grundlegender und von tieferer Notwendigkeit als
seine Beziehung zur Welt?
Bezeugt die Beziehung zum Anderen eine größere
Vollkommenheit des Seins des Bewusstseins als seine
Beziehung zu den Dingen?
Und schließlich: Ist das „Sich-selbst-Sein“ und „Mit-demAnderen-Sein“ lediglich eine Eigenschaft des menschlichen
Seins, insofern es deswegen menschlich ist, weil es in einer
materiellen Welt existiert, die zulässt, dass es „vervielfältigt“ ist;
oder ist das „coesse“ des „esse“ des Menschen eine Eigenschaft
des „Sich-selbst-Seins“ insofern es Sein ist, also eine
transzendentale Eigenschaft im scholastischen, in der Theologie
378
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
wohlbekannten Sinn: eine Eigenschaft des Seins als solchem,
genauso wie seine Einheit, seine Wahrheit und seine Gutheit?
Zweifellos lebt der Mensch diese transzendentale, zum
Anderen hin seiende Beziehungsbedingtheit gemäß seinem
Zugegensein in der Welt, allerdings ohne dass ihr Sein durch
sein Zugegensein in der Welt hervorgebracht würde. Genauso
verhält es sich mit seinem Bewusstsein seiner selbst. In der Welt
ist das Bewusstsein immer auch „Gegenwart zu sich selbst“,
ohne aber von der Welt als Bewusstsein konstituiert zu werden.
Muss man, wenn man sich mit größter Genauigkeit ausdrücken
will, nur sagen „esse homo ist esse cum hominibus“, oder auch
„ens in quantum humanum ist ens cum entibus humanis“; oder
ist es uns im Gegenteil endlich erlaubt, nach 25 Jahrhunderten
der Philosophie, zu sagen: „Esse seipsum qua esse in actu
seipsum ist coesse in actu seipsum cum aliis ipsis in actu
essendi“?
Wenn es uns erlaubt ist, nicht nur zu sagen „in humanitate,
esse est coesse“, sondern auch „in actu essendi, esse est coesse“,
oder auch „als Seiendes sich selbst zu sein heißt, sich selbst mit
Anderen von einem selbst unterschiedenen „Ichs“ zu sein“, dann
ist eine derartige Aussage analog auch auf Gott anwendbar, aber
selbstverständlich erst, nachdem wir seine Existenz auf richtige
Weise ausgesagt haben.
Unsere Behauptung der Existenz Gottes wird allerdings
dadurch stimmiger, dass man im Vornherein in der eigenen
Bewusstseinstätigkeit versteht, dass „Sein“ im wahrsten Sinn
des Wortes darin besteht, „ins Sein zu rufen“, „Sein zu geben“
oder „Sein zu tun“, und nicht in einem sehr verarmten Sinn des
Wortes im „Dorthin-gesetzt-Sein“, als Objekt für unser
intentionales Bewusstsein. „Quod cadit primo in intellectu est
ens...“
Das bedeutet auch, dass unsere Beziehung zu den Anderen, in
denen wir nun dieselbe Natur erkennen wie in uns, nicht einzig
aufgrund der Begrenztheit unseres geschaffenen Seins
ermöglicht ist, also aufgrund der Begrenztheit, die in uns einen
„Mangel“ und ein Bedürfnis begründen würde, von diesem
Anderen ergänzt zu werden. Sie ist möglich und wirklich, weil
wir, insofern wir geschaffen sind, an dieser absoluten
Vollkommenheit des Seins teilhaben, die darin besteht, zu
mehreren in einer vollkommenen Gemeinschaftseinheit und
gemäß ein und derselben Natur zu existieren.
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
379
Die unbestreitbaren Aspekte des „Mangels“ und
„Bedürfnisses“ im Menschen müssen mit den Aspekten der
Fülle und der — natürlich begrenzten — Vollkommenheit
zusammenhängen, die aus ihm trotz ihrer Begrenztheit ein
„Abbild“ seines Schöpfers machen. Eben gerade in Bezug auf
das Vollkommenheitsideal dieses „Abbild-des-Seins-desSchöpfers-Sein“ existieren wir „mit dem Mangel an Erfüllung“
und dem „Bedürfnis nach Verwirklichung“. Ein derartiger
„Mangel“ und ein derartiges „Bedürfnis“ gehören
wohlverstanden zur Begrenztheit unseres Seins und zu unserem
Werden.
Diese Mängel und Bedürfnisse streben auf ein Ideal der
Beziehungsbedingtheit zu und sind dafür offen, aber sie bilden
nicht den tiefsten ontologischen Grund, das letzte „Warum“ der
Beziehung zum menschlichen Anderen und zum (zu den)
transzendenten Anderen.
Man würde sich ebenfalls bezüglich der Natur des
anzustrebenden Ideals irren, wenn man diesen „Mangel und
dieses Bedürfnis unseres im Werden befindlichen Seins“ als
Grund der Beziehung zur menschlichen oder göttlichen Alterität
ansehen, und im Anderen eine „Ergänzung“ des Ichs sehen
würde. Dabei würde das Wesentliche der menschlichen Ethik
verdunkelt. Das ethische Ideal muss nicht — und kann übrigens
auch nicht — durch das Ausgerichtet-Sein auf ein „irgend
Etwas“ festgelegt werden, das der Gegenstand eines Verlangens
ist und einen Mangel oder ein Bedürfnis befriedigt.
Und indem er sich der Anwältin zuwendet:
— Langsam und unbemerkt beginne ich, auch auf Ihre Frage
nach der Bedeutung der glaubenschaftlichen Beziehungsbedingtheit für Moral und Recht zu antworten.
DIE ANWÄLTIN
Ich bin ganz Ohr…
DER ANDERE PHILOSOPH
Die ethische Pflicht muss also ausgehend von den
dynamischen, notwendigen Grundeigenschaften des Seins als
solchem verstanden werden, insofern diese sich dem begrenzten
Seienden, das der im Werden begriffene Mensch ist, als Normen
seiner Tätigkeit und seiner Handlungen aufdrängen. Die
Beziehungsbedingtheit des Seins gründet nicht in einem Mangel
380
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
an Sein, für den die Beziehung ein Schmerzmittel wäre. Aber
das, was uns in unserer gegenwärtigen Existenzweise noch fehlt,
und daher den Gegenstand eines Verlangens darstellt, ist, dass
wir, indem wir durch göttliche Seinsmitteilung dazu erhoben
werden, die ethische Vollkommenheit dieser konstitutiven
Beziehungsbedingtheit erreichen.
Das Wesen des ethischen Ideals des Menschen ist die volle
Entfaltung seines Seins gemäß seinen konstitutiven,
notwendigen,
beziehungsbedingten
Grundeigenschaften.
Glaubenschaftlich gesagt handelt es sich um das messianische
Verlangen nach Heil.
Die Liebe wird dann nicht mehr nur als eine auf den
„Anderen“ ausgerichtete (Willens)Eigenschaft des individuellen
Seienden verstanden werden, wobei die Existenz des Anderen
als von vornherein „daseiend“ angenommen würde, und wobei
man außerdem schon (durch den Verstand) etwas Kenntnis von
ihm erworben hat, bevor man ihn liebt. Die Liebe gewinnt dann
endlich für uns jene Bedeutung, die sie von aller Ewigkeit her
ist, nämlich die Bedeutung einer Struktur von Seienden, einer
Struktur der Seinsmitteilung, einer wesentlichen Großzügigkeit,
deren Ausübung und reine Aktualität sie ist.
Die Liebe ist der vollkommene Akt — für den Menschen ist
sie nur eine Ausübung, ein „Zur-Tat-Werden“— eines für das
„Ich“ wesentlichen Wollens, dass der Andere sei, und dass er als
Anderer sei, seinerseits in Vollkommenheit ein „Ich“, und dass
er daher seinerseits wollen könne, dass der „von ihm
verschiedene Andere“ sei, und dass dieser als Dritter in sich
selbst auch ein von ihm und vom „Ersten Ich“ verschiedenes
„Ich“ sei, indem er vom „Ersten Ich“ bereits auch als Dritter,
vom Anderen verschiedener Anderer gewollt ist.
Was in der Sprache kompliziert und schon fast komisch wirkt,
verhält sich in der Wirklichkeit ganz einfach, damit in jedem
Fall die interpersonale Unterscheidung des Einen vom Anderen
vollkommen sei — die Unterscheidung vom Ich zum Du und
vom „Ich und vom Du“ zum „Er“.
Bitte verzeihen Sie diese holprige Ausdrucksweise, wo es
doch darum geht, die zentrale Einfachheit des Bewusstseins
auszufalten. Aber der Versuch, eine Intuition, die das
allerpersönlichste „Ich“ und das „Du“ in seinem Innersten in
ihrer gemeinsamen allertiefsten Beziehung an ihr meistgeliebtes
„Er“ bindet, in einer nur „in der dritten Person sprechenden
Sprache“ zum Ausdruck zu bringen, und das, um seine
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
381
Universalität zu unterstreichen, kommt dem gleich, dass man in
einer Ebene ein Rauminhalt aufbauen will; dass man drei
Dimensionen aufzeigen will, während einem nur zwei zur
Verfügung stehen. Man muss also „perspektivisch zeichnen“.
Solange der Mensch Mühe hat, die dynamische Identität des
Seins mit der Liebe, also die Beziehungsbedingtheit des im
Schenkungs- und Empfangensakt befindlichen Seins durch
authentisch reflexive Begriffe zu begreifen, bringt er ihre Kraft
nicht in Begriffen, die eine Tätigkeit ausdrücken, sondern durch
Bilder der Leidenschaft und der Bedürftigkeit zum Ausdruck.
Der empirisch denkende Mensch meint, dass die Einflüsse durch
die Welt der Gegenstände, denen er passiv ausgesetzt ist, stärker
sind als der Einsatz, den er aus persönlicher Initiative leisten
kann. Und auch den notwendigen und freien Elan, in sich selbst
als großzügiger Wille dazu zu existieren, den Anderen ins Sein
zu rufen, und in Gegenseitigkeit in sich selbst als
glaubenschaftliche Anerkennung und Dankbarkeit dafür, dass
man vom Andren ins Sein gerufen wurde, deutet er
psychologisch mit der paradoxen Kategorie eines absoluten und
totalen „Mangels“, einer „Leere“.
„Du fehlst mir sehr...“, sagt der kindische und
besitzergreifende Verliebte... „Meine größte Sehnsucht ist dein
Glück...“, sagt der glaubenschaftlich Liebende...
Und hier drängen sich neue Fragen auf und verlangen
fehlerfrei explizierte und rational begründete Antworten. Worin
besteht in der Menschheit die Vollkommenheit der
Gemeinschaftseinheit zwischen Personen? Worin ihre
Unvollkommenheit, die nicht mit der göttlichen Vollkommenheit verglichen werden kann? Widerspiegelt sich die Struktur
der Vollkommenheit der göttlichen Gemeinschaftseinheit als
Vollkommenheitsstruktur in der geschaffenen Menschheit? Auf
all diese Fragen muss eine relationale Ontologie Antworten
liefern. Bereits gestern sind wir auf sie gestoßen.
So scheint mir also das „coesse“ des „esse“ des Menschen zu
verstehen zu sein.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Ja, ganz ohne Zweifel kann man das so sehen... Ich formuliere
meine Frage erneut, indem ich Ihre Antwort auf die Frage nach
den „Wundern“ mit einbeziehe. Wo im menschlichen
Bewusstsein hat der Glaube seine Wurzeln? Hat der Glaube in
der Erfahrung Abrahams begonnen, oder lässt die Erfahrung
382
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Abrahams eine noch tiefer liegende Neigung des menschlichen
Bewusstseins zur Geltung kommen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Sokrates wird als Vater der Philosophie angesehen. Aber nicht
er ist es, der den Menschen fähig gemacht hat, Philosophie zu
betreiben. Aber der Mensch, der er war, gab einer Fähigkeit, die
der menschlichen Natur angeboren ist, eine besondere
Spannkraft, die daraufhin von herausragenden Schülern
erweitert wurde. Genauso verhält es sich mit Abraham. Aber
während man sich daran gewöhnt hat, sich die menschliche
Natur der Person als wesentlich philosophierfähig vorzustellen,
gesteht man ihr nicht eine ähnliche, wesentliche
„Glaubensfähigkeit“ zu. Daher entzieht man sich die Mittel,
durch die man in dieser menschlichen, rational untersuchten
Natur das ausmachen könnte, was die Normen eines
authentischen „Glaubens“ darstellt. Während man nach und
nach
die
methodologischen
Voraussetzungen
der
Naturwissenschaft und der Philosophie vertieft hat, hat man sich
nie die Frage nach der Existenz ähnlicher Voraussetzungen
gefragt, die dem „Glauben“ angemessen sind.
Die Theologen scheinen weitaus mehr von den Fragen nach
der Rechtgläubigkeit der „Glaubensüberzeugungen“ in
Anspruch genommen zu sein, als von jenen nach deren
rationaler Gültigkeit. Übrigens haben unsere Zusammenkünfte
mit Fragen nach der Rechtgläubigkeit begonnen, anlässlich des
Stellenwertes des Katechismus der katholischen Kirche.
Zur Entlastung der Theologen und religiösen Machthaber
muss man allerdings zugeben, dass sie in den klassischen
Vorstellungen vom Sein und von der menschlichen Natur keinen
Verankerungspunkt für einen rationalen Glaubensvollzug finden
konnten. Genauso wenig kann man sie für die existierenden
Philosophien verantwortlich machen, die sie übrigens, so gut sie
es können, nutzen, um ihre Glaubensüberzeugungen zu erklären.
Aber das ist eine kurzsichtige seelsorgerische Einstellung.
Nicht in einer ganz und gar neuen Sicht der Dinge (denn wie
könnte man eine solche annehmen?), und auch nicht in einer
nach den alten Plänen neu wiederhergestellten, sondern in einer
vervollständigten und für das Verständnis des Glaubens
wirksameren Sicht der Dinge muss man einen ontologischen Ort
suchen, um zu analysieren, was die Möglichkeit, zu glauben ist,
und was ihre Verwirklichung in einer Glaubenszustimmung,
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
383
sowie auch ihre explizite Ausdrucksweise in „Glaubensüberzeugungen“ oder Glaubenslehren ist.
DER DOMHERR
Und wie? Ein ontologischer Ort? Wollen Sie damit sagen:
„eine Ontologie“?
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau. Die interpersonale Struktur der Seinsmitteilung
erweist sich, insofern sie Initiative ist, als eine Struktur der
Offenbarung; und insofern sie Aufnahme ist, als eine Struktur
des „Glaubens“. Sein Sein empfangen, also „sich als Seiendes
empfangen“, ist an sich nicht ein Zeichen von Endlichkeit, von
Begrenztheit oder Minderwertigkeit, weil derjenige, der „das
Sein gibt“, es deswegen gibt, weil es zur Vollkommenheit seines
„Seins“ gehört, ins Sein zu rufen. Sich als Sein in Fülle zu
empfangen ist ebenfalls ein Zeichen von Vollkommenheit.
Das von einer vollkommenen Seinsmitteilung implizierte
Empfangen kann nicht unvollkommen sein. Wo die
Seinsmitteilung vollkommen ist, ist die Freiheit desjenigen, der
ins Sein ruft und der aktiver Seinsvollzug ist, vollkommen, und
nicht begrenzt durch die Notwendigkeit, zu entscheiden, ins
Sein zu rufen oder nicht. Eine derartige Entscheidung, die eine
Unvollkommenheit des „Geschenks“ implizieren würde,
nämlich aufgrund der Nicht-in-Akt-Befindlichkeit oder der
Potentialität, die durch die Möglichkeit und Unausweichlichkeit
der Wahl notwendigerweise in die Handlung eines derartigen
„Gebers“ hineingebracht würden, würde bewirken, dass die
Seinsmitteilung in diesem Fall nicht vollkommen wäre.
Es ist das unvollkommene und mangelhafte Geschenk, das die
Aufnahme seitens des Empfängers unvollkommen und
mangelhaft macht. Das vollkommene Geschenk versetzt den
Anderen, der es empfängt, in einen Zustand der vollkommenen
Freiheit, ohne erniedrigende Unterordnung. Das „Ins-SeinRufen“ ist korrelativ zum „Ins-Sein-gerufen-Sein“. Das Seiende,
das ins Sein ruft, und das Seiende, das ins Sein gerufen wurde,
sind einander an Seinsvollkommenheit ebenbürtig; das eine
angesichts des anderen; das eine für das andere. Gemeinsam
sind sie, was sie sind, das eine mit dem anderen. Ansonsten
würden sie nicht sein. Die Beziehungsbedingtheit des Seins —
weil es keine Seienden gibt, die nicht in Beziehung stehen — ist
eine transzendentale Vollkommenheit, genauso, wie es wahr ist,
384
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
dass das Sein erkennbar ist, und dass es, wenn es nicht
erkennbar wäre, nicht wäre. Die Erkennbarkeit des Seins und
seine Gutheit (omne ens est intelligibile; omne ens est bonum)
sind übrigens in sich selbst ebenfalls beziehungsbedingt.
Wenn es überhaupt keinen vollkommenen Empfangenden
geben würde, dann gäbe es auch keinen vollkommenen
Gebenden. Wenn es nur unvollkommene Empfangende geben
würde, dann gäbe es nur unvollkommene Gebende. Aber das
kann nicht sein. Unvollkommene Empfangende setzen die
Existenz eines vollkommenen Gebenden voraus, und eines
vollkommenen Empfangenden. Und damit sind wir wiederum
bei der dreigliedrigen Struktur Gottes angelangt.
So besteht die Gutheit eines Seienden nicht nur darin, dass
„es“ als Gut angestrebt werden kann, wie Platon und Aristoteles
vorschlugen, sondern darin, dass „es“ das Seiende, durch das
„es“ glaubenschaftlich als gut erkannt wird, „ins Sein ruft“. Die
Beziehung der Offenbarung in Großzügigkeit einerseits und des
Glaubens in Dankbarkeit andererseits ist das, was wir als
glaubenschaftliche Beziehung bezeichnet haben. Sie bildet die
„Vollkommenheit“ eines Seienden, oder, besser gesagt, des
Seins in seiner Dimension der Vollkommenheit. Der Glaube ist
die Erkenntnis und das Anerkennen dessen, was „Ein Seiendes“
durch unbedingte und daher völlig freie Gutheit für und in „dem
Anderen“ Seienden ins Sein ruft, indem es dieses, damit die
Unterscheidung zwischen ihnen vollkommen sei, in sich selbst
wiederum zu einer Seinsmitteilung für ein „Drittes Seiendes“
macht.
DER DOMHERR
Sie bringen die Glaubenserkenntnis mit der Vollkommenheit
eines Seienden in Verbindung. Aber wie erklären Sie nun, dass
es bei den Glaubenden dermaßen viele Zweifel gibt? Soviel ich
weiß, ist Zweifeln nicht ein Zeichen von Vollkommenheit!
DER ANDERE PHILOSOPH
Aber für die menschlichen Glaubenden ist es auch nicht
unbedingt ein Zeichen von Vollkommenheit, nicht zu zweifeln!
DER DOMHERR
Aha!
DER ANDERE PHILOSOPH
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
385
Denken Sie nicht, dass ich Ihre Frage als Witz abtue. Ich
suche nur den Weg, um richtig zu antworten, denn sie ist nicht
einfach. Ich würde sie gerne mit einer anderen Art von Fragen
vergleichen, wie dieser hier: Einst hielt ein bekannter Astronom
einen Vortrag. Er erklärte, dass die Erde und der Mond einander
anziehen, und dass also, kurz gesagt, der Mond auf die Erde
fällt. Voll Überraschung rief jemand aus dem Publikum: „Aber
ich sehe doch ganz genau, dass er nicht fällt“. Und der
Astronom antwortete: „Ich sehe genauso gut wie Sie. Die lineare
Beschleunigung des Mondes hindert ihn daran, mit der Erde
zusammenzustoßen.“ Und unser Jemand wendet erneut ein:
„Aber ich sehe, dass er sich dreht, und sich nicht geradeaus
bewegt“. „Sie haben recht“, sagte der Astronom.
— „Dann erklären Sie mir doch bitte, warum er sich dreht.“
— „Weil er beides gleichzeitig tut. Er bewegt sich ganz und
gar geradeaus, und gleichzeitig fällt er, also dreht er sich.“
Die greifbare Wirklichkeit kommt durch vielfältige Faktoren
zustande. Um sie zu verstehen, muss man diese verschiedenen
Faktoren jeweils einzeln betrachten und ihr Zusammenspiel
erfassen, um dann schließlich das, was wir beobachten, erklären
zu können. Und wenn die Wirklichkeit von Störfaktoren
beeinflusst wird, muss man auch diese ausfindig machen, und
sich soweit wie möglich gegen sie absichern...
Der konkrete Glaube der Leute ist voll von Zweifeln. Daran
sollten wir nicht zweifeln... Und doch gehört der Zweifel nicht
zum Wesen des Glaubens. Aber das Fehlen von Zweifeln
gewährleistet noch nicht die Echtheit eines konkreten, einzelnen
Glaubens, der einem in vielerlei Hinsicht begrenzten
menschlichen Seienden zu eigen ist.
Werfen wir einen Blick auf die Regeln der mathematischen
Addition. Sie sind absolut sicher, aber die Rechnungen meines
Lebensmittelhändlers können Fehler enthalten, sogar zu seinen
Ungunsten... Und seine Gewissheit, dass er den richtigen Preis
verlangt, macht eine fehlerhafte Rechnung nicht gültig...
Genauso verhält es sich mit der Art und Weise, in der die
Menschen ihren Glauben leben. Mein Glaube an den Anderen
kann, obwohl er wesentlich zu meiner Persönlichkeit gehört,
von Lügnern oder Verrätern missbraucht, oder durch die
Untreue anderer enttäuscht werden.
Mein Glaube an Gott kann von Scheinoffenbarungen
missbraucht werden, oder von angeblich vollkommenen und
unbezweifelbaren Offenbarungen, die aber voll Lug und Trug
386
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
sind, oder von falsch verstandenen Zeugnissen für eine echte
Offenbarung...
Die erste Quelle von Glaubenszweifeln kommt daher, dass der
Glaubende seinen Glauben als Ergänzung zur menschlichen
Erkenntnis verstanden hat, und dann fälschlicherweise eine
Verbindung zwischen der Begrenztheit seiner (experimentellen
oder philosophischen) Erkenntnisse und seinem Glauben
herstellt, der ihn tiefer in die Wirklichkeit einführen würde, von
der er angeblich lediglich einen Aspekt sieht.
Es wird gelegentlich gesagt, dass der Glaube die immer noch
begrenzte Kenntnis, die man von der menschlichen Existenz
besitzt, bereichert. Diese Aussage muss verdeutlicht werden,
denn sie ist mehrdeutig. „Der Glaube bereichert den Menschen
durch eine andere Erkenntnisform, und zwar den Menschen, der
von der Welt bereits eine objektive und experimentelle, und von
seiner eigenen Existenz eine philosophische Erkenntnis besitzt.“
Der Glaube darf nicht als die geradlinige Verlängerung eines
„ein-förmigen“ menschlichen Wissens angesehen werden, als
Mittel, die natürlichen Grenzen oder irgendwelche
intellektuellen Unzulänglichkeiten zu überwinden.
Er ist nicht ein Zweig, der auf die natürliche Wurzel der
Erkenntnis „aufgepfropft“ wurde, damit diese bessere Früchte
trägt, und auch nicht eine Art „Turbolader“ des Wissens oder ein
„Schnellgangzusatzgetriebe“ oder „Überdrehzahlschutz“ des
natürlichen Verstandes des Menschen, und auch nicht a fortiori
eine billige Weisheitsquelle für langsame und verbohrte oder
kindliche Geister, und ebensowenig ein Heilmittel für einen
gefallenen und verminderten menschlichen Verstand. Diese
verschiedenen, in sich falschen Auffassungen, die aber
gelegentlich mit Gewissheit angenommen werden, können nicht
anders, als eines Tages Zweifel hervorbringen. Und in diesem
Fall wäre das ein Fortschritt.
Als Tätigkeit des Bewusstseins ist der Glaube eine natürliche
Erkenntnisweise „sui generis“, mit demselben Recht wie die
experimentelle und die reflexive Erkenntnisweise, aber eben auf
ihre von diesen beiden unterschiedene Weise. Die harmonische
Entwicklung der menschlichen Erkenntnis in ihrer Gesamtheit
impliziert die glaubenschaftliche Erkenntnisweise. Aber die
glaubenschaftliche Erkenntnis ist nicht eine Verlängerung der
naturwissenschaftlichen oder der philosophischen Erkenntnis.
Machen wir einen Vergleich: Die ganzheitliche Entwicklung
der Sinneswahrnehmung verlangt unter anderem die
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
387
Sehfähigkeit und das Gehör. Das Fehlen des Gehörs wäre eine
schmerzliche Behinderung. Aber das Hören ist nicht eine
Verlängerung des Sehens, also eine Art „höheres Sehen“. Es ist
eine Wahrnehmungsweise „sui generis“, ohne welche die
menschliche Sinneswahrnehmung nicht ganzheitlich ausgeübt
werden könnte. Genauso verhält es sich mit unserer
Glaubensfähigkeit. Ein ihrer beraubtes Bewusstsein wäre nicht
nur schwer behindert, sondern es wäre nicht das, was es ist, und
es würde schlicht und einfach nicht existieren. Genauso wenig,
wie der Mensch sich davon befreien kann, nachzudenken und zu
urteilen, aber durch Unfähigkeit dazu gelangen kann, schlecht
zu denken und schlecht zu urteilen; kann er sich davon befreien,
zu glauben, aber er kann schlecht glauben, also die wesentlich
zu ihm gehörende Glaubenschaftlichkeit durch Unfähigkeit
verfälscht in die Tat umsetzen.
Mit demselben Gewicht wie seine Reflexivität und mit
demselben
Anspruch
auf
Vollkommenheit
ist
die
Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins ein Grundzug unserer
menschlichen Natur; und zwar so, dass sie dies auf weitaus
grundlegendere Weise ist als die auf die Welt der Dinge
ausgerichtete Intentionalität, und dies, weil sie eine Dimension
des bewusstseinsbegabten und freien Seienden als solchem ist,
und nicht nur dieses Seienden, insofern es „menschlich und in
der Welt inkarniert“ ist.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Aber der Glaube, in dem Sinn, wie Sie sagen, also dieser
Glaube, den die Menschen — wenn auch in unvollkommener
Weise — in ihren Religionen ausüben, lässt uns trotzdem
erkennen, dass es Gott gibt! Religion als Tatsache ist nämlich
universal, und eine derartige Universalität kann nicht sinnlos
sein.
DER ANDERE PHILOSOPH
Dieser Glaube ist zweifellos nicht sinnlos! Aber ganz so
einfach ist das alles nicht. Und wenn Vereinfachungen auch um
der besseren Verbreitung willen gelegentlich nützlich ist, so
bergen sie doch die Gefahr in sich, dass man die Wahrheit der
Dinge verfälscht. Nicht die Gottesvorstellungen, die sich die
Menschen in ihren Religionen machen, haben Beweiskraft für
die Existenz Gottes, sondern die Tatsache, dass die Menschen
fähig sind, sich Gottesvorstellungen zu geben, und das sogar,
388
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
wenn diese falsch sind. Diese Fähigkeit bezeugt eine
menschliche Wirklichkeit, die tiefer liegt als die kulturbedingten
Gottesbilder.
Auf die Notwendigkeit der Existenz Gottes kann man nicht
deswegen schließen, weil die Menschen in der objektiven
Wirklichkeit der Religionen an Gott glauben und behaupten,
dass es ihn gibt. Ein Beweis der Existenz Gottes durch
Übereinstimmung der Menschen, auch wenn diese nicht
universal, aber doch wenigstens verhältnismäßig allgemein ist,
hat keinen rationalen Wert, er gehört also nicht in den Bereich
der absolut notwendigen Wahrheiten. Man verbleibt damit im
Bereich des Beobachtbaren, also in diesem Fall in der
Soziologie.
Nicht jeder beliebige Vollzug des menschlichen Bewusstseins
kann die Existenz Gottes Aussagen. Die naturwissenschaftliche
Erforschung der Welt und der menschlichen Verhaltensweisen
ist dazu ganz und gar unfähig, genauso wie die Entwicklungen
des logisch-mathematischen formalen Denkens. Der Geist, der
sich auf diese beschränkt, kann in keiner Weise zur Behauptung
der Existenz Gottes vordringen, noch kann er a fortiori gültig an
ihn glauben.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Aber der Glaube an Gott, also jene Glaubenschaftlichkeit, von
der sie sagen, dass sie wesentlich ist, kann die Existenz Gottes
feststellen. Denn er ist tatsächlich die vollkommenste aller
möglichen Beziehungen zu Gott.
DER ANDERE PHILOSOPH
Das glaubenschaftliche Bewusstsein erbringt keinerlei Beweis
für die Existenz Gottes. In der auf Gott ausgerichteten
Glaubenschaftlichkeit liegt die Initiative, mich zu offenbaren,
nicht wie in der menschlichen interpersonalen Glaubenschaftlichkeit bei mir. Die ganze Initiative mir gegenüber, uns
gegenüber, liegt bei Gott. Wir ergreifen Gott gegenüber
überhaupt keine Initiative. — Genau das erkennen wir ebenso in
unserem Tod, wo wir Gott-Dreieinigkeit gegenüber in völliger
„Passivität“ existieren, für unsere „Vergöttlichung im Geist“
durch den Vater und das inkarnierte und auferstandene Wort —
Auf der Ebene unserer menschlichen Natur sind das Sich-demAnderen-Offenbaren und das An-den-Anderen-Glauben
Verhaltensweisen, die in einer Beziehung der Gegenseitigkeit
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
389
stehen können. Gott gegenüber können wir ausschließlich
„glauben“, und wir können uns Gott nicht mit dem Willen, ihn
selbst ins Sein zu rufen, offenbaren. Deswegen können wir im
Bereich der auf Gott ausgerichteten Glaubenschaftlichkeit im
wahrsten Sinne des Wortes keinen „Beweis der Existenz Gottes“
aufstellen.
Wir müssen unser Sein „reflexiv“ als empfangenes Sein
erkennen, als ein Sein, das in seiner beziehungsbedingten,
glaubenschaftlichen, interpersonalen Endlichkeit von der
Unendlichkeit des Seins geprägt ist. Und dann versetzt uns
dieses Anerkennen unmittelbar in eine Glaubensbeziehung zu
Gott.
Als glaubenschaftlicher Mensch kann der glaubenschaftliche
Mensch genauso wenig wie der Naturwissenschaftler als
Naturwissenschaftler einen „Beweis der Existenz Gottes“
aufstellen. Aber der glaubenschaftliche, interpersonale Mensch
stellt in seiner Wirklichkeit die Grundlage dar, auf der das
philosophische, reflexive Bewusstsein diesen Beweis in einem
Vorgehen des „Anerkennens“ aufbaut. Der glaubenschaftliche
Mensch ist daher eben gerade auch das analoge Vergleichsstück
zum Wesen Gottes. Er ist es in höchstem Maße in seiner
Stellung der erfüllten menschlichen Glaubenschaftlichkeit, die
das Leben weitergibt, und die in der ehelichen und elterlichen,
sowie auch der kindlichen Glaubenschaftlichkeit besteht. Und
aufgrund dieser Ähnlichkeit wird er seiner Gottesbeziehung eine
Gestalt und Ausformung geben. Die Menschheit als ganze ist
das analoge Vergleichsstück zum mehrpersonalen Gott, und in
dieser analogen Ähnlichkeit ist die Familienstruktur das
göttliche Siegel.
Wir befinden uns hier am Ursprung des Glaubens an die
immanente Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung. Die
philosophische Reflexion ist im logischen und demonstrativen
Sinn die Startlinie. Dem Glauben gegenüber ist sie
gewissermaßen apriorisch gegeben oder logisch vorausgesetzt.
Sobald diese Reflexionslinie überschritten ist, und zwar
fehlerfrei, entfaltet sich die Glaubensbeziehung gemäß ihren
eigenen Regeln, wenn ich das so sagen kann, nicht automatisch
und in unfehlbarer Weise, sondern immer noch unter der
kritischen Aufsicht der philosophischen Reflexion, die dann a
posteriori urteilt. Und der Übergang von einem auf Gott
ausgerichteten Glauben in der Immanenz der Schöpfung, zu
einem auf Gott ausgerichteten Glauben in der Transzendenz
390
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
einer persönlichen Offenbarung Gottes, vollzieht sich dann auf
der Grundlage des Glaubens an Gott in der Immanenz seiner
Schöpfung.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Genau deshalb können wir beim Deuten der Geschichte
sagen, dass der Glaube Israels die „apriorische geschichtliche
Bedingung der Möglichkeit“ der transzendenten Offenbarung
Gottes in Jesus ist, und dass unsere — kritische und
differenzierte — Teilhabe an diesem Glauben für uns die
Bedingung der Verständlichkeit des Evangeliums ist.
DIE GÜLTIGEN GRÜNDE FÜR DIE BEHAUPTUNG
DER EXISTENZ GOTTES
DER ANDERE PHILOSOPH
Wir sind uns einig... Das glaubenschaftliche Bewusstsein
findet in der Begegnung mit dem Anderen das ihm angemessene
und menschlich entsprechende Objekt. Nicht Gott ist das
„Objekt“ seiner notwendigen Ausübung. Aber de facto macht es
sich Vorstellungen von Gott, oder besser gesagt vom Göttlichen.
Es kommt also spontan derjenigen Wirklichkeit gegenüber zur
Ausübung, die der Mensch als über ihm stehend betrachtet.
Dennoch kann man aus der objektiven Existenz derartiger
Vorstellungen in den Religionen nicht „rigoros“ auf die Existenz
eines transzendenten Seienden schließen, auf das sich diese
Vorstellungen beziehen würden, selbst wenn man zugeben
würde, dass sie die Beschaffenheit dieser Transzendenz sehr
schlecht
ausdrücken.
Man
kann
auch
aus
der
glaubenschaftlichen Dimension des Bewusstseins nicht
unmittelbar auf die Existenz Gottes schließen, „an den“ zu
glauben ist. Der Beweis dafür ist, dass man, wenn man ohne
interpersonal aufgebaute Reflexion an Gott glaubt, sich de facto
einen Gott vor Augen stellt, der in einer in ihm einzigen
Stellung der Alterität steht, als Abbild des „einzigen
Ehepartners“ der menschlichen Glaubenschaftlichkeit. Die
Gottesbeziehung ist dadurch nicht etwa ihrer Echtheit beraubt.
Sie ist nun nicht mehr die Behauptung eines Gottes, der in sich
selbst allein ist, und in Beziehung zu uns isoliert dasteht, wie
sich das Aristoteles und die klassische Objektphilosophie
vorstellten. Sie ist vielmehr die Behauptung eines Gottes, der
uns gegenüber nicht mehr isoliert ist, aber der immer noch
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
391
Gefahr läuft, als in sich selbst einsam gedacht zu werden. Ich
sage bewusst „der Gefahr läuft...“, denn seine Einsamkeit in sich
selbst ist genau genommen nicht bewiesen. Sie folgt nur de facto
aus der Tatsache unserer Unwissenheit. Nun kann man aber aus
der Unkenntnis der Wirklichkeit nichts über die Wirklichkeit
schließen. Aber Unkenntnis kann überwunden werden, ohne
dass bewährte Kenntnisse dadurch in Zweifel gezogen würden...
Letztere ermöglichen es übrigens, dass man Fortschritte macht.
Aber indem man sich durch Unkenntnis unsere familiäre
Glaubenschaftlichkeit als analogische Vergleichsgrundlage
entzieht, führt man gewissermaßen einen Kurzschluss der
Möglichkeit, die wir in unserer geschaffenen Wirklichkeit
besitzen, die wahre Beschaffenheit unseres Glaubens an Gott zu
erkennen, herbei, und man verunmöglicht es sich selber, zu
erkennen, wer dieser Gott ist, an den wir glauben sollen. Muss
man sich in diese Unkenntnis einschließen? Muss man
vorgeben, dass wir nicht von einer Mehrzahl der Personen in
Gott sprechen können? Ist es angebracht, zu sagen, dass wir
diese Frage nicht stellen können? Dann, nämlich wenn man es
sich verwehrt, die Frage zu stellen, müsste man auch zugeben,
dass man von Gott auch nicht aussagen kann, dass er in sich
selbst allein ist.
Die religiösen Gottesvorstellungen sind in ihrer Eigenschaft
als kulturelle Errungenschaften der Menschheit in ihrer
objektiven Gegebenheit nichts weiter als das Zeichen, dass der
Mensch de facto glaubenschaftlich an Anderes als an die
Seienden seiner endlichen Welt denkt. Verweist uns dieses
Zeichen auf die Notwendigkeit, glaubenschaftlich Anderes zu
denken als diese Welt und die bewusstseinsbegabten Seienden
dieser Welt? Ja, nämlich auf dem Weg der reflexiven
Anerkennung unserer Endlichkeit.
DER DOMHERR
Was ist also Ihr Gottesbeweis? Bitte nehmen Sie zur
Kenntnis, dass meine Frage der reinen intellektuellen Neugier
entspringt... Ich empfinde keinerlei Bedürfnis, einen Beweis zu
besitzen, um von der Existenz Gottes überzeugt zu sein.
DER ANDERE PHILOSOPH
Der Weg einer methodologisch richtigen Behauptung der
Existenz Gottes kann ausschließlich „reflexiv“ sein, und
vollzieht sich unter der Bedingung, dass sich dieses reflexive
392
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Vorgehen bis zu den letzten notwendigen Grundeigenschaften
des Seins aufschwingt, die in unserem Mit-Anderen-Sein in
einer gemeinsamen Existenz in der Welt als wirklich
vorausgesetzt sind. Wir müssen in uns selbst, also in den
Aspekten der Endlichkeit unseres beziehungsbedingten Seins,
die Notwendigkeit eines Bezugs zu einem im Sein Unendlichen
feststellen.
Es handelt sich um das Bewusstsein von einem notwendigen
Denken an jenes Unendliche, das im Bewusstsein unserer
Endlichkeit enthalten ist. Genauso gut könnte man sagen: „In
einem zunächst noch undifferenzierten und absoluten
Bewusstsein von der Unbegrenztheit des Seins — von dem etwa
das Gedicht des Parmenides zu Beginn der westlichen
Philosophie Zeugnis ablegt: „Das Sein ist und es ist unmöglich,
dass es nicht sei... Das Sein ist absolut oder aber gar nicht“ —
muss unsere Endlichkeit so erkannt werden, dass man versteht,
dass nicht sie dieses Absolute im Sein erhält, und dass die
Unendlichkeit Gottes in ihre Transzendenz hineingedacht
werden muss, also seine Seinsunendlichkeit, die von unserer
Existenz unterschieden ist und ihr Urgrund ist, und ebenso von
allem, was in einer mit der unsrigen vergleichbaren
Existenzweise existiert.
Parmenides, der diese Absolutheit des Seins als eine
dermaßen tiefe reflexive Wahrheit wahrgenommen hatte, dass er
sie als eine „Offenbarung der Göttin“ darstellt, untersucht sie
zunächst nicht weiter, und „objektiviert“ diese Seinstotalität, —
die aber dennoch anhand des Gesetzes der Seinsmitteilung
„strukturiert ist“ — zu und in einem ungeteilten Ganzen, zu und
in „einem einzigen Kloß, der ewig und unveränderlich ist, in
jeder Hinsicht ausgeglichen und unbeeinflussbar, wie eine ganz
und gar runde Kugel“.
Warum hatte Parmenides nicht auch die (philosophische)
Einsicht in die Beziehungsbedingtheit des Seins, indem er den
Seinsstatus der Verneinung besser verstanden hätte, anstatt sie
kategorisch abzulehnen? Die Verneinung, die Heraklit so
überaus wichtig nahm, ohne dahin zu gelangen, ihre
Verwurzelung im Sein als solchem zu erkennen? Nutzloses
Bedauern! Aber im Sein ist sehr wohl „Verneinung“ enthalten:
Verneinung zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“, zwischen
„Du“ und „Ich“, zwischen dem Endlichen und dem
Unendlichen.
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
393
Eine Endlichkeit also, die unser ganzes Sein umfasst, insofern
es ein im Werden befindliches Sein ist, das mit einem „WenigerSein“ beginnt, um zu einem „Mehr-Sein“ zu gelangen. Einzelne
Endlichkeiten, die gemäß den verschiedenen Aspekten unseres
Seins „einzuordnen“ sind: Erkenntnis, Wille, Bewusstsein und
Freiheit;
Unvollkommenheit
unserer
interpersonalen
Beziehungen,
besonders
unserer
Glaubenschaftlichkeit;
Endlichkeit unserer Fähigkeit, ins Sein zu rufen; Endlichkeit
unserer Seinsannahme; Endlichkeit der Heiligkeit, das heißt,
Endlichkeit
der
authentischen,
beziehungsbedingten
Selbstverwirklichung mit dem Anderen, wegen unserer
Fähigkeit, schlecht zu handeln, usw.
Der notwendige Bezug auf ein Unendliches, das die absolute
Aktualität im Sein besitzt, ohne welches unser im Werden
befindliches Sein — und die Gesamtheit all dessen, was wird —
nicht als endliche Seinsweise gedacht werden könnte, also als
„nicht unendlich“. Das wirkliche Unendliche, das ein
Unendliches voller Aktivität all dieser begrenzten
Vollkommenheiten ist, die sich in unserem Werden
verwirklichen. Ein Unendliches der Seinsmitteilung also, der
offensichtliche Urgrund unserer endlichen Fähigkeit, ins Sein zu
rufen.
Tatsächlich nehmen wir in unserer endlichen Fähigkeit, das
Sein zu geben, die Identität des Seins und des Ins-Sein-Rufens
wahr, und verstehen auch, dass sie nicht dazu ausreicht, das
Universum der Menschheit und der Natur, das unseren
Erfahrungsbereich darstellt, ins Sein zu rufen. Wir verstehen
auch, dass jegliche totalisierende Summe der endlichen
Fähigkeiten, ins Sein zu rufen, zusammen mit der unsrigen, in
sich selbst genauso wenig dazu ausreichen würde, durch sich
selbst zu existieren. Jede endliche Möglichkeit, ins Sein zu rufen
oder das Sein zu geben, setzt eine unendliche Aktivität der
Seinsmitteilung voraus, also ein transzendentes Unendliches,
das sogar jenseits dessen steht, was das ethische Ideal einer
Heiligkeit in den interpersonalen Beziehungen vom Menschen
fordern kann, wenn diese jeglichem möglichen Bösen entzogen
sind, sei es nun ein erlittenes oder verursachtes Übel, Leiden
oder Sünde. Kurz gesagt, ein Unendliches einer vollkommenen
Seinsmitteilung und eines vollkommenen Empfangens.
Der Zusammenhang zwischen der Ausübung unserer
Glaubenschaftlichkeit und dem reflexiven Anerkennen der
Existenz Gottes ist also sehr eng. Wenn das glaubenschaftliche
394
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Bewusstsein von Reflexion durchdrungen ist, also bewusste
Gegenwärtigkeit für sich selbst als glaubenschaftliches
Bewusstsein ist, indem es reflexiv seinen unterscheidenden
Bezug zum Seinsunendlichen versteht und auch versteht, dass
dieser Bezug im Sein nichts anderes sein kann als eine
Beziehung der Seinsmitteilung, weil es ja sonst nicht in den
Bereich des Seins gehören würde: Dann vollzieht das
glaubenschaftliche Bewusstsein notwendigerweise (besser oder
weniger gut) seinen „Glauben“ an Gott.
Der glaubenschaftliche Mensch, der sich reflexiv eines
Unendlichen bewusst ist, kann nicht (besser oder weniger gut)
nicht an Ihn glauben.
Der Mensch ist also wesentlich religiös. Aber die Religionen
sind lediglich unvollkommene Verwirklichungen seines
religiösen Seins. Daher können sie sich verbessern, indem sie
sich Stück für Stück von ihrem Objektivismus befreien. Aber
außerhalb der Religionen gibt es für den Menschen keine
Möglichkeit, seine Glaubenschaftlichkeit Gott gegenüber
gesellschaftlich auszuüben; sei es nun, dass er eine der
existierenden Religionen annimmt, oder auch, dass er eine neue
gründen will.
Wir empfangen unser Sein. Wir empfangen es von anderen,
die es empfangen haben. Aber wir empfangen es als endlich,
und unsere Art und Weise, es zu empfangen, ist „endlich“.
Wenn wir es in Fülle empfangen würden, wären wir Personen
Gottes und Gott. Die reflexive Schwierigkeit eines Anerkennens
Gottes liegt nicht darin, zuzugeben, dass wir unser Sein
empfangen, sondern dass wir es in unvollkommener Weise und
daher nicht „unendlich“ empfangen, dass wir es also nicht „in
Gott“ empfangen, sondern „außerhalb Gottes“, und dass wir also
nicht Gott sind, sondern Geschöpfe: bewusstseinsbegabte und
freie Menschen, zusammen mit der Welt der Lebewesen und
dem ganzen Universum in seiner ungeheuren Tiefe. Indem wir
darin, dass wir uns als endliche Seiende erkennen, den
notwendigen Bezug „endlich-unendlich“ im Sein erfassen,
erkennen wir, dass unser von Gott empfangenes Sein ein
„geschöpfliches“ Sein ist, und nicht ein „Gott-sein“.
Gott anerkennen heißt, dass wir uns damit abfinden, das, was
wir ganz einfach als Menschen sind, nicht als „göttlich und
absolut“ zu betrachten; und uns nicht „zu vergöttern“, sondern
einfach menschlich zu bleiben: also, kurz gesagt, Gott nicht in
einem humanistischen Pantheismus aufzulösen, in dem wir uns
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
395
zum absoluten Mittelpunkt machen würden. Uns nicht für das
Absolute zu halten bedeutet a contrario nicht, die Menschheit in
einem übergroßen Universum aufzulösen. Das übergroße
Universum kann Gott nicht „ersetzen“, wenn es darum geht,
unsere Bewusstseinsrelationalität richtig zu erklären. Und die
Entwicklung des Lebens, die in dieser Bewusstseinsrelationalität
stattfinden kann, kann für irgendeine endliche Fähigkeit, ins
Sein zu rufen, keinen zureichenden Grund liefern, wie groß und
wunderbar auch immer die Möglichkeiten des Fortschrittes des
Lebens sein mögen, die man in ihr ausfindig machen kann.
Gewisse zeitgenössische Denkströmungen möchten, dass wir an
den Evolutionsgott glauben, an den blinden Hersteller der
Lebensformen, und ihn an die Stelle des schöpferischen
Verstandes stellen, der diese wunderbare Evolution
hervorgebracht hat. Das ist ein schwerwiegender methodischer
Fehler!
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich bin ein wenig erstaunt, dass sie in Ihrer Argumentation
dem Kausalitätsprinzip gar keinen Platz einräumen. Ich dachte,
dass Sie in ihm eine „kosmologische“ Form Ihrer
interpersonalen Grundvoraussetzung sehen: „Sein heißt,
Anderes ins Sein rufen,… Anderem Sein geben,…“.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich verstehe Ihre Frage durchaus! Ohne die dreifache
reflexive Einsicht, nämlich erstens, dass das Sein Ins-SeinRufen ist, und zweitens, dass es unmöglich ist, dass die
Wirklichkeit eines derartigen durch Mitteilung gekennzeichneten Seins nicht sei (also die durch die Behauptung der
Beziehungsbedingtheit des Seins vervollständigte Einsicht des
Parmenides), und drittens, dass unser Sein und alles unserer
Erfahrung zugängliche wirkliche Sein von Endlichkeit
gezeichnet sind... Ohne diese drei reflexiven Einsichten also
sehe ich keine Möglichkeit, wie man, ausschließlich vom als
„Daseiendes“ ausgesagten seienden Objekt ausgehend, oder
sogar vom Sein eines einzigen Subjekts, Gott in stimmiger
Weise als Seinsunendlichkeit, transzendent und Schöpfer
bejahen könnte.
Vom Objekt-sein ausgehend beruft man sich auf das
Kausalitätsprinzip, dem man dann eine metaphysische
Bedeutung beimisst, um es der kantianischen Kritik zu
396
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
entziehen, die es auf die Welt der Phänomene einschränkt. Mir
scheint es hingegen so zu sein, dass dieses Prinzip dann
unverankert und unbekannter Herkunft bleibt, wenn man von
einer Seinsvorstellung ausgeht, die sich auf das Objekt-Sein
beschränkt. Denn tatsächlich ist dieses Prinzip in einem
Verständnis dessen, was einfach nur ein „Daseiendes“ wäre,
keineswegs gegeben. In gewissen klassischen Formulierungen
der Existenz Gottes kann man den Tatbestand feststellen, dass
man sich auf ein derartiges Prinzip beruft und ihm Beweiskraft
beimisst, obwohl es nicht der Erkenntnis des „Daseins“
entspringt. Dieser Versuch kann nichts weiter sein als eine
ungeschickte und schlecht durchdachte Art und Weise, die
absolute Notwendigkeit einer Seinsmitteilung auszudrücken.
Vielleicht entspreche ich damit Ihren Erwartungen... Ich weiß es
nicht...
DER ERSTE PHILOSOPH
Scheint Ihnen der klassische Gottesbeweis durch das
Kausalitätsprinzip also von einer unzulänglichen Analyse der
Seinsmitteilung abzuhängen? Aber Sie sprechen diesem Prinzip
nicht jeglichen Wert ab, wenn Sie seine Anwendung auf die
sinnlich wahrnehmbare Welt einschränken.
DER ANDERE PHILOSOPH
Wie Sie wissen, halten gewisse Philosophen dieses Prinzip für
gültig, weil es ihnen zufolge ein rationales, zur Vernunft
gehörendes Prinzip ist. Und mit diesem Recht kann es auch
außerhalb der Grenzen der objektiven Erfahrung der Phänomene
angewendet werden. Kant aber ist gegen diese Anwendung.
Man müsste auf jeden Fall den Wert seiner metaphysischen
Anwendung feststellen. Andere Philosophen wiederum sind der
Ansicht, dass die metaphysische Anwendung eines derartigen
Prinzips nicht gerechtfertigt ist, da es nicht auf eine andere
Erkenntnis des Seins begründet werden kann als auf jene der
sinnlich wahrnehmbaren Seienden. Es wäre also nichts weiter
als die Feststellung der konstanten Beziehungen zwischen den
Dingen, wobei diese Beziehungen aber außerhalb dieser Dinge
liegen.
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich kenne diese verschiedenen Standpunkte sehr gut. Was
halten Sie davon?
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
397
DER ANDERE PHILOSOPH
Die Einen wie die Anderen haben mit dem, was sie aussagen,
recht, aber ihre Standpunkte sind unvereinbar, weil sie alle einen
grundlegenden Aspekt der Wirklichkeit vergessen: nämlich ihre
Beziehungsbedingtheit. Die Einen wie die Anderen könnten
diesen Aspekt allerdings entdecken, und zwar von ihrem
jeweiligen Gesichtspunkt ausgehend, allerdings unter der
Voraussetzung, dass sie ihre Überlegung vertiefen.
Die Einen fragen sich, wie ein derartiges Kausalitätsprinzip in
der Vernunft vorhanden sein kann. Gewiss nicht als abstraktes
und formales Gesetz, wie der ordnende Inhalt anderer Inhalte
des Denkens, wie etwa die Form eines Syllogismus. Dieses
Kausalitätsprinzip kann in der Vernunft also nur als eine
ausgeübte Tätigkeit existieren, und zwar als ausgeübt von dem
Bewusstsein, das mit seinem Sein an sich identisch ist. Es kann
also nur ein wesentlicher Grundzug seines Seins als solchem
sein.
Die Anderen fragen sich, ob unser Verständnis des Seins in
der Form des Daseins das Rationale der Wirklichkeit gesamthaft
erfasst. Erweist eine ganzheitliche Verständlichkeit des Seins
das Daseiende, oder vielmehr die „Daseienden“ nicht als Teil
einer relationalen Seinsstruktur unter Seienden? Indem sich die
Vertreter beider Denkrichtungen, jeder für sich, derartige Fragen
stellen, können sie einander näher kommen, und zwar, nachdem
sie eine tiefgreifende Veränderung ihrer jeweiligen Ontologien
vollzogen haben.
Das reflexive Bewusstsein von unserer glaubenschaftlichen
Beziehungsbedingtheit ermöglicht uns also einerseits, mit mehr
Kohärenz und Gewissheit zu einer Bejahung der Existenz Gottes
voranschreiten zu können, und andererseits, über eine
reichhaltigere Vergleichsgrundlage zu verfügen, um das Wesen
Gottes zu denken.
DER ERSTE PHILOSOPH
Wenn ich Sie recht verstehe, schlagen Sie eine
„Vermenschlichung“ des Kausalitätsprinzips vor. Und indem
Sie es als in der Tätigkeit des Menschen begründet betrachten,
machen Sie es also zu einem Teilgebiet der Ethik.
DER ANDERE PHILOSOPH
398
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Tatsächlich! Das Bewusstsein von unserer „mit Anderen
seienden
glaubenschaftlichen
Endlichkeit“,
also
das
Bewusstsein von der ontologischen Unvollkommenheit unserer
menschlichen interpersonalen Glaubenschaftlichkeit, verweist
uns, sobald es durch all die Rückschläge des unehrlichen
Glaubens und des Verrates sensibilisiert worden ist, auf einen
zweifachen Anspruch.
Zunächst auf den Anspruch, der am Ende der Bewegung an
sich unseres Anerkennens eines vollkommenen Unendlichen
steht. Dieses göttliche, vollkommen Unendliche ist auch in sich
selbst eine Unendlichkeit an glaubenschaftlicher Vollkommenheit. Es gibt eine vollkommene Glaubenschaftlichkeit in
einem vollkommenen Sein, das sich in sich selbst vollkommen
mitteilt. Das ist die Bejahung eines in sich selbst
mehrpersonalen Gottes, in trinitarischer Seinsstruktur des
Gebens des Lebens.
Dann gibt es einen Anspruch, der zur glaubenschaftlichen
Wiederaufnahme unserer reflexiven Bewegung auf Gott hin
gehört. Indem wir ein vollkommen Unendliches setzen, das sich
aus unbedingter Initiative mitteilt, und das sich offenbart, indem
es uns erschafft, möchten wir auch, dass es sich uns jenseits
unserer gegenwärtigen Unvollkommenheiten mitteile, damit wir
es vollständig empfangen können. Das ist das menschliche
Verlangen nach einer vollkommenen Liebe, die in uns einen
vollkommenen Glauben wecken würde. Kurz gesagt, nach
einem von allem Bösen befreiten Leben im Glück! Ein tiefes
und echtes Bedürfnis, das seine Erfüllung finden muss.
Aber nicht Gott ist Gegenstand dieses Verlangens. Er kann
nicht gültig als Gegenstand eines „Verlangens“ des Menschen
bezeichnet werden, weil er dann lediglich ein „Objektgott“
wäre, wie der Gott des Aristoteles oder des Platon.
Halten wir die Projektion eines Vollkommenheitsideals, für
das der Mensch tatsächlich erschaffen ist, nicht für ein richtiges
Gottesbild. Die folgenden beiden Vorstellungen dürfen wir nicht
verwechseln: die absolute göttliche Vollkommenheit und die
Vollkommenheit unserer menschlichen Natur als in uns
liegendes Ziel der „Offenbarung Gottes in uns, die das bewirkt,
was er beziehungsbedingterweise in sich selbst ist“.
Die Gewissheit eines reflexiven Erkennens der Existenz eines
Gottes, der in sich selbst vollkommene Seinsmitteilung ist, und
der die seinen Plänen entsprechende Verwirklichung des
Verlangens nach dem Glück in beziehungsbedingter ethischer
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
399
Vollkommenheit, also des Verlangens, das er in uns
hineingelegt hat, indem er uns erschuf, absolut gewährleistet,
diese Gewissheit also dürfen wir nicht mit einer
götzendienerischen „psychologischen Vergötterung“ des
Objekts unserer Hoffnung verwechseln, also mit einer Erfüllung
in totaler Vollkommenheit.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Wenn ich Sie recht verstehe... und mir scheint, dass Sie
immer wieder darauf zurückkommen,... befürchten Sie, dass
sich der religiöse Mensch durch die psychische Ausübung seiner
Religion damit zufriedengeben könnte, eine horizontale,
menschliche, interpersonale Glaubenschaftlichkeit aufzurichten,
und sie „vertikal“ gegen Gott zu stellen. Dadurch würde Gott zu
einem in sich alleinseieneden „Über-Anderen“ ohne die
Begrenztheiten des konkreten menschlichen Anderen... In
diesem Fall würde ganz offensichtlich eine Verwechslung
vorliegen; eine Angleichung Gottes an ein menschliches Ideal,
und eine Art „Überhöhung eines menschlichen Ideals ins
Unendliche“, das als Gottesvorstellung ausgegeben und
aufgenommen würde. Das wäre ganz offensichtlich, wenn auch
im Unbewussten, eine Form von Götzendienst.
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau das ist es. Ich danke Ihnen... Gott ist nicht derjenige,
dem ich mich zuwende, weil mein Glaube an die Menschen
enttäuscht worden ist, oder weil keines der endlichen Objekte
meinen Durst nach Besitz löschen kann, oder weil die Bejahung
aller endlichen Objekte das intellektuelle Verlangen meines
Verstandes nicht befriedigen kann, und weil jede endliche
Aussage jenseits ihrer selbst auf ein unendliches Objekt
aufmerksam macht, wie das gewisse „Urteilsphilosophien“
behaupten.
Der Glaube, den ich Gott zuwende, ist nicht ein Glaube, der
von Menschen enttäuscht worden ist oder Gefahr läuft, es
dadurch zu werden, dass ich beim Glauben an die Menschen
stehenbleiben würde. Nein. Mein menschlicher Glaube an den
Gott, der transzendenter Schöpfer ist, weil er in sich selbst
Geben des Lebens zwischen Mehreren ist, gibt mir absolute
Gewissheit, dass all meine Glaubensbeziehungen zu Anderen,
mag es sich nun um mir mehr oder weniger nahestehende
Personen handeln, also all mein glaubenschaftliches Sein in
400
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
seiner
universalisierten
Offenheit,
sich
vollkommen
verwirklichen wird, weil nämlich sowohl Gottes vollkommenes
Werk für alle Menschen ohne Ausnahme, als auch die
vollkommene Verwirklichung seiner Pläne — die nicht
misslingen kann — für jeden Einzelnen genau darin bestehen.
Die Glaubenschaftlichkeit, die ich Gott gegenüber in einem
Akt und im Leben des auf ihn ausgerichteten Glaubens ausübe,
kann nicht auf ein in sich ungeteiltes Seiendes ausgerichtet sein,
wie etwa auf eine menschliche Person. Sonst wäre Gott eine
andere „Person“ neben einer mir gegenüberstehenden
menschlichen Person, aber doch unendlich hoch über ihr, als ein
„Großer König“, den ich unter den Subjekten sehen würde. —
Ich bewege mich immer noch auf der ontologischphilosophischen Ebene und nicht auf der empirischen und
psychologischen.
Um authentisch zu sein, muss die glaubenschaftliche
Ausrichtung unseres Bewusstseins aus dem Innersten seiner
reflexiven Gegenwart zu sich selbst „aufsteigen“, hin zu dem
Sein, das der Urgrund unseres interpersonalen Seins in
glaubenschaftlicher Beziehungsbedingtheit ist, insofern dieses
das „Abbild seines göttlichen Wesens“ ist. Denn tatsächlich
begegne ich Gott nicht in der Verfassung von „objektiver
Alterität“, wie das bei einem anderen menschlichen Seienden
der Fall ist.
Auf dieselbe Beziehungsweise an Gott zu glauben, wie man
an „ein“ Seiendes glaubt, etwa an „ein“ menschliches Seiendes,
wäre daher ein Anthropomorphismus. Denn tatsächlich denke
ich dann so an Gott, als ob er eine zum Rahmen einer
menschlichen, interpersonalen Struktur gehörende Person wäre.
Ich sehe dann nicht, dass ich seine Transzendenz übersehe, oder
dass ich zu mir selbst in Widerspruch stehe; denn um seine
Transzendenz zu behaupten, stelle ich sie über die menschliche
interpersonale Struktur, nachdem ich sie aber in eben dieser
Ebene aufgefasst habe.
Die Transzendenz Gottes verlangt, dass ich ihn mir in Bezug
zu mir nicht als „objektive Person“ vorstelle. Wenn es auch
wahr ist, dass mein Glaube an Gott genauso „natürlich“ ist wie
mein Glaube an Andere, so richtet er sich doch nicht auf
dieselbe Weise auf Gott aus wie auf andere Menschen.
Ansonsten würde ich meinen Glauben in einer objektivistischen
Verformung seiner ontologischen Beschaffenheit ausleben.
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
401
An den Gott zu glauben, der uns für und durch unsere
gegenseitigen Vertrauensbeziehungen erschafft, bedeutet, an
einen Gott zu glauben, der in sich selbst die absolute
Vollkommenheit derartiger Vertauensbeziehungen ist, weil er in
sich selbst nicht „allein“ ist, sondern als Mehrere in einer
vollkommenen Liebes- und Glaubenseinheit existiert. Er kann
also vor mir objektiv nicht „ein in sich selbst Einziger“ sein,
noch kann er in meinen Vorstellungen den Status der
Objektivität einnehmen (der aus ihm ein einsames Seiendes
machen würde), ohne dass ich einen derartigen Status nicht
sofort berichtigen müsste.
DER DOMHERR
Durch
Ihre in
kleinen
Schritten
durchgeführten
Schlussfolgerungen, mit denen Sie schließlich, nach einigen
strategischen Rückziehern, zum Durchbruch gelangen, um so
schließlich unsere gesamte Diskussion zu führen, sind Sie im
Begriff, der Philosophie die ganze religiöse Botschaft der
Theologie anzuhängen. Das ist irgendwie invasiv!...
In der Zuhörerschaft wird zustimmend gelacht...
Sie sehen!... Wollen Sie jetzt auch noch die Inkarnation
Gottes im Kind von Bethlehem schlussfolgern?
DER ANDERE PHILOSOPH
Es scheint sich um eine freundschaftliche Invasion zu
handeln... Machen Sie sich um das Kind von Bethlehem keine
Sorgen. Der philosophische Menschenfresser, vor dem Sie
Angst haben, lässt sich durch die Anmut eines Kindes, das
dermaßen mit Gnade und Göttlichkeit ausgestattet ist,
erweichen...
Was tut die Philosophie also angesichts der Inkarnation?
Kann der Gott, der sich mir in meinem Sein, in meinem MitAnderen-Sein, in der Grundlage „unserer“ gemeinsamen
geschichtlichen Existenz „offenbart“, sich auch in der
Geschichte der Menschen als derjenige offenbaren, der sich,
natürlich immer zu mehreren, für unsere gemeinsame Zukunft
jenseits der Geschichte einsetzt?
Die philosophische Reflexion kann das nicht ausschließen.
Aufgrund unserer dauerhaften moralischen Unvollkommenheit
und unserer Fähigkeit, bis zu unserem Tod Böses zu tun, kann
sie sogar ein besonderes Eingreifen Gottes herbeiwünschen.
402
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Aber sie kann dessen tatsächliches Stattfinden nicht
voraussehen. Sie kann begreifen, dass Gott dazu die Initiative
ergreift, und zwar gegenüber einer Menschheit, die als Geschöpf
dazu vor-bereitet ist, ihn als solchen aufzunehmen; dazu
vorbereitet aufgrund der moralischen Verpflichtung, uns in
vollkommener Glaubens- und Liebesbeziehung mit Anderen zu
verwirklichen. Wenn Gott nun die Initiative dazu ergreift, dann
wäre das, logischerweise und in Übereinstimmung mit seinem
göttlichen Sein, in der Form einer Seinsmitteilung „sui generis“
in unserer Geschichte, nämlich dort, wo die Glaubenschaftlichkeit der Menschen in zureichendem Maße in ihrer
natürlichen Vor-bereitung fortgeschritten sein wird.
Der Christ erkennt, dass all dies in der Inkarnation des Wortes
des Vaters, des Anderen vom Einen, in einem Mann Israels
geschehen ist: in Jesus von Nazareth. Die Wirklichkeit einer
derartigen transzendenten „Offenbarung“, deren absolute
Initiative bei Gott liegt, und die daher weder vorhergesehen
noch von den Menschen explizit erahnt werden kann, ist
dennoch durch die natürliche Entwicklung der von Gott als
solcher erschaffenen und gewollten Glaubenschaftlichkeit des
Menschen ermöglicht. Der Mensch, der dann mit klarem
Verstand dem Gott, der seinen Einsatz für seine absolute
Zukunft in einer vollkommenen Verwirklichung seines
beziehungsbedingten Seins in dieser Weise offenbart hat, seinen
Glauben in erneuerter Form schenken will, muss sich auch der
Bedingungen der Möglichkeit eines derartigen Glaubens
bewusst werden.
Wir haben bereits ausführlich darüber gesprochen. Mir
scheint es nicht nötig, darauf zurückzukommen.
DER MODERATOR
Vergessen Sie bitte nicht, auf die Frage unserer Anwältin zu
antworten...
VERÄNDERN DIE INTERPERSONALITÄT DES SEINS UND DIE
GLAUBENSCHAFTLICHKEIT UNSERE AUFFASSUNG VOM RECHT
UND VON GERECHTIGKEIT?
DIE ANWÄLTIN
Ja... danke... Kann die Erkenntnis einer glaubenschaftlichen
Dimension der menschlichen Existenz, die ja die Vorstellung
impliziert, dass Gott in mehreren Subjekten existiert, einen
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
403
Einfluss auf unsere Auffassung vom Recht und von seiner
Beziehung zum moralischen Gesetz haben?
DER ANDERE PHILOSOPH
Zweifellos, aber...
DER MODERATOR, indem er ihn unterbricht und sich der
Anwältin zuwendet...
Verzeihen Sie, meine Dame, aber ich möchte meine Fragen
der Ihrigen anschließen...
Ist das moralische Gesetz göttlichen Ursprungs? Oder sind
Moral und Rechtsordnung auch ohne Gott möglich? Diese Frage
kann einerseits auf der Ebene der menschlichen Praxis
verstanden werden; andererseits auf der Ebene des Seins... Ich
habe sehr wohl meine eigenen Gedanken dazu, aber als
Moderator soll ich die anderen zu Wort kommen lassen. Was
denken also die Philosophen darüber?
DER ERSTE PHILOSOPH
Glaubende sehen im moralischen Gesetz ein Gebot Gottes.
Für Juden und Christen erging die Offenbarung dieses Gesetzes
stückweise und in fortschreitendem Maß erst an die ersten, aus
dem Nichts hervorgebrachten Menschen; dann an Noah und die
Überlebenden der Sintflut, dann an Mose und die Hebräer am
Sinai, nach der Befreiung aus Ägypten. Man hat den Eindruck,
dass sich das moralische Gesetz bei jeder „Rettung“, oder bei
jedem Schritt der Weiterentwicklung verbessert... Das sage ich
nur so nebenbei... Lässt sich das deuten?
Da Gott nicht anders zu uns spricht als in dem Akt, in dem er
uns erschafft — das haben wir in diesen Tagen zu Genüge
gesagt — schließe ich, zusammen mit der Antigone des
Sophokles, dass uns das moralische Gesetz angeboren ist, und
dass es in unsere Herzen eingeprägt ist. Dass das moralische
Gesetz von Gott kommt, ist also eine weitverbreitete Ansicht.
Dennoch kann man nicht sagen, dass Nichtglaubende und
Atheisten ohne moralisches Gesetz leben. Kann man sich damit
zufriedengeben, zu sagen, dass Gott es sehr wohl in ihr
Gewissen eingeschrieben hat, aber dass sie nicht merken, dass es
darin eingeschrieben wurde? Es ist so, als ob sie einen Text
lesen würden, ohne seinen Autor zu kennen. Das moralische
Gesetz würde ohne Gott nicht existieren, aber seine Anwendung
durch den Menschen wäre ohne Gotteserkenntnis möglich.
404
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Gott ist der unabhängige Gesetzgeber und hat daher die
allgemeinen Gesetze geschaffen, die unsere sozialen
Beziehungen bestimmen sollen. Das Recht präzisiert
gewissermaßen ihre Anwendungsbestimmungen. Genau
deswegen kann ein „gerechtes“ Recht dem moralischen Gesetz
nicht widersprechen. Man kann also sagen, dass das Recht
mittels des moralischen Gesetzes von Gott kommt; oder dass es
vom moralischen Gesetz kommt; oder dass es das moralische
Gesetz selbst ist, ohne dass man dabei auf Gott Bezug nimmt.
Das Recht bleibt dasselbe, was sich ändert, ist die innere
Einstellung des Glaubenden oder des Atheisten ihm gegenüber.
DIE ANWÄLTIN
Ich verstehe. Sie haben vor allem auf die Fragen unseres
Moderatoren geantwortet. Ich meinerseits frage mich, womit
eine neue Auffassung von der Beschaffenheit der menschlichen
Beziehungen unter anderem unsere Auffassung von Recht und
Moral verändern könnte.
DER ERSTE PHILOSOPH
Ich möchte gerne meinen Kollegen auf Ihre Frage antworten
lassen... Erlauben Sie mir lediglich, sie in unsere philosophische
Debatte „einzuordnen“. Hegel hat klargestellt, dass die
Rechtsordnung ihrem Wesen nach die konkrete Form des freien
Handelns des Menschen darstellt. So gesehen gibt es eine
Übereinstimmung zwischen Recht und Moral.
Allerdings kann das positive Recht, weil es lediglich ein Werk
von Menschen ist, in gewissen Fällen mehr oder weniger weit
hinter seinem Gerechtigkeitsideal zurückbleiben. Aber wenn wir
das Wesen des Rechts ausgehend von einer Reflexion über das
Sein, und in Parallele zum davon abgeleiteten Gottesbild
verstehen wollen, dann müssen wir diese Möglichkeit des
Rechts, zu missraten, indem es „ungerechte Rechte“ auferlegt,
im husserl’schen Sinn ausklammern. Sich die Frage nach dem
Recht zu stellen heißt dann, sich nach dem Stellenwert der
Rechte der menschlichen Person zu fragen.
Die Rechte der Person sind bereits in sich selbst Beziehungen:
Beziehungen zu Dingen und Handlungen eines Anderen,
insofern diese Handlungen dem Träger des Rechtes geschuldet
sind, der sie deshalb als ein Gut, das ihm gehört, einfordern
kann. Daraus folgt für einen jeden eine Pflicht, die Rechte der
Anderen zu achten.
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
405
Angesichts der klassischen Definition stellen Sie sich also die
folgende Frage: „Kann die Idee der Rechte der Person eines
Tages neu durchleuchtet werden, nämlich wenn man die
wesentliche Beziehungsbedingtheit der Person mit einbezieht,
und nicht nur die vorhandenen Situationen von Beziehungen
zwischen Individuen?“ Sind Sie mit dieser Formulierung
einverstanden?
DIE ANWÄLTIN
Ja, das ist der Sinn meiner Frage.
DER ANDERE PHILOSOPH
Um auf diese Frage zu antworten, werde ich mich, wie mein
Kollege anrät, innerhalb der Hypothese bewegen, dass das
positive Recht mit den ethischen Forderungen im Einklang steht
und seine konkrete Anwendungsweise ausdrückt.
Zunächst möchte ich die Stellung des moralischen Gesetzes
als Wirklichkeit, die unserem Bewusstsein angeboren ist, etwas
genauer darlegen.
Wir müssen hier eine in der Philosophie häufig angewendete
Unterscheidungsform beachten, nämlich jene zwischen einer
Tätigkeit, insofern sie ausgeübt wird, und ihrem oder ihren
Inhalten. Nehmen wir als Beispiel das Wort „Wort“. Dieser
Begriff kann einerseits den Akt oder die Ausübung des
Sprechens bedeuten, und andererseits die Worte, die den Inhalt
oder die Bestimmung dieses Aktes bilden.
Wenn wir hier vom „moralischen Gesetz“ oder von
„moralischer Pflicht“ sprechen, muss dabei gut unterschieden
werden zwischen „dem Akt, zu verpflichten oder sich zu
verpflichten“, und „dem, wozu man verpflichtet ist, oder wozu
man sich verpflichtet“.
Als mein Kollege von einem Fortschritt des moralischen
Gesetzes sprach, meinte er das moralische Gesetz in seinen
einander ablösenden Inhalten. Wenn man seine Bemerkung über
einen Fortschritt des moralischen Gesetzes in der Bibel
anlässlich jeder neuen „Befreiung“ oder „Erhebung an Würde“
auf der Ebene des Bewusstwerdens betrachtet, verdient sie
Zustimmung. Aber von Anfang an gibt es Verpflichtung als
moralischen Imperativ, selbst wenn ihr Inhalt nur in
rudimentärer Weise wahrgenommen wird.
Bezüglich
des
ethischen
Imperativs
und
seiner
Inhaltsbestimmung stellt sich also die zweifache Frage nach
406
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
seiner ontologischen Stellung. Selbstverständlich auferlegt Gott
das moralische Gesetz nicht einem von Kopf bis Fuß bereits
erschaffenen Menschen. Er setzt den moralischen Imperativ also
nicht erst nach seinem Schöpfungsakt ein. Die ins Herz des
Menschen eingeschriebene, angeborene Vorstellung von einem
moralischen Gesetz impliziert die Gleichzeitigkeit der
Erschaffung des Menschen und seiner ethischen Verfasstheit.
Aber reicht diese Gleichzeitigkeit vom „In-unsere-Herzengeschrieben-Werden“ des Gesetzes mit dem Schöpfungsakt aus,
um das Prinzip anzunehmen, dass jedes Wort Gottes eine
Wirklichkeit ist, und dass das Wort Gottes, wenn es um den
Menschen geht, eine menschliche Person ist? Meines Erachtens
nicht.
DER DOMHERR
Und warum? Die Lehre vom Angeborensein des Gesetzes
trifft sich mit der klassischen Vorstellung von einer natürlichen
Moral und einem Naturrecht, das also an die menschliche Natur
gebunden ist und aus ihr folgt.
DER ANDERE PHILOSOPH
Zweifellos, aber dann hängt alles davon ab, wie Sie die
menschliche Natur betrachten. Wenn Sie sie immer noch
„individualistisch“ betrachten, und als aufgrund ihrer
angeborenen Mangelhaftigkeit zu Anderen in Beziehung
stehend, dann ist ihr die moralische Verpflichtung zur Achtung
und Liebe des Anderen von außen auferlegt, entweder durch
Gott, oder durch die Gesellschaft selbst, damit der Mensch nicht
seinem grundlegenden Egoismus nachgibt.
Das „Wort“ Gottes, dass die moralische Verpflichtung und
ihre inhaltliche Bestimmung begründet, muss ganz mit dem
geschaffenen Sein des Menschen zusammenfallen, mit weiter
nichts als seinem Sein, aber mit seinem ganzen Sein, das ja
gerade ein nicht in Stücke aufgeteiltes „Wort Gottes“ ist.
DER DOMHERR
Und wie das?
DER ANDERE PHILOSOPH
Dadurch, dass der Mensch bewusstseinsbegabt und frei
erschaffen ist; dass er sich also bewusst und von sich aus gemäß
den notwendigen Grundeigenschaften seines Seins verwirklicht.
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
407
Nun ist der Mensch aber ein im Werden befindliches Seiendes.
Daher prägen die notwenigen Grundeigenschaften seines Seins
zwingend auch seine Handlungen, durch die er sich
verwirklicht. Das ist der moralische Imperativ. Der Mensch
unterliegt also der Verpflichtung, aus sich selbst heraus das zu
werden, was er ist; unter der Verpflichtung, sich zu vollziehen;
sich zu verwirklichen. Außerdem sind die Grundeigenschaften
seines Seins, die analog dieselben sind wie die
Grundeigenschaften des Seins Gottes, die Inhaltsbestimmungen
seiner Verpflichtung in Freiheit.
Nun haben wir bereits gesehen, dass Sein darin besteht, ins
Sein zu rufen. Die Grundeigenschaften des Seins gehören in den
beziehungsbedingten und glaubenschaftlichen Bereich zwischen
Personen. Sich dieser Beziehungsbedingtheit bewusstwerden
und unsere Taten schrittweise an sie anpassen heißt, zu
entdecken, was das moralische Gesetz ist, und moralisch zu
handeln.
Gott ist als vollkommenes Bewusstsein und vollkommene
Freiheit mit absoluter Notwendigkeit sein beziehungsbedingtes
Sein. Der Mensch ist als begrenztes, im Werden befindliches
Seiendes lediglich der Verpflichtung nach sein Sein, und nicht
mit absoluter Notwendigkeit.
Die moralische Verpflichtung ist zwar nicht die absolute,
notwendige Grundeigenschaft der göttlichen Freiheit, aber
dennoch die herausragendste Form der menschlichen Freiheit.
Aber da die menschliche Freiheit lediglich eine Freiheit unter
Verpflichtung ist, verwirklicht sie sich im Rahmen von
vielfältigen und hierarchisch gegliederten Entscheidungen, in
Übereinstimmung mit ihren notwendigen und wesentlichen
beziehungsbedingten Grundeigenschaften.
In den ihm zur Verfügung stehenden weit gefächerten
Wahlmöglichkeiten hängt der Mensch von der äußeren Welt ab.
Aber durch die aus seinem Sein folgenden Verpflichtungen, die
das moralische Gesetz bilden, hängt er ausschließlich von sich
selbst ab. Diese Unabhängigkeit von der Welt ist das äußere
Zeichen seiner ontologischen inneren Freiheit. Die konkrete
Form der menschlichen Freiheit besteht also darin, seine
Entscheidungen
an
diesen
moralischen
Forderungen
auszurichten und sie zu erfüllen.
DIE ANWÄLTIN
408
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Dann gibt es also keine Offenbarung der moralischen Gesetze
im Verlauf der Geschichte, und auch kein Eingeschrieben-Sein
der göttlichen Gebote in das menschliche Bewusstsein im
Augenblick seiner Erschaffung. Damit entfernen wir uns sehr
weit von der Bejahung eines „offenbarten“ Rechts, wie sie der
Islam behauptet.
DER ANDERE PHILOSOPH
Nein, von Seiten Gottes ist keine individuelle oder an eine
Gemeinschaft gerichtete Offenbarung einer Moral oder eines
Rechts möglich. Derartige Offenbarungen sind nichts weiter als
bestürzende Behauptungen gewisser Menschen. Tatsächlich
steckt der moralische Imperativ mit seinen hauptsächlichen
Inhalten weitaus tiefer im Menschen, als man aufgrund der
Vorstellung von einer im Lauf der Geschichte von Gott dieser
oder jener Person diktierten Botschaft vermuten könnte; oder
aufgrund der Vorstellung von einem bei seiner Erschaffung ins
Bewusstsein des Menschen eingeprägten Gebotes. Denn in
beiden Fällen könnte man annehmen, dass der moralische
Imperativ auch hätte nicht existieren können, und dass die
moralischen Gesetze anders hätten ausfallen können, wenn Gott
anders entschieden hätte.
Nun kann Gott aber keine Menschheit erschaffen, ohne dass
diese in ihrer geschaffenen Freiheit verpflichtet wäre, und sich
als der Verpflichtung unterliegend verstehen würde, sich durch
ihre Taten selbst zu verwirklichen. Die moralische
Verpflichtung im Menschen ist das Abbild der freien
Notwendigkeit, durch die Gott Gott ist. Außerdem kann Gott
nicht ein anderes moralisches Gesetz auswählen — sonst wäre
die Freiheit Gottes nicht vollkommen — als jenes der
Übereinstimmung unserer Handlungen mit den notwendigen
Grundeigenschaften unseres Seins, die ebenfalls Abbild dessen
sind, was Gott in sich selbst ist. Alle moralischen Gesetze folgen
aus der wesentlichen Beziehungsbedingtheit unseres Seins, in
Analogie zur Interpersonalität Gottes an sich.
Die Menschen werden sich dessen im Verlauf der Geschichte
schrittweise bewusst, wobei sie sich der Wahrheit mehr oder
weniger annähern, und sie wenden sie in juristischen
Anwendungen mit mehr oder weniger „Richtigkeit“ auf die
Einzelfälle an. Sie müssen auch die gesamte Verantwortung
dafür übernehmen, um nicht Gott dadurch für ihre Fehler in
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
409
diesem Bereich verantwortlich zu machen, dass sie das
Gesetzeswerk als „offenbart“ hinstellen.
DIE ANWÄLTIN
Die Menschen sind also für ihre juristischen Gesetzgebungen
ganz und gar selbst verantwortlich und dürfen sich dafür auf
keine göttliche Autorität berufen. Sind Sie damit nun aber nicht
ein Verfechter dessen, was man als „Rechtspositivismus“
bezeichnet?
DER ANDERE PHILOSOPH
Warum nicht? Man muss scharf unterscheiden...
Vorausgesetzt, dass dieser Rechtspositivismus nur während der
Dauer einer Volkswahl... die für unsere Tätigkeiten zur Auswahl
stehenden Möglichkeiten... nicht verabsolutiert. Damit das
Recht mit dem einzigen Willen Gottes, die Menschheit nach
seinem Abbild zu erschaffen, übereinstimmt, würde es
ausreichen, dass die Würde des Menschen und seiner
Beziehungen zum Anderen wirklich geachtet werden.
DIE ANWÄLTIN
Dann muss eine derartige relationale Vorstellung vom
Menschen also zumindest in der Theorie irgendwelche
Auswirkungen darauf haben, wie man das Recht versteht?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz gewiss. Da der Mensch in der Vollkommenheit seines
Seins wesentlich beziehungsbedingt ist, und nicht aufgrund einer
ontologischen Mangelhaftigkeit und eines Bedürfnisses nach
Ergänzung, muss gesagt werden, dass „man sich dadurch
verpflichtet, zu sein und als Mensch sich selbst zu werden“, dass
„man sich, in Treue zu sich selbst, dem Anderen verpflichtet“.
Die Selbstverpflichtung, sich als Mensch zu verwirklichen, ist
dasselbe, wie sich dem Anderen in Treue zu sich selbst
verpflichten“. Die Verpflichtung, den Anderen als „Anderen“ ins
Sein zu rufen — also als ganz und gar von mir unterschieden,
auch als beziehungsbedingtes Seiendes, und also als offen für
die Universalität des Dritten — bzw. die Pflicht zur
Nächstenliebe (caritas), oder, noch anders gesagt, das
moralische Gesetz der Liebe, begründet in den Anderen die
Hoffnung, Bezugspunkt dieser Liebe zu sein, zu der ein jeder
sich in Freiheit verpflichtet.
410
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Jeder freien Verpflichtung in mir entspricht in den Anderen
eine auf sie gegründete Erwartung, dass ich meine Pflicht ihm
gegenüber erfülle. Diese Erwartung steht in Übereinstimmung
zu ihm selbst. Sie ist die juristische Form der ethischen
Glaubenschaftlichkeit. Und bei den Anderen setzt jede ebenfalls
unter freier Verpflichtung stehende Hoffnung voraus und
verlangt, weil sie begründet sein muss — ansonsten wäre die
Verpflichtung der Hoffnung sinnwidrig —, und weil sie nicht
auf sich selbst begründet sein kann, dass es in mir eine
Verpflichtung gibt, für ihn zu existieren, also eine Pflicht zur
Liebe und zur caritas.
Die Beziehung „Verpflichtung im Einen, die im Anderen
Hoffnung weckt“, ist gegenseitig. Die ethische Verpflichtung in
mir begründet beim Anderen eine „Hoffnung“; die ethische
Verpflichtung im Anderen begründet meine Hoffnung. Bei
Personen zieht die Gegenseitigkeit des Wollens, dass der Andere
sei, die Pflicht zum Glauben an die Liebe des Anderen nach
sich, an die Liebe, die in diesem Glauben und dieser Hoffnung
ihre eigentliche Verwirklichung findet.
Nun kommt aber diese der Ethik eigene Beziehung dadurch
zur Ausübung, dass sie sich konkretisiert, sich also in der
Ordnung des Rechts verwirklicht. Die interpersonale Struktur
der moralischen Ordnung durchdringt und ordnet jede
Rechtsordnung. Anders gesagt: Die Rechtsordnung erhält ihre
Struktur von der interpersonalen moralischen Struktur. Die
Verpflichtung und Pflicht zur Freiheit konkretisiert sich also in
der rechtlich festgelegten Pflicht, wo meine dem Anderen
gegenüber existierende Pflicht mit der Pflicht des Anderen mir
gegenüber in einem Verhältnis der Gegenseitigkeit steht.
Auch die sichere Hoffnung, die ich auf die Freiheit des
Anderen und die Erfüllung seiner Pflicht setze, konkretisiert sich
in der Rechtsordnung. Sie nimmt die Gestalt eines ihm
gegenüber existierenden Rechts an: die konkretisierte Gestalt
der Verpflichtung zur Hoffnung auf seine Pflicht. So, wie es in
der moralischen Ordnung die Pflicht zur Hoffnung auf die
Pflicht des Anderen gibt, ohne die wir moralisch dagegen sein
könnten, dass der andere seine Pflicht ausübt — was in sich
widersprüchlich wäre — so gibt es folglich in der
Rechtsordnung eine rechtliche Pflicht zu den Rechten, die uns
die Pflichten sichern, die der Andere sich in Freiheit auferlegt.
In der Rechtsordnung, die die konkretisierte Ordnung der
Pflicht (im hegelianischen Sinn) ist, ist das Recht (der Person)
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
411
die verpflichtende Erwartung — ich kann mich ihr also nicht im
eigentlichen Sinn entziehen — an die Pflicht des Anderen mir
gegenüber.
Weil diese beiden Bedeutungen gleich sind, sagen wir, dass
die Rechte des Anderen mir gegenüber die juristische Form
seiner in Freiheit ausgeübten Hoffnung sind, mich meine
Pflichten ihm gegenüber gemäß diesen rechtlichen
Anordnungen ausüben zu sehen.
In der Ordnung des Rechts bin ich angehalten, zu erwarten,
dass der Andere mir gegenüber seine Pflichten ausübt. Daher ist
also jedes „Recht“ bei mir zu einer Pflicht korrelativ, die sich
der Andere mir gegenüber auferlegt, und umgekehrt. Jeder
Pflicht, die mir als relationalem Seienden auferlegt ist, weil ich
mich als freies Subjekt notwendigerweise dazu verpflichte,
entspricht im Anderen ein Recht, das auf die Pflicht begründet
ist, die ich ihm gegenüber habe.
DER ERSTE PHILOSOPH
Noch einmal drehen Sie den klassischen Standpunkt um.
Anstatt zu sagen „Das Recht des Anderen bewirkt in mir eine
Pflicht“, sagen Sie: „Meine Pflicht gegenüber dem Anderen
bewirkt in ihm ein Recht“.
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau! Die Rechte einer Person sind also auf die Pflichten
der anderen freien Personen ihr gegenüber gegründet. Unsere
Rechte sind auf die Freiheit des Anderen uns gegenüber
gegründet, und nicht umgekehrt, denn wenn eine Pflicht, so wie
das klassische Denken es zu oft annimmt, in einer Person auf
das Recht eines Anderen ihr gegenüber gegründet wäre, dann
würde die Grundlage der Pflicht und der moralischen
Verpflichtung nicht mehr im Sein an sich der Person liegen,
sondern außerhalb ihrer selbst.
Wenn sich die juristisch festgelegten Pflichten aus den von
Anderen eingeforderten und festgelegten Rechten ergeben
würden, dann wäre die moralische Verpflichtung nicht mehr auf
die notwendigen Grundeigenschaften der Freiheit begründet,
und die Rechtsordnung wäre nicht mehr die Ordnung der
Konkretisierung von Freiheit und Moralität, und das Recht wäre
dann lediglich eine Beziehung der „legalisierten“ Gewalt.
Und es würde nicht genügen, zu behaupten, dass
Verpflichtung als solche auf Freiheit gegründet ist; aber in
412
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
gewissen Fällen durch die Rechte des Anderen ihre
Inhaltsbestimmung erhält, weil unter dieser Behauptung das
Recht
des
Anderen
mir
gegenüber
keinen
verpflichtungsbegründenden Wert hätte, wie man gewöhnlich
annimmt. Obendrein löst eine derartige Ausdrucksweise die
Ausübung der Pflicht willkürlich von ihrer Inhaltsbestimmung
los, indem sie beide in unterschiedliche freie Subjekte
hineininterpretiert, was nicht möglich ist, ohne dass man den
Freiheitsakt an sich zu Nichts reduziert. „Rechte“, die der
Freiheit eines Anderen anhaften, können die moralische Pflicht
in meinem Sein genauso wenig inhaltlich bestimmen, wie die
dogmatischen Definitionen des Glaubens meinen Akt des
Glaubens an Gott bestimmen können. Jede menschliche
Gesetzgebung, die auf derartige Voraussetzungen begründet
wäre, würde implizit oder unbewusst die Menschenwürde in
Frage stellen.
Meinen grundlegenden Pflichten dem Anderen gegenüber
entsprechen genauso viele grundlegende Rechte des Anderen,
die auf diese Pflichten gegründet sind; und umgekehrt
entsprechen den grundlegenden Pflichten, durch die sich der
Andere frei für mich einsetzt, genauso viele grundlegende
Rechte in mir, weil diese Rechte in diesen Pflichten begründet
sind.
Insofern ich frei bin, also insofern ich ein Subjekt bin, das
sich seinen eigenen, notwendigen Grundeigenschaften
verpflichtet, verpflichte ich mich den auf die Pflichten des
Anderen gegründeten „Rechten“, und dadurch bin auch ich der
Pflicht des Anderen mir gegenüber „verpflichtet“. Ebenso muss
ich die Art und Weise, in der ich „mein Recht erhalte“, so
gestalten, dass ich zum Ausdruck bringe, dass der andere aus
Pflicht mir gegenüber frei handelt und daher verantwortlich ist.
Man kann daher nur wünschen, dass eine Mentalität des
Einforderns durch eine Gesinnung der Anerkennung und der
Dankbarkeit dadurch ersetzt wird, dass der Sinn für unsere
Pflichten die Oberhand über unsere Selbstsucht gewinnen wird.
Dies wird in dem Maß möglich werden, in dem man versteht,
dass man in dem Maß wirklich sich selbst ist, in dem man
wirklich will, dass die Anderen seien und auf bestmögliche
Weise sich selbst seien.
Der wahrhaftige Geist des allgemeinen Rechts ist nichts
anderes als die „soziale Glaubenschaftlichkeit“. Die eheliche
Glaubenschaftlichkeit ist der Geist des Eherechts. Aber das
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE
DER MORAL UND DES RECHTS
413
existierende „Recht“, das für die Situationen der Verletzung des
moralischen Rechts geschaffen wurde, geht von einem
individualistischen Gesichtspunkt aus.
Um zu schließen, möchte ich sagen, dass es für die
Möglichkeit einer derartigen Weiterentwicklung außerdem nötig
ist, dass sich unser Gottesbild weiterentwickeln kann, und dass
wir darin das absolute und vollkommene Ideal unserer
interpersonalen Beziehungen finden können...
DER DOMHERR ergreift plötzlich das Wort:
Sie haben gesagt, dass der menschliche Forstschritt hin zu
einem gerechteren Recht, zu mehr Brüderlichkeit und Harmonie
zwischen den Menschen in Parallele dazu die Zustimmung zum
trinitarischen Geheimnis als Urbild der interpersonalen
Beziehungen voraussetzt oder zumindest verlangt. Ich habe
Ihren Gedankengang gut verfolgt. Er ist ziemlich stimmig, aber
Ihre Schlussfolgerungen überraschen mich, und es wird Ihnen
nicht leicht fallen, dafür Zustimmung zu erlangen. Sie beißen
sich die Zähne aus an einer Wirklichkeit, der Sie nicht
gewachsen sind, mein Herr!
DER ANDERE PHILOSOPH
An einer Wirklichkeit, die eine beobachtbare „Tatsache“ ist?
Das ist möglich, und sogar mehr als wahrscheinlich...
DER DOMHERR
Die rationalistischen Philosophen werden sich Ihnen nicht
anschließen. Und was die Kirche anbelangt, so ist sie weiterhin
den Philosophen gegenüber, die die Geheimnisse des Glaubens
erklären wollen, sehr misstrauisch. Und wie werden Sie
außerdem die Juden und die Muslime von Ihrer philosophischen
Wahrheit überzeugen, die ja der Ansicht sind, dass das
Geheimnis der Dreieinigkeit bereits eine Lästerung des Einen
Gottes darstellt? Sind Sie sich der in einem derartigen
Unterfangen liegenden Utopie bewusst? Das ist meine
Diagnose.
DIE ANWÄLTIN
Nun kann ich Ihnen endlich für Ihre Antwort danken. Die
plötzliche Wortmeldung des Herrn Kanonikus war mir
zuvorgekommen... Ihre Antwort erinnert mich an gewisse
Thesen des Auguste Comte..., der jedoch ein positivistischer und
414
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
eher materialistischer Denker war..., aber er hatte, sagen wir...,
„Gemeinschaftssinn“.
DER DOMHERR
Ich bitte vielmals um Verzeihung, meine Dame...
DIE ANWÄLTIN
Kein Problem, Herr Kanonikus. Ich habe Verständnis dafür,
dass Sie mehr als ich in diese Debatte vertieft sind, da Sie davon
weitaus tiefer betroffen sind...
DER ANDERE PHILOSOPH
Mit diesem Vergleich zu Auguste Comte haben Sie recht. Aus
Idealismus wollte er ausschließlich von „Pflichten“, und nicht
von „Rechten“ sprechen. Er hatte Einsichten, für die man ihm
recht verschaffen muss. Aber der Vorrang der in die Freiheit des
Subjekts eingeschriebenen „Pflicht“ gegenüber einem „Recht“,
das ihm von außen her zwingend zukäme, kann nicht gültig auf
die materiellen Bedingungen der menschlichen Existenz
begründet werden; aber sehr wohl auf die interpersonale geistige
Beziehungsbedingtheit dieser Existenz. Eine relationale
Ontologie kann tatsächlich eine gesamte Rechtsphilosophie
inspirieren. Dort wäre noch viel Arbeit zu leisten. Wir können
miteinander darüber sprechen... Ich stehe Ihnen gerne zur
Verfügung!
DER MODERATOR
Da Sie hiermit den Schlussstrich unter Ihre Antwort ziehen,
nutze ich die Gelegenheit, um die Sitzung aufzuheben... Bis
morgen, bei unserer letzten Zusammenkunft!
ACHTE BEGEGNUNG
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
DER MODERATOR
Nun sind wir also zum letzten Mal auf diesem Kreuzschiff
zusammengekommen. Abends werden wir in Haifa anlegen.
Nutzen wir diesen Vormittag aus, um unsere Fragen nach der
Glaubenschaftlichkeit wieder aufzunehmen.
WIE KANN MAN ZWISCHEN DEN WAHRHEITEN DER
PHILOSOPHISCHEN UND JENEN DER GLAUBENDEN VERNUNFT
UNTERSCHEIDEN?
DER DOMHERR
Erlauben Sie mir, Herr Debruquel, auf meine Kritik Ihrer
Grundgedanken zurückzukommen... Gestern, gegen Ende der
Zusammenkunft, fragte ich Sie, ob Sie nicht auch das Geheimnis
der Inkarnation herleiten wollen, nachdem Sie dies bereits mit
jenem der Trinität getan haben...
Ganz allgemein würde ich gerne wissen, wie Sie Ihre
Philosophie noch von der Theologie unterscheiden können. Ich
verstehe Sie nämlich immer noch falsch...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich verstehe Ihre Frage durchaus, Herr Kanonikus... Ich gehe
zunächst auf die unausgesprochenen Voraussetzungen Ihrer
Frage ein.
In Ihren Augen vermische ich Philosophie und Theologie, und
zwar, weil Sie nicht sehen, wo ich innerhalb meines Vorhabens
die Grenze zwischen beiden ziehe. Zweifellos ziehen wir beide
die Grenze nicht an derselben Stelle. Vielleicht bin ich nicht klar
416
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
genug! Denn ich komme zu leicht von einem Thema auf ein
anderes. Ich werde mir Mühe geben, mich genauer zu fassen...
Sie sind sicherlich der Ansicht, dass der Philosoph
ausschließlich über die Einheit Gottes, und nicht über seine
Dreiheit, sprechen sollte. Sie ziehen Ihre Grenze zwischen
„materiell“ verschiedenen Wahrheiten. Ich ziehe meine
zwischen „formal“ verschiedenen Wahrheiten, die aber
dieselben Wirklichkeiten betreffen: Für den Philosophen die
ontologische und erschaffende Trinität, und für den Glaubenden
und den Theologen die sich als rettend und in ihr Heilswerk
eingebunden offenbarende Trinität.
DER DOMHERR
Dann ist es eine Unterscheidung in nur einem Punkt: die
Trinität. Sie ist nicht wirklich methodologisch.
DER ANDERE PHILOSOPH
Das gebe ich zu. Methodologisch gesehen würde ich also die
Religionsphilosophie ganz allgemein und besonders jene des
Christentums einerseits, und andererseits die konfessionell
gebundene Theologie im allgemeinen und besonders jene des
Katholizismus, unterscheiden.
Sie liegen nahe beieinander, weil man sogar sagen kann, dass
ihre „Materialobjekte“ teilweise nicht unterscheidbar sind. Sie
überschneiden einander, würden die Logiker sagen. Sie
unterscheiden sich, weil ihre „Formalobjekte“ verschieden sind.
Ich möchte nicht zu abstrakt bleiben..., auch wenn das Thema
es ist, und ich möchte mich auch nicht an eine peinlich genaue
Untersuchung der jeweiligen Methoden der mit dem
Christentum
befassten
Religionsphilosophie
und
der
katholischen Theologie einlassen. Sagen wir, um konkret zu
werden... Wenn Sie von der heiligen Dreieinigkeit sprechen, und
ich von einer Dreieinigkeit von Personen in Gott, oder von einer
dreigliedrigen interpersonalen Struktur in der göttlichen Natur,
dann sprechen wir zweifellos beide von derselben
transzendenten Wirklichkeit: Gott,... Dasselbe „Materialobjekt“,
zumindest teilweise.
DER DOMHERR
Sie beweisen also, dass Gott Dreieinigkeit ist, Sie haben es
gerade gesagt... Dann liegt also, wenn man von der katholischen
Rechtgläubigkeit ausgeht, eine Häresie vor!
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
417
DER ANDERE PHILOSOPH
Nein. Ich sage es nochmals, nein! Wir beide geben nämlich
dem Begriff „Dreieinigkeit“ nicht dieselbe „formale“
Bedeutung. Verstehen Sie es doch! Ich selbst als christlicher
Glaubender wende mich, wenn ich zu Gott, der heiligen und in
Jesus dem Christus offenbarten Dreieinigkeit bete, an den Vater
unseres Herrn, an Christus, den Sohn Gottes, und an den
Heiligen Geist, der aus dem Einen und aus dem Anderen
hervorgeht und uns von ihnen versprochen wurde. Und genauso
ist das für Sie, oder? Anders gesagt: Es handelt sich um die
durch die Inkarnation des Wortes in Jesus offenbarte
Dreieinigkeit: den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Eine
mit der Inkarnation untrennbar verbundene Trinität, genauso,
wie der Gott der ersten Verse des Buches Genesis untrennbar
sowohl Schöpfer ist, und dann der Gott Abrahams, und dann der
Gott, der Israel befreit.
Nun ist aber die Inkarnation des Wortes in Jesus, wie sie
Johannes im Prolog seines Evangeliums beschreibt, ein Ereignis
in unserer Geschichte. Eine unserem Glauben vorgelegte
unerhörte Tatsache. Wie sollte ein Philosoph bitte eine
„Tatsache“ „herleiten“ und beweisen? Sie als Theologe, und
ebenso alle anderen, und ich als Glaubender: Wir alle machen
diese Tatsache zur Grundlage der Theologie. Sie ist ihre
grundlegende Voraussetzung. Auch Sie „beweisen“ sie nicht.
Und der „Glaubende“ „beweist“ sie ebenso wenig. Ausgehend
vom Zeugnis der Apostel anerkennt er sie als wirklich, als
„stattgefunden-habend“, und dieses Zeugnis wird in der
Überlieferung der Kirche weitergegeben, in der Kirche, der wir
eine sehr tiefe „gesellschaftliche Glaubenschaft“ entgegenbringen, aber keine „theologische Glaubenschaft“. Ich denke,
wir sind uns einig!
DER DOMHERR
Wir sind uns einig. Wenn Sie also mit der Überlieferung der
Kirche von der heiligen Dreieinigkeit sprechen, dann können Sie
nicht als Philosoph davon sprechen, weder auf die eine noch auf
die andere Weise.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich sehe, dass wir noch nicht einig sind! Als Religionsphilosoph, also als Philosoph der religiösen Dimension des
418
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
menschlichen Seins; und sogar in einem noch weiteren Sinn als
Metaphysiker, auf der Ebene des Seins als solchem, kann ich
von einer Dreieinigkeit der Personen in Gott sprechen, da ich
dabei nicht denselben Begriff verwende wie Sie. Mein Begriff
von mit der christlichen Religion befasster Philosophie ist eben
nicht der des Glaubenden, der ich bin, und der durch Jesus
Christus zu Gott betet. Ich kann auch als Philosoph beten, aber
das ist nur eine Seite meines Gebets als Glaubender. Aber
kommen wir zu einer strikten und genauen intellektuellen
Analyse zurück.
Mein philosophischer Begriff von der dreigliedrigen Struktur
in Gott unterscheidet sich „formal“ von jenem, der der
evangelischen Offenbarung zu eigen ist, denn als Philosoph
kann ich die Tatsache der Existenz Jesu im Land Israel, Jesu, in
dem Gott sich als Drei Lebende in einer einzigen Lebens-,
Seins- und Existenzgemeinschaft für unser universales Heil zu
erkennen gibt, nicht „herleiten“.
Ich komme auf mein bevorzugtes Beispiel zurück. Als
Philosoph kann ich mich nach dem Wesen der menschlichen
Liebe frage, und auf diese Frage antworten. Aber niemals
könnte ich, von einer philosophischen Vorstellung von der
menschlichen Liebe ausgehend, darauf schließen und von der
„Tatsache“ und „lebendigen Geschichte“ sprechen, in der meine
Frau mir sagt, dass sie mich liebt, und ich ihr sage, dass ich sie
liebe. Hier liegt eine rein menschliche, aber authentische
„Offenbarung“ einer Person für eine andere vor. Diese sich
ereignende Wirklichkeit kann, obwohl sie dauerhaft ist, nicht
reflexiv oder philosophisch schlussgefolgert oder bewiesen
werden. Aber ohne eine zumindest intuitive und empirische,
wenn auch mangelhafte, philosophische Vorstellung von der
menschlichen Liebe, hätte diese „Geschichte der Liebe“ weniger
Bedeutung und wäre weniger verständlich.
Es wäre besser, dass sie, ausgehend von einer richtigen
philosophischen Vorstellung von der menschlichen Liebe, eine
richtige Verständlichkeit besitzen würde. Diese Vorstellung
bildet sich gleichzeitig mit dem Ausleben der Wirklichkeit der
menschlichen Liebe heraus, und sie wird dann ausgelebt, wenn
sie von der Reflexion ihren Sinn erhält. Und genauso verhält es
sich mit den Beziehungen zwischen Religionsphilosophie
(Philosophie des religiösen Seins des Menschen) und
evangelischer Offenbarung.
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
419
Und genauso ist in der kirchlichen Gemeinschaft die Aussage,
dass die göttliche Dreieinigkeit, der Vater, Sohn und Heilige
Geist, sich in Jesus offenbart, die Aussage eines „Geheimnisses
des Glaubens“, und zwar sowohl, was ihre Existenz, als auch,
was ihre Wesenheit anbelangt. Damit bin ich sehr wohl
einverstanden. Und diese Aussage ist für den Glaubenden, der
ich bin, eine Aussage. Das liegt auf der Hand. Aber es ist nicht
eine philosophische Aussage. Das lässt sich leicht verstehen...
DER THEOLOGIEPROFESSOR
Klar! Wenn die Dreieinigkeit Jesu eine philosophische
Behauptung wäre, wie jene der Existenz Gottes, dann wäre sie
nicht mehr „ein Geheimnis des Glaubens“, und würde nicht
mehr zur katholischen Rechtgläubigkeit gehören. Aber sie ist
eben, ganz richtig, nicht philosophischer Art, sondern ein
Geheimnis des Glaubens.
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich bin auch Ihrer Meinung. Das ist der Grund, warum mein
philosophischer Begriff von einer Dreieinigkeit der Personen in
Gott „formal“ nichts über die Offenbarung in Jesus aussagt.
Dieser Begriff ist in sich selbst verständlich und ist rational
ausgearbeitet, ohne Benutzung der evangelischen Zeugnisse.
Aber die „Tatsache“, dass ich ihn ausgearbeitet habe, indem
ich über die evangelischen Zeugnisse und deren dogmatische
Erklärung „informiert“ war, hängt ganz und gar von der
„Tatsache“ der evangelischen Offenbarung ab, und von der
„Tatsache“ ihrer Weitergabe in der Kirche, und von der
„Tatsache“, dass ich ein christlicher Glaubender bin. Auch das
ist wahr. Die tatsächlichen Umstände der Ausarbeitung eines
Begriffs sind nicht zu verwechseln mit seiner Ausarbeitung
anhand einer Erkenntnismethode, deren Regeln nicht von
„Tatsachen“ abhängen, sondern universal sind und sich als
solche auf die „Tatsachen“ anwenden lassen und dabei die
Tatsachen verständlich machen.
Wenn dieser Begriff der dreigliedrigen interpersonalen
Struktur in Gott, oder der Dreieinigkeit von Personen erst
einmal rational ausgearbeitet, und daher aufgrund dieses
rationalen Gedankengebäudes verständlich ist, dann ermöglicht
er es, dass man die Verständlichkeit jenes Ereignisses besser
wahrnimmt, in dem sich die durch diesen Begriff bezeichnete
göttliche Wirklichkeit in ihrem Plan und ihrem Einsatz für alle
420
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Menschen offenbart. Christliche Dreieinigkeit, ja, Geheimnis
des Glaubens! Also nicht durch Reflexion herleitbar, aber durch
sie aufgrund ihrer Immanenz im Vollzug des Glaubens an sich
verstehbar, mit der gesamten Verständlichkeit, die die Reflexion
aus ihrem geschaffenen Sein entnehmen kann.
Auf der Grundlage der Anerkennung der Existenz eines
Gottes, der die Welt und den Menschen erschaffen hat, stellt die
Vernunft reflexiv nicht nur fest, dass Gott nicht in sich selbst
„allein“ sein kann, dass er also in unbestimmter Weise ein
„Seiendes in der Mehrzahl“ ist, also zumindest „Zwei“ ist,
sondern dass er „Drei“ ist, ausschließlich „Drei“, und
notwendigerweise „Drei“.
Diese verständliche Struktur Gottes, die der Mensch im Akt
seiner transzendenten Offenbarung erkennen kann, wird nicht
durch diese Offenbarung gebildet, da sie sie ja voraussetzt. Wer
sie einmal in ihrem Offenbarungsakt gesehen hat, kann sie
danach wie in einem Spiegel im Schöpfungsakt Gottes
wiedererkennen, und in seinem „analogen Ebenbild“, nämlich
der familiären Struktur der menschlichen Existenz.
DER DOMHERR
Sie lösen also die christliche Dreieinigkeit von der
philosophischen Dreieinigkeit los?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja, durch eine formale Unterscheidung, der im Vollzug des
Glaubens der feine Unterschied entspricht zwischen dem
Glauben, der dem ontologisch dreieinigen Gott gegenüber in
ehelicher Analogie steht, wie der jüdische Glaube (auch wenn
die Interpersonalität Gottes im Judentum formal nicht anerkannt
ist... aber doch logisch nicht ausgeschlossen ist), und dem
Glauben, der dem in Jesus als Retter offenbarten dreieinigen
Gott in kindlicher Analogie gegenübersteht, im Christentum, da
wir durch den Vater und das im Menschensohn inkarnierte Wort
im kindlichen Geist des Vaters und des Wortes, die alle drei
Ewige sind, „vergöttlicht“ sind.
DER DOMHERR
Mein Einwand hatte also eine gewisse Berechtigung, da er
Ihnen Anlass zu dieser wesentlichen Unterscheidung gibt.
DER ANDERE PHILOSOPH
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
421
Zweifellos! Eine offenherzige und begründete Konfrontation
ist immer ertragreich. Tatsächlich hat diese Behauptung, dass
die christliche Dreieinigkeit ihrem Wesen und ihrer Existenz
nach ein „Geheimnis des Glaubens“ ist, im geschichtlichen
Zusammenhang ihrer Formulierung eine philosophische
Auswirkung. Ihre Bedeutung ist also zweifach. „Substantiell“
oder „an sich“ ist sie eine Glaubensaussage. Aber „per
accidens“, um thomistisch zu sprechen, ist sie eine
philosophische Aussage, nämlich der griechischen Philosophie
gegenüber, und allen philosophischen Strömungen, die sich
heute noch an ihr inspirieren, und die dem Primat eines
besonderen Einheitsbegriffs, nämlich jenes der „ungeteilten
Einheit“, hörig sind. Nun ist dieser Begriff aber aufgrund der
Tatsache, dass er die Idee einer relationalen Einheit ausschließt,
mit der relationalen Glaubensaussage unvereinbar.
Diese dogmatische Behauptung sagt aus, dass die
Philosophien der ungeteilten Einheit „radikal“ unfähig sind, der
trinitarischen Offenbarung auch nur ein Mindestmaß an
Verständlichkeit zu verleihen, und ich füge hinzu, folglich auch
nicht der Schöpfung. In diesem Sinn ist das „Geheimnis der
Dreieinigkeit“ selbst in seiner Verständlichkeit für die Vernunft
in ihrer griechischen Prägung unzugänglich. Vergessen Sie
nicht, diese unerlässliche Präzisierung anzufügen: „in ihrer
griechischen Prägung“. Nicht, dass dieser Begriff von der
Vernunft und den transzendentalen Eigenschaften des Seins eine
„griechische Besonderheit“ wäre: Ganz im Gegenteil ist sie in
allen Kulturen sehr weit verbreitet, insofern sie die wesentlich
„objektivistische“ Form der Vernunft ist. Aber durch Platon und
Aristoteles haben ihr die Griechen die am weitesten
ausgearbeitete spekulative Form gegeben. Mit der griechischen
Form der Vernunft also kann man diskutieren, argumentieren,
widersprechen, sich abgrenzen. In Bezug auf sie kann man auch
einen Standpunkt einnehmen, der ihr kontradiktorischer
Gegensatz wäre, und dann folglich zu einer besseren Wahrheit
vordringen...
Ich verstehe Ihre Bedenken und Ihr Kopfschütteln...
Was die grundlegendsten Prinzipien des Seins und des
Bewusstseins anbelangt, soll man also nicht das menschliche
philosophische Denken mit der griechischen Philosophie
identifizieren, genauso wenig, wie man die unter Einbezug all
ihrer Möglichkeiten betrachtete Religionsphilosophie mit der
christlichen, konfessionellen Theologie identifizieren soll, die
422
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
zur Organisation ihrer Bemühung um das „Verständnis“ der
evangelischen Offenbarung „tatsächlich“ und aufgrund der
geschichtlichen Umstände grundsätzlich die griechisch
inspirierten Philosophien benutzt.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Aber ich gehe davon aus, dass Sie ihrerseits nicht die unter
Einbezug all ihrer Fähigkeiten, die Verständlichkeit der
evangelischen
Offenbarung
aufzuzeigen,
betrachtete
gegenwärtige und zukünftige katholische Theologie einerseits,
mit den in einer rein statischen Sichtweise des religiösen
Denkens der Kirche betrachteten theologischen Werken der
Vergangenheit andererseits vermischen, darin eingeschlossen
die Konzilsbeschlüsse. Weder die Hände noch die Gedanken des
Heiligen Geistes sind durch das griechische Denken gefesselt.
Die katholische Theologie enthält wunderbare Perspektiven des
Fortschritts. Ich gehe davon aus, dass Sie ihr diese
Weiterentwicklung zugestehen…
DER ANDERE PHILOSOPH
Grundsätzlich nicht. Aber tatsächlich kommt sie oft schwierig
voran…
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Nicht immer, und je länger, je weniger! Ich könnte Ihnen eine
große Anzahl von Arbeiten meiner Kollegen aufzählen, die eine
große Forschungsfreiheit und methodologische Genauigkeit
bezeugen, wie Sie sich das wünschen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Das gebe ich zu. Jede Bemühung muss für sich bewertet
werden. Infolge Ihrer Bemerkung werde ich meine Analyse also
nuancieren. Die konfessionelle, katholische Theologie ist nicht
durch ihr Wesen, oder „per se“, an das griechische Denken
gebunden, also an die Philosophie, deren Voraussetzung die
„ungeteilte Einheit“ als einzige und ausschließliche Form der
Seinsvollkommenheit ist. Meine Behauptung, dass sie „in der
Praxis“ an das griechische Denken gebunden sei, nehme ich also
zurück. Sie ist es nur „per accidens“, also gewissermaßen
aufgrund einer Extrapolation der besonderen psychologischen
Veranlagung des christlichen Glaubenden, insofern er seinen
Glauben an Gott durch Jesus Christus mit dem Glauben an die
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
423
Überlieferung der Zeugnisse der Kirche gleichsetzt, und
umgekehrt.
DER DOMHERR
Aber der christliche Glaubende kann nirgends anders
hingehören als in die Tradition der Zeugnisse der Kirche. Das
liegt auf der Hand. Warum also diese offensichtliche Wahrheit
in ein kritisches Argument gegen die traditionelle Theologie
umformen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ganz offensichtlich ist es nicht möglich, Christus außerhalb
dieser übrigens weitverzweigten Tradition zu bezeugen. Ich
mache aus dieser Wahrheit keine Kritik. Ich habe lediglich von
einer durch den Glaubenden vollzogenen psychologischen
Verwechslung gesprochen, die einen Irrtum darstellen kann. Die
Tatsache, dass man berechtigterweise, für das Evangelium, an
der Tradition hängt, kann auch „per accidens“ als eine Art
Nebenwirkung oder Zweitwirkung, eine diesmal unberechtigte
Anhänglichkeit an die Philosophien herbeiführen, die benutzt
worden sind, um die evangelische Botschaft zu verstehen und
ihre Verständlichkeit in den geschichtlichen Umständen
darzulegen, wo bewusst für diese Botschaft Zeugnis abgelegt
werden und mit diesen Philosophien diskutiert werden musste.
Kurz, das kritische Vertrauen in die kirchliche Tradition lässt
sich nicht mit dem Glauben an den in Jesus offenbarten
dreieinigen Gott gleichsetzen. Der Glaube an Gott lässt sich
nicht auf den „gesellschaftlichen“ Glauben an die Kirche
reduzieren. Eine Gemeinschaft im trinitarischen, theologischen
Glauben ist nicht ein theologischer Glaube an diese
Gemeinschaft.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Im Grunde genommen ist also der konfessionell gebundene
Theologe, wie Sie sagen, und dies entspricht auch meiner
Meinung, aufgrund seines apostolischen Eifers entschuldbar,
aber angesichts der „glaubenden Vernunft“ ist er
methodologisch (gesehen) nicht im Recht.
DER ANDERE PHILOSOPH
Wie Sie meinen. Aber wenn er in den Augen des in seinen
notwendigen Grundeigenschaften betrachteten glaubenschaft-
424
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
lichen Bewusstseins nicht im Recht ist, dessen
Grundeigenschaften unserem Glaubensleben als ethische
Normen auferlegt sind, dann ist er auch vor dem Schöpfer dieses
glaubenschaftlichen Bewusstseins nicht gänzlich im Recht, und
dann ist er es folglich auch vor dem Geist Gottes nicht ganz und
gar.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Im Grunde genommen schlagen Sie genau wie ich vor, dass
die Theologen sich in Zukunft von den Eingebungen des Geistes
in dynamischer Weise mehr belehren lassen. Hüten Sie sich auf
jeden Fall davor, das Wesen der katholischen Theologie mit
ihren der Vergangenheit angehörenden Werken zu verwechseln,
obwohl diese Werke auch nicht abzulehnen sind, weil sie ja ein,
wenn auch unzulängliches Verständnis des Glaubens
übermitteln, und die Wirklichkeit der Offenbarung bezeugen,
die verständlich zu machen sie sich bemüht haben.
DER ANDERE PHILOSOPH
Gewiss! Haben wir ein Auge aufeinander, so dass wir
unzulässige Vermischungen vermeiden können! Eine letzte
Bemerkung zu diesen „Vermischungen“! Die Rechtgläubigkeit
im Glauben an die Offenbarung soll also nicht zu einer
bemitleidenswerten „Rechtgläubigkeit“ im philosophischen
Denken ausgeweitet werden. Die griechische Philosophie hat,
nicht insofern sie ein rationales Denken ist, sondern insofern sie
ein ausschließendes Denken der „ungeteilten Einheit“ auf der
Ebene der Transzendentalien ist, dadurch, dass sie von der
katholischen Theologie seit Jahrhunderten als Mittel genutzt
wurde, keineswegs einen zusätzlichen Wahrheitswert gewonnen,
durch den sie an der Gewissheit des Glaubens teilhaben könnte.
Keineswegs. Auch hier soll es keine Vermischung geben!
Aber ganz im Gegenteil sollte man die vom Anfang der
christlichen Theologie an unternommenen Bemühungen um
Verständnis nicht aufgeben, diese Bemühungen, die seit und
sogar in der Abfassung der Evangelien und der anderen
christlichen Texte stattgefunden haben. Ohne ein klares
Verständnis Dessen, oder Derer, an die man glaubt, und ohne
das Verstehen des Plans der Liebe, in dem Er (Sie) sich zu
unseren Gunsten einsetzt (einsetzen), und den Er (Sie) uns
offenbart
(offenbaren),
gibt
es
keine
authentische
Glaubenszustimmung, nicht einmal auf der Ebene des
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
425
gesellschaftlichen Glaubens an die Kirche. Die Suche nach der
Verständlichkeit der evangelischen Offenbarung ist Aufgabe der
Theologie und Religionsphilosophie. Während die konfessionelle Theologie „psychologisch und institutionell“ eher an die
in der Tradition des Glaubens gebrauchten Philosophien
gebunden ist, verfügt die Religionsphilosophie über eine große
psychologische Freiheit, um einzig den rationalen Ansprüchen
dieser Suche nach Verständlichkeit zu genügen; den
Ansprüchen, die im Sein des glaubenschaftlichen Bewusstseins
gründen.
Und schließlich, um die Behandlung der Voraussetzungen
Ihrer Frage abzuschließen, Herr Kanonikus, denke ich, dass man
sehr wohl unterscheiden muss zwischen dem ontologischen
Vorrang einer apriorischen Bedingung der Möglichkeit und der
Verständlichkeit einer Wirklichkeit unserer menschlichen
Erfahrung einerseits, und dem zeitlichen Vorrang der
Wirklichkeit dieser Erfahrung in Bezug auf die Suche nach ihrer
Verständlichkeit andererseits. Die Suche nach den apriorischen
Bedingungen, sei sie nun ein Unterfangen des Theologen oder
des Philosophen der christlichen Religion in seiner Rolle als
Hermeneutiker — die von seiner Rolle als Methodologe
unterschieden ist — ist im Bezug auf die Wirklichkeit, die er zu
verstehen sucht, immer aposteriorisch.
Weil ich lebe, stelle ich mir die Frage nach meinem Leben
und den Möglichkeiten der Tatsache, dass ich ins Leben
eingetreten bin. Und weil ich geschaffen bin, stelle ich mir die
Frage
nach
den
apriorischen
Bedingungen
eines
Schöpfungsaktes in Gott. Und weil der Schöpfergott sich als ein
Rettergott offenbart, indem er sich in seinen drei Personen,
Vater, Sohn und Geist in einem Einsatz für die Menschheit
einbringt, stelle ich mir die Frage nach den apriorischen
Bedingungen einer derartigen Offenbarung und nach ihrer
trinitarischen „Ausformung“. Ein mit mir befreundeter Priester,
Pfarrer in einer großen französischen Stadt, der treffende
Formulierungen liebt, sagte mir: „Jedes Forschen nach“
irgendeiner apriorischen, an keine Bedingungen gebundenen
Gegebenheit, ist immer aposteriorisch“ bedingt. Das hat er sehr
klar gesehen.
Wenn der Religionsphilosoph daher in den bereits
existierenden Philosophien nicht das benötigte Werkzeug zur
Auffindung der Bedingungen der Verständlichkeit der
trinitarischen Offenbarung findet, dann wird er ohne Zögern
426
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
nach einer besseren Philosophie suchen, die als Philosophie
genauer ist, und leistungsfähiger in ihrem hermeneutischen
Vermögen, die biblische und evangelische Überlieferung zu
deuten. Außerdem wird er versuchen, die Möglichkeit an sich,
zu „glauben“, also an die freie Initiative anderer
bewusstseinsbegabter und freier Seiender zu glauben, in der
Natur seines mit Bewusstsein und Freiheit begabten
menschlichen Seins besser zu begründen.
DER DOMHERR
Und Sie meinen immer noch, dass Sie die Welt erneuern
werden! Ich sage Ihnen noch einmal: Das ist ein Jugendtraum!
Sie wollen uns davon überzeugen, dass man dadurch, dass man
die Existenz Gottes folgerichtig beweist, gleich auch begründet,
dass er eine Dreieinigkeit von Personen ist, und dass diese
ontologische Dreieinigkeit die Bedingung der Verständlichkeit
der evangelischen Offenbarung der Trinität ist, und auch der
Offenbarung unseres Heils, das sich sozusagen durch die
Adoption in das trinitarische Leben vollzieht. Und um zu diesem
Ziel zu gelangen — ein hehres Ziel, das gestehe ich Ihnen zu,
aber wie fern steht es dem philosophischen Denken und den
traditionellen religiösen Glaubensüberzeugungen —, berufen
Sie sich auf eine menschliche Erfahrung des Glaubens im
Familienleben, das leider selbst bereits schlecht verstanden und
gelebt wird. Wie wollen Sie unter diesen Bedingungen — bei all
der menschlichen Mittelmäßigkeit, den festgefahrenen
religiösen Glaubensüberzeugungen und all den gegen Sie
stehenden philosophischen Grenzen — einen Erfolg erzielen?
Sie befinden sich in einer noch misslicheren Lage als Sisyphus.
DER ANDERE PHILOSOPH
Die Hindernisse, die sich einer Vertiefung unseres
menschlichen Glaubensverständnisses in den Weg stellen,
überblicke ich genauso wie Sie, Herr Kanonikus. Dabei spreche
ich nicht vom Verständnis der Glaubenslehren oder der Lehre
eines bestimmten Glaubens, wie etwa jenem der katholischen
Lehre, sondern von der inneren Zusage des „Glaubens“, die im
Rahmen dieser Lehren, also der jüdischen, christlichen oder
muslimischen, die wesentliche Glaubenschaftlichkeit unseres
Bewusstseins
aktualisiert.
Wenn
diese
wesentliche
Glaubenschaft rational „reflektiert“ wäre, würde sie es uns
erlauben, besser begründete Beurteilungen derjenigen
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
427
Offenbarungslehren abzugeben, die, mit manchmal sogar
mörderischer Gewalt, die Glaubensüberzeugung ihrer Gläubigen
fordern.
Denn in der Tat kann Gott sich nicht so „offenbaren“, dass er
dabei die Erfordernisse eines glaubenschaftlichen Bewusstseins,
dessen Schöpfer er ist, verkennt, oder ihnen sogar
zuwiderhandelt. Eine „Offenbarung“, die sich als solche ausgibt,
erweist ihre Wahrheit und Echtheit durch das genaue Ausmaß
ihres Einklangs mit den glaubenschaftlichen Grundeigenschaften. Umgekehrt wird sich, falls sie dazu in Widerspruch
steht, eines Tages ihr Irrtum zeigen, und zwar im selben
Ausmaß dieses Widerspruchs.
Außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass ich Dinge in
Angriff nehme, die mir zu hoch sind, und ich träume nicht
davon, die Welt der Philosophie und Theologie zu
revolutionieren. Nicht ich als einzelnes Individuum kann
beabsichtigen, das religiöse Gesicht der Welt zu verändern. Ich
fühle mich übrigens überhaupt nicht als religiöser Reformator.
Ich spreche lediglich Ideen aus, die die natürliche
Verständlichkeit des „glaubenschaftlichen Glaubens“ zum
Ausdruck bringen. Bitte verzeihen Sie diesen Pleonasmus...
Meine philosophische Aufgabe besteht darin, diese Ideen
bekanntzumachen, und jenen, die sie verstehen werden, zu
ermöglichen, authentischer zu glauben. Ich lege keinerlei neue
Glaubenslehre vor, da ich die Unmöglichkeit, sie auf eine
angeblich neue Offenbarung Gottes zu begründen, nur allzu klar
sehe. Zudem fallen meine Gedanken nicht mit meiner
individuellen Person in eins. Um mich zu verteidigen, brauche
ich sie nicht zu verteidigen, vielmehr werden sie mich
verteidigen, indem sie sich selbst verteidigen. Ich bahne also
nicht einen Weg für neue Glaubensüberzeugungen, sondern ich
begnüge mich damit, „eine“ Kurve des Wegs zu überblicken,
auf dem das glaubende Bewusstsein der Menschen
voranschreiten wird. Derjenige, der vom Schiff aus das Gleiten
eines großen Flusses betrachtet, weiß, dass nicht sein Blick die
Fluten vorantreibt, sondern dass er ihnen folgt. Wohin gehen
sie? Zu einem Ozean, der sie aufnehmen wird, das steht fest.
Auf welchem Weg? Seine Augen sehen es nicht.
Mit dieser Anspielung auf den Vergleich, mit dem Platon den
dialektischen Aufstieg der Seele zum absoluten Guten
beschreibt, kann ich mich auch vergewissern, dass die
glaubende Menschheit in jedem ihrer Glieder das Versprechen
428
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
erhalten hat, eines Tages, jenseits des Laufes dieser Geschichte
und ihrer Wenden, in den Ozean der Glaubenschaft einzugehen.
In dieser Perspektive will ich nun nochmals, und zwar diesmal
in der Fachsprache, auf Ihre Frage antworten: „Beweisen, dass
Gott existiert, und beweisen, dass er eine Dreieinigkeit von
Personen ist“?
Von welchem Gott spricht man, wenn man sagt, dass Gott
existiert? Die Antworten auf diese Frage sind äußerst vielfältig.
Zuerst kommt die „negative“ Theologie, die behauptet, dass
man von Gott nur „verneinend“ sprechen kann: Gott ist nicht
sinnlich, nicht sichtbar, nicht körperlich, nicht benennbar, nicht
vorstellbar, nicht denkbar, und er existiert nicht einmal, er ist
weder „Sein“ noch „Nicht-Sein“. Gott wäre demnach das
absolut Unerkennbare. Die psychologische Absicht dieser
mystischen Theologen versteht man ohne weiteres, aber der
Mangel an logischer Genauigkeit und die Stimmigkeit, mit dem
sie so von Gott sprechen, also ob sie ihn kennen würden, obwohl
sie doch sagen, dass er der Unerkennbare ist, ist zu bedauern.
Wenn sie auch sehr spirituell sind, so gehen sie doch von der
empirischen Voraussetzung aus, dass das menschliche Erkennen
ausschließlich auf die sinnliche Wahrnehmung der Dinge
zugeschnitten ist. Gott ist also absolut jenseits. Das liegt dann
auf der Hand. Aber das Behaupten der Wirklichkeit des Geistes
durch eine einfache Verneinung der Sinnlichkeit ist keine
wohlbegründete intellektuelle Vorgehensweise, auch wenn sie
vielen Menschen bereits schwerfällt.
Davon verschieden und nuancierter ist die These der
thomistischen Schule, die beinhaltet, dass man von Gott sagen
kann, dass er „existiert“, aber nicht, „was er ist“. Allerdings
kann man von ihm mit „analogen“ positiven Begriffen sprechen,
indem man ihm die am Menschen und in der Welt
vorgefundenen Seinsvollkommenheiten in herausragendem und
unüberbietbarem Maße zuschreibt, nachdem man sie gedanklich
von ihren Begrenztheiten losgelöst hat. Dieser These schließe
ich mich voll und ganz an. Das ganze Problem besteht darin, sie
„richtig anzuwenden“, wie Descartes sagte, als er davon sprach,
welchen
Gebrauch
wir
von
unserem
gesunden
Menschenverstand machen sollen. Es geht nämlich darum,
richtig zu erkennen, wo bei den Eigenschaften der menschlichen
Existenz die Begrenztheit und Unvollkommenheit einerseits,
und andererseits die Vollkommenheit liegt. Dies ist nicht
einfach, und ohne echte philosophische Kompetenz unmöglich.
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
429
Tatsächlich werden die Begrenzungen der Vollkommenheiten
und die begrenzten Vollkommenheiten des Seins gelegentlich
fälschlicherweise miteinander verwechselt.
Daher besteht diese Möglichkeit dieser fatalen Unklarheit in
der Abgrenzung der Bedeutung der Begriffe „endlich/vollendet“
und
„unendlich/unvollendet“;
„vollkommen“
und
„unvollkommen“. Der Begriff „vollendet“ bezeichnet das, was
das ihm gesetzte, unüberbietbare Ziel erreicht hat, und bedeutet
dann „verwirklicht und vollkommen“. Wenn das unüberbietbare
Ziel nicht erreicht wurde, gebraucht man den Begriff
„unvollkommen“; wenn das erreichte Ziel einen weiteren
Fortschritt unmöglich macht, „endlich“, was soviel bedeutet wie
„begrenzt und nicht allumfassend“. Der Begriff „unvollendet“
bezeichnet das, was nicht verwirklicht ist und daher
unvollkommen ist, also das, was das ihm gesetzte Ziel nicht
erreicht hat, oder was dieses Ziel nicht erreichen kann, weil es
unbestimmt ist. Der Begriff „unendlich“ bezeichnet das, was
vollkommen ist, aufgrund der Tatsache, dass es keinen weiteren
möglichen Fortschritt gibt, der das überbieten würde, was
bereits grenzenlos ist. Diesen richtigen Unendlichkeitsbegriff
finden wir im 11. Jahrhundert bei Anselm von Canterbury.
Nicht nur hinter den Begriffen „vollendet“ und „unvollendet“;
„vollkommen“ und „unvollkommen“ kann sich die Bedeutung
des anderen Begriffs verbergen, sondern der Begriff „unendlich“
kann scheinbar sein eigenes Gegenteil bedeuten, und zwar dann,
wenn wir die Unendlichkeit einer Eigenschaft, wie zum Beispiel
die Vorstellung von der Wahl zwischen unendlich vielen
Möglichkeiten, für die wirkliche und wahrhaftige Unendlichkeit
dieser als Vollkommenheit ausgesagten Eigenschaft halten. Die
Wahl unter „unendlich vielen“ Möglichkeiten ist das Gegenteil
einer unendlich vollkommenen Freiheit, die jede solche
Entscheidung transzendiert.
KANN MAN SAGEN, DASS GOTT EXISTIERT,
OHNE IRGENDETWAS ÜBER SEINE NATUR ZU DENKEN?
DER DOMHERR
Verzeihen Sie! Aber ich sehe nicht, worauf Sie hinauswollen,
und warum das eine Antwort auf meine Frage sein soll, die
lautete: „Ist Ihr Beweis der Existenz Gottes gleichzeitig auch ein
Beweis der Existenz der Dreieinigkeit?“ Ja oder nein?
430
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich bitte Sie, mir ebenfalls zu verzeihen. Weder ja noch nein.
Man muss eine subtile Unterscheidung beachten... Ich denke,
man kann von einem Seienden nicht aussagen, dass es existiert,
wenn man überhaupt nicht weiß, was es ist, oder sich
wenigstens, wenn man danach fragt, ob es existiert, hypothetisch
eine gewisse Vorstellung von seiner Natur machen kann. Aber
dass man das, dessen Existenz feststeht, nicht ganz und gar
kennt, ist nicht weiter erstaunlich. Das ist vielmehr die normale
Situation der menschlichen Intelligenz, die ununterbrochen
bemüht ist, ihr Verständnis der Wirklichkeit, um deren Existenz
sie weiß, zu verbessern.
Ohne irgendeine positive Vorstellung von Gott können wir
die Existenz Gottes nicht behaupten. Hierbei handelt es sich
nicht um die gelegentlich mit der Arroganz des falschen Weisen
gestellte Herausforderung, die, um Sokrates nachzuahmen, ihr
Unwissen zur Schau stellt, wobei sie doch gar nicht weiß, wo
die wahren Wissenslücken sind. Wendet er nicht des Öfteren
ein: „Wenn Sie behaupten, zu wissen, was Gott ist, dann
erklären Sie es mir doch bitte, mir, der ich es nicht weiß!“ Diese
als Demut getarnte Arroganz kann nicht als Ehrfurcht vor Gott
dienen, und genauso wenig kann sie die menschliche Intelligenz
dazu zwingen, darauf zu verzichten, immer besser zu verstehen,
„was Gott ist“. Möge doch der falsche Weise darauf verzichten!
Vielleicht wäre das besser so! Aber er soll seine Unkenntnis
nicht vor den anderen zur Weisheit erheben.
Wir behaupten also die Existenz Gottes, während wir immer
schon eine gewisse, natürlich mehr oder weniger richtige,
Vorstellung von Gott haben. Sogar der falsche Weise hat eine
solche. Und diese Vorstellungen sind in der Anerkennung an
sich seiner Existenz enthalten. Was sind diese verschiedenen
Vorstellungen wert? Hier liegt die Schwierigkeit. Was können
wir wirklich über das göttliche „Wesen“ sagen, wenn wir seine
Existenz behaupten?
Tatsächlich gibt es verschiedene Beweise der Existenz Gottes,
wie es auch verschiedene intellektuelle oder moralische
Vorgehensweisen gibt, die darauf hinauslaufen, dass man die
Existenz einer Wirklichkeit annimmt, die man dann jeweils
„Gott“ nennt.
Das heißt aber noch nicht, dass diese jeweils als „Gott“
bezeichnete transzendente Wirklichkeit jedes Mal auf dieselbe
Weise gedacht wird. Die verschiedenen Gottesbehauptungen
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
431
streben nicht alle wie die Radien eines Kreises auf ein und
denselben Punkt zu. Dieser Gedanke ist Teil eines zu einfachen
Synkretismus oder einer auf billige Toleranz gegründeten
Vereinheitlichung.
Diese Vorgehensweisen sind insofern lobens- und
anerkennenswert, weil sie eine bei allen Menschen vorhandene
einzige Absicht, also eine einzige Bemühung, das
„transzendente Wirkliche“ zu denken, darstellen, und nicht
insofern sie alle zu demselben Endpunkt gelangen, also zu
einem auf dieselbe Weise und mit denselben Eigenschaften und
Merkmalen gedachten Gott.
Die Vorstellung, oder vielmehr die Vorstellungen, die durch
das eine Wort „Gott“ ausgedrückt werden, können in gewissen
Punkten übereinstimmen, aber in anderen Punkten bis zum
Widerspruch auseinanderstreben. Aber was auch immer das
Endergebnis dieser unsere Gottesvorstellungen betreffenden
Vorgehensweisen sei: Sie alle verdienen aufgrund der in ihnen
liegenden Bemühung und Absicht Respekt. Aber in ihren
Endergebnissen sind sie nicht alle von gleichem Wert. Nicht alle
Gipfel des Himalaya sind der Mount Everest, aber all jene, die
sie bestiegen haben, sind gute „Himalaya-Bergsteiger“.
Der Ausruf Pascals, „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht
der Gott der Philosophen“, hilft uns bei der Erkenntnis der
verschiedenen Gottesvorstellungen nicht viel weiter, aber er
bringt die philosophischen Vorstellungen in Misskredit. Nun
sind aber die religiösen Gottesvorstellungen „methodologisch“
gesehen auch philosophische Gottesvorstellungen. Um sie zu
korrigieren und zu verbessern, kann man sie also der
philosophischen Kritik unterziehen.
Der Gott Platons, das „Gute an sich“, der „unbewegliche
Beweger und reine Akt“ des Aristoteles, der „Eine
unaussprechliche“ des Plotin, die „erste Wirkursache“ und das
„letzte Ziel“ der klassischen Autoren, und das „unendliche
Seiende“ des Descartes sagen nicht dasselbe aus, auch wenn ihre
Bedeutungen auf die einzige, absolute und transzendente
Wirklichkeit hinweisen. Die biblischen, evangelischen und
koranischen „Vorstellungen“ von Gott lassen sich nicht zu einer
einzigen Bedeutung zusammendenken. Die jüdische und die
christliche Gottesvorstellung unterscheiden sich sogar radikal
von der muslimischen.
In den philosophischen Systemen und in den religiösen
Lehrgebäuden hängt die Gottesvorstellung, oder vielmehr:
432
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
hängen die Gottesvorstellungen vom gesamten religiösen
Hintergrund und philosophischen Umfeld ab. Dadurch, dass
man behauptet, dass eine Wirklichkeit existiert, die den
Menschen
transzendiert,
denkt
man
noch
nicht
notwendigerweise auf gleichzeitig eindeutige und richtige
Weise, was Gott ist. Deshalb kann man die Frage, ob es einen
philosophischen Beweis für eine bestimmte Gottesvorstellung
gibt, wie etwa für jene von einem Gott, der in sich selbst
Dreieinigkeit von Personen ist, nicht mit Ja oder Nein
beantworten.
Außerdem werden die Gottesvorstellungen je nach
philosophischem Hintergrund grundlegend voneinander
verschieden sein, je nach dem, ob man sich einen
philosophischen Hintergrund aneignet, der vom Primat der Idee
Einheit-Unizität bestimmt ist, wie Parmenides sie formuliert hat,
oder ob man, im Gegenteil dazu, die Verständlichkeit des Seins
als grundlegendes Prinzip annimmt, also den Gedanken, dass
das Sein seine Vollkommenheit nicht in der ontologischen
Einsamkeit finden kann, sondern in der Einheit einer
Seinsmitteilung. Was nicht heißt, dass diese verschiedenen
Gottesvorstellungen keinen einzigen Punkt gemeinsam haben,
sondern, dass sie mindestens in einem Punkt unvereinbar sind,
ohne dass die Wahrheit in diesem Punkt in einer „dritten
Vorstellung“ enthalten wäre. Anderenfalls könnte die
Unvereinbarkeit nicht als kontradiktorischer Gegensatz
bezeichnet werden.
Die klassische Behauptung eines einsamen Gottes — auf die
Weise des Aristoteles oder der aristotelischen Scholastiker, die
versucht haben, den Gedanken vom „reinen Akt“ aufzuarbeiten,
um ihn mit dem Gott der Bibel in Einklang zu bringen — kann
in keiner Weise irgendetwas über das dreieinige Wesen Gottes
aussagen. Eine derartige Gottesvorstellung ist sogar — rein
logisch gedacht — grundlegend unvereinbar mit der Vorstellung
von einem Gott, der Dreieinigkeit von Personen ist, und den uns
die Evangelien zeigen als den, der in der Person Jesu für unser
Heil wirkt. Zudem haben die Theologen behauptet, und das
Lehramt der katholischen Kirche hat ihren Standpunkt für gültig
erklärt, dass die Dreieinigkeit der Personen in Gott „ein
Geheimnis des Glaubens“ sei, „sowohl, was ihr Wesen, als auch,
was ihre Existenz anbelangt“.
In Bezug auf die „unitäre“ griechische Philosophie drückt
dieser Standpunkt eine im Sein und daher auch im Erkennen
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
433
vorhandene Unvereinbarkeit aus, wobei die Erkenntnis zu
Unrecht als in die unitäre Ontologie eingeschlossen gedacht
wird. Im Bezug auf eine relationale Ontologie bedeutet diese
Genauerfassung der christlichen Glaubenslehre im Sinne einer
rettenden Dreieinigkeit, dass unser Heil, das sich durch die
Erhebung in das Leben der Dreieinigkeit vollzieht, und zwar
durch den Vater und das auferstandene Wort und die Annahme
im Geist, zwar nicht durch die reflexive menschliche Vernunft
entdeckt, aber von der glaubenden Vernunft vernünftig
aufgenommen werden kann, und zwar auf der Grundlage
unseres reflexiven „Verständnisses“ der ontologischen
göttlichen Personen.
Diese dogmatische Definition stellt also klar, dass in der
Erkenntnisordnung ein methodologischer Unterschied, aber
keineswegs Unvereinbarkeit besteht zwischen Reflexivität und
Glaubenschaftlichkeit. Zum Glück! ... Wir haben es bereits
gezeigt...
Dieser ontologisch gesehen dogmatische Standpunkt der
Kirche ist in seinem klassischen geschichtlichen Umfeld logisch
zusammenhängend und bleibt in Abhängigkeit von diesem, dort
wo es bleibt, gültig, und zwar genauso lange, wie es bleiben
wird. Aber wenn unsere philosophische Gottesvorstellung
genauer wird und aufgrund des Fortschrittes des Denkens an
Verständlichkeit gewinnt, dann muss dieser dogmatische
Standpunkt angepasst, und seine doppelte Bedeutung genauer
gefasst werden, wie wir es getan haben.
Nun muss unser Denken über Gott ja gerade nuanciert
werden. Es kann tatsächlich durch die Anwendung der
Anforderungen der transzendentalen Methode auch auf unsere
Gottesvorstellung verbessert werden. Besonders, indem wir die
Frage nach der apriorischen Bedingung der Möglichkeit des
Schöpfungsaktes in Gott stellen. Warum? ... Damit frage ich hier
nicht nach einem besonderen Beweggrund, sondern danach
„Was in Gott, in seinem göttlichen Sein, bewirkt, dass Gott
erschaffen konnte und dass er die Welt und den Menschen
erschaffen hat?“ Diese Frage richtet die menschliche Vernunft
an das Judentum... und auch an den Islam, wenn Letzterer sie
hören möchte.
DIE GYNÄKOLOGIN
Aber diese Frage stellen sich die Juden ja selber! Einer
unserer Freunde erzählte uns zu Hause, dass die Rabbiner
434
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
folgenden Midrash erzählten, den sie gehört hatten. Sie sehen,
bei den Juden werden viele Geschichten erzählt! Gott, der von je
her existiert — und das ist seit je her sehr lang! — begann, sich
zu langweilen. Er wollte nicht mehr allein bleiben. Er sagte sich:
„Lasst uns Menschen machen als unser Abbild“; so werden wir
Gesellschaft haben, um zu sprechen. Und da Gott allen Raum
einnahm, in dem man sein kann, konzentrierte er sich auf sich
selbst. Er zog sich zusammen. Er wurde Tsimtsum. Und in dem
Raum, der dadurch leer wurde, machte er den Menschen. Aber
da er aus Erfahrung wusste, dass „es nicht gut ist, allein zu
sein“, machte er dem Menschen gleichzeitig auch eine
Gefährtin: die Frau. Der Mann spricht also mit seiner Frau, falls
nicht überwiegend das Gegenteil der Fall ist, und Gott spricht
mit den Menschen, falls nicht auch da überwiegend das
Gegenteil der Fall ist!
Die Juden haben also längst durch eine kleine, mit etwas
Humor gewürzte Geschichte auf Ihre Frage geantwortet.
DER ANDERE PHILOSOPH
Dieser Midrash ist tatsächlich charmant. Nun gut! Midrash für
Midrash! Ich biete Ihnen einen anderen: Gott existierte von je
her, und die Zeit verging ihm im Flug. Denn „Bei Gott“, oder
„In Gott“ wurde immer gefeiert. Diejenigen, die „Bei Gott“ oder
„In Gott“ waren, und von denen ein jeder Gott war, sprachen
von je her „Miteinander“, und zwar in der angenehmsten Weise,
die es nur gibt. Es kam der Tag, wo sie zueinander sagten: „Es
ist so schön, gemeinsam „Unter Uns“ zu sein, „Bei Uns Gott“ zu
sein, und miteinander zu sprechen. Wie wäre es, wenn wir unser
Glück mit anderen teilen würden, die ihrerseits auch „Unter
sich“ wären?
Aber es gibt keine anderen „Unter-sich-Seienden“! Das ist
wahr! Machen wir also ein „Unter-Sich“, das uns ähnlich ist,
und sie werden miteinander sprechen.“ Und „Bei Gott“
entschieden sie zusammen: „Machen wir den Menschen als ein
„Unter-Sich“, als unser Abbild.“ Und sie machten ihn als Mann
und Frau. Und um die Ähnlichkeit des „Unter sich“ des Mannes
und der Frau, mit den „Ihnen-Gott“ zu vollenden, sagten sie
ihnen: „Wachst und vermehrt euch“. Das bedeutet: „Verhelft
einander zum Wachstum und werdet aus zwei „Unter-Euch“ zu
mehreren“. Und der Mann und die Frau sprachen miteinander
über dasjenige, dem sie das Sprechen beibringen werden, ihrem
Kind, ihrem „Es-spricht-noch-nicht“. Und sie sprachen oft
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
435
miteinander über dasjenige, das noch nicht sprach. Und so
entstand die Geschichte all jener, die sprechen.
DER PSYCHOANALYTIKER
Ihr Midrash ist weder so flüssig noch so geschmeidig wie
jener unserer Gynäkologin!...
DER ERSTE PHILOSOPH
Das kommt daher, dass er nicht dermaßen oft von Rabbinern
erzählt worden ist!... Der Midrash meines Kollegen ist
sozusagen ein grob zurechtgehauener Stein, der noch fein poliert
werden muss.
DER PHYSIKER
Wenn wir Gott dadurch ähnlich sind, dass wir uns
miteinander unterhalten, dann würde unser Seminar den ersten
Preis für diese Ähnlichkeit erhalten! Was den Unterschied
anbelangt, meine ich, dass er darin besteht, dass wir viele Fragen
stellen, ohne die Antworten zu wissen, während sie „Bei Gott“
die Antworten haben, und es nicht nötig haben, sich Fragen zu
stellen!
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Wer weiß! Vielleicht stellen sie sich da oben, „Bei Gott“, die
Frage, was mit dem Menschen nun anzufangen ist, wo er nun
einmal da ist! Vielleicht fragen sie sich, was sie ihm sagen
wollen, was sie ihm offenbaren wollen, und wie.
DER PHYSIKER
Diese beiden Midrash sind wie zwei Hypothesen, wie zwei
vorläufige Erklärungen des Warum und Wie der Schöpfung.
Beide können nicht zusammen bewiesen werden. Das ist das
mindeste, was kann man sagen. Welcher von beiden wird also
für gültig erklärt werden, und welcher für ungültig?
DER PSYCHOANALYTIKER
Warum muss denn die Alternative zur Einsamkeit in der
Existenz in einer „Gemeinschaft von Dreien“ bestehen? Warum
reicht ein Paar nicht aus?
DER ANDERE PHILOSOPH
436
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Weil „der Andere“, oder vielmehr die innerhalb der Grenzen
des Paares liegende Beziehung zum Anderen, in der das Paar
also nicht seine notwendige Offenheit für den Dritten lebt, nichts
weiter sein könnte als eine Verdoppelung der Einsamkeit des
Ichs. In einem Paar, dessen Wesen ausschließend ist, kann der
Andere nichts weiter sein als das Spiegelbild des Ichs.
Genaugenommen ist das eine Arbeitshypothese, denn in der
Wirklichkeit ist ein derartiges Paar eine ontologische Absurdität
und existiert nicht. Natürlich können Paare egoistisch sein.
Dadurch stellt sich die Frage nach dem Bösen; aber ein solches
Paar verwirklicht sich eben gerade im Bösen, weil es an dieser
Offenheit für den Dritten Verrat übt. Unter der Hypothese, dass
die Beziehung zum Andren nicht notwendigerweise eine
Offenheit für den Dritten impliziert, würde das heißen, dass der
Andere, insofern er beziehungsbedingt ist, nicht in seiner
absoluten Eigenständigkeit in Beziehung zu sich selbst gewollt
würde, da die „Relationalität zum Anderen“ dieses Anderen
dann unumgänglicherweise auf „sich“ zurückkommen müsste,
da sie ja nicht auf den Dritten zugehen könnte. Und sie käme auf
ihn zurück als ein indirektes Wollen, sich selbst dadurch zur
Existenz zu verhelfen, dass sie will, dass der Andere sei, um von
ihm gewollt zu werden. Natürlich sind die als
„Komplementarität“ verwirklichten Einheitsformen, wie sie
zwischen
bestimmten
Dingen
bestehen,
nicht
zu
vernachlässigen, aber sie sind nicht von vollkommenem Wesen.
Sie beruhen auf einem „Mangel“ sowohl im Einen als auch im
Andren. Ein jeder „ergänzt“ sich durch den andren. Der Andere
ist nicht um seiner selbst willen gewollt, also aufgrund dessen,
was ein jeder „positiv“ ist, sondern aufgrund dessen, was ein
jeder „negativ“ ist, also was seinem eigenen „Ich“ an
Wirklichkeit fehlt. Wenn die Beziehung zum Anderen in
Abhängigkeit von einem in ihr liegenden Mangel an
Wirklichkeit gedacht wird, kann der Andere nicht als in einer
vollständigen Unterscheidung von dem „Sich selbst“ so gedacht
werden, dass die Wirklichkeit, die der andere ist, ganz und gar
„seine“ sei, und nicht „für mich“, nicht einmal teilweise. Wenn
der Andere als „Ergänzung für mich“ gedacht ist, dann ist er
nicht als „absolut um seiner selbst willen gewollt“ gedacht.
DER ERSTE PHILOSOPH
Aber warum muss die Beziehung zum Anderen diesen
Anderen daran hindern, auf das „Sich selbst“ zurückzukommen,
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
437
da man auf ihn zugegangen ist? Ist nicht die Gegenseitigkeit
eine Grundregel der Liebe?
DER ANDERE PHILOSOPH
Sicherlich, aber die vollkommene Gegenseitigkeit vollzieht
sich über den Dritten. Sie ist nicht ein einfaches
Zurückschwappen zu sich selbst. Allerdings soll man nicht
meinen, dass der „Weg über den Dritten“ ein Verschieben auf
später bedeutet, oder eine „Verschiebung“ der Gegenseitigkeit.
Die Gegenseitigkeit ist genau durch den Dritten unmittelbar,
insofern dieser durch den Anderen in der ihm eigenen
Beziehungsbedingtheit als Dritter zum Ersten gewollt ist. Der
Grund dieses Wollens des Dritten im Wollen des Anderen durch
den Ersten ist innerhalb der Notwendigkeit zu verstehen, dass
die Unterscheidung oder „Verneinung“ des Einen und des
Anderen vollkommen sein muss, darin eingeschlossen die
Unterscheidung zwischen ihrer jeweiligen Beziehungsbedingtheit. Als beziehungsbedingte Seiende müssen sie
vollkommen unterschieden sein.
Es fällt uns schwer, die „Verneinung“ im Sein innerhalb der
Art und Weise, in der wir das Wesen der Beziehung zum
Anderen denken, zu begreifen. Vielleicht müssten wir
verschiedene Formen von „Verneinung“ unterscheiden.
Psychologisch verstehen wir die Verständlichkeit der
„Verneinung“ falsch. Sie ist absolut im Sein, und nicht nur
relativ, gemäß der Ordnung des Werdens, in der das, was wird,
noch nicht das ist, was es sein wird. Die Verneinung soll nicht
so gedacht werden, als ob sie in „einem“ Seienden verankert
wäre, etwa als ein vollständiges Fehlen des Seins in einem
Nichts, oder als ein Mangel an Sein, ein Manko, eine
Abwesenheit von Sein, eine Leere.
Die absolute Verneinung im Sein besteht zwischen den
Seienden, insofern der Eine in all seiner beziehungsbedingten
Wirklichkeit nicht der Andere in all seiner beziehungsbedingten
Wirklichkeit ist. Und das, weil der Eine vollkommen das ist,
was er ist, und der Andere genauso vollkommen das ist, was er
selber ist. Aber ein jeder ist in Einsamkeit und Unkenntnis des
Anderen nicht vollkommen das, was er ist, sondern insofern er
in seinem ganzen Sein das bewusste Wollen ist, dass dieser
Andere sei und von ihm vollkommen unterschieden sei. Der in
sich selbst beziehungsbedingte Eine will den Anderen als
beziehungsbedingt zu einem anderen, der er nicht selbst ist, weil
438
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
der Andere in seiner Beziehungsbedingtheit zu einem anderen
ansonsten nicht völlig und vollkommen von ihm, dem Einen,
unterschieden wäre. Der andere des Anderen muss also ein
Dritter sein, und dieser Dritter muss gewollt werden als völlig
verschieden von und beziehungsbedingt zu den beiden Ersten,
als vom Anderen auf den Ersten ausgerichtet, und vom Ersten
zum Anderen. Dieser ontologische Dritte ist in der erlösenden
Trinität der Heilige Geist, das „Band der Liebe“.
Wenn Sie damit einverstanden sind, dass wir — nach einer
persönlich vollzogenen, stichhaltigen „reflexiven“ Überlegung
— festlegen, dass „das Sein“, also dieses Wirkliche, das auf der
Höhe des Personseins existiert, in der Verständlichkeit die ihm
am nächsten kommt, eine relationale Struktur von Personen ist,
dann wird die Struktur einer vollkommenen Beziehungsbedingtheit von vollkommenen Personen tatsächlich eine
„Dreiheit“ in ihrer Einheit sein. Und diese dreigliedrige Struktur
von Personen, die in sich selbst und in ihrer Einheit miteinander
vollkommen sind, ist die vollkommene Art und Weise, auf die
Gott existiert.
Ich werde also jetzt auf Ihre Frage antworte, Herr Kanonikus.
Auf die Art und Weise, wie Sie die Existenz Gottes beweisen,
behaupten Sie einen solitären Gott, wie Aristoteles dies tat, oder
aber einen dreipersönlichen Gott in seiner unteilbaren Einheit.
Das hängt von der Ontologie ab, auf die man sich bezieht. Die
beiden Midrash können sowohl die eine als auch die andere
Ontologie illustrieren.
DER EXEGET
Mir scheint, dass der rabbinische Midrash menschlich sehr gut
verständlich ist, und durchaus mit unserer Psyche in Einklang
steht.
DER ANDERE PHILOSOPH
Genau deshalb enthält er eine schwerwiegende Unklarheit. Er
ist der Ansicht, dass Gott den Menschen erschafft, weil „ihm
Gesellschaft fehlt“. Der theoretische Standpunkt des
rabbinischen Midrash ist der konträre Gegensatz des
aristotelischen Standpunktes. Für Aristoteles kann Gott, da er
vollkommen ist, nichts außer sich selbst kennen oder wollen. Er
ist das Denken seines Denkens, das Wollen seines Wollens,
Liebe für ausschließlich seine Wirklichkeit, welche die
vollkommene Gutheit ist. Für eine bestimmte mündliche
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
439
Tradition des Judentums ist Gott nicht im aristotelischen Sinn
vollkommen, da er erschaffen und sich für den Menschen
interessieren kann.
Muss man, um gelten lassen zu können, dass Gott Schöpfer ist
und zum Menschen in Beziehung steht, darauf verzichten, ihn
als die absolute Seinsvollkommenheit zu verstehen? Muss man,
um ihn als in sich selbst vollkommen anzusehen, darauf
verzichten, ihn als unseren Schöpfer anzusehen, der einen jeden
von uns unendlich liebt? Das ist das theoretische und
philosophische Dilemma der klassischen Gottesbilder, also der
monopersonalen Gottesvorstellungen.
Ich weiß, dass meine jüdischen Freunde es nicht für abwegig
oder sinnwidrig halten, zu sagen, dass Gott nicht vollkommen
ist. Darüber bin ich jedes Mal erstaunt. Denn wenn der
Schöpfergott nicht vollkommen ist, dann ist er selbst nichts
weiter als ein Demiurg, der von einem absoluten Seienden
abhängig ist, das dann der wahre Gott wäre.
Und wenn es über dem nicht vollkommenen Schöpfergott
keinen Gott gibt, wie soll man ihn sich dann als ursprungslos
und als Ursprung aller Dinge vorstellen? Spekulativ gesehen ist
das eine auswegslose Sackgasse. Es gibt jüdische Denker, die
sich nicht diesem Gedankengang anschließen; aber kann man
ihn ausschließen?
DER PSYCHOANALYTIKER
Wenn es also für diesen rabbinischen Standpunkt keine
philosophische Erklärung gibt, wie erklären Sie ihn dann?
DER ANDERE PHILOSOPH
Weil ich denke, dass die Juden, indem sie spontan den
impliziten psychologischen Voraussetzungen des allgemeinen
Denkens folgen, es vorziehen, eher an der Vorstellung von der
Schöpfung festzuhalten, als an jener von der göttlichen
Vollkommenheit. Das ist eine Wahl, nicht ein Beweis.
DER PSYCHOANALYTIKER
Warum diese Wahl?
KANN DIE SUCHE NACH DEN BEDINGUNGEN DER MÖGLICHKEIT
EINER TAT SICH AUCH AUF EINE GÖTTLICHE TAT BEZIEHEN?
DER ANDERE PHILOSOPH
440
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Meiner Ansicht nach liegt der Grund darin, dass es bei den
Juden noch eine andere Überzeugung gibt, die noch tiefer in
ihrer religiösen Kultur veranlagt ist als die Schöpfungsvorstellung. Es handelt sich um ihre Befreiung aus Ägypten.
Nun ist ihre Vorstellung von einem Befreiergott aber nur dann
wirklich denkbar, wenn dieser Gott auch Schöpfer ist. Für sie ist
die Vorstellung von der Schöpfung also in gewisser Weise die
apriorische Bedingung der Möglichkeit und Verständlichkeit
ihrer Befreiung, genauso, wie für Platon die Gegenwart der
Wahrheit im Geist des Menschen die Bedingung ihrer
Möglichkeit in der Präexistenz der Seele vor seiner Geburt
findet, und in der Schau der Welt der „reinen Formen“, in deren
Genuss sie stand, bevor sie in einen Menschenkörper gelangte.
DIE HISTORIKERIN
Auch andere Völker haben sich aus ihrer Gefangenschaft
befreit. Und deswegen haben sie sich noch lange nicht einen
Befreiergott zusammengeschustert!
DER PSYCHOANALYTIKER
Welche Bereiche des Unbewussten waren also hier im Spiel?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich weiß nicht, ob hier unbewusste Kräfte im Spiel waren,
aber zweifellos hat eine tiefe Veranlagung der hebräischen Seele
dazu geführt, dass die Hebräer, die Vorväter der Juden, ihren
Auszug aus Ägypten als Befreiung verstanden haben. Nicht die
objektive Tatsache des Ereignisses hat diese Veranlagung in
ihrem menschlichen Bewusstsein hervorgebracht, sondern diese
Veranlagung der Seele hat die Natur des Ereignisses
erschlossen. Wohlverstanden hat sich diese Veranlagung ihres
Bewusstseins erst anlässlich dieses Ereignisses herauskristallisiert. Das Ereignis war nichts weiter als die Gelegenheit dazu.
Es war dieses Ereignis, aber es hätte auch ein anderes sein
können, obwohl nicht jedes beliebige Ereignis einem derartigen
Ausdruck der menschlichen Seele hätte Anlass geben können.
Die hebräische Seele war die innere Lebendigkeit und
formgebende Kraft des geschichtlichen Ereignisses. Das
Hervortreten der hebräischen Seele hat bewirkt, dass eine
Migrationsbewegung zu einem Befreiungsereignis wurde. Und
in den Erzählungen des Buches Exodus bringt sie ihr eigenes
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
441
Hervortreten als bleibende Errungenschaft des menschlichen
Bewusstseins zum Ausdruck.
Tatsächlich kommt diese Veranlagung der menschlichen
Seele in der Geschichte bei den Hebräern in herausragender
Weise zum Vorschein. Sie ist ihnen zu eigen, aber nicht so, dass
sie naturwidrig oder bei anderen Völkern nicht möglich wäre.
Die Juden waren sich dieser Kontingenz bewusst und haben sie
in einem Midrash in Worte gefasst: Bevor Gott mit den
Hebräern einen Bund einging und ihnen seine „Thora“
angeboten hat, ging er als Botschafter die anderen Völker
besuchen. Aber keines nahm seinen Vorschlag an. Als letztes
Volk blieben die Hebräer übrig, die gewissermaßen mit
geschlossenen Augen einwilligten: „All das, was der Herr sagt,
werden wir tun“. Diese Veranlagung ist das in den Menschen
hineingelegte Bewusstsein, dass Gott sich für seine Existenz
einsetzt, indem er ihm ermöglicht, zu leben, und zwar nicht
unter der Herrschaft von physikalischen Kräften, noch unter der
Gewalt von anderen Menschen, sondern frei, unter dem Gesetz
Gottes. Und wir fügen hinzu, dass dieses kulturbedingt als
Vertrag dargestellte Gesetz kein anderes Gesetz ist als das
Gesetz des Seins des Menschen an sich.
In dieser Veranlagung der hebräischen und jüdischen Seele
haben Sie das erkannt, was wir „Glaubenschaftlichkeit“ des
Bewusstseins nennen. Es wurde nicht in einem spontanen
Entwurf, sondern in einem langsamen Zum-VorscheinKommen, das mit Abraham begann, und von Generation zu
Generation weitergeführt wurde, in Worte gefasst. Abraham
gegenüber setzt sich Gott für dessen Nachkommenschaft ein.
Der Einsatz Gottes für die menschliche Nachkommenschaft ist
universal, aber Abraham wird sich dessen in der Wirklichkeit
seiner Liebe zu Sara bewusst. Der Einsatz Gottes für die Völker
der Erde ist universal, aber das Volk Israels wird sich dessen in
seiner eigenen Geschichte bewusst. Der Inhalt dieser
Bewusstwerdung ist also allgemeingültig. Die in einem
„befreienden“ Eingreifen implizierte Vorstellung von der
allmächtigen Initiative Gottes verallgemeinert sich für die ganze
Menschheit, bis hin zu ihren Ursprüngen. Sie führt so zur
Schöpfungsvorstellung, die gewissermaßen ihr letztes Glied ist,
oder zumindest fast ihr letztes. In Wirklichkeit liegt hier
unbewusst eine apriorische Suche nach der Bedingung der
Möglichkeit der Exoduserzählung vor.
442
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Die Vorstellung von der Schöpfung als Bedingung der
Möglichkeit und Verständlichkeit einer Befreiung ergibt sich
also aus einer auswertenden und verstärkenden, und nicht nur
wiederholenden Verallgemeinerung der Idee an sich eines
Einsatzes Gottes für die Menschen, der in dieser Befreiung an
sich vorausgesetzt ist. Ist die Verallgemeinerung dieser
glaubenschaftlichen Einsicht mit der Vorstellung von einer
„Schöpfung“ als Einsatz für den Menschen und seine Existenz
abgeschlossen?
Meiner Meinung nach nicht. Ganz im Gegenteil denke ich,
dass sie sich bis auf Gott selbst hin erstrecken muss. Weswegen
oder aufgrund welcher in Gott selbst innerlichen göttlichen
Wirklichkeit ist Gott „fähig“, sich für den Menschen
einzusetzen? In einer derartigen Fragestellung liegt sicherlich
nicht nur eine neue „Universalisierung“ der Suche nach den
apriorischen Bedingungen der Möglichkeit einer Handlung, in
diesem Fall der Schöpfung, sondern auch eine analoge
Übertragung dieser Frage auf die göttliche Transzendenz.
DIE GYNÄKOLOGIN
Sie stellen die Frage nach dem Warum der Schöpfung. Und
ich als Jüdin stelle Ihnen die Frage nach dem Warum dieser
Frage. Kann der Mensch wirklich so eine Frage stellen? Hat er
dazu die Möglichkeit? Hat er das Recht dazu? Ist sie nicht eine
Art Verletzung des persönlichen Bereichs Gottes? Eine
Indiskretion, die ein Sakrileg darstellt, weil sie sich der
wohlwollenden Klugheit Gottes entgegenstellt? Im Exodus
verbietet Gott Mose, ihn anzuschauen, damit Mose nicht stirbt.
Das ist von Gott nicht als Drohung gemeint. Vielmehr ist es eine
Vorsichtsmaßnahme, so, als ob man sagen würde: „Schau nicht
in die Sonne, damit du nicht blind wirst“. Ich habe den
Eindruck, dass sie „Gott ausziehen“ wollen, ihn entblößen
wollen. Das ist das Höchstmaß an Unverschämtheit! Und biegen
Sie die Einsichten des Judentums nicht missbräuchlich zurecht?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ihre Frage verwirrt mich. Das gebe ich zu. Sie scheint mir
nicht nur theoretisch, sondern existentiell zu sein, wenn ich das
so sagen kann... Ich finde nicht das richtige Wort... Ihre Frage ist
emotional geladen..., mit Gefühlen, die im Gespür für die
Ehrfurcht wurzeln, die man dem Anderen schuldet, und die man
Gott schuldet. Dem stimme ich zu. Aber gleichzeitig fällt mir
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
443
Ihre Frage irgendwie „in den Rücken“, so, als ob ich in meiner
Argumentation und meiner intellektuellen Begeisterung dafür,
alle wunderbaren, im Judentum und seiner Ausübung
enthaltenen Wahrheiten zu beweisen, eine Kehrtwende
vollziehen müsste. Denn die Propheten haben in ihrer Lehre die
Idee vom Gott, der Schöpfer aller Dinge ist, tatsächlich dazu
ausgearbeitet, um zu zeigen, dass Gott das Volk aus Ägypten
befreien und aus dem Exil zurückführen kann, dass er also, kurz
gesagt, die Geschichte lenkt. Es ist die vorzeitige, in einem
ganzen Volk betrachtete Anwendung auf Gott der von Kant
explizierten Suche nach den apriorischen Bedingungen der
Möglichkeit einer Handlung.
Mose verhüllt sich tatsächlich das Gesicht und sieht nichts
weiter als den Schatten Gottes... Aber es ist ihm immerhin
erlaubt, den Schatten Gottes zu sehen! Sagen wir also, dass es
der menschlichen Vernunft trotz allem erlaubt ist, den „Schatten
Gottes“ zu sehen. Wenn Gott ihr seinen „Schatten“ zeigt, dann
zweifellos, damit wir alles sehen, was man da sehen kann. Das
ist nicht unzulässig. Wenn jemand uns liebt und uns etwas von
sich zeigt, muss man dann ablehnen, es zu sehen und zu
bewundern, nur weil er uns noch nicht alles zeigt? Bis jetzt zeigt
uns Gott noch nicht alles, was er ist, und das zweifellos, damit
wir nicht übermäßig in Verwirrung geraten. Und müssen wir
vielleicht erst sterben, um alles zu sehen? Das wollte Gott für
Mose nicht. In jenem Augenblick wollte er — von aller
Ewigkeit her für sich — ein Volk, in dem er sich eines Tages ein
menschliches Gesicht geben könnte... um uns das „göttliche“
Gesicht zu offenbaren, das er uns eines Tages, jenseits des
Todes, formen wird...
Ich denke, dass die spekulative Kühnheit meiner
Fragestellung nach den apriorischen Bedingungen der in Gott
selbst liegenden Möglichkeit seines Schöpfungsaktes berechtigt
ist, und zwar eben deshalb, weil die Beziehung des Menschen zu
Gott hier eine „glaubenschaftliche“ Beziehung ist, und nicht nur
eine Suche nach „Kausalität“ in der Ordnung der rein
„objektiven“ Wirklichkeiten. In der glaubenschaftlichen
Beziehung ist die Ehrfurcht vor dem Anderen eine Ehrfurcht
ohne Abstand und ohne Tabu. Mir scheint, dass der Gott, der
aus der Sklaverei befreit, und der die Existenz mitteilt, es
irgendwie erwartet, dass man ihm, innerhalb einer Bewegung
der Anerkennung und Dankbarkeit für seine Großzügigkeit,
444
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
auch die Frage stellt: „Warum tust du das?“ und „Was
beabsichtigst du noch zu tun?“
Wenn sich die Anerkennung und Dankbarkeit für ein
empfangenes Geschenk nicht in einem Bewusstsein abschotten,
das nur auf die Wirklichkeit des Geschenks — für das Sie dem
Geber natürlich danken — ausgerichtet ist, dann wollen sie auch
um Ihrer Seinsvollständigkeit willen in irgendeiner Weise die
Gründe kennen, die den Geber dazu bewegen, das Geschenk zu
machen. Das Geschenk erhält seinen ganzen Wert erst dann,
wenn der Geber seine Gründe erkennen lässt. Und da diese
Gründe gewissermaßen in das Geschenk selbst hineingelegt
sind, ist es doch wohl Sache des Empfängers, sie zu entdecken
und zu einem Beweggrund seiner Dankbarkeit und seines
Glücks zu machen! Ich denke, das ist der Grund dafür, dass man
den „Schatten Gottes“ untersuchen soll. Und „der Schatten
Gottes“ ist das Licht, das Gott auf unsere Existenz wirft. Das
Licht Gottes, das unsere geschaffene und immerwährend zur
„Befreiung“ gerufene Existenz an sich ist.
So lehrt uns der „Schatten Gottes“, dass er uns befreit, weil er
uns erschaffen hat, und dass er uns erschaffen hat, weil er in sich
selbst bereits absolut „Einsatz für den Anderen und den anderen
des Anderen, also den Dritten, ist“. Dadurch, dass wir bis zu den
lebendigen Kräften des Geistes des Volkes, das die Bibel
geschrieben hat, aufsteigen, können wir verstehen, was ihr Text
uns erzählt. Nicht so sehr die Ereignisse — denn was ist
übrigens ihr historischer Wert? —, aber das, was es uns in einer
„derartigen“ Erzählung von Ereignissen über „seine“
menschliche Wirklichkeit sagt. Sie nämlich, die Wirklichkeit
des glaubenschaftlichen, menschlichen Bewusstseins, ist die
wahre Gegebenheit und das Thema der Bibel.
DIE HISTORIKERIN
Dann sind Ihnen zufolge also die „in“ der Bibel erzählten
Ereignisse weniger wichtig als die Bibel selbst, insofern sie
„eine Niederschrift“ ist? Ist die Erzählung selbst, also der Text
der Bibel als „autobiographisches Bekenntnis“ Israels, wenn
man das so sagen kann, das hauptsächliche Ereignis? Sind die
historisch betrachteten Ereignisse für Sie nichts weiter als der
äußere Rahmen einer „innerlichen Geschichte“?
DER ANDERE PHILOSOPH
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
445
Wenn Sie das so sagen wollen! Aber machen Sie daraus nicht,
dass die Bibel nichts weiter ist als ein Roman. Die
geschichtlichen Tatsachen als Hintergrund und Farbpaste. Mit
diesen Grundstoffen schaffen die Hebräer und Juden ihr
„Selbstporträt“. Es sind diese „Selbstporträts“, die den
Philosophen, der Geschichtsmetaphysiker ist, interessieren.
DER PSYCHOANALYTIKER
Selbstportrait für Selbstportrait! Aber Sie beide malen auch
ihr eigenes! Ob Jude oder Christ: Sie bedienen sich einer
religiösen Sprache, in der man die innere Haltung der
Psychologie der Liebe wiedererkennt... Ist das Ihr
Unbewusstes…? Die Dame projiziert ihr psychisches Gefühl,
„entblößt zu werden“, also zumindest etwas zu schnell entblößt
zu sein, auf Gott. Und der Philosoph verbirgt nur mit Mühe
seine Waghalsigkeit, mit der er alles aufdecken will,... so schnell
und so weit wie möglich... Sie verstehen mich.
In der Zuhörerschaft wird gelacht...
DER ANDERE PHILOSOPH
Natürlich ist der Philosoph ein „Verliebter“... ein in
Wahrheit Verliebter. Und wenn sie nackt ist, ist sie
schönsten! Ist das nicht wahr? Der Rest, die Verzierung,
Kleidung, die Mode, der Stil,... Das alles könnte einfach
trügerisch sein! Dringen auch wir zum Wesentlichen vor!
die
am
die
nur
DAS GÖTTLICHE WERK FÜR DAS HEIL DER MENSCHEN
UND DIE SPRACHE DER LIEBE IN DER BIBEL
DIE GYNÄKOLOGIN
Aber die Bibel gebraucht oft die Sprache der Liebe, um die
Beziehungen zwischen Gott und Israel zu schildern! Israel, die
Verlobte des ewigen Gottes. Gott, der eifersüchtig darauf achtet,
dass sie bei ihm bleibt... Vielleicht die Angst der Verlobten,
ihren „ewigen Gott“ zu sehr nach seinen Absichten fragen zu
wollen... Angst davor, zu sehr zu wissen, was er ist... Wer weiß?
Der Zauber, sich auserwählt zu wissen, könnte sich auflösen...
oder auch die Angst, sich durch eine Rivalin ersetzt zu sehen...
eine gewisse Dame namens „Kirche“...
DER PSYCHOANALYTIKER
446
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Gut, ich sehe, dass Ihr Unbewusstes nicht krankhaft ist! Sie
können es selbständig ans Licht ziehen. Aber warum führten die
Juden dann die Analyse des Ereignisses, das ihre Geschichte
begründet, nicht zu Ende?
DER ANDERE PHILOSOPH
Und wer sagt Ihnen, dass es nicht ein Jude ist, der die Wege
bereitet hat für eine derartige Analyse? Und zwar auf die Weise,
dass es bei der Auserwählung Israels keine „Rivalin“ geben
kann, meine Dame!
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Das ist sehr richtig! Und in dem Maße, in dem sich die Kirche
in der Vergangenheit als die „neue Auserwählte“ betrachtet hat,
die den Platz der ersten einnimmt, hat sie sich tatsächlich in
ihrer Sendung getäuscht. Damit sind wir sehr wohl
einverstanden. Hier wurde ein schwerwiegender theologischer
und pastoraler Fehler begangen, mit tragischen Auswirkungen
für jene jüdischen Gemeinschaften, die in christlichen Ländern
leben. Alles, was sich wieder gutmachen lässt, muss wieder gut
gemacht werden, und in Zukunft muss ein Klima der Ehrfurcht
und des Friedens geschaffen werden, und besonders eine
Sendung zum Zeugnisgeben erfüllt werden, die beiden sowohl
eigen als auch gemeinsam ist, und das zur Ehre des Höchsten.
Wie sollen wir unsere Verschiedenheiten in Einklang
bringen? Man muss gemeinsam, auf beiden Seiten, den Willen
haben, die Grundlagen unserer gegenseitigen Komplementarität
zu suchen, die aber für einen jeden verschieden, also irgendwie
asymmetrisch ist.
DER ANDERE PHILOSOPH
Die Dame hat von Israel als der Verlobten des Allerhöchsten
gesprochen. Das trifft sich mit dem, was ich vor einigen
Augenblicken sagte, nämlich, dass der jüdische Glaube
ehelicher Art ist. Und die herausragendste Fruchtbarkeit dieses
Paares ist Jesus, der durch Israel, seine menschliche Mutter,
Mensch ist, und Gott ist durch seinen Vater, der Gott selbst ist.
Um die Komplementarität von Judentum und Christentum zu
verstehen, muss man zunächst das „Judäisch-Jüdisch-Sein“ Jesu
voll und ganz anerkennen. Hiermit meine ich nicht eine
oberflächliche Kenntnisnahme von einem oberflächlichen,
sozusagen beiläufigen Jüdisch-Sein, sondern eine tiefe
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
447
Kenntnisnahme, mit der man die Person Jesu in ihrer Tiefe
erreicht.
Das Thema des befreienden Pascha steht im Mittelpunkt des
Evangeliums. Man entleert es der ihm eigenen Wirklichkeit,
wenn man es als „Urbild“ des christlichen Osterns und der
Auferstehung Jesu sieht. Wenn es so seiner eigentlichen
Wirklichkeit beraubt ist, kann man sich mit der tiefgreifenden
Frage nach dem Plan Gottes für die Menschen nicht mehr auf es
berufen. Die tiefe, menschliche Wirklichkeit, die sich darin zum
Ausdruck bringt, verflüchtigt sich, wie wir gesagt haben, wenn
es dort nichts weiter gibt als ein „Urbild“. Und das, was Jesus
uns in seiner Person vom Plan Gottes zu verstehen gibt, kann
durch eine verkürzende Deutung des Werkes Gottes nur
bedauerlich verkürzt werden; zum Beispiel durch eine Deutung,
die sich auf die Einrichtung des Christentums beschränkt, und
die als Deutung des Werkes Jesu dann zwangsläufig mit dem
Gespür in Konflikt gerät, das Israel für seine Sendung in der
Welt hat.
Ist sich Jesus, der als Jude von der gesamten menschlichen
Wahrheit der Befreiung und des Bundes mit Gott durchdrungen
ist, nicht in sich selbst der Wirklichkeit der apriorischen
Bedingungen einer Befreiung bewusstgeworden, die auch eine
Befreiung der ganzen Menschheit wäre? Ist nicht genau das die
Idee vom „Reich Gottes“? Man muss in den Texten des
Evangeliums also zwischen den Zeilen lesen, genau wie in den
biblischen Texten der Thora, um darin die Grundlagen der
Möglichkeit zu entdecken. Ich denke, dass es in den Gedanken
Jesu etwas gab, was einer derartigen „Analyse“ des
Gründungsereignisses Israels entsprach: die Befreiung aus
Ägypten als Werk Gottes. Und eine derartige Analyse
ermöglichte es ihm, sich der unendlichen Weite des Heilswillens
Gottes bewusstzuwerden, mit dem er das vollkommene Glück
für die ganze Menschheit will, und der sich in seiner eigenen
Person verwirklichte. Eine derartige Analyse wird auch in der
Tradition des Talmud aufrechterhalten, und zwar als immer
noch neue Hoffnung. Und wenn man auch philosophische Texte
hinzuziehen möchte: Haben Männer wie Martin Buber und
Emmanuel Levinas etwa nicht aus jüdischen Quellen geschöpft?
Sie beide sind Juden und Denker der Alterität, also Philosophen
jener Beziehung zum Anderen, zu den Anderen, in der die
ethische Pflicht aufscheint und sich verwirklichen muss, und in
448
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
der die Menschheit ihre völlige Entfaltung und ihr Glück finden
muss.
Als jüdischer Mann sah Jesus sich also als wesentlicher Teil
der bräutlichen Stellung Israels, im Hinblick auf „eine
Nachkommenschaft, so zahlreich wie die Sterne am Himmel“.
Zudem ging er mit dem Vater aufgrund der Gegenwart des
Wortes in ihm eine Beziehung ein, die der gemeinsamen
„Hauchung“ des Heiligen Geistes entspricht, des Dritten in Gott.
Die Vereinigung dieser beiden „Rollen“ geschieht in der Geburt
der unüberschaubaren Menschheit im Geist, die von ihrer
Fähigkeit, zu sündigen, gerettet ist, und zwar durch den Vater
und das inkarnierte Wort. Die Menschheit, die sich selbst in
ihrer Zukunft jenseits der Geschichte offenbart ist, befindet sich
in einer sohnhaften Stellung... Daher ist der Glaube an Gott im
Christentum „sohnhaft“ bedingt, in Bezug auf die evangelische
Verheißung unserer Befreiung vom Bösen. „Der Geist ruft in
uns, Abba, Vater“, sagt Paulus von Tarsus.
Zwischen Judentum und Christentum besteht also eine
Komplementarität der theologischen Glaubensformen. Für das
Judentum ist es der bräutlich-theologische Glaube, mit der
Fruchtbarkeit
einer
ununterbrochenen
menschlichen
Nachkommenschaft. In unserer Geschichte kann die
menschliche Liebe, die eine Familie gründet, ihrem tiefsten und
höchsten Sinn nach gelebt werden, nämlich als „Nachahmung“
des Einen und des Anderen in der ontologischen Trinität. Das
Kind wird als Analogie und Abbild des Dritten aufgenommen.
Für das Christentum ist es der sohnhafte Glaube, in der
Hoffnung auf unsere universale Auferstehung, die ein
gemeinsames Werk des Vaters und des inkarnierten Wortes ist,
im Geist, der uns gewissermaßen „brüderlich“ aufnimmt. Die
menschliche, definitive Sohnschaft kann also ohne die
Gründung einer neuen Familie als „Zeugnis“ für unsere
sohnhafte Vergöttlichung im Geist gelebt werden, und „als
Nachahmung“ des Geistes.
Beide Formen des Glaubens an Gott sind nötig, um in Fülle
Zeugnis abzulegen für Gott, der uns in einer familiären Struktur
erschaffen hat, und sich als ein familiärer Gott offenbart, der uns
familiär in sich aufnimmt.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Sie haben gerade eine Bemerkung über die Komplementarität
von Judentum und Christentum gemacht, auf die ich gerne
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
449
zurückkommen möchte. Ich persönlich würde lieber von einer
„Komplementarität, und sogar einem „Bund“ zwischen Israel
und der Kirche“ sprechen. Denn die mit dem Wort „Kirche“
bezeichnete Wirklichkeit ist in der Tat weitreichender als das
kulturelle Christentum. Dasselbe gilt auch für das Wort „Israel“.
Seine ontologische Wirklichkeit reicht weiter als das Judentum.
Aber lassen wir diesen unterschiedlichen Wortgebrauch
beiseite...
Es geht um die Komplementarität der beiden Formen des
Glaubens an Gott: bräutlich und sohnhaft. Diese beiden Formen
betreffen auch das innere Leben der Kirche, insofern sie in ihren
Gliedern den „jüdischen Glauben“ in einem bräutlichen Bund
aufnehmen muss, ohne ihn Israel zu stehlen, und ohne sich an
seine Stelle zu setzen, und indem sie auch gleichzeitig mit
sohnhaftem Herzen — und darin liegt ihre besondere Eigenart
—, in ihren Gliedern die Hoffnung auf das Reich und die
Auferstehung im Geist bezeugt. Der „eheliche“ Bund Gott-Israel
ist das menschliche Urbild des im Hinblick auf unser Heil
existierenden Bundes „inkarnierender Vater - inkarniertes
Wort“.
DER ANDERE PHILOSOPH
Zweifellos... Aber natürlich unter der Bedingung, dass man
richtig versteht, um welchen ehelichen Bund und um welche
eheliche Liebe es geht. Was ist der Grund dieses Glaubens und
dieser Liebe zwischen Ehepartnern? Welche ontologische
Dichte muss man ihr zuschreiben, damit sie eine wirkliche
„Analogie“ Gottes an sich, und Gottes mit den Menschen sei?
Den Ehepartner zu lieben, weil „er es ist“, heißt, dass man
ihm bis zu seinem Tod treu ist. Sein Tod würde mich von meiner
Bindung an ihn lösen. Das ist das Niveau der klassischen Moral,
das im Rahmen einer Objektphilosophie der Bedeutung und
Würde der als Objekt gedachten Person. Auch wenn diese Liebe
den ehelichen Beziehungen „auf Zeit“ schon weit überlegen ist,
bin ich der Ansicht, dass sie nicht als Abbild des dreieinigen
Gottes gelebt werden kann.
Den Ehepartner deshalb zu lieben, weil „ich bin“, heißt, ihm
bis zu meinem Tod treu zu sein. Der Tod des Anderen trennt
mich in der Bindung, die ich eingegangen bin, nicht von mir
selbst: Ja: Der Tod des Anderen trennt nicht mich von mir selbst,
indem er mich von meiner Bindung loslösen würde. Ich sage
also nicht „der Tod des Anderen trennt mich nicht von ihm“,
450
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
denn das wäre eine Dummheit, welche die Wirklichkeit an sich
des Todes, der ja zumindest auf Zeit trennt, nicht mit einbezieht.
Meine Bindung an den verstorbenen Ehepartner verlangt durch
die Tatsache selbst seine unauslöschliche Existenz, und mein
Wille, ihn bis zu meinem Tod zu lieben, bewirkt, dass diese
Liebe und dieser Glaube jenseits des Todes beider eine ewige
Liebe bilden.
DIE KRANKENSCHWESTER, Mutter von fünf Kindern:
Aber dem Anderen zu sagen, „ich liebe dich, weil du es bist“,
kann sehr wohl beinhalten, dass man ihn auch über seinen Tod
hinaus liebt. Weil man ja weiß, dass er unsterblich ist, und weil
ihm die Auferstehung verheißen ist.
DER ANDERE PHILOSOPH
Zweifellos prägt die Erfahrung der Treue zum Anderen bis zu
seinem Tod seine Gegenwart so tief in uns ein, dass sie uns
bewusstmacht, dass wir ihn aus unserem ganzen Sein heraus
geliebt haben; dass wir ihn liebten, weil „wir es waren“. Die
Treue eines ganzen Lebens lässt uns entdecken, dass wir jeweils
die Liebe zum Anderen „sind“. „Ich liebe dich, du bist es und
nicht ich, den ich liebe, aber das, weil ich ich bin“. Und sich
wahrhaft geliebt zu wissen besteht nicht darin, in sich selbst,
also in seinen eigenen Eigenschaften nach Gründen für Liebe,
deren Gegenstand man ist, zu suchen, indem man sagt: „Er oder
sie liebt mich, weil ich es bin,... weil ich es verdiene,... weil ich
es sehr wohl wert bin, usw...., sondern er liebt mich, weil er oder
sie es ist, und weil er sich auf diese Weise frei und ganz und gar
selbst einsetzt.“
Seinem Wesen nach ist der eheliche Glaube an die Liebe, mit
der man geliebt wird, in dieser Weise darauf ausgerichtet, die
„Offenbarung“ des Seins des Anderen aufzunehmen, der, indem
er sich ganz für uns will, bewirkt, dass wir selbst ebenfalls zum
Wollen eines anderen werden, eines anderen, der von uns selbst
und von demjenigen, der sich für uns will, verschieden ist. In
der Wirklichkeit des ehelichen Glaubens und der ehelichen
Liebe ist der andere der Beiden das Kind, und ohne das
Verlangen nach dem Kind kann keiner der beiden Ehepartner
wahrhaftig sagen, dass er ganz und gar für den Anderen
existieren will, für seine gesamte Unterschiedlichkeit und
Eigenständigkeit, ohne Hintergedanken der Besitzergreifung
oder Inbesitznahme oder der einfachen Ausweitung des eigenen
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
451
„Ego“. Nur im Verlangen nach dem Kind will man den Anderen
als auf einen anderen, absolut gewollten Dritten hin
ausgerichtet, für dessen Existenz man gemeinsam mit dem
Anderen die Verantwortung übernimmt. In den Fällen von
unheilbarer Unfruchtbarkeit nimmt die Hingabe an den
kindlichen Dritten die „Gestalt“ von vielfältigen Formen der
Großzügigkeit an.
DIE ANWÄLTIN
Wenn alle Männer... und Frauen die Liebe so verstehen
würden, dann müssten keine Scheidungen mehr durchgeführt
werden,... und es gäbe keine Verträge mehr, die vor dem Notar
geschlossen werden müssen...
DER ANDERE PHILOSOPH
Doch, doch,... Es gäbe immer noch Verträge, aber sie würden
als juristischer Ausdruck einer glaubenschaftlichen Liebe
angesehen... aufgrund des Wollens, das selber nicht vertraglich
geregelt ist... Tatsächlich sind die ethischen Anforderungen, die
sich die eheliche Glaubenschaftlichkeit geben kann, in keiner
Weise juristisch festlegbar, denn sie betreffen nicht die
materielle und körperliche Form der gemeinsamen Güter und
gegenseitigen
Hilfeleistungen.
Aber
diese
ethischen
Anforderungen verlebendigen das ganze gemeinsame Leben von
innen heraus in seiner alltäglichen Beschaffenheit. Da sie
juristisch nicht festlegbar sind, können diese sie heutzutage nicht
mehr sozial so dargestellt werden, als ob sie sich „zwingend“
aus unserem Bewusstsein ergeben würden. Sie sind rein ethische
Anforderungen und gehen ausschließlich aus dem freien
Bewusstsein hervor, das sich seiner eigenen notwendigen
Grundeigenschaften tiefgehend bewusst wird, und ihnen mit
seinem ganzen Sein zustimmt. In den Worten des Evangeliums
würde man hier von der „Moral der Seligpreisungen“ sprechen.
Es handelt sich nicht um „fakultative“ moralische
Anforderungen — denn das wäre ein in sich widersprüchlicher
Begriff —, sondern um die in ihren relationalen Grundlagen
verstandene rein ethische Anforderung.
Mann und Frau können sich folglich gemeinsam in einer
ehelichen Liebe, die der Ewigkeit angehört, binden, weil sie
gemeinsam fähig sind, ihre Wirklichkeit bis zu der
ontologischen Würde zu steigern, die der Vaterschaft und
452
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Mutterschaft zu eigen ist. Und diese sind tatsächlich berufen,
ewig zu sein.
Die so in ihrer vollen Würde verstandene Familie ist folglich
im wahrsten Sinne des Wortes das ontologische Abbild des
Gottes, der Dreieinigkeit von Personen ist. Der Ehemann-Vater
ist das „Ebenbild“ des Vaters in Gott; die Ehefrau-Mutter das
„Ebenbild“ des ewigen Wortes, aus dem genauso wie aus dem
Vater der Heilige Geist hervorgeht. Und in der Familie ist das
Kind das „Ebenbild“ des Heiligen Geistes. Seine Stellung der
„Sohnschaft“ ist in seiner Ehelosigkeit bewahrt.
Im ehelichen Glauben und der familiären Liebe verwirklicht
sich das menschliche Sein in seinen tiefsten geistigmenschlichen Beziehungen. Unter der Voraussetzung, dass sie
sich als freie Schöpfungen ausgeformt haben, die unauslöschlich
ins Sein eingeschrieben sind, verwirklicht es sich als Werk der
Ewigkeit: Ewig sind die Personen, und ewig ist die
Gegenseitigkeit des Glaubens und der Seinsmitteilung, die
Vollendung des Glaubens ist.
Die tiefste Wurzel und Grundlage der ehelichen und
elterlichen Liebe ist nichts anderes als dieses absolute Wollen,
das Gott in sich selbst ist, dass der Andere sei aus dem Einen,
und mit ihm der Dritte. Aufgrund dieses dreieinigen Wollens,
das er ist, erschafft Gott uns dafür, dass wir in der schrittweisen
Entdeckung und Nachahmung seiner eigenen relationalen
Vollkommenheit leben, und er bewirkt jenseits unseres
zeitlichen Todes für die ganze Menschheit in vollkommener
Weise die Vollendung unserer Verpflichtung, gemeinsam
glücklich zu sein, indem wir „unter uns“ sind, wie er in sich
selbst „unter Dreien“ ist.
DER DOMHERR
Mir scheint, Sie wollen aus der Ehe ein Sakrament für die
Ewigkeit machen. Das ist eine hehre Absicht, aber nicht die
Lehre der Kirche. Der Ehebund wird beim Tod eines der beiden
Ehepartner aufgelöst. Der Witwer oder die Witwe kann
daraufhin mit bestem Recht wieder heiraten und gemäß den
Gesetzen der Kirche ein ehrbares Leben führen. Aber eine
gewisse Anzahl von Witwern und Witwen haben es vorgezogen,
auf diese Möglichkeit einer zweiten Ehe zu verzichten, und
haben sich im geweihten Leben ganz Gott hingegeben. Bei
vielen von ihnen hat die Kirche eine herausragende Heiligkeit
festgestellt und sie dann offiziell für verehrungswürdig, selig
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
453
oder heilig erklärt. Wenn die Ehe nach der Lehre der
katholischen Kirche unauflöslich ist, so bezieht sich das nicht
auf die Ewigkeit, sondern nur auf die Zeit bis zum Tod eines der
Ehegatten.
Wenn Sie der Ehe eine Bedeutung für die Ewigkeit beimessen
wollen, dann wollen Sie ein moralisches Ideal vorschlagen,
welches das vom gesunden Menschenverstand gemeiniglich
angenommene bei weitem übersteigt. Aber für jene, die eine
größere moralische Vollkommenheit möchten als die der Ehe,
gibt es die sogenannten „evangelischen Räte“, also den Weg der
drei Ordensgelübde: Armut, Keuschheit und Gehorsam, durch
welche der Mann oder die Frau sich ganz und gar, mit Leib und
Seele, Gott weiht, und seinen oder ihren ganzen Willen Gottes
heiligem Willen unterwirft.
Damit folgen sie dem Ruf Jesu, der damals an einen noch
jungen Mann erging, der wissen wollte, was er tun müsse, um
ins Himmelreich zu gelangen. Und Jesus hatte ihm geantwortet:
„Halte das Gesetz“. „Das tue ich seit meiner Kindheit“, hatte
dieser Mann geantwortet. „Dann“, fuhr Jesus fort, „wenn du
vollkommen sein willst, geh hin, verkauf deinen Besitz, gib das
Geld den Armen, und folge mir nach“.
Dieser Mann war dem Ruf Jesu nicht gefolgt, aber in der
Geschichte der Kirche haben viele Männer und Frauen auf
diesen Ruf geantwortet und sind dem Beispiel Jesu und seiner
Mutter, der Jungfrau Maria, gefolgt. Aber aus anderen Stellen
der Evangelien können wir auch entnehmen, dass Jesus dazu
ermutigt, aus Eifer für das „Reich Gottes“ auf die Ehe zu
verzichten.
DIE GYNÄKOLOGIN
Kann also von all den Juden, die Jesus nicht so nachgefolgt
sind, keiner ein eifriger Diener des Höchsten sein? Gibt es seit
der Ankunft Jesu nur noch unter den Ehelosen der katholischen
Kirche „Gerechte“? Und all die jüdischen Märtyrer, die im
Laufe der Geschichte abgeschlachtet wurden!
DER DOMHERR
Das sage ich nicht... Die heutige Kirche sagt nicht mehr, dass
der Zölibat der Ehe überlegen ist... Er ist eine freie Antwort auf
einen Ruf, und nicht eine Verpflichtung...
DIE ANWÄLTIN
454
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Mag sein! Aber unterschwellig ist diese Meinung bei euch
immer noch vorhanden. Eure Deutung des Evangeliums, die zu
einer derartigen Vorstellung geführt hat, habt ihr nicht
verändert. Ich habe leider den Eindruck, und übrigens nicht nur
ich, sondern auch andere Angehörige der Kirchen der
Reformation, dass ihr mit zwei Zungen sprecht, je nach dem, ob
ihr euch an verheiratete Leute oder an Ordensleute richtet.
Den Ordensleuten, und vor allem den Ordensfrauen, sagt ihr,
dass sie den besten Weg der Heiligkeit gewählt haben, und den
anderen sagt ihr, dass ihre Lebensform genauso erhaben ist wie
jene der Ordensleute.
Es wäre nötig, zu wissen, ob es in diesem Bereich eine
doppelte Wahrheit gibt. Ich verkenne keineswegs die
Großzügigkeit jener Männer und Frauen — lassen wir gewisse
tadelnswerte Übertreibungen ihres religiösen Eifers beiseite —;
aber die in dieser typisch „römischen“ Ausdrucksweise
unterschwellig vorhandene Theologie erregt nicht nur Ärgernis,
sondern sie ist schlicht und einfach falsch und in der Schrift,
deren Sinn ihr Katholiken umbiegt, sehr schlecht begründet...
Zudem ist dieser „Ruf“ Gottes nicht in allen christlichen
Kirchen vernehmbar...
DER DOMHERR
Nun aber mal langsam... Selbst in denjenigen Kirchen, wo der
Zölibat nicht Voraussetzung für das Priestertum ist, gibt es
Ordensmänner und Ordensfrauen...
DER PSYCHOANALYTIKER
Zum Wesentlichen dieses theologischen Streitgesprächs, das
hier zwischen zwei Frauen einerseits, von denen eine Jüdin ist,
und die andere Lutheranerin, und einem römisch-katholischen
Priester andererseits stattfindet, kann ich nichts beitragen.
Allerdings habe ich den Eindruck, dass auf beiden Seiten eine
gewisse Anzahl von unbewussten Komplexen im Spiel ist: ein
gewisses Aufbegehren der Frauen gegen die römische Kirche,
die in ihren Leitungsorganen ausschließlich Männer
berücksichtigt, und ein narzisstischer Komplex dieser
Amtsinhaber, die sich in den heiligen Texten wiedererkennen
wollen, und darin eine Rechtfertigung für ihre Verhaltensweisen
suchen. Ein bisschen Klarheit über sich selbst kann gelegentlich
hilfreich sein, um eine objektivere Wahrheit zu finden.
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
455
Was denken etwa die katholischen Frauen über das doktrinäre
Gehabe der römischen Machthaber ihnen gegenüber? Vielleicht
kann die eine oder andere unserer Teilnehmerinnen uns hierüber
ins Bild setzen!
DER MODERATOR
Sie, meine Dame? Ich meine die Krankenschwester?...
DER PSYCHOANALYTIKER
Keine Antwort! Was muss man daraus schließen? Dass sich
die katholischen Frauen weitgehend noch nicht dieser Probleme
bewusst geworden sind? Oder dass es je länger je weniger
katholische Frauen gibt? Nachdem die Kirche die
Naturwissenschaftler verloren hat, nämlich die Physiker im
Anschluss an die Verurteilung des Galilei, und im Anschluss an
die Zurückweisung Darwins die Biologen, und dann im letzten
Jahrhundert zugelassen hat, dass sich die Arbeiterklasse
außerhalb von ihr formierte: Ist sie nun heute nicht dabei, sich
die Mehrheit der Frauen zu entfremden?
Für die Kirche könnte das Schweigen der Frauen noch
schädlicher sein als ihr Aufbegehren gegen sie. Der
Bildungsmangel der Frauen der Vergangenheit hat aus ihnen
folgsame und brave Kirchgängerinnen gemacht, die für den
Zölibat der Priester keine große Gefahr darstellten. Und die
Unterordnung, die den Frauen in den Kulturen der Menschen
auferlegt ist, bringt sie dazu, auch die religiöse Unterordnung zu
wählen... Diese ist ja auch leichter zu ertragen als die
Unterordnung unter ihre männlichen Gebieter.
DER DOMHERR
Das ist nicht mehr theologische Argumentation, sondern
journalistische Polemik! Als ob die Lehre der Kirche immer auf
die Frage nach dem Zölibat oder der Priesterehe, und auf das
Verbot des Frauenpriestertums zurückgeführt werden müsste!
Als ob es keine wichtigeren Fragen gäbe als das! Und jedes Mal,
wenn sich ein „Skandal“ ereignet, wenn ein Priester oder sogar
ein Bischof dem Priestertum den Rücken kehrt, um eine
sinnliche Bindung einzugehen und eine Familie zu gründen,
kommt man auf dieses Thema zurück... Was hat das mit dem
katholischen Glauben zu tun? ...
DER ERSTE PHILOSOPH
456
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Verzeihen Sie, Herr Kanonikus, aber ich denke nicht, dass
man sich über die gemachten Bemerkungen aufregen sollte.
Zunächst sollte man die Probleme selbst nicht mit den
Gelegenheiten verwechseln, bei denen sie sich stellen. Die
Gelegenheiten gehören vielleicht in die Schublade der
vielfältigen Ereignisse, aber die Probleme sind ernsthaft. Und
dann sind es nicht die Laien, die aus dem Priesterzölibat ein
zentrales Element der Organisation der katholischen Kirche
machen, sondern die Hierarchie selbst. Genauso ist es die
höchste Autorität der katholischen Kirche, die der Ansicht ist,
dass nur Männer Priester werden können, und dass die Frauen
vom Priestertum ausgeschlossen sind. Und man sagt uns, dass
diese Fähigkeit der Einen und Unfähigkeit der Anderen von der
„göttlichen Einrichtung der Kirche“ abhängt. Nicht die
Gläubigen haben das entschieden. Einige von ihnen sind mit
diesem Zustand der Dinge einverstanden, andere nehmen daran
Anstoß. Ich denke, das ist ihr gutes Recht. Wenn die kirchlichen
Machthaber diese Dinge selber wichtig nehmen, dann soll man
es den Gläubigen nicht zum Vorwurf machen, dass sie sie bei
jeder Gelegenheit in Frage stellen.
Und zudem: Vertiefen die kirchlichen Machthaber denn etwa
nicht das Problem, indem sie die Verantwortung für eine
derartige Diskriminierung auf Jesus abschieben, wenn sie uns
sagen, dass nicht sie die Frauen vom Priestertum ausschließen,
sondern dass Jesus selbst es so entschieden hat, und dass die
Machthaber in Rom diese Entscheidung gar nicht ändern
können? Legen sie damit nicht jenen ein Hindernis in den Weg,
die für Jesus offen sind, und dazu neigen würden, an ihn zu
glauben, aber davon durch die Machenschaften einer gewissen
römischen Verwaltung abgeschreckt werden? Wenn an der
Kirche auch viel bösartige Kritik geübt wird — was ich als
Philosoph bedaure — so ist es doch wohl so, dass die Kirche zu
oft meint, dass jede Kritik und jede Forderung nach
Rechtfertigung böse gemeint ist! Dreht sie, indem sie so handelt,
nicht der Sache Jesu den Rücken?
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Ihre klärende Stellungnahme ist ausgeglichen. Ich weiß das zu
schätzen, umso mehr, als Sie ihre Vorbehalte in Form von
Fragen formulieren. Allerdings sollte man den Ausspruch „Das
Evangelium ist wunderbar; wenn es doch bloß die Christen nicht
gäbe!“ nicht überstrapazieren und die Kirche und Christus
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
457
vorschnell zueinander in Widerspruch setzen. Das ist zwar
irgendwie modern. Aber ich gebe zu, dass eine gewisse
katholische Theologie zu dieser Reaktion anregt, genauso, wie
eine gewisse römische Sturheit in der Vergangenheit viele
Katholiken ins Schisma oder in die Häresie getrieben hat. Man
muss allerdings auch die Bemühungen um Öffnung mit
einbeziehen, die in der heutigen Kirche spürbar sind. Sie sind
echt, trotz der in jeder Institution gegebenen Unbeweglichkeiten
und Erschwernisse. Und schließlich soll man den Zeitgeist nicht
unbeachtet lassen. Die Kirche ist nicht fähig, sich dafür
unempfänglich zu machen, und ihre Leseweise der heiligen
Texte ist in jedem Zeitalter der Geschichte davon abhängig.
Die Historiker stehen noch vor der unermesslichen Aufgabe,
Ordnung in das Gewirr von gegenseitigen Einflüssen zwischen
Kirche und Kulturen und von Reaktionen gegen diese Einflüsse
zu bringen. Bei konfliktgeladenen Situationen braucht man
Geduld und Unterscheidungsgabe, und es ist angebracht, jede
Frage bis in die letzte Einzelheit sowohl in sich selbst als auch
in ihren Beziehungen zu den anderen Aussagen des christlichen
Glaubens, sowie auch zu den Überlegungen der Philosophen, zu
studieren.
Um auf die verschiedenen Themen dieses Kolloquiums über
den Glauben zurückzukommen, muss man sehr wohl zugeben,
dass die Kirche in der Vergangenheit vor allem eine
„Spiritualität des Individuums“ entwickelt hat, eine Spiritualität
des Menschen, der „allein“ ist, selbst wenn er in Gemeinschaft
mit anderen lebt. Es ist eine Spiritualität von Männern und
Frauen, die nebeneinandergestellt sind, jeder individuell vor
Gott, also, kurz gesagt, eine Spiritualität für „Mönche und
Nonnen“, wie das die Etymologie des lateinischen Wortes
„monachus“ besagt.
In der Ausformung dieser Spiritualität ist, wie in diesem
Kolloquium mehrmals hervorgehoben wurde, der Einfluss des
griechischen Denkens nicht zu übersehen. Und diese Art von
Spiritualität hat man für alle Lebensformen verallgemeinert,
auch für jene der verheirateten Leute, und für Eltern und Kinder
in ihrer gegenseitigen Beziehung. Es gab keine eigentlich
familiäre Spiritualität. Das Ideal für die verheirateten Leute
bestand darin, so zu leben, als ob sie nicht verheiratet wären.
Und jenes für die Kinder darin, Erwachsene zu werden, so, als
ob sie keine Eltern hätten, und ihre Eltern zu verlassen, um ins
Kloster zu gehen. Und gelegentlich bestand das Ideal für die
458
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Eltern sogar darin, ihre Kindern an ein Kloster abzugeben und
sich selbst, natürlich getrennt von den Kindern, in ein Kloster
zurückzuziehen.
Und als Beispiel für dieses Ideal führte man den Leuten das
Leben Jesu und Mariens vor Augen, so, als ob beide den
„Zölibat“ gelebt hätten. Nun besagen aber die Texte aber
einerseits, dass der Mann Jesus der Erstgeborene einer
zahlreichen, von Joseph und Maria gezeugten Familie war, und
dass andererseits seine vergöttlichte Nachkommenschaft
aufgrund seiner personalisierenden Einheit mit dem Wort, und
daher gemeinsam mit dem Vater, keine andere ist als die
gesamte Menschheit. Aber die Texte, die das aussagen, wurden
in Abhängigkeit von dieser individualistischen Auffassung vom
Ideal des christlichen Lebens gelesen und ausgelegt.
Diese Spiritualität war nicht frei von Großzügigkeit, Hingabe
und Selbstverleugnung. Oft bot sie Gelegenheit, erhabene
Tugenden auszuüben. Es geht nicht darum, das anzuschwärzen,
was Beachtung und Ehrfurcht verdient. Es geht darum,
herauszufinden, ob eine derartige Spiritualität wirklich dem
Geist des Evangeliums entspricht: ob sich die evangelische Idee
vom Leben nur in dieser Form von Spiritualität zum Ausdruck
bringen kann.
Ich meine, im Anschluss an unsere Diskussionen über die
Glaubenschaftlichkeit sagen zu müssen, dass das Evangelium
eine andere Form von Spiritualität inspirieren könnte, die dem
Ehe- und Familienleben besser angemessen ist. Vielleicht ließe
sie sich sogar mit den großen Wahrheiten der christlichen
Offenbarung besser vereinbaren, und würde in tieferem
Einklang stehen mit der jüdischen, biblischen Überlieferung?
DER ANDERE PHILOSOPH
Das würde dann ebenfalls ermöglichen, eine Grundlage für
eine wahrhaftige Komplementarität zwischen Judentum und
Christentum auszuarbeiten.
DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE
Selbstverständlich! Aus reiner Zerstreutheit habe ich das
ausgelassen.
DER ANDERE PHILOSOPH
Dennoch lag es in der Logik der üblichen Spiritualität der
Kirche, zu sagen, dass der Zölibat eine höhere Form des
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
459
moralischen Lebens sei als die Ehe. Die Tatsache, dass
diejenigen, die in der Kirche Verantwortung tragen, abgesehen
von einigen „Fundamentalisten“, es nicht mehr wagen, so zu
sprechen, und auch die Tatsache, dass die traditionellerweise
zugunsten des Zölibats beigebrachten Gründe inzwischen mit
Schweigen bedacht werden: All das ändert nichts am
Vorhandensein dieser Schlussfolgerungen, die sich aus dieser
üblichen Spiritualität logisch ergeben. Es gibt also irgendwo
eine Fehlerquelle. Wo hat sie sich eingenistet? Sicherlich nicht
in der Tatsache, dass diese Spiritualität bei zölibatär lebenden
Männern und Frauen bewundernswerte Ansätze der
Großzügigkeit hervorgerufen hat, sondern in der Tatsache, dass
sie nicht fähig war, die genauso hochherzigen Ansätze von
Großzügigkeit bei den Eheleuten und Eltern im Rahmen des
normalen Familienlebens anzuerkennen.
Wie groß ist der Anteil der Väter und Mütter unter den
„Heiliggesprochenen“, im Vergleich zu den unverheirateten
Heiligen? Sie wissen genauso gut wie ich, dass er
verschwindend klein ist. Das ist ein Zeichen, das auf die
Fehlerquelle in der üblichen Spiritualität hinweist. Sie ist falsch,
weil sie „unvollständig“ ist. Denn in der Tat schafft sie es nicht,
der Gesamtheit der familiären Beziehungen genauso wie dem
Zölibat einen „evangelischen Geist“ zu verleihen.
Eine andere Spiritualität, die das Gegenteil bewirken würde,
also das Eheleben aufwerten und verunmöglichen würde, dass
man die Werte des Zölibats anerkennt, wäre genauso falsch. Der
Fehler wäre von derselben Art, aber umkehrt. Eine genauso
bruchstückhafte Sichtweise. Es ist also an der Zeit, eine
Spiritualität zu suchen, die diese beiden Aspekte der Existenz
vereinen kann, nämlich jenen des Ehelebens und jenen des
Zölibats, beide in ihrer jeweiligen Besonderheit, und ohne sie
einander anzugleichen oder den einen dem anderen
unterzuordnen. Man könnte dann von einer ganzheitlichen und
nicht mehr bruchstückhaften Spiritualität sprechen, von einer
Spiritualität, die auf eine ganzheitliche Ontologie gründet, wie
nur die relationale es ist.
DER PSYCHOANALYTIKER
Sie bemühen sich um die Quadratur des Kreises. Zwischen
Zölibat und Eheleben muss sehr wohl gewählt werden. Man
kann nicht beides gleichzeitig wollen.
460
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER ANDERE PHILOSOPH
Natürlich! Eine solche Binsenwahrheit muss nicht diskutiert
werden. Aber sie betrifft ausschließlich das Individuum als
solches. Indem wir uns auf die Unmöglichkeit, dass es beides
wählt, fixieren, bleiben wir gewissermaßen innerhalb des
Rahmens einer individualistischen Sicht der Dinge, also im
Rahmen eines nicht-relationalen Seinsbegriffs. Um dieser
zweifachen Stellung, Zölibat und Ehe, gerecht zu werden, und
für beides eine besondere Ethik auszudenken, verfallen wir einer
dualistischen Sichtweise: eine höhere Spiritualität für die
Mönche und eine tiefer angesetzte für verheiratete Leute. Die
eine oder die andere zählt. Sie können einander nur
widersprechen, und werden nicht als komplementär aufgefasst.
DER THEOLOGIEPROFESSOR
In meiner Eigenschaft als Verantwortlicher für die
Ausbildung zukünftiger Priester wüsste ich gerne, wie man sie
komplementär macht!
DER ANDERE PHILOSOPH
Nicht ich mache sie komplementär. Sie sind es von Natur aus.
Man braucht bloß ihre „Komplementarität“ festzustellen. Das
Wort ist nicht ausdrucksstark genug. Man müsste sagen, „die
Tatsache, dass sie sich gegenseitig implizieren“. Aber dazu
muss man, „in die richtige Richtung schauen“, wie Platon es
jenem nahelegte, der das Gute an sich schauen wollte. Das Auge
der Seele ist nämlich gut. Es geht nicht darum, blinden Augen
das „Augenlicht“ zu geben.
DER DOMHERR
Sie wollen also sagen, dass man zwanzig Jahrhunderte lang in
die falsche Richtung geschaut hat... Das ist allerdings
anmaßend! Die katholische Theologie hat sich sehr von Platon
inspirieren lassen. Hat also auch Platon in die falsche Richtung
geschaut?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich will lediglich sagen, dass man den Kopf im Lauf von
zwanzig Jahrhunderten nach und nach gedreht hat, um nun
endlich in die richtige Richtung zu schauen... Platon hat damit
begonnen, „aus der Höhle herauszugehen“, indem er versuchte,
die widersprüchlichen Thesen des Heraklit und des Parmenides
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
461
zu vereinbaren. Aber er war sich bewusst, damit gescheitert zu
sein. Aristoteles hat gewisse Fehler verbessert, aber der
Einheitsbegriff im Sinne des Parmenides blieb als Blockierung
bestehen. Die Ausarbeitung muss weitergeführt werden, die
„Blockierung“ muss gelöst werden, und auf die platonischen
und die von ihnen abhängigen neuplatonischen Vorstellungen
muss man radikal, also von Grund auf, verzichten.
Sie beinhalteten, dass man sich durch Verzicht auf alle
Verlänglichkeiten des Körpers, nicht nur auf niedrige sexuelle
Triebbefriedigung, sondern auch auf den ehelichen Akt, zu den
geistigen Wirklichkeiten aufschwingt, und sich in reinerer
Weise dem Göttlichen nähert... dem in sich Einen, in dem man
sich dann mystisch auflösen würde.
DER DOMHERR
Aha! Und wie soll man auf diese heidnischen Vorstellungen
verzichten?
DER ANDERE PHILOSOPH
Indem man als Reflexionsgrundlage der totalen Spiritualität
eine Ontologie nimmt, die der klassischen Ontologie
kontradiktorisch widerspricht, und keine bruchstückhafte,
individualistische Spiritualität zulässt. Ich sehe keine andere
derartige Ontologie als die relationale. Sie ist rational begründet
und ermöglicht uns ein in sich stimmiges Verstehen der
Offenbarung Gottes in der Person Jesu. Gott ist in sich selber
eine aus drei Personen bestehende Familie, die uns als ihr
Abbild als familiäre Seiende erschafft, und er erhebt uns auf die
Weise einer familiären Beziehung in seine eigene
Vollkommenheit. Ich wiederhole es mit den Worten der
Offenbarung: Der Vater mit seinem in Christus inkarnierten
Wort, also beide, erheben uns in eine universale, im Geist
„vergöttlichte“ Brüderlichkeit.
Indem sie das tun, befreien sie uns von unserer Fähigkeit, zu
sündigen, und von jeglicher Unvollkommenheit unserer Freiheit
in unseren interpersonalen menschlichen Beziehungen. In
diesem Sinne ist die Vergebung Gottes nicht nur eine durch
Worte vollzogene „Lossprechung“ von unseren Fehlern, ein
Ausradieren unseres Schuldscheins, sondern eine wahrhaftige
Wirklichkeit, die der gegenwärtigen gegenüber neu ist, wie das
auch auf seine Offenbarung in der Schöpfung zutrifft.
462
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Die trinitarische Fruchtbarkeit des Reiches verwandelt uns am
Tag unseres letzten Tages, sie „rechtfertigt“ uns, „erschafft uns
neu als Gerechte“, und zwar aus erschaffenen Sündern, die wir
sind und zurzeit auch bleiben. Sie versetzt uns in eine Ordnung
der vollkommenen Gerechtigkeit und Heiligkeit in unseren
interpersonalen Glaubens- und Liebesbeziehungen.
Ganz auf sich allein gestellt kann eine menschliche Person gar
nicht, in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit, in angemessener
Weise von einem Gott Zeugnis ablegen, der Dreieinigkeit von
Personen ist, und von seinem Werk in seiner dreieinigen
Entfaltung. Niemand kann das dadurch, dass er sich in seiner
einzelnen Individualität denkt: weder ein einzelner Mann, noch
eine einzelne Frau, noch ein einzelner Dritter, der gemeinsam
aus dem Mann und der Frau hervorgeht. Die geschlechtliche
Existenz des Mannes und der Frau ist die Bedingung dafür, dass
geistige Personen in der Welt inkarniert sein können, in Zeit und
Geschichte, dass sie sich aktualisieren können und ihre geistige
Beziehungsbedingtheit in ontologischer Ähnlichkeit mit dem
Gott, der sie erschaffen hat, verwirklichen können.
Das, was am menschlichen Sein am höchsten geistig ist, ist
auch tiefer fleischlich als alles andere. Wir müssen uns dieser
geistigen Würde bewusst sein, die sich im menschlichen Körper
zum Ausdruck bringt, und die sich ohne ihn nicht so
verwirklichen könnte, dass unser Leben menschlich
unwiederbringlich und vollkommen gelingt, und ein „Lob der
Herrlichkeit“ Gottes darstellt, um einen Ausdruck des heiligen
Paulus aufzugreifen.
In ihrer ehelichen und elterlichen Bindung bezeugen Mann
und Frau durch die Wirklichkeit ihrer Personen, und nicht nur
durch Worte oder lehrmäßige Äußerungen, den Vater und sein
ewiges Wort in ihrer ewigen Fruchtbarkeit gegenüber dem
Heiligen Geist. Und der Mann oder die Frau, der/die sich für den
Zölibat entscheidet, ratifiziert in unwiederbringlicher Weise
seine/ihre sohnhafte Beziehung als „Dritter“ in der Familie.
Dadurch bezeugt er durch seine ganze Person, und nicht nur
durch Worte oder dogmatische Formeln, die ewige Person in
Gott, die der Heilige Geist ist, die uns brüderlich in unsere
Vergöttlichung aufnimmt. Der Zölibat, ein bleibendes Zeichen
der Sohnschaft, ist daher das vorausgreifende Abbild unserer
Vergöttlichung in Brüderlichkeit im Heiligen Geist. Um des
Reiches Gottes willen... oder, im Hinblick auf das Reich
Gottes“, sagte Jesus. Das heißt nicht, dass wir nach dem Tod
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
463
wieder zu zölibatären „Individuen“ werden. In ähnlicher Weise
ist die eheliche und elterliche Liebe die Analogie des Vaters und
des inkarnierten Wortes in ihrem Werk der Vergöttlichung der
Menschheit. Das christliche Ehepaar zeugt seine Kinder im
Hinblick auf deren Auferstehung.
DER DOMHERR
Das ist ein Blick in eine sehr ferne Zukunft... in eine sehr,
sehr, sehr ferne Zukunft…
DER ANDERE PHILOSOPH
Und doch ist es diese Vision, die Paulus hatte, als er an seine
Gemeinde in Korinth schrieb: „Genauso, wie der Mann das
„Haupt“ der Frau ist (ergänzen Sie: die Frau ist das „Herz“ des
Mannes), so ist Christus das „Haupt“ (der Offenbarer Gottes)
der Kirche (für die Verkündigung des Evangeliums) und Gott
(der Vater) ist das Haupt Christi (des inkarnierten Wortes, des
Retters der Menschheit).“
DER EXEGET
Sie bereichern den Text nachhaltig... Andere Kommentatoren
sehen darin nur eine Rangordnung in der Ausübung von
Autorität. Gott befielt Christus, Christus befielt der Kirche, die
Kirche befielt den Gläubigen, wie der Mann seiner Frau.
DER ANDERE PHILOSOPH
Wenn dem so ist... Welch ein Rückschritt zu gewissen
orientalischen Gewohnheiten, die leider immer noch gepflegt
werden...
Dagegen muss die dreieinige Wirklichkeit Gottes in ihrer
letzten Verständlichkeit die christliche Spiritualität inspirieren,
die sich auf das Evangelium beruft. In Gott sind die Personen
einander an göttlicher Würde gleich, und ihre besonderen
Beziehungen implizieren einander, ohne sich einander
anzugleichen oder in einer einzigen
Individualität
unterzuordnen.
Männern und Frauen obliegt es nun, sich dessen
bewusstzuwerden, und Gott in den besonderen Beziehungen, in
denen sie sich vollkommen verwirklichen, zu bezeugen: in der
elterlichen Ehelichkeit und im sohnhaften Zölibat. In einer
Familie ist das Kind der Segen des Heiligen Geistes. In Israel ist
das Kind der Segen, den Gott durch seinen Bund mit Abraham
464
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
und Sara erteilt. Gott setzt sich für die Nachkommenschaft
Abrahams und Saras ein, indem er mit ihnen zusammen handelt,
so, wie er in sich selbst zu Mehreren existiert. Der Sinn der
menschlichen Liebe und ihrer familiären Beziehungen und die
Kraft, etwas für die Ewigkeit aufzubauen, haben ihre tiefsten
Wurzeln in Gottes Sein an sich, das von dreieinig-familiärem
Wesen ist.
Ich wage zu denken, dass diese Sichtweise unserer
Entscheidung für eine Lebensweise, oder unser Verständnis von
unserer Lebensweise tiefgreifend anregen kann: eheliche und
elterliche Liebe, oder sohnhafter Zölibat. Die evangelische Ehe
und der evangelische Zölibat sind gemeinsam notwendig, um
die trinitarische Offenbarung in Christus gemäß den
Grundsätzen von ein und derselben relationalen Spiritualität zu
bezeugen.
Diese Offenbarung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern in
Israel inkarniert, in dem Volk, das sein Bleiben in der Zeit als
ehelichen Bund des Höchsten mit ihm verstanden und gelebt
hat. Dadurch hat Israel der menschlichen Existenz einen Sinn
verliehen, an dem die gesamte nicht-jüdische Menschheit
teilhaben kann. Einen Sinn, den die Christen, um Christen zu
sein, mit Israel gemeinsam haben müssen, anstatt ihn Israel zu
entreißen... wenn sie zusätzlich den Sinn des göttlichen Wortes
in Christus und für unsere Teilhabe an der Sohnschaft des
Geistes bezeugen wollen.
DER DOMHERR
Ihre Antworten treiben mich in die Enge. Ich entgegne Ihnen
also einen letzten Einwand. Sie sagen, dass die Familie in ihrer
ontologischen, dreigliedrigen Struktur das Abbild der
Dreieinigkeit ist. Nun ruft aber in Gott der Erste, der Vater
genannt wird, den Anderen, sein Wort oder seinen Sohn, allein
ins Sein. In der menschlichen Familie ruft der Mann die Frau
nicht ins Sein. Er begegnet ihr, wählt sie aus, oder besser gesagt,
er erkennt sie... und ist von ihr ausgewählt und erkannt. Sie
schenken einander ihren Glauben und verloben sich, und
heiraten danach, zeugen ihre Kinder und werden Vater und
Mutter. Die Beziehung in der Ehe ist also nicht ein Abbild der
Dreieinigkeit. Es gibt nicht, wie in Gott, eine anfängliche
Lebensweitergabe durch den Mann an die Frau.
DER ANDERE PHILOSOPH
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
465
Das ist normal. Es muss sogar so sein. Es ist das Zeichen
dafür, dass die Initiative zur Schöpfung und ihrer Ausfaltung in
der Zeit ausschließlich und absolut bei Gott liegt. Der männliche
Mensch kann in keiner Weise in seinem Sein die am Anfang
stehende Macht haben, den weiblichen Menschen ins Sein zu
rufen. Der Autor des zweiten Kapitels des Buches Genesis hat
das wunderbar verstanden.
Gott erschafft den Mann, und aus dem Mann zieht er die Frau
hervor und ruft sie aus ihm ins Sein. So legt er in das
Menschliche an sich ein „Abbild“ seiner ersten Zeugung, aber er
gesteht dem Mann nicht die Initiative für dessen Möglichkeit zu.
Eine derartige Initiative setzt die absolute Macht, ins Sein zu
rufen, voraus, und ist eine ausschließliche Eigenschaft Gottes,
die mit seinem Sein an sich identisch ist.
Aber ausgehend von dem, was sie sind, überlässt Gott dem
Mann und der Frau die Initiative, sich „Dritten“ mitzuteilen,
ihren männlichen und weiblichen Kindern, die sie zeugen
werden. Die Initiative im Ehepaar und in der Familie
verwirklicht sich in Abhängigkeit von der absoluten Initiative
Gottes. Die Glaubenschaft-zu-Gott gesteht Gott die absolute
Initiative bezüglich seiner Offenbarung zu.
Folglich hat jede Vorstellung und jede Verhaltensweise der
Überlegenheit oder der mehr oder weniger gewaltsamen
Herrschaft des Mannes über die Frau etwas mit dem Willen
gemeinsam, über die Frau zu verfügen, und ihr gegenüber die
erste Initiative innezuhaben. All diese Verhaltensweisen sind
also ein Missverständnis oder ein Widerspruch zur absoluten
Initiative Gottes, der die lebensweitergebende Beziehung von
Mann und Frau so eingerichtet hat, dass sie sich auf einen von
ihnen selbst verschiedenen „Dritten“ ausrichtet. Man kann also
sagen, dass diese Versuche, zu beherrschen, die ursprüngliche
Form des Bösen in der Menschheit sind, die höchstmögliche
Stufe der Weigerung, Gott in Wahrheit zu gehorchen.
Wenn wir nun unsere „Vergöttlichung“, die vom Bösen
befreit, betrachten, sehen wir auch, dass der Vater sein Wort in
die Menschheit „sendet“, und dass die Macht zum „Heil“ in
Christus in Abhängigkeit vom Vater und vom ewigen Wort zur
Ausübung kommt. Unser Heil wird also im Geist gewirkt, der an
ontologisch dritter Stelle steht. Jesus hat in seiner Menschheit
diese absolute Initiative des Vaters voll und ganz anerkannt.
Deshalb war sein „Gehorsam“ vollkommen.
466
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
DER DOMHERR
Das ist ein sehr „spekulativer“ Gehorsam, der sich auch viel
leichter ertragen lässt als das Kreuzesopfer... Aber lassen wir
das... Ich habe noch einen schwerwiegenderen Vorbehalt...
Ihr Vergleich zwischen der trinitarischen Struktur Gottes und
jener der menschlichen Familie wird durch die Sprache der
Liturgie des Irrtums überführt. Sie sagen, dass sich das Wort in
Gott dem Vater gegenüber in einer „bräutlichen“ Stellung
befindet, und dem Geist gegenüber in „mütterlicher“ Stellung,
der wiederum gegenüber dem Vater und dem Wort eine
„kindliche“ oder „sohnhafte“ Stellung innehat. Nun sagt die
Liturgie aber, dass das Wort auch der „Sohn“ des Vaters ist, sein
ewiger Sohn. Wie kann es „Wort-Braut“ und Sohn sein?
Außerdem haben Sie gesagt, dass Sie als Glaubender den
Vater, den Sohn und den Heiligen Geist anbeten. Also...
DER ANDERE PHILOSOPH
Ja, und wie jeder Christ mache ich mein „Kreuzzeichen“, und
das sehr bewusst... Sie sprechen von Liturgie... Ich werde Ihnen
als Glaubender antworten... Mir scheint diese Benennung
„einziger Sohn“ natürlich zu sein, da es sich um das religiöse
Vokabular handelt, das die rettende Trinität beschreibt, also um
das Vokabular des „apostolischen Glaubensbekenntnisses“. Die
Benennungen der Personen der Trinität wurzeln im Ereignis der
Inkarnation des Wortes in der geschaffenen Menschheit.
DER DOMHERR
Und wie verstehen Sie diese Benennung „einziger Sohn“, bei
der es sich ja um eine ewige Sohnschaft, und nicht um eine
eheliche Beziehung handelt?
DER ANDERE PHILOSOPH
Ich verstehe sie als Theologe. Und eben deshalb gebe ich
mich nicht mit der religiösen Sprache zufrieden, die zwar eine
transzendente Offenbarung bezeugt, sich aber um die
ontologische Kohärenz der symbolträchtigen Symbole, die sie
gebraucht, keine Gedanken macht. Es reicht aus, eine
symbolisierte Wirklichkeit ins Auge zu fassen, die ins sich
ontologisch kohärent sein muss. Der glaubenschaftliche
Glaubende, der die Rationalität des Glaubens verstanden hat und
eine an sich verständliche Offenbarung verlangt, um so durch
die Qualität seines Glaubens Gott, den Schöpfer und Offenbarer,
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
467
zu ehren, bemüht sich, eine ontologisch kohärente
Verständlichkeit dieser göttlichen Offenbarung zu erreichen.
Der religiös Glaubende ehrt Gott auf seine Weise. Möge sie
immer noch gültig sein!
DER DOMHERR
Sie erfinden nichts! Das ist genau das, was die großen
heiligen Theologen immer schon versucht haben...
DER ANDERE PHILOSOPH
Das freut mich... Ich bemühe mich lediglich darum, sie
nachzuahmen... Und dazu bediene ich mich der relationalen
Philosophie, die ich Ihnen dargelegt habe, und des
Gottesverständnisses, das mir durch diese Philosophie
ermöglicht wird.
Hinter der Benennung „einziger Sohn“ steht in der Bibel eine
ganze Geschichte. Auf Isaak bezogen bedeutet sie eine
Bevorzugung in der Liebe: „Mein meistgeliebter Sohn“. Das
Evangelium lässt eine „Stimme vom Himmel“ in Erscheinung
treten, die sagt: „Derjenige, an dem ich mein ganzes
Wohlgefallen habe“. Diese Liebe ist die Grundlage der
Einzigkeit des Sohnes.
Der „Sohn“, um den es sich im Falle Jesu handelt, ist ein
„Menschensohn“, ein bevorzugter Sohn, der unter allen
Menschensöhnen herausragt. Dieser „Menschensohn“ ist
aufgrund der göttlichen Gegenwart in ihm einzig.
Die Einzigkeit dieses Menschensohnes bedeutet keineswegs,
dass er der einzige Sohn Mariens ist. Einzig unter allen
Menschen aufgrund der göttlichen Gegenwart, die in ihm wohnt,
ist er wohlgemerkt auch unter den anderen Kindern von Joseph
und Maria nur deshalb einzig. Das liegt auf der Hand. Niemals
hat eine andere Frau, oder auch Maria selbst, ein zweites Mal
einen derartigen Sohn geboren. Und niemals haben Maria, und
sie genauso wenig wie Joseph, die in ihrem Sohn gegenwärtige
Gottheit hervorgebracht. Aber sie sind voll und ganz die Eltern
dieses von der göttlichen Gegenwart bewohnten Sohnes. Wie
sind sie sich dessen bewusst geworden? Das ist eine andere
Frage.
Die göttliche Gegenwart im „Menschensohn“ bedeutet
genauso wenig, dass diese göttliche Gegenwart in Gott eine
sohnhafte Wirklichkeit wäre, auch wenn diese göttliche
Gegenwart in einem Menschensohn diesem Sohn die Stellung
468
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
des „ewigen Sohnes“ Gottes verleiht. Diese Tatsache verdoppelt
die Bedeutung der Vaterschaft Gottes. Insofern er Schöpfer ist,
kann Gott „Vater“ genannt werden, und zwar im symbolischen
Sinn, da seine schöpferische Tätigkeit hier im besonderen als an
den menschlichen Personen ausgeübt gedacht wird. In unserer
menschlichen Erfahrung gibt es kein stärkeres und
bedeutsameres Symbol. Und außerdem, und zwar in
herausragender
Weise,
ist
Gott
„Vater“
dieses
„Menschensohnes“.
Dieser Gott, der Schöpfer ist und sich in diesem
„Menschensohn“, Jesus, zeigt, ist auch der Geist, der die
Menschheit leitet und Ihm näher bringt.
Wir haben es hier mit einer im Rahmen des biblischen
Monotheismus der Zeit Jesu entstandenen Trilogie der Namen
Gottes zu tun, und nicht Gottes selbst, sondern Gottes in seiner
Beziehung zur Menschheit. Diese Trilogie ist nicht ausreichend
erklärt. Außerdem wirft sie sehr schnell zahlreiche Fragen auf.
Die Antworten lassen sich in drei Gruppen einteilen. Die erste
Gruppe enthält all jene Antworten, die darauf hinauslaufen, dass
es einen einpersönlichen Gott gibt, der in drei Abschnitten
seines Handelns betrachtet wird: Schöpfung, Offenbarung,
Heiligung. Die zweite Gruppe führt uns eine pyramidale Sicht
vor Augen: ein einpersönlicher Gott, der bei seinem Werk die
Hilfe eines verherrlichten „Mittlers“ zugunsten der Menschen in
Anspruch nimmt. Die dritte Gruppe anerkennt mit wachsender
Klarheit, dass die Wirklichkeit der Schöpfung und einer
Offenbarung des Heils die Existenz eines dreipersönlichen
Gottes voraussetzt.
Die Inkarnation Gottes in einem „Menschensohn“ ist nicht
nur ein Akt der schöpferischen „übergroßen Macht“, die sich
eines „Gottesmannes“ bemächtigt, der so ein „Demiurg“ würde,
sondern eine wirkliche göttliche Gegenwart in einem Menschen.
In einem Menschen bildet die göttliche Gegenwart einerseits mit
der menschlichen Natur eine dermaßen totale personale Einheit,
und behält andererseits eine derartige Unterscheidung von der
menschlichen Natur bei, dass diese Unterscheidung in Gott
selbst begründet sein muss, und dass sich die Vorstellung von
einem einpersonalen Gott nicht mehr mit einer derartigen
Offenbarung vereinbaren lässt.
Wie soll man diese göttliche Gegenwart in einem Menschen,
Sohn von Menschen, bezeichnen, die diesen Menschen
personalisiert und aus ihm, in den Augen der Menschen, einen
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
469
unter den Menschen „Einzigen“ macht? Es ist natürlich, dass
dazu der Titel „Gott Sohn“, „Gott, ewiger Sohn des Vaters“
gebraucht wird, um die durch diese Gegenwart implizierte
Unterscheidung in Gott selbst hervorzuheben.
Das bedeutet nicht, dass dieser Name aufgrund der
menschlichen Sohnschaft Jesu einen ontologischen Status der
Sohnschaft in Gott impliziert. Aber man kann die Beziehung
„Vater-Sohn“ symbolisch und innerhalb eines kulturellen
Rahmens, und also auch außerhalb ihrer ontologischen
dreigliedrigen Struktur verwenden, um eine Beziehung von
anderer ontologischer Art zu bezeichnen, insofern sie an die
symbolhafte kulturelle Beziehung „Vater-Sohn“ erinnern kann.
Das ist eine Ausdrucksmöglichkeit der spontanen religiösen
Sprache. Und diese Möglichkeit besteht auch innerhalb der
ausgefeilten, theologischen Sprache, vorausgesetzt, dass diese
weiß, dass man sie nicht ontologisieren darf.
Johannes, der Apostel, den Jesus besonders achtete, und den
er in meditativen Gesprächen über hochstehende Reflexionen
über seine eigene Person und seine Heilssendung in besonderer
Weise hat ausbilden können, hatte diese Stellung verstanden.
Eben deshalb hat Johannes versucht, uns einerseits das
„offenbarende Wort“ Gottes als eine in Gott und von Gott, der
es ausspricht, unterschiedene lebendige Wirklichkeit vor Augen
zu führen, und andererseits dieses Wort, das Gott in sich selbst
ausspricht, mit dem „Menschensohn“ gleichzusetzen, der sein
Herr war.
Kann man etwa nicht sagen, dass der Schöpfergott, der das
Menschliche nach seinem Abbild erschaffen hat, die Frau in der
Weise aus dem Mann hervorzieht, wie der Vater, der die
„Stimme“ ist, in sich selbst den Anderen, der sein Wort ist, ins
Sein ruft? Deshalb muss der Mann der Frau Wirklichkeit
verleihen, weil ihre menschliche Stimme nur dann eine
wirkliche Stimme ist, wenn sie sein Wort ausspricht.
Sagt Adam in der Schöpfungsszene etwa nicht: „Das ist der
Knochen von meinem Knochen; das Fleisch von meinem
Fleisch“? Ohne dieses Wort, oder wenn dieses Wort nicht
möglich wäre, könnte er selbst nicht existieren, und genauso
wenig seiner Frau ihren Namen geben, „Mutter aller Lebenden“,
und also auch nicht mit ihr zusammen sich auf den lebendigen
Dritten hinbewegen, der aus ihrem Blut hervorgeht.
DER PSYCHOANALYTIKER
470
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Ich persönlich könnte mir gut vorstellen, wie sich Ihr Symbol
auch zu einer Trilogie ausweitet: die Stimme, das Wort und das
Echo, das von dem Wort und der Stimme geschaffen wird...
DER DOMHERR
Und wiederum haben Sie alles zu Ihren Gunsten gewendet...
Aber ich werde mich erst dann geschlagen geben, wenn ich alles
verstanden habe... Herzlichen Glückwunsch... trotzdem.
DIE HISTORIKERIN
Danke, dass Sie die Rolle der Frau in den glaubenschaftlichen
Beziehungen hervorgehoben haben. Ohne Mutterschaft gibt es
also keine Vaterschaft, nicht einmal in Gott... Das ist es, was
zählt, damit unsere Würde wahrhaft anerkannt werde... Aber als
Historikerin habe ich noch eine Frage. Die Denker der jüdischen
Religion, sagen wir, jene des rabbinischen Judentums, haben die
Gedanken Jesu nicht geteilt. Zudem finde ich in den historischen
Zeugnissen keine Fragestellung, die der Ihrigen gleicht.
Schreiben Sie nicht die Geschichte neu, und zwar so, wie sie in
Ihrer Ansicht nach hätte sein sollen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Keineswegs, selbst wenn man den Eindruck haben kann! Der
Grund ist, dass die Philosophie hinter der „beobachtbaren“
Geschichte, also jener der Historiker, aber nicht ohne diese
„Geschichte der Historiker“, die Geschichte dessen wahrnimmt,
was sich im tiefsten Inneren des menschlichen Wesens abspielt.
Es ist wahr, dass die Juden sich die Frage nach der Bedingung
für die Möglichkeit eines Schöpfungsaktes in Gott kollektiv und
explizit noch nicht gestellt haben, und ebenso wenig jene nach
dem Ausmaß dieses Schöpfungsaktes, also nach seiner
transzendenten „Zukunft“.
Genauso wenig wie die christlichen Denker, wohlgemerkt!
Als ich Ihnen vor wenigen Augenblicken Buber und Levinas
zitierte, zeigte ich, dass es mir naheliegt, zu denken, dass die
intellektuellen Voraussetzungen für das Aufkommen einer
derartigen Frage von jüdischen Denkern, oder Denkern, die aus
jüdischen Quellen schöpfen, jetzt oder in Zukunft geschaffen
werden.
DER PHYSIKPROFESSOR
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
471
Haben die Juden besondere Gründe, diese Frage zu stellen? In
der Tat sind Sie es, wie ich höre, der die Frage nach den
apriorischen Bedingungen der Möglichkeit des Schöpfungsaktes
stellt, und Sie sind kein Jude, sondern Christ! Also? Hierin liegt
eine Ungereimtheit, die ich mir nicht erklären kann. Sie meinen,
im Judentum einen inneren Weg festzustellen, auf dem es sich
aber nicht bewegt...
DER ANDERE PHILOSOPH
Auf dem es sich doch, bis zu einem gewissen Punkt, bewegt...
Ich schöpfe eben gerade als Christ aus den Quellen des
Judentums! Und das sogar, indem ich das ganze griechische
Erbe des Christentums „durchquere“. Während meines
Philosophiestudiums wurde mir zunächst bewusst, dass die
christlichen Theologen nicht fähig waren, die Wahrheiten ihres
Glaubens mit den von ihnen benutzten griechischen
Philosophien zu rechtfertigen. Dann habe ich festgestellt, dass
das griechische Denken nicht fähig ist, die einfache menschliche
Glaubensfähigkeit zu begründen. Die griechische Philosophie —
was immer ihre Verdienste sein mögen, die ich als Philosoph
keineswegs in Abrede stelle, da ich ja ihre Methode übernehme
— kann unseren natürlichen „Glaubenstrieb“ — um den von
unserem
Psychoanalytiker
geprägten
Begriff
wieder
aufzunehmen — nicht einzig durch die Begriffe, die sie
ausgearbeitet hat, begründen. Das griechische Denken verfügt
also auch nicht über Begriffe, die es ermöglichen würden, die
jüdische Form dieses „Triebs“, und die evangelische Botschaft,
die mütterlich daraus hervorgegangen ist, richtig zu analysieren.
Um angenommen zu werden, beruft sich das Evangelium auf
beide, also auf die dynamische natürliche Glaubensfähigkeit,
und auf deren Ausarbeitung und Ausformung durch das Volk
Israel im Laufe der Geschichte, bis heute. Ich erkläre mich,
anhand des Beispiels, das wir gerade diskutieren. Für die Juden
ist Gott der Befreier, und sogar, wenn man das so sagen will,
Begründer ihres Volkes und also Schöpfer aller Völker. Für die
Griechen ist Gott das vollkommene substantielle Sein, das sich
selbst in seiner Einsamkeit genügt. Er kann also nicht einmal die
kleinste Kenntnis von den Menschen auf der Erde haben.
Dagegen möchten diese ihn kennen, ihn schauen, und sie fühlen
sich zu ihm hingezogen, weil er der wunderbarste Gegenstand
ist, den sie sich vorstellen können. Aber er ignoriert sie
seinerseits in seiner „herrlichen Isolation“.
472
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Fassen wir doch, da unser Kollege uns gebeten hat, die
Hoffnung auf die zukünftigen Möglichkeiten der katholischen
Theologie nicht aufzugeben, die Lösung ins Auge, die sie uns
„in der Vergangenheit“ vorgelegt hat, nämlich ein
„gewaltsames“ Zusammenfügen der beiden Vorstellungen! Sie
löst das Dilemma zwischen der solitären, absoluten
Vollkommenheit Gottes und seiner Schöpfungstätigkeit, indem
sie sagt, dass er alles erschafft „und alle Dinge dadurch erkennt,
dass er sich selbst erkennt“. Und da das rational unverständlich
ist, erklärt sie, dass es sich um ein Geheimnis handelt, das man
glauben muss! Aber lassen wir das! In Wirklichkeit ist eine
derartige Aussage nichts weiter als eine Art und Weise, beide
Seiten des Dilemmas für wahr zu halten, ohne die
Verständlichkeit ihrer Beziehungen aufzeigen zu können.
DER PHYSIKPROFESSOR
Und woher kommt diese Unfähigkeit, dieses falsche Dilemma
aufzulösen?
DER ANDERE PHILOSOPH
Wenn man von einem Seinsbegriff ausgeht, der von der
totalitären Vorstellung von der ungeteilten Einheit beherrscht
ist, und außerdem noch durch ein Missverständnis der
Verständlichkeit der Verneinung im Sein behindert ist, kann
man das Prinzip der Einheit der Gegensätze dieses falschen
„Dilemmas“ nicht aussagen. Aristoteles und die Juden sind in
diesem Punkt logischer vorgegangen. Für Aristoteles ist Gott
allein, und für die Juden ist Gott nicht vollkommen... Aber ihre
Logik wird nicht der ganzen Wirklichkeit gerecht. Ihre
miteinander logisch unvereinbaren Standpunkte können beide
falsch sein. Und sie sind es. Die Wahrheit verlangt zweierlei:
dass man der ganzen Wirklichkeit gerecht wird, und logische
Genauigkeit.
Unsere
Begriffe
von
der
göttlichen
Vollkommenheit und von der Schöpferkraft müssen nicht nur
vereinbar sein, sondern sie müssen einander implizieren.
Allerdings ist der jüdische Standpunkt demjenigen des
Aristoteles vorzuziehen, da er in dem Sinn „fruchtbarer“ ist,
dass er nicht spekulativ in der Unbeweglichkeit stehenbleibt und
festgefahren ist. Vielleicht ist er psychologisch „blockiert“, —
eine Blockierung, deren Sinn für den Geschichtsphilosophen
und den Geschichtstheologen sicherlich ersichtlich ist — aber er
bleibt in zweifacher Weise „offen“: spekulativ offen für den
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
473
menschlichen Verstand, und ontologisch offen, wenn ich das so
sagen kann, für das Handeln Gottes am Menschen. Der
Standpunkt des Aristoteles schließt Gott in seine Einsamkeit ein.
Aber diese Gefangenschaft gibt es nur in den Gedanken der
Menschen. Sie kann Gott also nicht betreffen, und auch seine
Handlung nicht behindern. Aber da sie ein im Menschen
befindlicher Gedanke ist, kann sie den Menschen daran hindern,
das Handeln Gottes an ihm zu verstehen. Er sagt sich dann, dass
er vor einem „Geheimnis“ steht.
Die Einigung und die Lösung unseres Dilemmas muss also
zwischen dem jüdischen Standpunkt und den Ansprüchen der
menschlichen Vernunft als solcher, und nicht der menschlichen
Vernunft in ihrer griechischen Ausformung, gesucht werden.
Eben deshalb hat Gott seine persönliche Offenbarung in Jesus
im Judentum vollzogen, und nicht innerhalb der griechischen
Kultur, die tatsächlich grundlegend unfähig ist, eine derartige
Offenbarung unmittelbar von Gott zu empfangen. Sie wird
lediglich eine menschliche „Verkündigung“ dieser Offenbarung
empfangen, und im Versuch, sie zu verstehen, wird diese ihr
dann noch ihre spekulativen Unzulänglichkeiten auferlegen.
Obwohl sie darum besorgt ist, die Offenbarung nicht zu
verformen, wird sie sie dennoch verbiegen.
DER MODERATOR
Alle guten Dinge haben ein Ende... Eine letzte Frage aus der
Zuhörerschaft... Leider haben wir nicht mehr die Zeit, darauf zu
antworten... Ich leite sie an Herrn Debruquel weiter, an den sie
gerichtet ist, und der sicherlich auf gebührende Weise antworten
wird...
Unser Meinungsaustausch war ertragreich. Dennoch habe ich
den Eindruck, dass wir dieses Seminar nicht unversehrt
verlassen werden. Viele gewohnte Ideen sind erschüttert
worden, und neue Wege öffnen sich vor uns, um das Leben
anders, begeisternder aufzufassen... Wir laufen auch Gefahr, die
Schrift durch eine neue Brille hindurch zu lesen. Vielleicht
werden wir Neues entdecken!
Ich möchte Ihnen eine letzte Frage stellen. Möchten Sie die
„Mitschrift“ dieses Kolloquiums erhalten?... Alle möchten es!
Welch eine Einstimmigkeit! In diesem Fall können wir alle
einen herzlichen Dank an das technische Personal richten, das
unsere Diskussionen ungekürzt aufgenommen hat. Sie haben das
474
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
kleine Geschenk, das ich ihnen nun im Namen von uns allen
übergeben werde, redlich verdient.
Es wird geklatscht...
Ich werde dafür sorgen, dass die Niederschrift dieser
Aufnahmen nicht zu lange dauert, und dass jedem so bald wie
möglich seine Kopie zugestellt wird.
Die Lektüre wird uns sicherlich Anlass geben, die Kontakte
wieder aufzunehmen und unsere Diskussion auf andere Weise
fortzuführen. Die Liste der Teilnehmer und ihre persönlichen
Daten sind der „Mitschrift“ dieses Kolloquiums beigefügt, das
tatsächlich jenes der „Glaubenschaftlichkeit“ war. Es ist ganz
selbstverständlich, dass Ihre Freunde und Bekannten, die diese
Mitschrift lesen werden, ebenfalls an diesem Austausch
teilnehmen dürfen.
Nun möchte ich Ihnen nur noch wünschen... oder vielmehr,
wir möchten einander einen angenehmen und lehrreichen
Aufenthalt in Israel wünschen, im Land der Nachkommenschaft
Abrahams und Saras, im Land des Erwachens des Glaubens, im
Land der Offenbarung Gottes in Jesus, im Land, das in
herausragender Weise das Land der menschlichen
Glaubenschaftlichkeit ist.
Auf ein gemeinsames Wiedersehen!
EINE FRAGE AUßERHALB DER SITZUNG
EINE FRAU AUS DER ZUHÖRERSCHAFT meldet sich verspätet zu
Wort:
Ich bin geschieden. Meine Kinder leben bei mir, wegen des
gewalttätigen Verhaltens des Vaters und seiner Weigerung, zu
arbeiten. Aufgrund meiner grauenhaften Erfahrungen im
ehelichen und familiären Leben frage ich mich, wie die Familie
Abbild Gottes sein kann. Mein ältester Sohn nimmt jedes Mal
daran Anstoß, wenn man sagt, dass Gott „Vater“ ist. Ihre
Philosophie gilt nur für die glücklichen Leute, oder für jene, die
noch von ein paar Krümeln wiederhergestellten Glücks träumen
können... Ich bin in diesem Fall nicht allein... Gibt es vielleicht
auch Männer, die Gründe haben, so zu denken wie ich?...
Entschuldigen Sie die Brutalität meiner Frage... Übrigens wollte
ich sie nicht wirklich stellen... Nur jetzt, am Schluss Ihrer
Diskussionen, überwinde ich mich dazu... Vielleicht zu spät...!
HERR DEBRUQUEL
Ich wünschte, ich könnte passende Worte finden, um Ihr Leid
zu teilen!... Aber ich weiß, dass kein Wort dieses schmerzhafte
Scheitern der Existenz heilen kann. Bei Scheidungen ohne
Kinder ist der Bruch nur gefühlsmäßiger Art, wenn man das so
sagen kann... Ein Neuanfang ist möglich... Man muss dann
wünschen, dass er durch den vorausgegangenen Misserfolg
nicht behindert wird. Aber wenn Kinder da sind, bleiben die
Trümmer eines Bauwerks des Glücks, das untergegangen ist, für
immer gegenwärtig. Die große Schwierigkeit liegt darin, die
elterliche Beziehung so gut wie möglich weiterzuführen, sei sie
nun väterlich oder mütterlich, dem Kind oder den Kindern
gegenüber; und das, obwohl die eheliche Beziehung, die sie in
die Existenz gerufen hat und sie während ihrer ganzen Existenz
unterstützen sollte, nicht mehr ist... Wie kann man Mutter sein,
und nicht mehr wirklich Ehefrau? Wie kann man Vater sein und
nicht mehr wirklich Ehemann? Wie kann das Kind noch seine
kindliche Beziehung zu seinen beiden Elternteilen leben? Für
das Kind geht es gelegentlich darum, hinzunehmen, dass der
eine von beiden für „fast tot“ gehalten wird, obwohl er noch
lebt... Was auch immer man sagt, das Kind muss mit einer Art
Trauer zurechtkommen..., mit dem Tod des Ehepaars...
476
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Das zeigt, dass die menschlichen interpersonalen
Beziehungen, ja selbst die wesentlichsten Grundeigenschaften
der Existenz, durch Unvollkommenheit zerstört werden und von
der Möglichkeit des Bösen betroffen sind. Folglich müssen all
unsere familiären Beziehungen, genauso wie jede einzelne
menschliche Person, von dieser Unvollkommenheit jenseits des
Todes „erlöst“ werden. Das Heil einer einzelnen Person kann
übrigens nicht wahr werden, ohne dass sich gleichzeitig das Heil
ihrer familiären Beziehungen vollendet. Versuchen Sie sich zu
erinnern, meine Dame... an alle Gründe zur Hoffnung, die im
Laufe dieses Kolloquiums von Diesem oder Jenem hergeleitet
wurden. Das Heil durch unsere Auferstehung in Jesus Christus
ist ein familiäres Heil in der dreieinigen Familie Gottes. Das ist
wichtig! Und es gibt uns auch Kraft... Die Last unseres Leidens
soll uns nicht dazu bringen, die ersten Wahrheiten und die
Hoffnungen, die sich aus unserer menschlichen familiären
Existenz ergeben, zu verkennen.
Die verschiedenen Formen des Bösen, die unsere familiären
Beziehungen infizieren können, dürfen uns nicht daran hindern,
zu bedenken, dass die dreigliedrige Struktur der Familie das
wahrhaftige ontologische Abbild der trinitarischen Beziehungen
in Gott ist. Ja, die Mängel unserer Intelligenz, unseres Willens
und unseres Geistes verbieten es uns nicht, zu denken, dass Gott
von nicht-materieller und geistiger Natur ist, mit Intelligenz
begabt und voll liebenden Willens ist. Ausgehend von unserer,
wenn auch unvollkommenen und dem Bösen unterworfenen
menschlichen Natur können wir uns eine gewisse Vorstellung
von Gott bilden. Daher müssen wir gleichzeitig alle Formen der
menschlichen Unvollkommenheit aus unserem Gottesbild
entfernen, und alle Formen der guten Eigenschaften des Geistes
und des Herzens, die in unserer Menschheit vorhanden sind, ins
Unendliche gesteigert denken.
Genauso, wie wir durch das göttliche Geschenk unserer
Auferstehung und insofern wir bewusstseinsbegabte und freie
Personen sind, vom leiblichen Tod „gerettet“ werden müssen,
der allen biologisch Lebenden zu eigen ist, müssen wir auch
vom Scheitern unserer ehelichen, elterlichen und kindlichen
Beziehungen gerettet werden, und zwar durch eine wahrhaftige
Vergöttlichung dieser Beziehungen jenseits der gegenwärtigen
Geschichte, nach dem Tod.
Die Tatsache des Leidens, das wir in diesen Situationen des
Scheiterns erfahren: Bruch und gegenseitiger (oder auch nicht
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND
DIE PERSONEN IN GOTT
477
gegenseitiger) Hass zwischen Ehepartnern, zwischen Eltern und
Kindern: All das zeigt gut, wie absolut notwendig es ist, dass
diese familiären Beziehungen jenseits unseres Todes von allen
Unvollkommenheiten befreit werden. Die Gründe unserer
Schmerzen sind Zeichen der Hoffnung... Die Hoffnung auf
dieses Heil kann eine Linderung sein für diejenigen, die leiden.
Es ist keine Illusion... Seien Sie davon überzeugt... Ihre Kinder
werden Ihnen für Ihre Sicherheit dankbar sein…
INHALT
HINFÜHRUNG ................................................................................ 7
MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES DENKEN ........ 7
Das Nebeneinander der drei monotheistischen Religionen
ist ein reiner Skandal für die Vernunft................................. 8
Dieser Skandal kann durch eine Kritik der reinen glaubenden
Vernunft überwunden werden.............................................. 9
ERSTE BEGEGNUNG .................................................................... 13
DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN
ANALYSE DES GLAUBENSAKTES ................................................. 13
Der Katechismus der katholischen Kirche und die
theologische Forschung ..................................................... 14
Lehrautorität und das Misstrauen beim glauben.................... 19
Das Misstrauen zu glauben durch einen interpersonalen
rationalen Prozess überwinden .......................................... 26
Bessere philosophische Hilfsmittel ausfindig machen,
um eine bessere Theologie zu erarbeiten ........................... 29
Den Seinsstatus des „Anderen“ denken, um theologische
Aussagen besser denken zu können................................... 32
Die in sich einzige Wahrheit einer göttlichen Offenbarung
und die geschichtliche Vielfalt ihrer menschlichen
Ausdrucksformen............................................................... 35
Die rationale Analyse des Glaubensaktes wird durch die
Behauptung, dass der Glaube ein Geschenk ist,
angefochten ........................................................................ 41
Die Verständlichkeit einer Offenbarung setzt die
Vernunftgemäßheit des Glaubensaktes voraus .................. 51
ZWEITE BEGEGNUNG .................................................................. 61
DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN............... 61
Das Offenbarungsverständnis des Koran............................... 62
Die Frage nach psychologischen Faktoren
des muslimischen Glaubens............................................... 68
Dürfen Wahrheiten, die als offenbart gelten, historischen
oder wissenschaftlichen Wahrheiten widersprechen? ....... 72
480
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Die philosophische Frage nach der Beschaffenheit der
Offenbarung betrifft alle religiösen Auffassungen ............ 75
Die selbstausgerufene Vorrangstellung des Islam
gegenüber den anderen Formen von Religion ................... 81
Der Sinn, in dem religiöse Erfahrungen des Menschen
Offenbarung Gottes sein können oder nicht sein können .. 87
Der psychische Hang des glaubenden Bewusstseins, sich
scheinbare Offenbarungen in menschlichen
Worten zu geben ................................................................ 96
Eine von Gott kommende Offenbarung setzt eine
ontologische Fähigkeit voraus, sie zu empfangen ........... 103
DRITTE BEGEGNUNG ................................................................ 115
DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES
GLAUBENSAKTES ...................................................................... 115
Kann die philosophische Vernunft über die Echtheit einer
Offenbarung urteilen? ...................................................... 116
Den Glauben haben, offenbaren, glauben, sich offenbaren:
die Mehrdeutigkeit dieser Begriffe in ihrem Sinn und
Gebrauch .......................................................................... 123
Kein Offenbarer ist glaubhaft, wenn er sich nicht darum
bemüht, den Menschen besser und glücklicher
zu machen ........................................................................ 130
Ermöglicht die klassische Philosophie zu verstehen,
dass Gott sich für das Glück der Menschheit einsetzt? ... 137
Eine Philosophie der Rationalität des Glaubensaktes
für ein besseres Verständnis der Evangelisation.............. 148
VIERTE BEGEGNUNG ................................................................ 159
DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES ................................. 159
Kein Glaube ohne Offenbarung, oder keine Offenbarung
ohne Glaube? ................................................................... 159
Die konstitutive Glaubenschaftlichkeit in ihren
wesentlichen Formen ....................................................... 168
Die traditionellerweise anerkannten Erkenntnisformen....... 178
Religiöse Aussagen in Konfrontation mit
wissenschaftlichen Aussagen........................................... 188
Glauben oder Verstehen? Wann kommt es zum Dilemma? 198
Steht der Glaube über der Vernunft oder gehört
der Glaube zur Vernunft?................................................. 210
FÜNFTE BEGEGNUNG ................................................................ 217
INHALT
481
DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS ..... 217
Eine klassische Philosophie des Individuums oder eine
Philosophie der interpersonalen Beziehung? ................... 220
Gibt es einen metaphysischen Beweis für die
Notwendigkeit der Existenz des Anderen? ...................... 235
Die Notwendigkeit des Daseins des Anderen und die
glaubenschaftliche Erkenntnis ......................................... 248
Wenn die Existenz des Anderen notwendig ist, kann Gott
nicht als ein Wesen gedacht werden, das allein ist. ......... 251
Welcher Monotheismus? Ein Gott, der ein Individuum ist,
oder ein interpersonaler Monotheismus? ......................... 267
Ein interpersonaler Monotheismus zum Verständnis der
Möglichkeit der Schöpfung und der Offenbarung ........... 271
Die Forderung nach einer vollkommenen Erfüllung der
moralischen Pflicht, oder das messianische Verlangen,
vom Bösen befreit zu werden .......................................... 275
Für eine Offenbarung zugunsten seiner Schöpfung handelt
Gott im Anschluss an die Art, wie er sich beim
Erschaffen offenbart ........................................................ 278
SECHSTE BEGEGNUNG .............................................................. 293
BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT . 293
Die Religionen und ihre Auffassung vom Paar Mann-Frau 294
Ist das kartesianische Cogito ein hinreichender
Ausgangspunkt, um zu einer ganzheitlichen
philosophischen Wahrheit vorzudringen? ....................... 300
Die interpersonale Dimension der Intentionalität ................ 309
des Bewusstseins.............................................................. 309
Die ethischen Anwendungen der Interpersonalität des Seins
gemäss der familiären Dreiheit: Vater-Mutter-Kind ....... 320
Der Schöpfungsakt als Offenbarungsakt des Schöpfers
verstanden ........................................................................ 331
Das biblische Bewusstsein, dass Gott in der Schöpfung
dem Ehepaar Nachwuchs verspricht................................ 336
Geschichtliche und relational-ontologische Beziehungen
zwischen Judentum und Christentum .............................. 348
SIEBTE BEGEGNUNG ................................................................. 365
INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES
RECHTS ..................................................................................... 365
In welchem Sinn ist Gott der Urheber der in der Bibel
dargestellten Geschichte? ................................................ 365
482
DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN
Gibt man dem « Handeln des Glaubens » dadurch eine
Grundlage, dass man behauptet, Sein bestehe darin,
„das Sein zu geben“? ...................................................... 373
Die gültigen Gründe für die Behauptung
der Existenz Gottes .......................................................... 390
Verändern die Interpersonalität des Seins und die
Glaubenschaftlichkeit unsere Auffassung
vom Recht und von Gerechtigkeit?.................................. 402
ACHTE BEGEGNUNG ................................................................. 415
DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT .. 415
Wie kann man zwischen den Wahrheiten der philosophischen
und jenen der glaubenden Vernunft unterscheiden?........ 415
Kann man sagen, dass Gott existiert, ohne irgendetwas über
seine Natur zu denken? .................................................... 429
Kann die Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit
einer tat sich auch auf eine göttliche Tat beziehen? ........ 439
Das göttliche Werk für das Heil der Menschen und die
Sprache der Liebe in der Bibel......................................... 445
EINE FRAGE AUßERHALB DER SITZUNG .................................... 475
***
Joseph Duponcheele : docteur en philosophie
Contact email : <mailto:[email protected]>
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