HINFÜHRUNG MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES DENKEN Stellen Sie sich Folgendes vor. Ein großes, auf Philosophie, Theologie und Religionsgeschichte spezialisiertes Verlagshaus, organisiert für seine Autoren eine Kreuzfahrt im Mittelmeer... oder wo immer es Ihnen gefallen würde! Das Programm umfasst für die Zeit an Bord einige Vorträge zum sehr offenen Thema „Die Zukunft der Religionen“; und wo das Schiff anlegen wird, werden Städtebesichtigungen angeboten. Der eigentliche Sinn dieser kulturellen Kreuzfahrt besteht jedoch darin, den Meinungsaustausch zu fördern, die interdisziplinäre Forschung anzuregen, und in Gruppen, deren Arbeiten später einmal publiziert werden könnten, Gedankenaustausch zu pflegen. Zudem steht den Teilnehmern viel Freizeit zur Verfügung, um sich, ihrem Interesse an dieser oder jener gedanklichen Auseinandersetzung folgend, außerprogrammlich zu treffen. Bei seiner Ansprache zur Begrüßung hatte der Leiter dieser kulturellen Kreuzfahrt verschiedene Themen vorgeschlagen: Soziale Einrichtungen der verschiedenen Religionen. Antike und moderne religiöse Mythen. Die religiöse Archäologie im Mittelmeerraum. Die ägyptischen und mesopotamischen Quellen der Bibel. Die Entstehung des Christentums und des rabbinischen Judentums. Die Buchreligionen! „Welches Buch?“ Die Religionen in der naturwissenschaftlichen und technischen Welt. Religiöse Moralsysteme und die Moral der Menschenrechte. 8 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Die Religionen und Gott. Glaube und Vernunft: ihr Wesen und ihre Geschichtlichkeit. [...] Die Teilnehmer können auch andere Themen vorschlagen, unterstrich der Leiter der Kreuzfahrt... und machte noch darauf aufmerksam, dass sich einige Themen überschneiden und zusammengelegt werden könnten. Die Einteilung der Gruppen ist den Teilnehmern überlassen... Jeder darf sich einer oder mehreren Werkstätten anschließen. Im großen Empfangssaal des Passagierschiffs kam schnell ein erster ungezwungener Austausch zustande; durch Gruppenleiter unaufdringlich angeregt. Diese alles offen lassende Anleitung hätte zwangsläufig zum Chaos geführt, wären die Teilnehmer nicht dermaßen kultiviert und motiviert gewesen... DAS NEBENEINANDER DER DREI MONOTHEISTISCHEN RELIGIONEN IST EIN REINER SKANDAL FÜR DIE VERNUNFT Eine erste Gruppe bildete sich also, um kritisch über die jeweiligen Vorstellungen von Glauben und Offenbarung in den monotheistischen Religionen nachzudenken. Jede von ihnen beruft sich durch ihren Gründer auf das eine archaische Urbild des Glaubens: Abraham. Das Judentum macht sich dieses Urbild durch Mose zu eigen, das Christentum durch Jesus und der Islam durch Mohammed. Dieser kurze geschichtliche Abriss wirft für jeden, der sich nicht ausschließlich innerhalb der religiösen Überzeugungen seiner Gemeinschaft bewegt, einige ernstzunehmende philosophische Fragen auf bezüglich: 1°) der Einmaligkeit Gottes und der Einmaligkeit des Ideals des Gläubigen, 2°) der Verschiedenheit der Offenbarungen: Drei – mit vielfältigen auseinanderstrebenden Verzweigungen – die jeweils die Natur Gottes und die menschliche Existenz betreffen, 3°) des Universalitätsanspruchs einer jeder von ihnen. Mit seiner inneren Widersprüchlichkeit fordert dieser religiöshistorische Tatbestand die menschliche Vernunft, die stets um Kohärenz bemüht ist, zu einer dreifachen Überlegung heraus. Erstens bezüglich des Glaubens, einer Haltung, die in den Religionen in der Gestalt Abrahams greifbar wird; zweitens bezüglich der Offenbarung, die von den Religionen auf verschiedene Weise konkretisiert wird, nämlich (a) im Judentum durch die biblischen Texte, (b) im Christentum in einer durch MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES DENKEN 9 das Zeugnis der Evangelien bekannten Person; (c) im Islam durch „den Koran“, ein rezitiertes Diktat. Drittens auch bezüglich der Untersuchung der Universalität der Botschaft, die sie unterbreiten. Nun ist aber die philosophisch denkende menschliche Vernunft selbst nicht kohärent gegenüber der erschütternden Verschiedenheit der Monotheismen. Stattdessen ist sie wie durch Lichtbrechung in verschiedene Philosophien aufgeteilt. Diese innere Unstimmigkeit kann wiederum nur ihre Ratlosigkeit gegenüber der durch die Verschiedenheit der Monotheismen hervorgebrachten Unstimmigkeit vertiefen. Natürlich sind nicht alle Menschen in der Lage, diese zweifache Unstimmigkeit wahrzunehmen. Es gibt erstens diejenigen, die die innere Sensibilität für eine Wahrheitssuche betreffs der Natur des Glaubens, der Offenbarung und deren jeweiligen Universalitätsansprüchen verloren haben, weil sie sich ganz und gar auf die Glaubensüberzeugungen ihrer jeweiligen Gruppe einschränken und begrenzen. Das, was an ihren Glaubensinhalten wahr sein könnte, wird weder formal als Wahrheit erkannt noch vom dem, was daran irrig ist, unterschieden. Sie behaupten die Wahrheit der Ganzheit ihrer Glaubensinhalte, Irrtümer inbegriffen. Dann gibt es jene, die dafür unempfänglich sind wegen fehlender Bildung oder aus Mangel an Fähigkeit zu philosophischen Überlegungen, die ja tatsächlich intellektuell sehr anspruchsvoll sind und viel Zeit fordern. Man kann also niemandem vorwerfen, er komme damit nicht ausreichend voran, genauso wenig, wie man die nicht wahrgenommene und sogar bequeme intellektuelle Gefangenschaft in den religiösen Überzeugungen einer Gruppe als Fehler anrechnen kann. Man kann diese Tatsachen nur bedauern oder beklagen, und eine Hilfe anbieten, die demjenigen, der gut daran täte, sie anzunehmen, oft lächerlich erscheinen mag. DIESER SKANDAL KANN DURCH EINE KRITIK DER REINEN GLAUBENDEN VERNUNFT ÜBERWUNDEN WERDEN Die erste so gebildete Gruppe stellt sich also einer zweifachen Herausforderung: eine reflexive philosophische Kohärenz erarbeiten – dies hat logische Priorität –, und in Folge darauf auch eine epistemologische Kohärenz, die alle drei 10 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN monotheistischen Religionen deutet und in ihrer jeweiligen objektiven Wirklichkeit betrachtet. Was ist „glauben“? Warum und wie? Was glauben? Handelt es sich um ein einfaches kulturelles Phänomen? Ist die Wirklichkeitsweise des Glaubens zu vergleichen mit derjenigen einer literarischen Mode, oder mit derjenigen einer besonderen Sprache? Mit der Wirklichkeitsweise der menschlichen Sprache an sich oder mit derjenigen des Denkens an sich? Der Mensch ist ein „politisches Lebewesen“ und ein „familiäres Lebewesen“, sagte Aristoteles. Aber seine wirtschaftlichen und politischen Organisationen sowie auch die konkreten Gestaltungsweisen seines Familienlebens sind oft weit davon entfernt, seine Wünsche zu erfüllen. Die daraus entstehenden Konflikte sind vielfältig. Sie vertiefen sein Verlangen, anstatt es zu unterdrücken. Ist dies bei den Religionen, diesen „Formen des Glaubens“ des „religiösen Lebewesens“, genauso? Glaubt der religiöse Mensch immer auf authentische Weise? Sicherlich nicht! Die Religionskriege, angeblich heilig, oder eben antireligiös, sind ein klarer Beweis dafür. Zeigt aber dieser verirrte Eifer nicht auch, dass die Menschen in ihrem Innersten ein gewisses „Ideal des Glaubens“ haben, dessen Wurzeln bis ins Tiefste ihres wahrhaftigen und unveränderlichen Seins reichen? Gut zu glauben ist genauso wesentlich wie sich gut zu ernähren. Ist der Mensch in seinem Wesen nicht wesentlich „ein Glaubender“; „ein vertrauendes, glaubenschaftliches Lebewesen“? Ist glauben nicht das Eigentliche des Menschen? Gewiss mindestens so sehr wie Mathematik betreiben, nach den Gesetzen der Materie und des Lebens suchen, wie das mannigfache Fragen nach seiner Existenz! Wenn „glauben“ also ein lebendiger Seinsvollzug des menschlichen Bewusstseins ist, dann muss es auch eine rationale, eine echte rationale Methodologie geben, die für den „Glauben“ normativ ist. Der Mensch ist also befähigt, über die Echtheit oder Abwegigkeit, und auch über mögliche Verbesserungen seiner Glaubensüberzeugungen zu urteilen. Nun muss man sich dessen jedoch bewusst werden! Das heißt allerdings nicht, dass jeder dies täte. Schade! Aber diese Unzulänglichkeit ist ja so menschlich... Eine philosophische Analyse der biblischen, evangelischen und koranischen Form seines „menschlichen Glaubens“ ist also möglich. Die innere Dynamik der biblischen und evangelischen Glaubensformen verlangt dies sogar. Ihre Vergangenheit hat MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES DENKEN 11 sich bereits dafür geöffnet. Ein ähnliches methodologisches Vorgehen kann auch auf den Islam angewendet werden. Aber seine Vergangenheit ist dafür weitaus weniger empfänglich. Der Islam meidet die Geschichtsforschung und philosophische Kritik. Er beschäftigt sich lieber mit jenen Denkformen, die sich nicht zur religiösen Dimension des Menschen äußern, wie etwa die Mathematik oder jene Wissenschaften, die die Materie zum Gegenstand haben. Aber dennoch ist der muslimisch glaubende Mensch in erster Linie ein „Mensch“, und die Ansprüche seiner menschlichen Vernunft werden sich eines Tages Geltung verschaffen. Eine zweite Gruppe fühlt sich zum Thema „Die Religionen und Gott“ hingezogen. Die Teilnehmer würden allerdings diese Überschrift gerne noch etwas genauer fassen, zum Beispiel: „Der offenbarende Gott und die geschichtliche Entstehung der religiösen Lehrmeinungen“. Andere Gruppen haben sich eher psychologische oder soziologische Gesichtspunkte ausgesucht. Alle gewählten Richtungen und Themen ergänzen sich gegenseitig und können einander bereichern. Auch steht es den Teilnehmern dieser verschiedenen Arbeitsgruppen frei, sich bei den anderen einzuschalten, so wie es sich aus dem Verlauf der Diskussionen ergibt. Nur auf eines kommt es bei diesem allgemeinen Meinungsaustausch an: auf geistige Offenheit und das Suchen nach der Wahrheit. Unsere Aufmerksamkeit soll nur den Gedanken gelten. Angenehme Lektüre! ERSTE BEGEGNUNG DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES Nach einem oberflächlichen Kennenlernen unter Angabe der Identitäten und beruflichen Tätigkeiten hatten die Teilnehmer der ersten Gruppe um einen großen runden Tisch herum Platz genommen... Christen, mehrheitlich Katholiken, einige Protestanten, ein Jude, aber kein Muslim in dieser Gruppe... (Man wird die aus den anderen Gruppen einladen...) Ein kurzer Vortrag diente als Einleitung. Ein Soziologe entwirft mit Humor vor dieser kleinen, aber vielseitigen Zuhörerschaft ein sehr zutreffendes Bild der Probleme, auf die die katholische Kirche stößt. Einige der Anwesenden sehen darin eine düstere Diagnose, stillschweigend gutgeheißen, aber im Innersten des Bewusstseins zum Teil auch abgelehnt oder etwas differenziert. Andere erkennen darin einen Ausblick der Hoffnung, allerdings mit vielen Unklarheiten: Hoffnung auf die Wiederherstellung eines Glaubenslebens der althergebrachten Art oder auf die erneuernde Vertiefung der evangelischen Botschaft? Der Initiator der Zusammenkunft dankt dem Vortragenden; dann übergibt er die Verantwortung für die Debatte dem Gruppenältesten: einem emeritierten Professor, einem zurückhaltenden Menschen, der bekannt ist für seine gelehrten Werke über die großen Philosophen der Geschichte. „Ihre Kompetenz bestimmt Sie ganz selbstverständlich zum Moderator dieser Gruppe“. Danach fordert er die Teilnehmer auf, Beiträge zu leisten: 14 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN „Keine falschen Hemmungen! Stellt nicht nur Fragen, sondern konfrontiert auch eure Meinungen, damit die verschiedenen Vorstellungen sich gegenseitig erleuchten. Unsere Kreuzfahrt hat gerade erst begonnen... Die nächste Zusammenkunft findet diesen Nachmittag wieder in diesem Raum statt... Die Termine für die folgenden Tage müssen Sie selbst festlegen... Nun seid ihr unter euch... Viel Erfolg! Der Leiter verlässt den Raum. Nun wendet sich der Moderator, ein emeritierter Professor für Philosophiegeschichte, an die Gruppe: „Meine Damen und Herren, ich übergebe Euch das Wort... Sie kennen das sehr offene Thema unserer Woche: „Glaube, Vernunft und Offenbarung“. Müssen diese Worte im Singular oder im Plural geschrieben werden? Haben sie für Sie dieselbe Bedeutung? Welche Art von Tatsachen bilden ihren Bedeutungsumfang? Wie fügen sie sich in unsere menschliche Existenz ein, in unsere Familien und unsere Gesellschaft? Und viele andere Fragen könnten hier aufkommen...“ DER KATECHISMUS DER KATHOLISCHEN KIRCHE UND DIE THEOLOGISCHE FORSCHUNG Stille. Ohne seinen Namen zu nennen, bricht EIN TEILNEHMER das Schweigen: Ich bin Architekt. Ich wüsste gerne, wie man über den neuen Katechismus denken soll. Liege ich richtig in der Annahme, dass er das Standardwerk zum katholischen Glauben ist? Ich habe ihn zwar gekauft, muss aber eingestehen, dass ich ihn noch nicht gelesen habe..., nur durchgeblättert. Und ich bin sicher nicht der Einzige, dem es so geht! Ich erwarte, dass man ihn allgemeinverständlicher darstellt... Warum nicht als Comic? ... Und da die aktuelle Situation seine Lektüre nicht unabdinglich macht, kann ich ja ruhig noch ein paar Jahre verstreichen lassen … Immerhin habe ich aber seit seinem Erscheinen im Jahr 1992 zahlreiche Kommentare im Fernsehen und Radio angehört. Aus den Überschriften der Tageszeitung „Heute“ ging hervor, dass er zum Zeitpunkt seines Erscheinens sogar in kirchlichen Kreisen Diskussionsgegenstand und heftig umstritten war! Was denkt ihr davon? DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 15 DER SOZIOLOGE, nachdem er einen fragenden Blick auf die Historiker, Philosophen und Theologen geworfen hat: Ich sähe es gerne, wenn einer der hier anwesenden Priester – ich zähle vier – auf diese Frage antworten würde. In der Tat, wie Sie, kann ich als Soziologe lediglich feststellen, dass dieses Dokument sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen hat. In meiner einführenden Darstellung habe ich den Katechismus erwähnt, insofern er einen Versuch darstellt, das Wesentliche des katholischen Glaubens auf den Punkt zu bringen und zu umreißen. Ich kann versuchen, einerseits die Art und Wichtigkeit der befürwortenden Meinungen zu bewerten; andererseits die Intensität des Widerstandes abzuschätzen. Aber leider kann ich mich nicht zum Eigentlichen dieses Dokumentes äußern, zu seinem theologischen Wert und seiner philosophischen Stimmigkeit. Ich möchte nur Folgendes feststellen – nichts Neues übrigens –, dass das, was sich seit dem Erscheinen des „Katechismus des Johannes Paul II“ abgespielt hat, eine kollektive Seinsweise kennzeichnet, die für die katholische Kirche ziemlich typisch ist. Auf der einen Seite haben wir eine zentralisierte Institution: die Päpste und die römische Kurie mit einer ganzen Hierarchie von Bischöfen; auf der anderen Seite christliche Denker, Intellektuelle, Philosophen und Theologen von großer Originalität. Zwischen beiden Seiten besteht eine dauerhafte Spannung, so dass die zentrale Autorität – besorgt um strikte Einheit in der Lehre – es noch nie geschafft hat, sich mit ihrer Lehrautorität vollkommen durchzusetzen. Ihre Organe haben doch zweifellos in der Kirche die „verwaltende Gewalt“ inne? Diese hat gegenüber der Masse der Gläubigen eine Vormachtstellung inne, die aber gleichzeitig „zerbrechlich“ ist... nein, das ist vielleicht nicht das richtige Wort... sagen wir „beeinflussbar“. Beeinflussbar natürlich nicht in dem Sinn wie ein Schwamm, sondern wie durch Osmose. Sie ist beeinflussbar durch die weitverbreitete erfinderische Vitalität des christlichen Denkens. Die Frohe Botschaft ist tatsächlich so etwas wie ein Sauerteig der intellektuellen Erneuerung und der geistigen Befreiung. – Ich denke, die hier anwesenden Historiker werden mir zustimmen! Ist auch die verwaltende Gewalt der Kirche, trotz ihrer selbst, zur Weiterentwicklung gezwungen... gezwungen dazu, sich in positiver und gerechtfertigter Weise weiterzuentwickeln? 16 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Natürlich... . Sie sagt ja von sich selbst, dass sie sich neuen Wegweisungen, die ihr der Heilige Geist eingibt, fügen will. Ich sehe eine umwölkte Stirn bei unserem Theologen! ... Ah, sie glättet sich... Jetzt ist es ein wohlwollendes Lächeln... Ist es, weil ich die Eingebung des Heiligen Geistes mit denjenigen Ideen verglichen habe, an die sich die katholischen Gläubigen seit langem gewöhnt haben? DER ERSTE PRIESTER, ein Theologieprofessor an einem katholischen Institut Sagen wir, dass dies ein etwas voreiliger Vergleich war... Er müsste genauer formuliert werden. DER SOZIOLOGE ergreift wieder das Wort: Um ihre Weiterentwicklung zu begründen, muss die verwaltende Gewalt einer Religion – das lässt sich bei jeder religiösen Organisation feststellen – einen Ansatz finden, der ihrer selbstgegebenen religiösen Natur angemessen ist, und der – im Fall der katholischen Gewalt – ihren unmittelbar göttlichen Ursprung unterstreicht. Es ist Gott und niemand sonst der sie leiten soll... Nicht die Gläubigen zeigen ihr den Weg... Ihre von Christus empfangene Macht wird innerhalb der von Papst und Bischöfen abhängigen Hierarchie weitergegeben. Diese Gewalt kann mit einer demokratischen Auffassung, die vom Diesseits und Weltlichkeit geprägt ist, also von einer Gesellschaft, die sich deutlich von der Kirche unterscheidet, keine Kompromisse eingehen. Die kirchliche Redeweise sagt das „salbungsvoller“ als ich, Soziologe der ich bin... Jedenfalls hat diese Erklärung den Vorteil, dass sie Weiterentwicklungen der Lehre und Disziplin zulässt. Das ist im Islam nicht der Fall. Für ihn ist der Koran unantastbar, und seinen Vorschriften kann nicht widersprochen werden, ohne dass dadurch die Offenbarung, deren Stimme Mohammed ist, in Frage gestellt wird... Dort sind einzig und allein „Auslegungen“ möglich. Und ein Letztes... Wie auch immer man die Dinge formuliert: Der Soziologe stellt in der katholischen Kirche eine dauerhafte, über lange Sicht letztendlich verhältnismäßig ausgeglichene Spannung fest, und zwar zwischen einerseits einer zentralen Gewalt, die eine Lehre zusammenstellt und eine Lebensweise regelt, und andererseits einer erneuernden Kraft, die in der Gesamtheit der sozialen Körperschaft der Kirche aufblüht. Ich DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 17 würde sogar sagen – so paradox es klingt – dass die Zentralisierung im Falle der katholischen Kirche in ihren Randregionen das erfinderische Potential der Gläubigen anregt. Die Versuche, die christliche Botschaft zu fixieren und in starre Formeln zu fassen, setzen sie in Wirklichkeit in Bewegung. Warum? Es obliegt einem Theologen oder Philosophen, mir dies zu erklären, wenn es wenigstens eine Erklärung gibt... Sie gehört jedenfalls nicht mehr zu meinem Gebiet, der Soziologie. Aber besteht sie vielleicht darin, dass die Grundausrichtung des Christentums sich auf die Zukunft richtet und nicht nur eine Nachbildung einer als endgültig angesehenen Vergangenheit ist, wie im Islam... Aber andere werden vielleicht eine andere Diagnose stellen... und andere Erklärungen geben. Nach all dem, was ich gesagt habe, muss ich zugeben, dass ich auf ihre Frage nicht in dem Maß, wie Sie es sicherlich wünschten, geantwortet habe... Ich sehe, dass einer von uns, ein Priester, zu Worte kommen will. Damit übergebe ich ihm das Wort. Sicherlich sieht er die Dinge von einem anderen Standpunkt aus als ich. EIN ZWEITER PRIESTER, Domherr und Mitglied eines Seelsorgeteams in einer großen Stadt, Autor zahlreicher weitverbreiteter Werke Wenn mein Theologenkollege vor einigen Augenblicken die Stirn gerunzelt hat, dann war das auch deswegen, weil wir die Gewalt des Papstes und der Bischöfe gewöhnlich nicht als administrative Gewalt betrachten. In den modernen demokratischen Staaten leben wir unter der Herrschaft der Gewaltenteilung: der gesetzgebenden, der ausführenden und der richterlichen Gewalt. Die administrative Gewalt ist allgemein eine Verlängerung der ausführenden Gewalt. In der katholischen Kirche kennen wir keine Gewaltenteilung, und während es wohl administrative Organe und eine vatikanische Verwaltung gibt, so hängen diese aber keineswegs von einer selbständigen ausführenden Gewalt ab. Und außerdem: Wenn man von einer „administrativen Gewalt spricht“, schildert man eine gegenüber den anderen irgendwie geringere Gewalt, wie etwa die gesetzgebende. Die „weltliche“ Terminologie lässt sich nicht in angemessener Weise auf die kirchliche übertragen... Aber das ist nun genug zu dieser Einzelheit. Zurück zur Frage unseres Teilnehmers: „Was soll man vom neuen Katechismus halten?“ Ich denke, dass in der 18 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN apostolischen Konstitution „Fidei depositum“, welche die Veröffentlichung des Katechismus begleitet, Bausteine für eine Antwort zu finden sind. Damals habe ich dazu eine kleine Informationsbroschüre geschrieben. Lesen wir darin: „Der Herr hat seiner Kirche die Aufgabe anvertraut, das Glaubensgut zu hüten, und sie erfüllt diese Aufgabe zu allen Zeiten.“ Das sagt uns Papst Johannes Paul II. Im folgenden Abschnitt sagt er, dass Johannes XXIII dem Konzil „ als Hauptaufgabe aufgetragen hatte, das kostbare Gut der christlichen Lehre besser zu hüten und auszulegen... Daher sollte das Konzil (...) sich in Gelassenheit vor allem um eine klare Darlegung der Kraft und der Schönheit der Glaubenslehre bemühen. “Die Absicht ist also klar. Zwanzig Jahre nach dem Abschluss des Konzils hat eine Bischofssynode den folgenden Wunsch formuliert: „Sehr einmütig wird ein Katechismus bzw. Kompendium der ganzen katholischen Glaubens– und Sittenlehre gewünscht, sozusagen als Bezugspunkt für die Katechismen bzw. Kompendien, die in den verschiedenen Regionen zu erstellen sind.“ Erlauben Sie mir ein letztes Zitat: „Der Katechismus der katholischen Kirche (...) ist eine Darlegung des Glaubens der Kirche und der katholischen Lehre, wie sie von der Heiligen Schrift, der apostolischen Überlieferung und vom Lehramt der Kirche bezeugt oder erleuchtet wird.“ Diese paar Zitate sagen im Grunde genommen alle dasselbe: Der Katechismus ist eine durch den Papst gutgeheißene Darstellung der Lehre des Glaubens der katholischen Kirche. Er hat daher einen sehr hohen Stellenwert. Das ist meine kurze Antwort auf Ihre Frage. DER ARCHITEKT dankt dem Domherrn, stellt dann aber seine Frage erneut: Ihre Antwort, Herr Pfarrer, lässt mich ebenso unbefriedigt. Der Soziologe kann mir weiter nichts bieten als eine Analyse der durch das Werk hervorgerufenen Meinungsäußerungen und Kommentare, aber er kann sich nicht zum Wert des Katechismus äußern. Ich verstehe seine Reserviertheit und Zurückhaltung als Wissenschaftler. Aber Sie, Herr Pfarrer, Sie müssten ein Urteil über das Eigentliche fällen, doch sie tun nichts weiter als die Meinung des Papstes, der dieses Werk gutgeheißen hat, zu „wiederholen“. Vielleicht hat er ja recht! Weiß ich nicht... Steht dieses Werk auf einem festen Unterbau? DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 19 Der Soziologe bleibt irgendwie „außerhalb“ des Katechismus stehen, und Sie, Herr Pfarrer, schließen sich ganz in dessen „Inneres“ ein. Ich würde gerne – um mich in der Sprache eines Architekten auszudrücken – seine Grundmauern auf die Probe stellen... Die ständige Wiederholung derselben Aussage ist keineswegs ein Beweis für deren Gültigkeit. Auch Irrtümer werden weitergereicht... DER DOMHERR, zögernd und ein wenig beschämt: Sie werden verstehen, dass meine Meinung mit der des Papstes im Einklang stehen muss, da ich Kleriker bin, und auch aufgrund meines seelsorgerischen Auftrags. Außerdem wünscht der Papst in seiner apostolischen Konstitution, dass „der Katechismus die Bande der Einheit in demselben apostolischen Glauben stärken möge.“ Nun kommt DER ARCHITEKT auf seine Frage zurück: Auch Sie sind also an eine „Schweigepflicht“ gebunden. Sie gehört zu Ihrer beruflichen Rolle, so wie die Schweigepflicht eines Armeeangehörigen aufgrund seiner Eingliederung in die Armee. Sie sind in die Kirche eingegliedert. Die Zurückhaltung des Soziologen ist etwas anderes. Sie ist methodologischer Art, gebunden an die Ausübung einer intellektuellen und wissenschaftlichen Disziplin. Sie ist nicht durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe bestimmt. Was mich betrifft, in meinem Beruf, ganz unabhängig davon, welche Firma mich beauftragt, kann ich nicht „im Abseits“ einer meiner Verantwortung unterliegenden Baustelle stehenbleiben. Und genauso wenig darf ich mich damit zufriedengeben, mich „innerhalb“ eines Bauvorhabens zu platzieren, ohne mich von seiner Durchführbarkeit überzeugt zu haben... Ich muss mich von der Dauerhaftigkeit der Materialien und ihrer guten Verarbeitung überzeugen, und das sogar unabhängig vom guten Ansehen, das meine Firma genießt. Daher meine allgemeine Frage: Was hat man vom „Katechismus der katholischen Kirche“ zu halten? Ist alles, was darin steht, wahr? Ist es wirklich die katholische Lehre, und ist diese in sich wahr, wenigstens gemessen an der Offenbarung Jesu? LEHRAUTORITÄT UND DAS MISSTRAUEN BEIM GLAUBEN 20 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN EIN WEITERER ANONYMER TEILNEHMER fasst Mut und führt die Gedanken des Architekten weiter: Ich stelle mir genau dieselbe Frage. Ich bin praktizierender Katholik und PHYSIKPROFESSOR, und keineswegs besonders bewandert im Gebiet der Theologie. Ich denke lediglich wie jedermann über die Fragen des Daseins nach. Ich bemühe mich, dies mit möglichst viel gesundem Menschenverstand zu tun... Aber wenn man Familienvater ist und erwachsene Kinder hat, reicht der „gesunde Menschenverstand“ einfach nicht mehr aus, um ihnen etwas über „Religion“ zu sagen. Wenn wir miteinander darüber reden – und das kommt durchaus vor und man sollte die Gelegenheiten dazu nicht ungenutzt lassen... – und ich dabei auf den Katechismus verweise, dann ernte ich damit die folgende Erwiderung: „Ja das! Das ist „deine“ Religion, Papi!“ Da kann ich mir lange sagen, dass das, was sie „meine“ Religion nennen, nicht eine Erfindung meiner Phantasie, sondern „der wahre Glaube“ an Gott ist, aber ich fühle mich entwaffnet... Ich muss also meine Redeweise ändern und andere Argumente suchen, flexiblere, die noch in irgendeiner Weise umstritten werden können, ohne die Kontrolle einer außenstehenden Autorität, die gleichzeitig eine der Parteien und deren Richter ist. Wenn meine Kinder – und das gilt vor allem für die bereits verheirateten – nicht die Möglichkeit haben, meine Argumente zu hinterfragen, zu kritisieren und auseinanderzunehmen, dann lehnen sie sie ab und entkräften sie gewissermaßen, indem sie sie als „meine“ Meinung brandmarken, obwohl es doch die Argumente der Kirche sind... Was hat man also vom Katechismus zu halten? Wie kann man seinen Wert aufzeigen, ohne dass die Argumente dazu wiederum ihm entnommen sind oder von denen stammen, die ihn erstellt haben? „Das ist eine interessante Situation für die Psychoanalyse!“ ruft jemand aus. „Was wollen Sie damit sagen?“ fährt der PHYSIKPROFESSOR fort. Wir haben es hier mit einem unbewussten Phänomen der Identifikation zu tun, fährt DER PSYCHOANALYTIKER fort. Nicht der Identifikation des Kindes mit dem Vater, aber im Unbewussten der Kinder wird der Vater mit der katholischen DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 21 Religion – oder umgekehrt – identifiziert. Der Vatermord ist nicht nur im Sinne des Ödipuskomplexes zu verstehen, sondern er bezieht sich für die Kinder auch auf ihre Identität. Der Vater muss sterben, damit sie schließlich ihren vollumfänglichen Platz erhalten. Wenn der Vater, mit der Kirche identifiziert, oder die Kirche identifiziert mit dem Vater, sich vor ihnen „aufpflanzt“, dann „töten“ sie ihn... Sie schieben Ihr Argument beiseite. Und folglich existiert er für sie nicht mehr. Er ist tot. Verfahren Sie mit dem Katechismus so wie mit Ihren Argumenten des „gesunden Menschenverstandes“. Stellen Sie ihn zur Debatte, öffnen Sie ihn der Kritik und erlauben Sie ihren Kindern, „selbst zu urteilen“. Ich weiß, dass die Lehren der katholischen Kirche sich gegen derartige Behandlungen sträuben... Entweder – oder ... Damit will ich sagen: Wenn die Kirche, also die kirchliche Macht, in diesem und in einigen anderen Punkten der Psychoanalyse keine Beachtung schenken will, dann ist es die Kirche selbst, die man „verlassen“ wird... Und ihre Leiter werden indirekt und gegen ihre eigene Absicht dazu beigetragen haben, dass sie verlassen wird... Sie wird die „Verlassene“ sein... Wünschen wir derweil, dass sie die „Verlassene“ der Bibel sein wird... jene „Verlassene“, die schlussendlich auserwählt ist... ( Jes 54, 6: Ja, als verlassene und niedergedrückte Frau hat Jaweh dich gerufen) DER PHYSIKPROFESSOR: Tatsächlich... Gleichzeitig sagen mir dieselben Kinder nämlich auch, dass die Pfarrer ihnen nichts mehr beibringen..., außer „korrektes Sozialverhalten“. Und sie bedauern diese Situation der inneren Leere... Sie sind also dem Glauben gegenüber nicht gleichgültig... Auch denke ich, sie wollen nicht mehr glauben, ohne zu verstehen,... so wie unsere Generation es in der Vergangenheit zu oft getan hat... als wir fälschlicherweise dachten, dass der Glaube seinen Platz verlieren würde, sobald wir verstehen würden... Das ist zumindest das, was man uns sagte... DER PSYCHOANALYTIKER: Was Sie sagen, ist zweifellos wahr..., genau wie unser Soziologe, äußere auch ich mich nicht zur Grundsubstanz, also zum inneren Wert des Katechismus. Ich stelle mir übrigens nicht ernsthaft die Frage nach seinem Wert... Aber wenn seine 22 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Grundsubstanz seine Darstellungsweise bestimmt, dann ist diese, so wie sie ist, ein schlechtes Omen für den Wert der Grundsubstanz... Ein solches Urteil ändert nichts an der Tatsache, dass Glaube oder religiöse Überzeugung ein alle Kulturen umfassendes psychologisches Phänomen ist... Und sie bemerken das bei ihren Kindern... die ihrerseits wiederum Erzieher sind... Die Psychoanalyse täte übrigens gut daran, sich für dieses Phänomen etwas mehr zu interessieren... Sie ist ein bisschen zu sehr auf Sexualität fixiert. Natürlich darf man die Sexualität nicht beiseitelassen – ohne sie keine Psychoanalyse –; aber die Psychoanalyse will alles durch Sexualität erklären, während doch die Sexualität selbst auch erklärt werden muss... Diese ist übrigens Gegenstand von Glaubensüberzeugungen. Das ist in der Mythologie offensichtlich, aber Glaubensüberzeugungen wirken sich auch auf die Sexualität aus. Würde uns das nicht die Analyse des Unbewussten des Glaubenden zeigen? Ist in der Sexualität etwa nicht eine Art „Glaube“ enthalten?... Haben beide etwa nicht eine gemeinsame Wurzel, eine verborgene Verbindung? Man kann die Frage aufwerfen... DER PHYSIKPROFESSOR: Danke für Ihre erzieherischen Ratschläge. Aber läuft das nicht darauf hinaus, Ihnen etwas vorzumachen, also ein doppeltes Spiel zu spielen? Der Glaube verlangt Ehrlichkeit... Kann man so tun, als ob man an ihm zweifelt?... Ich werde darüber nachdenken. Die etwa zwanzig Teilnehmer schauen einander ratlos an. Allem Anschein nach befindet man sich nicht auf dem Weg zu einer Antwort. EIN DRITTER PRIESTER, Exeget und Theologiegeschichtler in einem Orden, will die Debatte neu aufrollen: Was ist nun eigentlich die Frage? – Hier und da macht sich ein diskretes Lächeln bemerkbar. Ich erkläre mich. In den ersten Beiträgen habe ich den Wunsch nach einer einwandfrei begründeten Antwort wahrgenommen... und folglich die Ablehnung einer Antwort, die unsere Vernunft und ihre intellektuellen Ansprüche unbefriedigt lassen würde. Als Sie, meine Herren, danach fragten, was man vom Katechismus der katholischen Kirche – durch Papst Johannes Paul II initiiert und gutgeheißen – zu halten hat: In welcher Richtung suchen Sie die DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 23 Antwort? Was ist der „Sinn“ Ihrer Frage? Von welchem Standpunkt aus stellen Sie die Frage? So fragen die Sprachphilosophen gerne. Ich kann mir die Frage mit denselben Worten stellen wie Sie, aber mit einer anderen Bedeutung. Für mich als Theologiegeschichtler läuft die Frage zum Beispiel letztendlich darauf hinaus, dass ich mich frage, ob der Katechismus die seit dem Ende des Krieges von den Exegeten geleistete Arbeit genügend beachtet. Ich kann aber wohl davon ausgehen, dass dies nicht der Sinn Ihrer Frage war. Ich merke, dass er tiefer liegt, auf einer existenzielleren Ebene, und nicht auf die veränderlichen Gegebenheiten einer Epoche hinzielt, etwa unter anderem auf die Weiterentwicklung der Erscheinungsbilder des katholischen Glaubens, die gekennzeichnet sind durch niedrige Besucherzahlen bei den Sonntagsgottesdiensten und Massenauflauf bei Events für die Jugend. Diese äußeren Umstände können aber für die Herauskristallisierung der wesentlichen Fragen nach dem Glauben und der Offenbarung wichtig sein. Übrigens ist die erfolgreiche Organisation dieser Kreuzfahrt ein anderer Beweis dafür. Bei den Philosophen machte sich vereinzelt beifälliges Nicken bemerkbar. DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler, schaltet sich nun ein, um die Frage des Theologen zu rechtfertigen: Um eine Frage richtig zu beantworten, ist es sinnvoll, sich in einem ersten Schritt mit der Frage nach ihrem Sinn auseinanderzusetzen, und den intellektuellen Rahmen, in dem man sich mit ihr befindet, genau abzustecken. Ich meinerseits denke, dass die beiden von unseren Kollegen gestellten Fragen sich gegenseitig ergänzen. Unser Architekt stellte in seinem Beitrag bezüglich der Lehre dieses Katechismus die Frage nach der Wahrheit..., sagen wir nach dem Maß an Wahrheit; und er tat dies durch den – sehr kartesianischen – Vergleich mit der Festigkeit seines Unterbaus. Unser Physiker sucht eine Wahrheit, die nicht als diejenige einer Gruppe in Erscheinung tritt, sondern als eine Wahrheit, die sich letztendlich als vernunftbegründet erweisen muss, weil man sie, aus guten oder ebenso aus schlechten Gründen, in Frage stellen kann. Die Vernunft ist tatsächlich ein Element unseres dreigliedrigen Denkvorganges: Vernunft, Glaube und Offenbarung. Die Vernunft zuerst, dann der Glaube und zuletzt die Offenbarung. 24 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Mit den Augen eines Historikers des menschlichen Denkens besehen, muss dies die aufsteigende logische Anordnung dieser Begriffe sein. Im Einklang mit seiner Ausbildung sucht unser Physiker nach einer katechetischen Unterweisung, die etwas Allgemeingültiges ausdrückt, und die jeder, im Prinzip wenigstens, in sich selbst und durch sich selbst anerkennen kann, dank Diskussion, Kritik und sogar Konfrontation. Was man der Diskussion, der Debatte, der Kritik entzieht, ist dadurch gleichzeitig auch der Vernunft entzogen. Das heißt aber ganz offensichtlich nicht, dass alles, worüber die Leute diskutieren, deswegen auch vernünftig und rational ist. Davon ist man oft weit entfernt! Dann, indem er sich an den Physikprofessor wendet: Im Grunde genommen zeigen Ihre Kinder instinktiv eine gesunde Reaktion, und ihr innerer Weg kann vielleicht sogar als Zeichen eines hohen intellektuellen Anspruches gedeutet werden, eines Anspruches auf Evidenz und Kohärenz... ein vielleicht enttäuschter Anspruch... Dann, indem er sich dem Psychologen zuwendet: Um selber denken zu können, müssen sie nicht notwendigerweise „den Vater“ in dem Sinne „töten“, dass sie ganz und gar anders denken müssten als Sie (Sie ] Er), aber sie müssen „die Autorität des Vaters töten“, nicht jene, die der Vaterschaft eigen ist, sondern jene missbräuchliche, die sich anmaßt, die Wahrheit vorzuschreiben. Es ist nötig, dass sie – und im Grunde genommen suchen sie genau das – die Wahrheit des Glaubens entdecken; aus Gründen, die nicht mehr die Ihrigen (die Ihrigen ] die des Vaters) sind, oder wenigstens nicht mehr nur die Ihrigen (die Ihrigen ] seine), sondern – wenn auch noch nicht allgemeingültige Gründe zum Glauben – so doch wenigstens subjektiv gültige. Es handelt sich hier also nicht mehr um ein doppeltes Spiel, und auch nicht um einen Mangel an Ehrlichkeit ihrerseits (ihrerseits ] von Seiten des Vaters), wenn Gründe zum Glauben und Glaubenswahrheiten diskutiert werden. Gewöhnlich hegen auch Philosophen eine Abneigung gegen das Autoritätsargument, nicht nur, weil es innerhalb der Philosophie keine Beweiskraft besitzt, sondern auch, weil es, wie Spinoza uns verstehen lässt, die Intelligenz unfruchtbar macht, und das sogar bezüglich des Glaubens. DER PHYSIKPROFESSOR DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 25 Sie geben mir Unterstützung... Ich hoffe also, dass meine Kinder mir widersprechen, um zu einem verbesserten Verständnis des Glaubens zu gelangen... Gott möge Ihnen zuhören... DER DOMHERR, Schriftsteller Die Philosophen lehnen in ihrer Disziplin das Autoritätsargument ab, genauso wie die Naturwissenschaftler in ihren. Und das ist sehr gut so. Es sei aber gesagt, dass wir uns hier im Zuständigkeitsbereich des Glaubens befinden, und nicht in demjenigen der Vernunft. „Ein Katechismus muss“, so schreibt Johannes Paul II, „getreu und organisch die Lehre der Heiligen Schrift, der lebendigen Überlieferung in der Kirche und des authentischen Lehramtes, ebenso wie das geistliche Erbe der Väter, der heiligen Männer und Frauen der Kirche darstellen, um das christliche Geheimnis besser erkennen zu lassen und den Glauben des Volkes Gottes neu zu verlebendigen. Er muss die Entfaltung der Lehre berücksichtigen, die der Heilige Geist im Laufe der Zeit der Kirche eingegeben hat.“ Ich bin mir bewusst, dass nicht allem in dieser Lehre gleiches Gewicht zukommt, und dass es unterschiedliche Weisen gibt, die Wahrheiten des Glaubens wahrzunehmen, aber diese Wahrheiten sind als solche nicht von der Vernunft abhängig. Wenn es die Vernunft wäre, die sie hervorbringt, wie das in den Naturwissenschaften oder in der Philosophie der Fall ist, dann gäbe es keinen Grund mehr, sie zu glauben. Das Autoritätsargument kann also nicht allgemein abgelehnt werden. Im Bereich des Glaubens müsste man vielmehr von einer „Unterscheidung der Autorität“ sprechen, und von einer „Anerkennung der echten Autorität, nämlich des römischen Lehramtes“. Selbstverständlich ist diese „lehrende Autorität“ ihrerseits an die Heilige Schrift und an die vom Heiligen Geist inspirierte Tradition der Kirche gebunden. Das Autoritätsargument unterdrückt die Vernunft nicht. Es ist sogar vernünftig, auf es zurückzugreifen. Wie denken Sie darüber? DER PHYSIKPROFESSOR Über was? Über das Autoritätsargument oder den Katechismus?... In den Naturwissenschaften ist unsere Praxis dem Autoritätsargument diametral entgegengesetzt. Sobald Kollegen einen Artikel über die eine oder andere ihrer 26 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Entdeckungen veröffentlichen, reagieren wir instinktiv damit, dass wir dasselbe Resultat auch herbeiführen wollen, falls wir die nötigen Mittel dazu besitzen, um so die Gültigkeit seiner Resultate zu überprüfen. Wenn unsere Resultate übereinstimmen, dann zeigen wir uns Einverständnis... bis zum Beweis des Gegenteils... Naturwissenschaftler sind bei der Aussage von Wahrheiten weitaus vorsichtiger, als dies gemeiniglich angenommen wird... Und übrigens kommt die Naturwissenschaft genau deswegen vorwärts... Weil es keine ein für alle Mal aufgestellten Wahrheiten gibt... damit will ich sagen: Wahre, vollständig und endgültig erarbeitete Theorien können immer noch verbessert werden. In den Naturwissenschaften kennen wir nur eine Art der endgültigen Erkenntnis: die unserer Irrtümer, aus denen wir zu lernen haben. Was soll man nun vom Katechismus halten? Wenn ich mit meinen Kindern darüber rede, so wie Sie, dann habe ich allen Grund, zu erwarten, dass sie mich abweisen werden mit einem: „Das da ist die Meinung des Papstes..., aber da wir nicht der Papst sind und nicht vom Heiligen Geist inspiriert sind, interessiert uns das nicht...“ Obschon... DER PSYCHOANALYTIKER, in barschen Tonfall Das Drama wird immer verwickelter! Nun ist es nicht mehr nur der Tod des Vaters, sondern der „Tod Gottes“! Es gibt für Sie, mein Herr, mit Ihren Kindern nur noch einen einzigen Ausweg: Stellen Sie Gott zur Diskussion... Schweigen in der Gruppe... DAS MISSTRAUEN ZU GLAUBEN DURCH EINEN INTERPERSONALEN RATIONALEN PROZESS ÜBERWINDEN DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler Gott zur Diskussion stellen... Einzig die Philosophie, denke ich, kann diese Herausforderung annehmen... zur Ehre Gottes und zum Heil des Glaubenden... So hoffe ich... EIN ERSTER PHILOSOPH Eigentliche Philosophen beschäftigen sich meistens nicht mit Religion. Es gibt Philosophen, die die Existenz Gottes bestreiten. Diese nennt man Atheisten. Andere sind der Meinung, sich nicht zu der Frage äußern zu können. Diese nennt DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 27 man Agnostiker. Wieder andere, und dies sind die meisten und auch die Ernsthaftesten, bejahen Gottes Existenz. Aber wenn sie von Gott reden, dann haben sie weit auseinanderstrebende Vorstellungen. Unser Moderator, in seiner Qualität als Philosophiegeschichtler, könnte eine glänzende Darstellung des Unterschiedes zwischen dem Gott des Aristoteles und jenem der Stoiker beitragen. Für Aristoteles ist Gott das absolute Sein, dessen ganze Aktivität darin besteht, gemäß der Fülle seiner Vollkommenheit sich selbst zu denken und zu wollen. Er ist gänzlich von der Welt getrennt. Er kann sich nicht um sie kümmern und sie nicht einmal erkennen. Denn eine von ihm selbst unterschiedene Wirklichkeit zu erkennen würde tatsächlich bedeuten, dass er etwas erwerben würde, was ihm noch fehlt. Er wäre dann also nicht mehr in sich selbst die absolute Vollkommenheit. Er wäre nicht Gott. Zweifellos könnte er dann immer noch ein Gott neben anderen sein, vielleicht sogar der mächtigste. Aber das wäre nicht der einzige Gott, den die menschliche Intelligenz notwendigerweise bejahen muss, weil sie notwendigerweise auf ihn zustrebt. Der Gott der Stoiker ist im Gegensatz dazu mit der Gesamtheit der Welt gleichgesetzt. Alle ihre Bestandteile sind göttlich, Gott ist das Ganze. Man kann sagen, dass Plotin und seine Schüler einen dazwischenliegenden Standpunkt einnehmen. Gott in seinem absoluten Sein ist der Eine, doch diese in sich eine Wirklichkeit weitet sich derweil durch Grade oder Hypostasen aus. Deren erste wird als Intelligenz benannt, die zweite ist die Seele. Diese bricht sich wie Licht in der Vielfalt der individuellen Seelen eines jeden. Diese Hypostasen sind Wirklichkeiten, die diejenigen unserer Erfahrung übersteigen. Sie sind in sich selbst konsistent, aber „niedriger als das Eine“. Sie vermitteln die Energie des Einen bis hin in die materielle Vielfalt der Welt. Die philosophierenden Theologen des Mittelalters und einige ihrer idealistischen Nachfolger haben dieses sogenannte „emanationistische“ Weltbild in eine kreationistische Weltanschauung umgeformt. Sie haben die philosophische oder rationale Idee vom absoluten Sein mit der biblischen Idee vom Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, in Einklang gebracht... Sobald dieser Einklang verwirklicht war, sind sie stehengeblieben, da sie die Grenzen der Möglichkeiten der Vernunft erreicht haben. Das ist alles, was die Vernunft über 28 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Gott aussagen kann. Sie kann in keiner Weise über den Gott der Offenbarung reden... Was die Religionsphilosophien anbelangt: Sie begnügen sich damit, für die religiösen Meinungen und Praktiken, verschiedene, mehr oder weniger systematisch eingeordnete und durchdachte epistemologische Interpretationen vorzuschlagen. Sie zeigen deren Bedeutung, Nutzen und Auswirkung im Leben der verschiedenen Gesellschaften, ohne dabei zu beanspruchen, sie in der Wahrheit zu begründen. Ich persönlich sehe daher nicht, wie die Philosophie sich zur Verteidigerin des Gottes des Glaubens machen könnte, und die Herausforderung, die die Psychoanalyse an ihn richtet, annehmen könnte... DER DOMHERR, Schriftsteller Aus dem, was Sie in ihrer Eigenschaft als Philosoph geäußert haben, muss ich also unter anderem schließen, dass die Lehren des Glaubens, die definitionsgemäß die Vernunft übersteigen, durch nichts anderes verbürgt werden können als durch eine Autorität im Glauben. Der Papst und die Bischöfe sind also sehr wohl die Garanten für die Wahrheit des Katechismus. Dies ist sehr wohl ein Zirkel, aber es ist nicht der Zirkelschluss, aus dem einige von Euch auszubrechen versuchten. Wer andere Wahrheitskriterien als diejenigen der Kirche sucht, wird niemals fündig werden. Sind solche Menschen überhaupt noch Glaubende? Aus diesem Zirkel auszubrechen ist Ausbrechen aus der Kirche. Was ich in meinem Dienst in der Pfarrei sehr bedauere... DER MODERATOR DER GRUPPE Liebe Kollegen, es herrscht wieder einmal Schweigen... Was könnte die Psychoanalyse hier noch anfügen, damit wir aus dieser Sackgasse herausfinden? DER PSYCHOANALYTIKER Nichts... Es tut mir leid... Ich habe lediglich gesagt, dass die Kirche gewissen intellektuellen und affektiven Ansprüchen mehr Gehöhr schenken sollte... Aber wie?... Mit dieser Frage verlassen wir meinen Kompetenzbereich... Für alle Fälle übergebe ich das Wort meinem Nachbar, der auch Philosoph ist. In metaphysischen Fragen kennt er sich besser aus als ich, DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 29 soweit ich dies seit unseren ersten Begegnungen auf diesem Passagierschiff beurteilen kann... BESSERE PHILOSOPHISCHE HILFSMITTEL AUSFINDIG MACHEN, UM EINE BESSERE THEOLOGIE ZU ERARBEITEN DER ANDERE PHILOSOPH: Danke für die wohlgesonnene Vorstellung... Ich habe all eure Beiträge aufmerksam verfolgt. Vor allem verstehe ich die Enttäuschung, die der Herr Kanonikus in seinem sehr harten und wenig dankbaren seelsorgerischen Dienst erfährt. Seine sehr lobenswerte und höchst verdienstreiche Besorgtheit um Treue zur Kirche grenzt ihn heutzutage aus... Aber am meisten bedauere ich, dass er sich auf eine Philosophie stützt, die ich als „klassisch“ einstufen würde. Es ist die, von der mein Kollege spricht. Zweifellos werde ich später noch die Gelegenheit haben, mein Verständnis des Begriffs „klassisch“ zu erläutern... Wir stecken in einer Sackgasse fest, und was uns in sie hineingeführt hat, ist der Einfluss dieser Philosophie auf die Deutung der grundlegenden heiligen Texte; das heißt: die Aneignung dieser Philosophie seitens der Kirche, um dem Glauben und der Offenbarung gegenüber der Vernunft ihren Platz zu verschaffen; und ihre Anwendung durch die Theologen, um auf rationale Weise über diese Offenbarung Rechenschaft abzulegen... Ich spreche nicht nur von der Sackgasse, in die die Runde um diesen Tisch geraten ist... Sie bringt jedoch eine noch weiter reichende Festgefahrenheit der Kirche in der modernen Welt an den Tag, und auch der modernen Welt selber in ihrer Anerkennung einer göttlichen Transzendenz... Festgefahrenheit einer der Welt entleerten Kirche und einer Gottes beraubten Welt. Ich schuldige niemanden an. Kann man etwa die Meteorologen für die zerstörerischen Folgen eines Orkans verantwortlich machen? Ich mache lediglich eine Feststellung. Aber diese muss man als Meteorologe des menschlichen Denkens machen. Die derzeitige Schwäche, mit der die Theologie dem stürmischen Wetter der religiösen Gleichgültigkeit entgegentritt, ist das konkrete Endergebnis einer Philosophie, die den Glauben außerhalb ihres Untersuchungsbereiches ansiedelt, und einer Offenbarungslehre, die, während sie ebendieser Philosophie die Hand reicht, sich 30 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN über die Vernunft stellt... Verstehen Sie mich richtig. Die Theologen, Priester, Pastoren und Rabbiner haben die Entwicklung der Denkweisen nicht vollständig im Griff. In den vergangenen Jahrhunderten war der gegenüber den Kräften der Natur wehrlose und verwundbare Mensch eher dazu geneigt, den Himmel um Hilfe zu bitten. Das war nicht Glaube an Gott, aber es war Religion. Und diese religiöse Psychologie war gesellschaftlich eher empfänglich für eine Botschaft, die sich als offenbart darstellte... Diese wurde dann als eine fortdauernde Hilfe vom Himmel empfunden... In dem Maß, wie der Mensch mehr und mehr Mittel entdeckt, mit denen er seine Existenz absichern kann, wird die Inbrunst seines Gebetes zum Himmel schwächer... Das ist ein stürmisches Wetter oder Windstille, wie Sie wollen, für die Verkündigung einer geoffenbarten Botschaft. Anmaßende Botschaften, auf unechte Weise geoffenbart, gedeihen, kentern und gehen unter... Aber die echt offenbarten Botschaften leiden gleichermaßen... Und sie leiden gemäß dem Umfang ihrer Anpassungsversuche, durch die sie sich den erlogenen Offenbarungen angenähert haben. Und die grundlegendste dieser alles aufs Spiel setzenden Angleichungen besteht darin, unter dem Vorwand, die Offenbarung komme von Gott, zu behaupten, sie übersteige die Vernunft und das menschliche Urteil. Das ist der Grund, warum ich behaupte, dass die Schwäche der zeitgenössischen Theologie, – die nicht mehr von einer gesellschaftlich verankerten Religiosität profitiert, wie es in der Vergangenheit der Fall war – darin besteht, „infiltriert, entstellt, zerfressen, behindert“ zu sein – wählen Sie das Bild, das Ihnen zusagt... – durch eine Philosophie, die unfähig ist, dem Vollzug des Glaubens einen vernunftgemäßen Platz einzuräumen, sowohl in ihrer Ontologie als auch in ihrer Ethik und Erkenntnistheorie. So verpflichtet diese Philosophie die offenbarte Botschaft, selbst die echt geoffenbarte, sich der durch eine aus ihrer ängstlichen und zweideutigen Religiosität auftauchenden Vernunft ganz natürlicherweise und zu Recht verlangten Prüfung auf Verständlichkeit zu unterziehen. DER MODERATOR der Zusammenkunft Jemand verlangt das Wort... Sie haben mir bereits erzählt, dass Sie dem BKTF angehören, als unabhängiger Forscher... Ich übergebe Ihnen das Wort. DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 31 DER VIERTE PRIESTER: Ja, ich bin als unabhängiger Forscher Mitglied der „Bischöflichen Kommission für Theologische Forschung“. Mein Bischof hat mir damit eine sehr besondere Aufgabe anvertraut. Außerdem passt der Titel eines Theologen überhaupt nicht zu mir. Er riecht ein bisschen nach „Institution“. Mir wäre jener des Theologiewissenschaftlers oder des „selbständigen (selbständigen ] unabhängigen) Theologen“ lieber. DER MODERATOR Wenn ich recht verstehe, sind Sie also gewissermaßen hinter den Kulissen der „Suchkopf“ Ihres Bischofs... DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Durch meine eigenen Forschungen bin ich bereits auf das, was im letzten Beitrag gesagt wurde, aufmerksam geworden. Man kann der Kirche nicht vorwerfen, dass sie zuerst im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert erst die geistige Elite verloren hat, dann die Arbeiterklasse im zwanzigsten, und daraufhin nun die ganze naturwissenschaftlich und technisch denkende Welt, und dass sie zuschaut, wie die sozialen Kommunikationsmittel das Interesse an ihr verlieren. Diese Gleichgültigkeit ist ein Befund, das Endergebnis einer Entwicklung, für das die Kirche nicht allein verantwortlich ist. Meine Bemühungen gehen dahin, herauszufinden, wie sie einen Neubeginn finden kann, der in die Tiefe geht und daher fähig ist, alle Aspekte des menschlichen Daseins zu beleben. Unter diesem Gesichtspunkt sind die zuletzt geäußerten philosophischen Überlegungen von großem Interesse. Erlauben Sie mir noch zu erwähnen, dass ich von Herrn Debruquels Buch erfahren habe. Es ist ein dicker Band und stellt eine wirklich erneuernde Ontologie vor, die einige moderne Einsichten über den „Anderen“, die Alterität – eines der Leitmotive heutzutage – ineinanderfügt. Davon ausgehend schlägt er eine neue und sehr verlockende Sicht der biblischen und evangelischen Botschaft vor. Auch würde ich ihn gerne bitten, uns sein Denken über eine Philosophie, die dem Glauben all seinen Platz einräumt, zu verdeutlichen. 32 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DEN SEINSSTATUS DES „ANDEREN“ DENKEN, UM THEOLOGISCHE AUSSAGEN BESSER DENKEN ZU KÖNNEN DER ANDERE PHILOSOPH Ich danke Ihnen von ganzem Herzen... im Anschluss an diese Zusammenkunft würde ich gerne auf persönlichere Weise mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Aber im Moment versetze ich mich wieder in die Perspektive dieser Debatte. Nun, erstens: Welche Philosophie ist das, die dem Glauben einen Platz einräumt? Sie zu bezeichnen, ist einfach; weitaus schwieriger ist es, sie unter diesem Blickwinkel zu analysieren... Es ist jene, die der Philosophiegeschichtler von Parmenides und Heraklit bis hin zum erst kürzlich erfolgten Aufkommen der Problematik der Alterität mit Martin Buber, zum Beispiel, oder Emmanuel Levinas, darlegt. Mit zwei Philosophen, die aus der jüdischen Spiritualität leben. Oder auch mit Maurice Nédoncelle, in einem christlichen Umfeld. Wie etwa Aubenque sagte man, dass Thomas von Aquin Aristoteles getauft hat... Man kann aber auch auf das Gegenteil hinweisen: Platon und Aristoteles haben, obwohl sie bereits verstorben waren, die Bibel und das Evangelium hellenisiert... Ein offensichtliches historisches Phänomen, welches Nietzsche erlaubte, zu sagen, dass das „Christentum ein Platonismus für das Volk war...“. Eine halbe Wahrheit von Nietzsche her gesehen, natürlich... das Evangelium ist anderswo... und Nietzsche ist daran vorbeigegangen, ohne es zu sehen... DER ERSTE THEOLOGE, Theologieprofessor Sie wollen also, um es kurzzufassen, sagen, dass die katholische Theologie paganisiert wurde und ihr deshalb heutzutage die Puste ausgeht... Meine Ansicht ist das jedenfalls nicht... DER ANDERE PHILOSOPH Ich würde sagen: nicht nur der katholischen Theologie, sondern den anderen christlichen Theologien genauso. Ich sage nicht, dass der menschlichen Fähigkeit „theologisch zu denken“ der Atem ausgegangen ist. Sie bleibt erhalten und wird sogar Fortschritte machen. Aber wenn Sie von klassischen Systemen der dogmatischen Theologie sprechen, dann würde ich Ihnen antworten, dass sie dabei sind, außer Atem zu geraten. Sie selber DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 33 haben festgestellt, wie wenig Anklang sie noch finden. Warum? Ich antworte, selbst wenn ich mich dabei wiederholen sollte... Die ausweglose Situation ihrer „autoritären“ Darstellung, die jede kritische Diskussion ausschließt, rührt nicht daher, dass sie sich auf eine offenbarte Botschaft stützen, sondern von dem Gebrauch, den das theologische Denken herkömmlicherweise von philosophischen Systemen, die den Glauben außerhalb ihres Gegenstandsgebietes ansiedeln, macht. Durch diese Gegebenheit selbst platzieren sie sich außerhalb der Reichweite jeglicher rationalen Kritik, mit Ausnahme jener einen irrationalen der totalen Ablehnung. Nun ist es allerdings so, dass diese theologische Gepflogenheit unter anderem ein bestimmtes Bild von Gott, der die höchste Autorität ist, und ein bestimmtes Bild von der Autorität in der Kirche, und auch ein bestimmtes Bild von der Autorität in der Familie nach sich zieht oder impliziert. Und alle diese Bilder beruhen auf dem Begriff „Vater“... Der Familienvater, der Heilige Vater, Gott, der allmächtige Vater... Und diese Form des „Paternalismus“ im Glaubenszeugnis ist ganz einfach „festgefahren“, weil sie sich durch eine herrliche Isoliertheit auszeichnet. Daher die Frage: Was ist die wahre „Vaterschaft“? Diejenige, welche man innerhalb einer Philosophie auffassen kann, die dem „Glauben“, dem „Glaubensakt“, und nicht einer Lehre des Glaubens, einen vernunftgemäßen Platz einräumt. Eine Vaterschaft im Dialog,... in einem Dialog, der nicht nur gegenseitig, zu zweit, stattfindet, sondern zirkulär, zu dritt... Also im Grunde genommen und stark zusammengefasst: Der Vatergott steht in ewigem Dialog mit seinem „Anderen“, dem Wortgott... Und zu zweit stehen sie in Dialog mit dem Heiligen Geist, und bilden so zu dritt einen einzigen Gott. Ein Dialog zwischen Personen, der Seins- und Bewusstseinsmitteilung ist, und nicht nur Austausch von Worten oder der in drei Verwirklichungsweisen der Beziehung Gottes zu den Menschen besteht... DER DOMHERR, Schriftsteller Aber die ganze Welt weiß, was der Begriff „Vater“ bedeutet! Um ihn gebrauchen zu können, muss der Theologe nicht auf die Philosophie zurückzugreifen. DER ANDERE PHILOSOPH 34 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Genau deswegen gebraucht ihn dieser Theologe, ohne es zu wissen, im klassischen Sinn,... der sozusagen unvollkommen ist. Und heute stellt die psychologische und psychoanalytische Beobachtung den Befund, dass man sich damit in einer Sackgasse befindet... dass die „paternalistischen“ Verhaltensweisen auf Ablehnung stoßen... Eine bestimmte solipsistische Auffassung von „Vater“ ist daher dem Tode geweiht. Mit dem entgegengesetzten Extrem als Folge, dass einige sich sogar gegen die biologische Vaterschaft auflehnen... Was natürlich eine maßlose Übertreibung ist... Es ist nicht zufriedenstellend, die Vater-Sohn-Beziehung als eine gegenseitige zweigliedrige Beziehung aufzufassen. Ich denke, der einzig wirkliche Ausgangspunkt für unsere Diskussion ist die Infragestellung dieser unvollständigen Auffassung vom Vater als einzige Autorität und ausschließlichem Machthaber – selbst wenn er für wohlwollend angesehen würde –, und jener genauso mangelhaften Auffassung von Gott als allmächtigem Einsamen – selbst wenn er sich seinen menschlichen Geschöpfen zuneigt. Zweifellos, eine Diskussion unter uns, aber vor allem eine Diskussion in der Kirche, die für die evangelische Offenbarung verantwortlich ist, und mit den Menschen, die durch ihre Natur dazu veranlagt sind, an den Gott zu glauben, der in seinem Sein selbst „Offenbarung und Glaube“ in unendlicher Vollendung ist... Und dann muss man sich außerdem irgendetwas ausdenken, um die im Sterben liegenden Auffassungen, die das Evangelium verfinstern, zu ersetzen... und auch um den überlieferten unvermeidbaren Worten, die der Wirklichkeit der Familie entnommen sind, um dem Evangelium Rückhalt zu verleihen, eine neue, tiefere, edlere und wahrere Bedeutung zu geben... die folglich zugunsten des Evangeliums in der Zukunft anziehender wirkt... Hier stehen wir also noch vor einer „großen Aufgabe“. Aber die Krise oder die Schwierigkeiten, in denen die Religionen stecken, verlangen es. Wenn diese Krise, wie mir scheint, vor allem im Christentum wahrgenommen wird, dann ist es auch das Christentum, das zuerst aus ihr herausfinden wird, mit einer neuen Lebenskraft, und vielleicht mit einem authentischeren Glauben... dann es trägt den Sauerteig seiner Erneuerung in sich... in seinen wesentlichen Lehrsätzen... DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 35 DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler „Eine große Aufgabe“? Zum Teufel! Da nehmen Sie den Mund aber gehörig voll! Ich kenne in der Philosophiegeschichte große Gottesleugner... Ich kenne aber auch Philosophen, die wie Platon und Aristoteles und viele andere einen einzigen Gott bejahten. Ihr Kollege und auch Sie selber haben es erwähnt. Haben diese Philosophen Gott etwa auf schlechte Weise bejaht? Haben die Philosophen seit dem Mittelalter etwa jeden Versuch des Nachdenkens über Gott selbst und sein schöpferisches Wirken verhindert, indem sie sagten, dass die menschliche Vernunft die Existenz Gottes bejahen kann, aber sich nicht dazu äußern kann, was er ist? Wenn ich mich nicht irre, dann bewegen Sie sich genau in diese Richtung... DER ANDERE PHILOSOPH Ja, allerdings mit einigen feinen Unterschieden... und vor allem unter Ausnahme der äußerst persönlichen und schöpferischen Werke des Thomas von Aquin... da er sich klar von Aristoteles’ metaphysischen Standpunkten über das Problem der Einheit und Vielheit lossagt, und dem „actus essendi“, also dem in seiner Vollkommenheit betrachteten Seienden die Aktivität zuerkennt, sich gemäß dem vollen Umfang seines aktiven Potentials mitzuteilen. Entschuldigen Sie, dass ich einen lateinischen Fachbegriff benutze: actus essendi... Vielleicht werde ich später noch Gelegenheit haben, ihn zu erklären... DIE IN SICH EINZIGE WAHRHEIT EINER GÖTTLICHEN OFFENBARUNG UND DIE GESCHICHTLICHE VIELFALT IHRER MENSCHLICHEN AUSDRUCKSFORMEN DER THEOLOGIEPROFESSOR, ein Anhänger eher klassischer Standpunkte Ich sehe, dass der theologische Standpunkt des Herrn Kanonikus bereits so gut wie vernichtet ist... Nun möchte ich aber genau dessen Interesse aufzeigen, auch auf die Gefahr hin, einige Punkte der Debatte nochmals aufzugreifen... Danach wird ein besser nach vorne strebender Neubeginn möglich sein... Mit dem Zitieren einiger bedeutsamer Stellen aus der Konstitution „Fidei depositum“ antwortete er, so scheint mir, nicht auf die Frage nach der Wahrheit in sich der Lehre dieses Katechismus, sondern vielmehr auf jene nach seinem 36 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN lehrmäßigen Stellenwert: „Ist er eine zufriedenstellende Darstellung der katholischen Lehre?“ Einige Mitbrüder, Theologen, heißen ihn gut, andere differenzieren ihre Anerkennung. Wieder andere lehnen ihn ab. Diese unterschiedlichen Urteile sind beeinflusst von vielfältigen, an verschiedene theologische Strömungen oder sogar an interne Intrigen der katholischen Kirche gebundene Erwägungen. Der Philosoph, und genauso wenig der Soziologe oder der Psychoanalytiker – was auch immer ihre Standpunkte sein mögen – sollten es nicht nur unterlassen, in diesem Gerangel um Einfluss Partei zu ergreifen, sondern sie haben auch keinerlei Kompetenz, ihre Meinung zur Festlegung dessen, was „katholische Rechtgläubigkeit“ ausmacht, beizutragen. Diese Rechtgläubigkeit ist Produkt einer Entscheidung, und ich sage bewusst „Entscheidung“, durch die leitenden Instanzen der katholischen Kirche. Mag sie entscheiden «weiß»; oder „schwarz“; oder „grau“: Das macht eigentlich keinen Unterschied. Rechtgläubigkeit ist das, was sie entscheidet. Es ist übrigens unangebracht, sich darüber zu empören. Es ist ganz normal. Es handelt sich um die interne Organisation der Kirche, wie bei den Fußballvereinen. Die Spielregeln sind jene, die von den nationalen und internationalen Fußballverbänden festgelegt werden. Keine Diskussion! Und bei den politischen Regierungen der Staaten ist es genauso. Ebenso, wie man sich fragen kann, ob dieses oder jenes Handeln der Regierung mit dem Verfassungsrecht dieses Staates übereinstimmt, so kann man sich auch fragen, ob der Katechismus Johannes Pauls des Zweiten mit der Lehre der katholischen Kirche übereinstimmt. Spezialisten in Verfassungsrecht können unterschiedlicher Meinung sein. Und genauso können Theologen unterschiedliche Untersuchungen anstellen. Das richtige Verständnis des Verfassungsrechtes wird jenes sein, das der Entscheidung der für die Auslegung der Verfassungstexte zuständigen Instanz entspricht. Und in unserem Fall ist der Katechismus, der die katholische Lehre darlegt, durch eine zuständige Instanz gutgeheißen: durch den Papst. Was wir darin lesen, ist also sehr wohl die „katholische Lehre“. In diesem Sinn habe ich den Beitrag des Herrn Kanonikus verstanden. Bei dieser Sicht der Dinge sollte man ihm nicht vorwerfen, dass er sich innerhalb eines Zirkelschlusses bewege. Der Katechismus repräsentiert sehr wohl die katholische Lehre. DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 37 Aber die Frage unserer Teilnehmer wurde sehr bald zu jener, beziehungsweise sie wurde sogar auf Anhieb in dem Sinn verstanden: „Was ist diese Lehre wert?“, oder „Wie lässt sich ihre Wahrheit feststellen und aufzeigen?“ Die ganze Diskussion nahm so, wie man sieht, eine neue Wende. Wir bleiben nicht bei einer internen Debatte unter Theologen des „Dogma“, im weitesten Sinne des Begriffs „gelehrte Meinung mit normativem Wert“, also einer Rechtgläubigkeit für jene, die sich als „katholisch“ bezeichnen, stehen. Jedenfalls ist es angebracht, den ins Auge gefassten Bestandteil der Lehre genauer zu beschreiben, ehe man die Frage nach der Wahrheit in sich des Katechismus stellt. Handelt es sich um eine zentrale Aussage oder im Gegenteil um eine von ihr abgekoppelte Schlussfolgerung, die eben gerade zum Diskussionsgegenstand unter Theologen geworden ist? Bezüglich solcher Diskussionsgegenstände, beziehungsweise Streitpunkte, kann die durch die Autoren des Katechismus vorgenommene Entscheidung nichts weiter sein als ein Begleitumstand, empfänglich für zukünftige Weiterentwicklungen. Jedoch ist es noch nicht ausreichend, die Fragen genau zu umschreiben, und zu sagen: „Was hat man von dieser oder jener Aussage des Katechismus – zentral oder nebensächlich – zu halten? Was ist ihr Wahrheitswert in sich?“ Man muss außerdem noch unterscheiden zwischen dem Wahrheitswert der offenbarenden Absicht und dem Wahrheitswert ihrer menschlichen Ausdrucksweise. Dies ist wichtig, aber nicht leicht zu verstehen. Wenn man es aber einmal verstanden hat, lässt man es sehr schnell gelten... Denn es gibt ihn (ihn ] diesen Wahrheitswert der offenbarenden Absicht,) und er wird durch alle Zeiten und durch den Raum zahlreicher kultureller Bedeutungssysteme hindurch bestehenbleiben. Die Geschichte der Zivilisationen ist besonders daran interessiert. Nun benutzt die Sprache der Theologie zwangsläufig das eine oder andere dieser Systeme, um den einzigen Sinn der Offenbarung auszudrücken. Die Ausdrucksweise der Offenbarung wird also in Funktion eines jeden dieser Systeme anders ausfallen. Im äußersten Fall kann eine theologische Aussage in Bezug auf ein System sinnvoll und stimmig sein, und innerhalb eines anderen Bezugssystems nicht. Die Mathematiker wissen, dass bestimmte Beweise in einem gewissen Axiomensystem möglich sind und in anderen nicht. In 38 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN der Theologie ist es genauso, analog, unter Berücksichtigung aller Proportionen... Daher muss gedeutet werden... ja, eine bestimmte Redeweise muss sogar in eine andere innerhalb eines unterschiedlichen Bezugssystems übersetzt werden. Stellen wir also eine Hypothese auf: Die klassischen Bezugssysteme, also jene der griechisch-lateinischen Kultur, erlauben es den Hütern des Glaubens nicht, die Gesamtheit der Offenbarung angemessen auszudrücken. In diesem Fall sind sie – um die Wahrheit der evangelischen Botschaft nicht zu verkürzen – gezwungen zu sagen, dass der Sinn der Offenbarung die Vernunft, welche diese Bezugssysteme hervorgebracht hat, übersteigt. Hier drängt sich eine Frage auf: Ist diese griechisch-lateinisch gebildete Vernunft, welche ihren Ausdruck im Wesentlichen in der klassischen spiritualistischen Philosophie findet, selber der vollendete geschichtliche Ausdruck der menschlichen Vernunft als solcher? Wenn ja, wie ich denke, allerdings mit dem Zusatz: „bis zum Beweis des Gegenteils“, dann muss man der theologischen Behauptung des Domherrn zustimmen, nämlich dass die Autorität, welche über die Rechtgläubigkeit entscheidet, auch über deren Wahrheit-in-sich entscheidet, weil nämlich die klassisch gebildete Vernunft, die die vollendete Form der Vernunft darstellt, nicht zur Klarheit der Offenbarung aufsteigen kann. Durch die Unfähigkeit der Vernunft ist das Lehramt gezwungen, einzuspringen… In der Sprache der Informatik könnte man sagen, dass die Software der Vernunft, welche die Menschheit der Kirche zur Verarbeitung der Offenbarung gegeben hat, nicht leistungsfähig genug ist..., nicht genug bewirkt... Könnte aber die Vernunft, nach all dem Fortschritt, den sie im Gebiet der Naturwissenschaften, der Mathematik und Philosophie errungen hat, nicht auch eine leistungsfähigere Software entwickeln und sie der Kirche anbieten? Man kann diese Hypothese nicht a priori ausschließen. Der Standpunkt des Herrn Kanonikus gründet derweil auf... DER EXEGET UND DOGMENGESCHICHTLER Als Historiker kann ich nicht anders als der sehr klassischen Weisheit meines Kollegen zustimmen... DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 39 Wir stellen einen theologischen Fortschritt in Funktion der Fortschritte der Philosophie fest. Die Bemühung, die Offenbarung zu verstehen, regt übrigens die Gläubigen an, sich aktiv an diesem philosophischen Fortschritt zu beteiligen und sich dafür einzusetzen. Was sich in der Vergangenheit bewahrheitet hat, könnte in der Zukunft weitergeführt werden... Aber diese Weiterentwicklung war nie frei von Spannungen... die gelegentlich sogar in Gewalt ausarteten. Dies lässt sich bei der Übertragung des Evangeliums vom jüdischen ins griechische Umfeld, bei den Spannungen zwischen dem Umfeld der synoptischen Evangelien und der johanneischen Gemeinde, und bei der Weiterentwicklung der Vätertheologie von der Beeinflussung erst durch die Stoa hin zu einer platonisierenden und später mit Aristoteles sympathisierenden Sichtweise feststellen. Dasselbe hat sich zwischen den theologischen Schulen von Antiochia und Alexandrien abgespielt..., eine gewalttätige Auseinandersetzung rund um die Dreifaltigkeit und die zweifache Natur Christi..., wie der deutsche Theologe Grillmeier gezeigt hat, der am Ende seines Lebens noch zum Kardinal ernannt wurde... Und heute muss man, wenn man von der „Inkulturation“ oder vom „Aufkeimen“ des Evangeliums in einer von der westlichen Kultur verschiedenen Kultur spricht, zum Beispiel in Indien, dieselbe Feststellung machen... Ich erwähne lediglich ... in Kürze ... diese Beispiele... Es ist also durchaus berechtigt, sich zu fragen, ob alle dogmatischen Aussagen in dem Sinn „vernünftig“ sind, dass sie eine erfassbare Bedeutung haben, und ob sie miteinander vereinbar sind und in Bezug auf ein bereits bestehendes Bedeutungssystem eine logisch zusammenhängende Lehre bilden. Anschließend muss überprüft werden, ob diese dogmatischen Aussagen nicht etwa in klarem Widerspruch zu einer wissenschaftlichen und bewährten Rationalität stehen. Wenn ja, dann muss man daraus schließen, dass diese Behauptungen aus dem Bereich des Glaubens zu entfernen sind. Es ist angebracht, sie aus der Darstellung der offenbarten Botschaft zu verbannen, etwa den zeitlichen Rahmen von sieben Tagen für die Schöpfung, oder die Ursünde im Paradies. Und schlussendlich, wenn die besagten Aussagen vernünftig und logisch zusammenhängend sind und wissenschaftlichen Untersuchungen nicht widersprechen, dann kann man sich mit 40 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Aussicht auf Erfolg fragen, ob sie in Beziehung zu ihrem wirklichen Gegenstand, also zu einer „Offenbarung von Gott“, wahr sind. Für die Kenntnis dieser Offenbarung muss man sich auf die für sie verantwortlichen Zeugen verlassen: die biblischen Zeugen, dann Jesus selber, seine Jünger und auch seine anderen mitmenschlichen Beziehungen, deren Nachfolger, die Menschheitsfamilie, die die Weitergabe garantiert, und vor allem die Kirche. Dann muss aber im theologischen Sprachgebrauch der Kirche eine Unterscheidung zwischen dem Wahrheitswert der Offenbarung und der Wahrheit ihres Ausdrucks innerhalb eines gegebenen Bedeutungssystems – gemäß dem Hinweis meines Kollegen – geschaffen werden. Die ganze Schwierigkeit liegt in der Ausführung dieser Unterscheidung, da diese beiden Wahrheitswerte „materiell, in der Alltagssprache“ kaum unterschieden werden können. Der Sinn der „Offenbarung“ wird ausschließlich durch die Bedeutungssysteme hindurch wahrgenommen, die ermöglichen, ihn auszudrücken. Man bewegt sich im Kreis... Wir sollten zugeben, dass wir in einem „hermeneutischen Zirkel“ eingeschlossen sind. Er ist so groß, dass man darin nicht erstickt. Wenigstens können wir zwei zusammenhängende, dem gesunden Menschenverstand entnommene Regeln aufstellen. Da die für die Weitergabe der Offenbarung zuständige Autorität verpflichtet ist, sich von der kulturellen Rationalität, innerhalb derer sie sich ausdrückt, abzugrenzen – in dem sie zum Beispiel behauptet, dass es sich um ein unfassbares Geheimnis handelt –, muss man zuerst nach der Fähigkeit dieser besonderen Rationalität, die gesamte Leuchtkraft der menschlichen Vernunft darzustellen, fragen – damit räume ich also dem rationalen Erkennen einen weitaus größeren Platz ein als mein Kollege –, und dann ist es zweitens nötig, dass die in der Kirche für den Glauben zuständige Autorität sich nicht dazu hinreißen lässt, die Wahrheit-in-sich dieser kulturellen und geschichtlichen Rationalität zu garantieren... Das lehrt uns die Geschichte. DER ANDERE PHILOSOPH Sie sprechen wie ein Theologe, der aus der Geschichte lernt... Sie werden mir sagen, dass das natürlich ist, da ein Theologe ja die Überlieferung mit einbeziehen muss... Das trifft zu... Sie sind auch mit den methodologischen Anmerkungen ihres Mitbruders einverstanden. Ich ebenso. Sie sind „klassisch“. DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 41 Aber sie sind unvollständig – so scheint mir – da sie nichts als den „zum Ausdruck gebrachten Gehalt der Offenbarung“ in Betracht ziehen, der ja, wie Sie sagen, bereits mit der Logik, den Naturwissenschaften und den kulturellen Systemen, und mit den jeweils von ihnen angewendeten Philosophien konfrontiert wurde. Nun hat aber der Gegenstand dieses theologischen ZumAusdruck-Bringens, nämlich die Wirklichkeit der Offenbarung, seinen Sinn und seine Möglichkeit nur durch den Bezug auf einen konkreten Glaubensakt des Menschen, in dem sich seine wesentliche Veranlagung zum Glauben entfaltet. Der Mensch ist „capax fidei“. Dies ist eine klassische Formulierung der Theologie. Hier liegt der neue Einsatzbereich der philosophischen Untersuchung: anerkennen, dass diese Fähigkeit zum Sein des Menschen als solchem gehört, dass sie nicht nachträglich zu ihm hinzugefügt ist, dass sie sich dem, was im Menschen an Vollkommenheit vorhanden ist, und nicht den Grenzen seiner Natur anschließt. Der Philosoph darf den Reichtum der Hermeneutik der heiligen Texte nicht ignorieren, aber er darf sich nicht damit (damit ] mit ihr) zufriedengeben. Es gehört zu seiner Aufgabe, sich mit allen menschlichen Tätigkeiten auseinandersetzen, darin eingeschlossen mit der Tätigkeit zu „glauben“; und mit dem „Glauben“ insofern dieser ein dem menschlichen Bewusstsein eigener Vollzug ist... Daher muss man die Frage nach der Wahrheit des durch die traditionelle Theologie benutzten Bedeutungssystems auf der Ebene der Möglichkeit und der Struktur des Glaubensaktes stellen... Und folglich muss der Wortlaut der Offenbarung dieser neuen Systematisierung gegenübergestellt werden. DIE RATIONALE ANALYSE DES GLAUBENSAKTES WIRD DURCH DIE BEHAUPTUNG, DASS DER GLAUBE EIN GESCHENK IST, ANGEFOCHTEN DER DOMHERR, indem er die Darstellung des zweiten Philosophen unterbricht: Aber der Glaube an Gott ist auch ein Geschenk Gottes. Er gehört nicht in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie. Wenn Ihnen die Gnade, zu glauben, nicht gegeben ist, dann sind sie unfähig, an das Evangelium zu glauben... 42 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER THEOLOGE, der Historiker ist, indem er seinerseits den Domherrn unterbricht: Ich persönlich würde gerne hören, was die Philosophie über den Glaubensakt sagen kann. Aber wenn die Philosophie auf Ihren Einwand antworten muss, Herr Kanonikus, dann fürchte ich, dass eine Bresche in Ihre „Rechtgläubigkeit“ geschossen wird. DER ANDERE PHILOSOPH Was soll ich nun tun? Ich wende mich damit an unseren Gruppenältesten und Moderator. Soll ich den Einwand des Herrn Pfarrer übergehen und weiterfahren, oder darauf antworten und dann weiterfahren? DER MODERATOR Ich denke, es sollte darauf geantwortet werden, wenn es an dieser Stelle irgendwie möglich ist und sich in Ihre Darstellung eingefügen lässt. DER ANDERE PHILOSOPH Selbstverständlich kann ich in diesem Augenblick nicht mit einer vollständigen Antwort auf diesen Einwand eingehen. Ich werde mich nur auf der ersten Ebene der Untersuchung nach Gültigkeit bezüglich einer theologischen Aussage bewegen. Es ist jene der Kohärenz, wie die beiden Theologen bereits gesagt haben. Wenn zum glauben eine „besondere Gnade“ nötig ist, dann heißt das, dass der Mensch „in seiner geschaffenen Natur“ nicht fähig ist, an Gott zu glauben. Wenn der Mensch aber nicht von Natur aus fähig ist, zu glauben, dann stehen wir vor einem Dilemma: entweder respektiert Gott sein Geschöpf und jegliche Offenbarung Gottes ist unmöglich, oder Gott tut seinem Geschöpf und seinem Werk Gewalt an und setzt sich damit in Widerspruch gegen sich selbst. „ Oder aber das, was Sie als „eine besondere Gnade bezeichnen“ ist Bestandteil der menschlichen Natur und ist ein besonders erhabener Aspekt seines geschaffenen Seins, seines gnadenhaft durch Gott geschaffenen Seins, selbstverständlich, und dann kann die Philosophie diesen untersuchen und sein Dasein bewundern. DER DOMHERR DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 43 Genau. Der Mensch hat diese Zierde seiner Natur durch die Ursünde verloren... DER THEOLOGE, der Historiker und Exeget ist: Lieber Mitbruder, ich bitte Sie, bringen Sie hier nicht die überholten Lehrsätze der volkstümlichen Katechese aufs Tapet... Sie lassen sich weder mit der Wissenschaft, noch mit dem Anspruch nach logischer Stimmigkeit in der Theologie in Einklang bringen. Sie beruhigten oder beängstigten seinerzeit die Gemüter, aber heutzutage nicht mehr... Eine aufgeklärte und genaue Exegese der Texte hat sie für immer ausgeschlossen... Falls Sie es wünschen, können wir auf die Analyse des Wahrheitswertes der Theologie in Funktion der Möglichkeit an sich und der Natur des Glaubensaktes zurückkommen. DER ANDERE PHILOSOPH Obwohl die Geschichte zeigt, wie sehr theologische Bemühungen zum Ursprung mannigfaltigen philosophischen Fortschrittes geworden sind, so erweckt der Herr Kanonikus den Eindruck, der Philosophie das Nachdenken über den Glaubensakt verbieten zu wollen. Tatsächlich hat sich aber das Gegenteil ereignet. Es ist das Fehlen einer Philosophie des menschlichen Glaubensverhaltens, welches die Theologen dazu gebracht hat, sich mit einem von der Philosophie unabhängigen Status der Offenbarung und des Glaubens abzufinden. Warum sage ich „sich abfinden»? Weil die bereits existierenden griechischen Philosophien nicht nur „verbessert“ werden mussten, sondern „eine Neubegründung“ brauchten. Die Theologen haben das noch nicht getan. Sie haben unbewusst eine Schwachstelle des Denkens zu einer Stärke der Offenbarung erhoben, und haben, immer noch unbewusst, einen vermeintlichen Mangel an Fähigkeit im Menschen in eine göttliche Fähigkeit verwandelt. Das haben sie getan, um a posteriori über die konkrete Wirklichkeit des Glaubens der Christen an die evangelische Offenbarung Rechenschaft abzulegen. Nun wäre aber eine a priori Untersuchung der Glaubensfähigkeit notwendig. DER PSYCHOANALYTIKER Diese Form der Übertragung könnte für die Psychoanalyse interessant sein... Wir kennen ja die klassische Projektion herausragender menschlicher Eigenschaften auf das Göttliche: 44 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Gott wäre demnach das in den Himmel projizierte Bild des Vaters... des über alles Erhabene erhabenen Vaters... Aber hier geht es nun darum, jene Kleider, welche der Mensch noch nicht mit Eleganz zu tragen wusste, an Gott, den Lieferanten des Menschen, zurückzuschicken... Sie kennen die Geschichte vom armen Adam, dem Gott Kleider machen musste, um jenes unglückliche Weinblatt, mit dem er sich nach seinem Fall bedeckte, zu ersetzen... Allgemeines Schmunzeln... Jedenfalls könnte man den zwanghaften Drang, mit dem gewisse religiöse Menschen den Menschen in seinem Wert herabsetzen und ihn mit Schuld beladen, einer psychoanalytischen Untersuchung unterziehen... Seinem Schöpfer gereicht dieses Verhalten sicherlich nicht zur Ehre... Wer den Menschen erniedrigt, erniedrigt auch dessen Urheber... DER ANDERE PHILOSOPH Sind Sie also der Meinung, dass der Glaube ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Psyche ist? Der Psychoanalytiker: Wesentlich? Das weiß ich nicht. Ich heile lediglich krankhafte Ausformungen, Neurosen des religiösen Verhaltens und seiner irrationalen Glaubensüberzeugungen... Ihnen als Philosoph hingegen obliegt es, sich zum konstitutiven Charakter eines Glaubensbewusstseins zu äußern... DER ANDERE PHILOSOPH Es gehört tatsächlich zur menschlichen Natur. Wenn die klassische Philosophie nicht davon spricht, so heißt dies noch nicht, dass es nicht wirklich ist. Um es zu analysieren, muss der Philosoph sich die volle Strenge der philosophischen transzendentalen Methode auferlegen, so wie Kant ihre Anwendung beschrieben hat: „Die a priori Bedingungen der Möglichkeit und der Verständlichkeit einer jeden Handlung als solcher suchen“. Kant hat dies allerdings nicht kühn genug angewendet, da er bei seiner Analyse der Religion „innerhalb der Grenzen der natürlichen Vernunft“ bleiben wollte. Den Kritiken „der reinen theoretischen Vernunft und der reinen praktischen Vernunft“ hätte er eine „Kritik der reinen glaubenden Vernunft“ oder ganz einfach eine „Kritik der DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 45 glaubenschaftlichen Vernunft“ hinzufügen sollen. Diese „Kritik“ wäre dann gleichzeitig eine „ganzheitliche Ontologie“ gewesen. Ihre Methode läuft darauf hinaus, „diejenigen Erfordernisse zu ermitteln, die das Glaubensbewusstsein bilden, insofern es wirklich ist“, also „auf der Ebene des Seins als Sein“, wie es bereits Aristoteles in seiner als „Metaphysik“ bekannten Abhandlung ausgedrückt hat. Deshalb ist es also so, dass ich als Philosoph in Bezug auf die Möglichkeit an sich und das ontologische Fundament des Glaubensaktes dazu verpflichtet bin, mir die Frage nach dem Wahrheitswert des Bedeutungssystems zu stellen, das vom Theologen daraufhin zur Verständlichmachung der evangelischen Botschaft genutzt wird. Kurz ausgedrückt: Die grundsätzliche Frage muss ausgehend von der Möglichkeit und von der Natur des Glaubensaktes gestellt werden: „Steht die klassische Philosophie, welche von der Kirche benutzt wird, mit der evangelischen Botschaft in Einklang, und erlaubt sie deren angemessene Darstellung?“ Wenn die Verständlichkeit des Glaubensaktes im Bewusstsein nicht offensichtlich ist, wie wäre dann das Bewusstsein einer Verständlichkeit der Offenbarung möglich? Wenn es in Gott keine interpersonale Struktur der Mitteilung des Seins in absoluter Vollkommenheit gibt, wie könnte man dann auf verständliche Weise anerkennen, dass Er fähig ist, zu erschaffen und sich zu offenbaren? Und wie könnte es dann außerdem – ohne dass diese Fragen jetzt beantwortet werden – eine unverfälscht fruchtbare pastorale Darstellung geben? DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler Sie scheinen mir gleichzeitig mit der klassischen Philosophie sehr streng und der Offenbarung gegenüber sehr optimistisch zu sein. Außerdem frage ich mich, ob sich der Theologe dadurch, dass er erfährt, dass er eine unangemessene Philosophie verwendet, untergraben fühlt, oder aber ermutigt, weil er die Offenbarung mit einer weitaus geeigneteren Philosophie wird bezeugen können... DER ANDERE PHILOSOPH Ich meinerseits denke, dass die beiden Theologien so lange nebeneinander existieren müssen, wie sie von der Offenbarung in angemessener Weise Zeugnis ablegen können, je nachdem ob sie sich an Gläubige richten, die sich innerhalb eines klassischen 46 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Bedeutungssystems bewegen, wo die Vernunft vorgibt, die glaubende Natur des menschlichen Geistes nicht zu kennen, oder aber an solche, die sich innerhalb einer „glaubenschaftlichen“ philosophischen Perspektive bewegen, weil diese der wesentlich zur menschlichen Natur gehörenden Fähigkeit, zu „glauben“, Rechnung trägt. Wünschen wir uns außerdem, dass diese neue Perspektive auf jene anziehender wirkt, die sich von der klassischen katechetischen Unterweisung abwenden, ohne genau zu wissen, weshalb. DER DOMHERR Es war nicht meine Absicht zu sagen, dass der „Katechismus“ lediglich eine gute Formulierung der katholischen Lehrmeinung ist. Er sagt uns vielmehr, was der wahre Glaube an die Wahrheiten der Offenbarung Gottes ist. Sind diese Offenbarungswahrheiten „gut formuliert“? Darüber kann man streiten. Sicherlich sind Verbesserungen möglich! An der Synode von 1985 äußerten die Bischöfe übrigens den Wunsch, dass „die Darlegung biblisch und liturgisch gehalten sein soll, die rechte Lehre bieten und zugleich dem heutigen Leben angepasst sein soll“. Indem ich den Papst zitierte, wollte ich implizit auf die Frage nach der Wahrheit der Aussagen des Katechismus antworten. Es scheint mir übrigens äußerst schwierig, die „Wahrheit“ des Katechismus dadurch feststellen zu wollen, dass man ihn mit der „Wirklichkeit“ einer Offenbarung vergleicht, da diese ja nur durch die Kirche und die Tradition hindurch, unter der Leitung des Heiligen Geistes, also durch den „Glauben der Kirche“ hindurch, erkannt wird. Die katholische Lehre lässt sich nicht mit einer naturwissenschaftlichen Theorie vergleichen. In den Naturwissenschaften werden Theorien mit den Tatsachen verglichen. Die Theorien werden immer (immer ] dadurch) wahrer, wenn (wenn ] dass) sie die Tatsachen immer besser erklären. Aber in unserem Fall identifiziert sich die Kenntnis der Offenbarungstatsachen irgendwie mit der Kirche selber. Es gibt also keine wahre, umfassende und vollständige Erkenntnis der Offenbarung, außer in Einheit mit der katholischen Kirche. Ich könnte nochmals einen Ausschnitt aus „Fidei depositum“ zitieren: Der Papst verlangt von den „Hirten und Gläubigen, diesen Katechismus im Geist der Gemeinschaft anzunehmen und ihn sorgfältig bei der Erfüllung ihrer Sendung zu benutzen, DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 47 wenn sie das Evangelium verkünden und zu einem Leben nach dem Evangelium aufrufen. Dieser Katechismus wird ihnen anvertraut, damit er als sicherer und authentischer Bezugstext für die Darstellung der katholischen Lehre und in besonderer Weise für die Ausarbeitung der örtlichen Katechismen dient. Er wird zugleich allen Gläubigen angeboten, die die Kenntnis der unerschöpflichen Reichtümer des Heiles vertiefen möchten. Er möchte ferner den ökumenischen Bemühungen, die den heiligen Wunsch nach Einheit aller Christen pflegen, eine Stütze bieten, indem er den Inhalt und den harmonischen Zusammenhang des katholischen Glaubens genau aufzeigt. Der „Katechismus der katholischen Kirche“ ist endlich einem jeden Menschen angeboten, der uns nach dem Grund unserer Hoffnung fragt und kennenlernen möchte, was die katholische Kirche glaubt.“ Auf diese Antwort reagieren die anderen Teilnehmer mit Schweigen. Sie haben den Eindruck, dass der Domherr die vorausgegangenen methodologischen Anmerkungen nicht beachtet. DER THEOLOGIEPROFESSOR, um die Äußerungen seines Kollegen im Priesteramt etwas zu relativieren: Jedenfalls sollte nicht der Eindruck entstehen, dass mein Mitbruder beansprucht, alle Aussagen des Katechismus seien der Gegenstand einer einzigen Glaubenszustimmung. In den Definitionen des Glaubens gibt es „Abstufungen“... Der Heilige Geist weht nicht in einförmiger Weise... wenn Sie wollen... Außerdem stehen neben den „Artikeln des Glaubens“ hauptsächlich die Personen, an die wir glauben: Jesus Christus und Gott. Die Artikel des Glaubens tun nichts weiter, als diese Glaubensrelation zu explizieren. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, den katholischen Glauben einzig auf die Annahme von „Dogmen“ zu reduzieren. Das ganze Leben der Kirche würde, falls das nötig wäre, eine solche Deutung widerlegen, auch wenn es wahr ist, dass die katholische Kirche sich mehr als die anderen christlichen Konfessionen und die anderen Religionen seit Jahrhunderten darauf festgelegt hat, „das, was man zu glauben hatte“ in Formeln zu fassen. Übrigens müssen diese dogmatischen Definitionen – wenn man ihren Geist recht verstehen will – ganz im Gegenteil ein klareres Bewusstsein unserer Glaubensbeziehung zu Gott und zu Jesus Christus – 48 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Glaube an Gott durch Jesus Christus –, zulassen, und daher auch, diesen Glauben auf authentischere Weise und mit mehr Freiheit zu leben. Tatsächlich kann der Glaube nämlich, dank dieser Definitionen, auf eine von den Strömungen der menschlichen Religiosität und sektiererischen Entwicklungen unabhängigere Weise gelebt werden. Das „ich glaube dass...“ ist dem „ich glaube an...“ ganz und gar untergeordnet. Das sollte man nie vergessen. Am Beginn einer Diskussion über den Glauben, wie dieser, die hier unter uns an diesem Tisch stattfindet, wäre es gut, denke ich, die Stellung des „Theologen“ in der katholischen Kirche und in seiner Beziehung zur „Welt“ etwas genauer zu umschreiben. Der Theologe ist in erster Linie ein Glaubender. Danach steht er in Glaubensgemeinschaft mit der Kirche und ihrer Überlieferung. Und schließlich gebraucht er alle Möglichkeiten der Vernunft, also die Philosophie und die Wissenschaften, besonders die Humanwissenschaften, um einerseits die Quellen seines Glaubens und deren Bedeutungen besser zu verstehen, und andererseits einen Ausdruck und eine Umsetzung davon vorzuschlagen, die der Welt, welche die seine ist, angepasst sind. DER ANDERE PHILOSOPH Sie haben gesagt, dass unterschieden werden muss zwischen dem „was ich glaube“ und dem „ich glaube an...“. Diese Unterscheidung hat ihre Gültigkeit innerhalb der Einheit dieser beiden Aspekte des Glaubens. Die „dogmatischen Lehrsätze“ falten den existentiellen Reichtum der „Glaubensbeziehung“ aus. Dieses Ausfalten kann, wohlverstanden, für den gelebten Glauben eines jeden Glaubenden sehr erleuchtend wirken, wenn er darum bemüht ist, der katholischen Rechtgläubigkeit gemäß und nur so „an Gott und an Jesus Christus“ zu glauben. Man kann nun aber noch zwei andere Fälle logisch betrachten. Den des Menschen, der außerhalb der katholischen Lehrmeinung darum bemüht ist, durch Jesus Christus an Gott zu glauben; und jenen anderen Menschen, der nicht nur darum bemüht ist, gemäß der katholischen Lehrmeinung zu glauben, sondern außerdem noch dafür Sorge trägt, dass diese Lehrmeinung der Wirklichkeit einer Offenbarung Gottes durch Jesus Christus so nahe wie möglich kommt. Daher also ist es überdies angemessen, zwischen „dem gelehrten katholischen DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 49 Glauben» und „der Offenbarung Gottes durch Jesus Christus“ zu unterscheiden. Hier beziehe ich mit ein, dass Ihr Kollege gut erklärt hat, dass die Offenbarung uns ohne ihre Ausdrucksweisen in den Kirchen nicht zugänglich wäre. Und doch lässt sich die Wahrheit der Offenbarung nicht auf ihre dogmatischen Ausdrucksweisen reduzieren. Es ist, wie er gesagt hat: Das theologische Denken bewegt sich in einem hermeneutischen Zirkel. Nun ist es aber so, dass jede Hermeneutik im Bezug auf eine Auffassung vom Sein, von der Wirklichkeit, von dem, was der Mensch ist, und von dem, was man über Gott denkt, entwickelt wird. Kurz gesagt: Jede Theologie wird, ob sie will oder nicht, und ob sie es wahrhaben will oder nicht, im Bezug auf eine Ontologie oder Metaphysik erarbeitet. Und die schlimmste aller Situationen ist die, dies nicht zuzugeben und die von der Theologie benutzte Ontologie nicht genau und klar zu kennen... Es kommt hinzu, dass es nicht möglich ist, die Wahrheit der Offenbarung dadurch in Worte zu fassen, dass man sich der Wahrheit ihrer Ausdrucksweise dadurch vergewissert, dass man sie objektiv der Offenbarungstatsache selbst gegenüberstellt. Dies würde nämlich tatsächlich voraussetzen, dass die Gläubigen (oder einige Bevorzugte unter ihnen) eine unmittelbare Kenntnis Gottes selber besäßen. Dies ist unmöglich, sogar in der negativen Form, die in Irrtumsfreiheit bestehen würde und die die Unmöglichkeit, alles zu begreifen, nicht ausschließt... Laut Platon hat Sokrates bereits eine Art „Führung“ durch seinen „Schutzgeist“, seinen „daimôn“, zur Sprache gebracht. Aber dabei handelte es sich um nichts weiter als eine Art der imaginären „Verdoppelung“, um eine normale intellektuelle Verhaltensweise verständlich zu machen. Daher muss man also die Wahrheit ihrer Ausdrucksweise in Funktion der Wahrheit der angewendeten Philosophie beurteilen. Aber auch hier kann die Philosophie als solche, selbst die vollkommenste und am weitesten entwickelte, nicht selbst darüber urteilen, wie und ob sie der Offenbarung Gottes angemessen ist. Der Philosoph ist sich nämlich bewusst, dass er keine unmittelbare Gotteserkenntnis besitzt. Kein Mensch kann dies unter irgendeiner Form beanspruchen, nicht einmal aufgrund irgendeiner besonderen Zuwendung Gottes: Denn Gott handelt nicht mit wilder Phantasie, am Rande seines allumfassenden bleibenden schöpferischen Wirkens. Außerdem gibt es keine für den Glauben zuständige Autorität, die dies tun 50 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN könnte, indem sie sich in eine Vorrechtsstellung erhebt, die es ihr dann erlauben würde, ein philosophisches System mit der Wirklichkeit der Offenbarung zu vergleichen. Die Philosophie kann also einzig durch die genaue Untersuchung der zum Aufbau des menschlichen Bewusstseins gehörenden Glaubensfähigkeit darüber urteilen, ob sie selber einer Offenbarung angemessen ist. Einzig von da aus kann der Theologe sich, mit Hilfe der Philosophie, darauf zubewegen, der Offenbarungswirklichkeit einen angepassten Ausdruck zu verleihen. Jeder Mensch ist in seiner Situation von geschichtlicher Kontingenz ein Glaubender, und von Natur aus Philosoph. Daher ist jeder wirklich glaubende Mensch auch wirklich, durch eine dem Personsein eigene Fähigkeit und ohne innere intellektuelle Persönlichkeitsspaltung, Philosoph, und automatisch „Theologe“. Er ist ein spontaner „Theologe“, in dem „methodologischen“ Sinn, den wir diesem Ausdruck geben, obwohl er nicht „offizieller oder institutionsgebundener Theologe“ ist; so, wie auch jeder Mensch intuitiv und spontan Philosoph sein kann, obwohl er nicht offiziell „Doktor der Philosophie“ ist. Durch diese Tatsache selbst ist es gegeben, dass der glaubende Theologe grundsätzlich über die Wahrheit-in-sich der Offenbarung urteilen kann, ohne eine unmittelbare oder außerordentliche Kenntnis dieser Offenbarung zu besitzen. Er wird dies gültig und einwandfrei vollziehen, insofern seine „Offenbarung“ durch eine doppelt fähige Philosophie einwandfrei ausgedrückt werden kann: durch eine Philosophie, die sowohl den Glaubensakt genau analysieren, als auch eine Ontologie erarbeiten kann, welche die Bedingungen der Möglichkeit dieses Glaubensaktes im Menschen und der Offenbarung in Gott gültig darstellen kann. Die Philosophie kann also die Bedingungen der Verständlichkeit und der Möglichkeit einer authentischen Offenbarung bestimmen, indem sie eine interpersonale und der „glaubenschaftlichen“ Dimension des menschlichen Bewusstseins Platz einräumende Ontologie vorlegt. Dies tut sie nicht durch reflexive, erst recht nicht durch experimentelle Erkenntnis dieser Offenbarung Gottes, was ja grundsätzlich unmöglich ist; sondern durch die reflexive Analyse der konstitutiven Aufnahmefähigkeit gegenüber dieser Offenbarung, einer Aufnahmefähigkeit, die notwendigerweise als solche DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 51 geschaffen wurde, von einem Schöpfer, dessen Sein darin besteht, sich persönlich zu offenbaren. DIE VERSTÄNDLICHKEIT EINER OFFENBARUNG SETZT DIE VERNUNFTGEMÄßHEIT DES GLAUBENSAKTES VORAUS DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Um in dieser Art zu denken, müssen Sie, mein Herr, die vollkommene Kohärenz des Handelns Gottes postulieren, nämlich eine bestimmte Ähnlichkeit zwischen schöpferischem und offenbarendem Wirken, ein Ineinander-Übergehen von schöpferischem und offenbarendem Wirken. Oder noch grundlegender: Die Unterscheidung zwischen Schöpfung und Offenbarung hat ausschließlich vom Menschen aus betrachtet einen Sinn. In Gott sind Schöpfung und Offenbarung eine einzige Tätigkeit, so dass man durchaus sagen kann, dass die Schöpfung bereits eine Art Offenbarung ist, und dass die Offenbarung in Jesus, also die Fleischwerdung des Wortes Gottes, genau der Schöpfung entspricht. Können Sie dieses Postulat rechtfertigen, obwohl, wie Sie sagten, kein Mensch Gott erfahren oder eine unmittelbare Gotteserkenntnis besitzen kann? DER ANDERE PHILOSOPH Das trifft genau zu. Das, was ich gesagt habe, impliziert dieses Postulat. Es ist ein Postulat der Gleichartigkeit in der Differenz von Schöpfung und Offenbarung. Wie kann man das rechtfertigen? Aufgrund des vom menschlichen Geist gestellten Anspruches auf Verständlichkeit kraft des Prinzips der universellen Intelligibilität. Dieses kann gemäß den verschiedenen Erkenntnismethoden verschiedene Formen annehmen. In den Naturwissenschaften begegnet es uns in der Gestalt des Determinismus; in der Mathematik (den Mathematiken) und der Logik (den Logiken) – in der Einzahl oder Mehrzahl! – in jener einer kohärenten Konstruktivität; in der Philosophie in der Gestalt des Prinzips des zureichenden Grundes, formuliert durch Leibnitz, oder in seiner klassischen aristotelischen und thomistischen Gestalt, als Prinzip der Verständlichkeit alles Seienden. Omne ens est intelligibile. Und Gott ist das höchste Erkennbare. – Sie sehen, man sollte nicht alle Aussagen der klassischen Philosophie ablehnen... Es reicht aus, das, was sie zu analysieren unterlassen hat, hinzuzufügen, 52 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN und dann eine Synthese neu zu erarbeiten, die mehr Dinge einschließt und auf einem anderen Unterbau ruht... Wobei man natürlich nicht daran vorbeikommt, den Sinn des von ihr bereits Systematisierten zu verändern. Tatsächlich hat nämlich eine Aussage eines philosophischen Systems ihren vollen Sinn erst durch die Beziehung zur Ganzheit dieses Systems... DER DOMHERR Und dieses Prinzip können Sie begründen? DER ERSTE PHILOSOPH Es handelt sich hier um ein erstes, oder, wenn Sie es vorziehen, letztes Prinzip. Es ist das Prinzip der Möglichkeit als solcher aller Erkenntnis und Beweise. Der menschliche Geist besitzt davon im Bewusstsein seiner eigenen Wirklichkeit eine intuitive und unmittelbare Kenntnis. Übrigens ist die Philosophie nichts weiter als die Explizierung dieser Intuition... DER DOMHERR Wenn ich recht verstehe, dann beansprucht die Philosophie, wenn es darum geht, den katholischen Glauben zu beurteilen, eine dominierende Stellung... Verhält sie sich den anderen Religionen gegenüber genauso? Diese Magd der Theologie lässt sich ihre Dienste teuer bezahlen... Man müsste eher von einer „Gebieterin“ sprechen... DER MODERATOR Warum nicht? Es gibt charmante Gebieterinnen... und wenn sie obendrein die rechtmäßige und einzige Gattin ist... dann sollte man sich nicht beklagen... (Vereinzeltes Schmunzeln... um sich danach wieder besser auf das Thema zu konzentrieren...) DER THEOLOGE, der Exeget und Historiker ist: Im Laufe der Geschichte sind diese Dienerinnen allerdings nicht immer dermaßen angenehm gewesen... Wegen ihrem Mangel an Fähigkeiten wurden sie zur Ursache mehrerer theologischer Streitigkeiten... Besonders jener um Arius und um Nestorius... Die Bischöfe der Synode haben 1985 eine Instruktion verfasst – Sie haben diese in Erinnerung gerufen, Herr Kanonikus – „Die DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 53 Darlegung muss biblisch und liturgisch gehalten sein, die rechte Lehre bieten und zugleich dem heutigen Leben angepasst sein.“ Man könnte meinen, dass die Bischöfe damit einen Hinweis geben, um unter all diesen Mägden jene zu erkennen, die den begehrten Titel „Braut“ verdienen würde. „Biblisch und liturgisch...“ DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE In der Tat! Diese gute Dienerin, die zur Braut erhoben wird, wäre eine Philosophie, die der Tatsache der Erfahrung des biblischen und liturgischen Glaubens Rechnung trägt, und deren Verständlichkeit zum Ausdruck bringt. Eine wahre Braut achtet die „Wirklichkeit“ ihres Bräutigams, des Offenbarers, und erwirbt eine angemessene Kenntnis seiner. Die Wirklichkeit der Offenbarung ist Jesus Christus, vermittelt durch das Zeugnis der Kirchen. Eine durch eine ganzheitliche und daher auch „glaubenschaftliche“ – hier nehme ich den Sprachgebrauch Herrn Debruquels wieder auf – Philosophie erleuchtete Glaubenszustimmung gelangt zu einer angemessenen, wenn auch unfertigen Erkenntnis seiner. Hier befinden wir uns mitten in der biblischen und evangelischen Zeichenwelt: Israel, die Braut des Ewigen Gottes; die Kirche, Braut Christi... Die Ordnung des Wirklichen und jene der Erkenntnis fügen sich hier wieder zusammen, indem sie in einer Art Identität eine Beziehung der Offenbarung und des Glaubens bilden, eine interpersonale Beziehung zwischen dem Offenbarer und dem Glaubenden. Zusätzlich brauchen wir eine Philosophie, die dazu geeignet ist, die Erkennbarkeit dieser Beziehung zum Ausdruck zu bringen, damit die Beziehung der Braut zu ihrem göttlichen Bräutigam authentisch sei! DER ERSTE PHILOSOPH Mit dieser Sicht der Dinge kann man auch bei einem klassischen Philosophen kein Missfallen erregen. Es ist ein Prinzip der Epistemologie oder der allgemeinen Erkenntnistheorie, die Ebene der Wirklichkeit klar von jener des Erkennens zu unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die ontologische Wahrheit, also die Wirklichkeit, insofern sie erkennbar ist; auf der anderen Seite die logische Wahrheit, also unsere mehr oder weniger angemessene Erkenntnis dieser Wirklichkeit. Dies bewahrheitet sich in den Naturwissenschaften, in der Mathematik und genauso in unserer Disziplin, 54 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN der Philosophie. Und diese Unterscheidung schließt nicht aus, dass das erkennende Subjekt gelegentlich oder sogar oft selber, zumindest teilweise, zum Gegenstand seines Erkennens gehört. Aber ist es im Fall eines Glaubens und einer Offenbarung ganz genauso? Befindet man sich, wenn es „Offenbarung“ gibt, nicht bereits im Bereich des Wortes, des Gesprächs und daher direkt innerhalb des Bereiches der „logischen“ Wahrheit? Ist die Offenbarung nicht bereits – nehmen wir eben an, dass es eine Offenbarung Gottes durch Jesus Christus gibt und dass diese Offenbarung nicht in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie fällt – ein „Wort“, das uns die „Wahrheit“ über eine „Wirklichkeit“ sagt? Wir befänden uns daher weniger in einer Situation der Suche nach der Wahrheit über eine andere Wirklichkeit, als vielmehr in einer Situation der Deutung einer bereits zum Ausdruck gebrachten Wahrheit? Es gibt dabei so etwas wie eine Identität des Seins und des Erkennens, welche keine Ontologie der Glaubensbeziehung voraussetzt, sondern lediglich eine „Deutung“ des biblischen Textes, von der Art, wie sie vielen Exegeten aus jüdischen Umfeldern geläufig ist. DER ANDERE PHILOSOPH Es sei denn, dass dieses „Offenbarungswort“ mehr als nur ein Wort, und in sich selber eine „lebendige Wirklichkeit“ wäre! Sich einen Gott vorzustellen, der den Menschen auf der Ebene der Sprache beeinflusst, ist ein Anthropomorphismus, den es noch zu entschlüsseln und erklären gilt. Diesen Anthropomorphismus in seinem wörtlichen psychologischen Sinn zu verstehen ist sicherlich ein Irrweg... Und daher bleibt meine Unterscheidung zwischen einer Offenbarungswirklichkeit und der Suche nach ihrem Sinn mit Hilfe einer angemessenen Philosophie gültig. Ich bin mir bewusst, dass man heute dahin tendiert, alles deuten zu wollen, und nicht im Sinne eines „subjektiven Urteils“, sondern in dem Sinne, dass man jegliche Form der Erkenntnis, auch die naturwissenschaftliche, deuten möchte. Daher ziehe ich es für meinen Teil vor, zu bedenken, dass die Erkenntnis, oder besser: dass jede Form der Erkenntnis darin besteht, mit bleibender Gültigkeit und der eigenen Methode eines jeden folgend, eine spezifische Erkennbarkeit zu entdecken, deren Konformität mit der Wirklichkeit in gleichbleibender Weise wahrgenommen werden kann. Die Erkenntnis einer Offenbarung kann sich dieser grundlegenden Führung durch die Vernunft nicht entziehen. Meine Antwort ist DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 55 ein bisschen voreilig. Dafür bitte ich um Entschuldigung, aber wenn sie weiter ausgeführt werden müsste, dann würde uns das mitten in eine Vielzahl von Diskussionen über die Natur der Erkenntnis führen. Diese sollten wir zweifellos im einen oder anderen Moment unserer Gespräche über den Glauben skizzieren... besonders, um die Natur der im Alten und jener im Neuen Testament formulierten Offenbarung festzustellen. Außerdem möchte ich meinem Kollegen für seinen Beitrag danken, der tatsächlich unsere Aufmerksamkeit auf die Existenz gewisser unbewusster, aber richtungsweisender Voraussetzungen unserer Diskussion lenkt. DER DOMHERR Aber wenn die Philosophen davon ausgehen, dass jegliche Erkenntnis eine Erfindung ist, dann bewegen wir uns nicht mehr im Bereich des Glaubens. Der Glaube erfindet die Offenbarung nicht, sondern er empfängt sie. DER ANDERE PHILOSOPH Sicherlich, Herr Kanonikus: Eine Offenbarung wird im Glauben „empfangen“. Es liegt mir fern, eine derartige Selbstverständlichkeit in Abrede zu stellen. Außerdem wäre es angebracht, die „Empfangbarkeit“ einer Aussage der Offenbarung festzustellen. Die diesen Wirklichkeiten zugeordneten Begriffe sind nicht so klar, wie es auf den ersten Blick scheint. Wenn eine Offenbarung also „empfangen“ wird, und das sogar mit Dankbarkeit und Anerkennung – denn der Glaube enthält Dankbarkeit; ich sage Dankbarkeit und nicht Unentgeltlichkeit – so muss derweil doch deren Verständlichkeit erfunden werden, eine Verständlichkeit, die zunächst in sich selbst kohärent ist, wohlverstanden, und dann muss diese „Erfindung“ der „Wirklichkeit“ der tatsächlich in einem durch den Schöpfer-Offenbarer vorgeformten „Glaubensakt“ empfangenen „Offenbarung“ gegenübergestellt werden. DER THEOLOGIEPROFESSOR Sie argumentieren genau wie ein Philosoph! Sie wollen den Dingen auf den Grund gehen und alles in klare Begriffe fassen. Man muss aber auch dem symbolischen Denken, das sehr reich an Bedeutungsinhalten ist, Beachtung schenken. Es ist in der Sprache des Glaubens sehr wichtig und öffnet der Deutung ein weites Feld, in der Tat! Die kirchlichen Dokumente dienen unter 56 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN anderem auch der Regelung dieses Denkens, von dem sie selber ausführlich Gebrauch machen. Die Philosophen mit ihrer Sorge um Klarheit werden daran also immer etwas auszusetzen haben... DER ERSTE PHILOSOPH Sie werden uns doch wohl nicht dafür tadeln, dass wir in unseren Äußerungen genau sein wollen! DER THEOLOGIEPROFESSOR Nein, nein, ganz sicher nicht! Das ist nicht meine Absicht... DER MODERATOR Die Zeit unserer Zusammenkunft neigt sich dem Ende zu. Würden Sie bitte kurz antworten und dann die wichtigsten diskutierten Gedanken zusammenfassen? Herzlichen Dank... DER THEOLOGIEPROFESSOR Ja,... ich werde es versuchen... Als Philosophen haben Sie es sich zur Aufgabe gemacht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist nötig. Und wenn Ihr Philosophen es nicht tun würdet! Wer dann? Daher sind alle hier Anwesenden mit eurer Sorge um Genauigkeit einverstanden, da der Theologe der erste sein wird, der davon profitiert... Sie sehen also, dass wir Theologen die Philosophie nicht von uns weisen... wir bedienen uns ihrer. Aber wir „machen“ keine Philosophie..., damit will ich sagen, dass wir, in unserer Eigenschaft als Theologen, keine philosophischen Systeme „konstruieren“, sondern jene gebrauchen, die wir vorfinden, vorausgesetzt natürlich dass sie, eine zureichende menschliche Standhaftigkeit (Standhaftigkeit ] Fundierung) aufweisen, um die Übersetzung der Wahrheiten der Bibel, des Neuen und des Alten Testamentes, für diejenigen, deren geistige Nahrung sie darstellen, zu erlauben. Wohlverstanden: Der Mensch, der Theologe ist, kann auch dann zum „Philosophen“ werden, wenn die bestehenden und ihm zur Verfügung gestellten Philosophien ihm nicht vollständig entgegenkommen. Denken wir etwa – um nur eines und nicht das einzige Beispiel zu nennen – an die philosophierenden Theologen des Mittelalters. So haben die frühen Kirchenväter vieles aus stoischem Gedankengut geschöpft, da dieses das am weitesten verbreitete war. Mein Kollege, der Historiker, hat darauf hingewiesen, dass DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 57 die Theologen, besonders Augustinus, sich von platonischen Vorstellungen inspirieren ließen. Diese sind reichhaltiger und kamen dem bereits entwickelten theologischen Gedankengut eher entgegen. Relativ spät, nämlich im Mittelalter, griffen die Theologen auf aristotelische Argumentationen zurück; dies betrifft vor allem Thomas von Aquin. Im Verständnis des christlichen Glaubens setzte sich eine noch größere Besorgtheit um Genauigkeit durch. Thomas hat das System des Aristoteles sogar vervollkommnet. Heutzutage lassen sich Theologen, wenigstens teilweise, zusätzlich von modernen Autoren inspirieren... Es handelt sich um das, was wir als „Inkulturation“ oder Angleichung der Lehre der Kirche an die Welt, in der wir leben, bezeichnen. Dies bewahrheitet sich nicht nur in der westlichen Welt, sondern auch in den großen Kulturen Chinas, Japans und Indiens. Und die katholische Theologie in Afrika greift auch auf die Erkenntnisse und Weisheiten der Alten zurück... Und trotzdem ändert sich die christliche – biblische und evangelische – Botschaft nicht. Aber sie stellt sich in unterschiedlicher Weise dar, in Funktion der Völker und Kulturen, damit diese mit ihrem Glauben antworten können, ohne dabei ihre eigenen menschlichen Errungenschaften in Abrede stellen zu müssen. Im Grunde genommen ist die Theologie nicht an eine bestimmte Philosophie gebunden. Es ist aber wohlgemerkt nötig, dass diese Philosophien nicht zu grundsätzlich und in zu vielen Punkten den großen Ideen der christlichen Botschaft widersprechen. Ein Mindestmaß an Übereinstimmung ist wohlgemerkt vorausgesetzt. Der Theologe nimmt daher nicht genau dieselbe Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und seiner Erkennbarkeit vor wie Ihr Philosophen. Er wird den Text weniger auf eine ontologische Gegebenheit beziehen, als vielmehr auf eine kulturell-geschichtliche Gegebenheit. Dabei ist er sich allerdings bewusst, dass jede Kultur ihren Blick auf eine „ontologische Gegebenheit“ ausrichtet, und dass jeder Versuch, sich dieser ontologischen Wirklichkeit bewusst zu werden, eine Art besonderer Kultur begründet und sich in ihr entwickelt. Auch kann er nicht anders, als jede philosophische Bemühung zu begrüßen. Neben dem lehrenden Theologen wie mir, mit der Weitergabe einer überlieferten Lehre beauftragt, gibt es den Theologen, der Exeget und Historiker ist; er ist für die Quellen der Offenbarung zuständig, und den Pastoraltheologen und Missiologen, der den 58 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Sinn der Offenbarung in andere Kulturen überträgt. Es gibt auch den noch weiter spezialisierten Theologen, der, wie mein anderer Mitbruder, für das vertiefte Verständnis der Offenbarung zuständig ist. Er interessiert sich in besonderer Weise für erneuernde philosophische Forschungen, die ihm diese Vertiefung möglich machen. Vielleicht wird er einen Weg finden, neuartigen, von den Gläubigen gehegten Erwartungen entgegenzukommen. Dann wird er für pastorale und exegetische Perspektiven Aufmerksamkeit zeigen. Und wenn diese Erneuerung bei den Gläubigen ein gutes Echo findet, werden seine theologischen Überlegungen in der gebräuchlichen Glaubensunterweisung ihren Platz finden. Die Frage unserer Kollegen hat uns also auf raue Pfade geführt... Glaube und Offenbarung, Glaube und Vernunft, Glaube und Kultur, Glaube und Theologie, Glaube und Erkenntnis, Glaube und Freiheit, Glaube und die Natur des Menschen, Glaube und Geschichte... Kurz gesagt: „der Glaube, die Menschen und Gott...“. Vielleicht ist es an der Zeit, die Herausforderung, die in diesen Geheimnissen liegt, anzunehmen. EINE FRAU Ihrer Aufzählung müsste noch „der Glaube und die Religionen“ hinzugefügt werden. Als Historikerin stelle ich fest, dass der Glaube der Menschen nicht in einer einzigen Gestalt zutage tritt, sondern im Rahmen mehrerer Religionen. Nicht nur das, was den Leuten zu glauben angeboten wird, ändert sich, sondern auch ihr subjektives Glaubensverhalten. Dies reicht von Menschenopfern an eine Gottheit bis hin zu mystischen Extasen und anderen paranormalen Phänomenen. Je mehr Letztere die einfachen Menschen beeindrucken, umso leichter vermischen sie sich mit religiösen Überzeugungen und mit Religion überhaupt. DER THEOLOGIEPROFESSOR Die Frage unserer Kollegen bezüglich des römischen Katechismus ist also nichts weiter als der Startschuss für Fragestellungen, die den Rahmen des Katholizismus sprengen und jede beliebige Religion betreffen. EINE ZWEITE FRAU DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES 59 Ich bin Lutheranerin, und von Beruf Anwältin. Ich bin hier in Gesellschaft zweier Freundinnen, eine von ihnen ist Pastorin in einer großen Provinzstadt. Da es scheint, dass unsere Diskussionen über den Glauben auch andere Religionen außer dem Katholizismus betreffen müssen, würde ich gerne wissen, ob es in unserer Gruppe Männer oder Frauen anderer Religionen gibt, zum Beispiel Angehörige des Judentums oder des Islam? In unseren ökumenischen Zusammenkünften mit den Katholiken richten wir unsere Aufmerksamkeit auf alles, was die institutionellen Spaltungen hinter sich lassen könnte. Daher interessiert mich ihre Meinung. EINE DRITTE FRAU Mein Mann und ich sind Juden. Er ist Kardiologe, ich Gynäkologin. Er nimmt zurzeit an einem anderen Kolloquium teil; an jenem über „medizinische Praxis und Ethik“. Da auch er an religiösen Fragen interessiert ist, und ethische Fragen auch mir wichtig sind, haben wir uns die Arbeit geteilt... Jeder nimmt an einem anderen Kolloquium teil. Ich werde ihn danach über die Arbeit dieser Gruppe informieren, und er wird mir über die Arbeit seiner Gruppe berichten... Ich könnte mit ihm darüber reden... Vielleicht könnten wir die Gruppe tauschen... DER ERSTE PHILOSOPH Und ein Vertreter des Islam? Keiner von uns! Ich werde also meinen Kollegen für diesen Nachmittag einladen, falls ich ihn sehe. DER MODERATOR Ich mache darauf aufmerksam, dass es an der Zeit ist, diese erste Zusammenkunft zu beenden. Danken wir einander für diesen erfolgreichen Gedankenaustausch. Wir treffen uns heute Nachmittag um 16 Uhr wieder in diesem Raum. ZWEITE BEGEGNUNG DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN DER MODERATOR Ich begrüße die neu zu uns gestoßenen Teilnehmer. Herzlich willkommen! Erlauben Sie mir einige Worte, um sie über unsere ersten Diskussionen ins Bild zu setzen. Die Frage, anhand derer man alles zusammenfassen kann, war: „Wie kann man den Wahrheitswert einer Doktrin des Glaubens beurteilen?“ Der Ausdruck „Doktrin des Glaubens“ wurde verstanden als gleichbedeutend mit „Inhalt, Gegenstand, Botschaft und Lehre einer Offenbarung“, insofern man dieser Offenbarung anhängt. Der Begriff „Glaube“ wurde von den Teilnehmern im Allgemeinen als gleichbedeutend mit „Akt, innerer Weg, Verhalten und Zustimmung des Glaubens“ an den Offenbarer und seine Offenbarung verstanden. Die Begriffe „Glaube“ und „Offenbarung“ setzen sich gegenseitig voraus und stehen in einem dermaßen engen Zusammenhang, dass die unkritische Umgangssprache sie vertauscht und zuweilen den einen durch den anderen ersetzt. Aber die Zweideutigkeiten, die davon herrühren können, lassen sich rasch beseitigen. Unsere erste Zusammenkunft hat keine vollständige Antwort auf die Frage nach der Wahrheit oder der Falschheit einer Offenbarung erbracht. Jedoch zeichnet sich eine Tendenz ab. Man kann die Frage ausschließlich durch Rückgriff auf außerhalb dieser Offenbarung liegende Gründe beantworten; Gründe aus dem Bereich der logischen Kohärenz, der Vereinbarkeit mit den Wissenschaften, der Übereinstimmung mit der Philosophie, und vor allem mit einer reflexiven Analyse des menschlichen Glaubensaktes. 62 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Wenn wir also auf die Frage „Wie kann man den Wahrheitswert einer Offenbarungslehre beurteilen?“ antworten wollen, müssen wir diejenigen Lehren untersuchen, die sich uns als solche darbieten, und diese Analyse des Glaubensaktes durchführen. DER ERSTE PHILOSOPH Ich hatte die Gelegenheit, meinen muslimischen Freund zu treffen, einen Arabischprofessor an einem Gymnasium. Er war damit einverstanden, heute Nachmittag seinem Kolloquium über „Orientalische Einflüsse in der westlichen Literatur“ fernzubleiben. Dafür danke ich ihm. Ich hoffe, dass er uns das Offenbarungsverständnis eines Muslims erklärt, und was „Glaube“ für ihn ist, da die Muslime sich ja im Wesentlichen als „Glaubende“ bezeichnen. Ich habe ihn darüber ins Bild gesetzt, dass die Zuhörerschaft sehr kritisch eingestellt ist... Er hat mir geantwortet, dass ihm das keine Angst macht... und dass die Lesung (oder Koran, Qur’ān) alle möglichen Einwände voraussieht und darauf antwortet. DER MODERATOR Ich gebe das Wort an Sie, da wir gerne wissen möchten, was ein gebildeter Muslim unter „Offenbarung Gottes“ und unter „glauben an diese Offenbarung“ versteht. Anschließend ist Gelegenheit, Fragen zu stellen. DAS OFFENBARUNGSVERSTÄNDNIS DES KORAN DER ARABISCHPROFESSOR Zuerst wollen wir unseren Blick auf das lenken, was die Offenbarung nicht ist. Dazu lesen wir eine französische Übersetzung von Sure 42, die als „die Beratung“ benannt wird, Verse 51 und 52: 51 — „Was [Welche Fähigkeit] besitzt der Mensch, damit Gott zu ihm spreche? Wenn [es] nicht durch Offenbarung [wäre], oder durch einen Schleier hindurch, oder dass Er einen Engel aussendet, der dann offenbart, auf seinen Befehl hin, das, was Er will. Er ist erhaben, weise. Das ist Wahrheit! 52 — Und es ist so, dass Wir durch Unser Wollen dir einen Geist [das Wesentliche der Religion] offenbart haben. Du kanntest weder das Buch noch den Glauben. Wir haben daraus ein Licht DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 63 gemacht, mittels dessen wir führen werden, wen wir als Unsere Sklaven wollen. Auch du leitest auf einem geraden Weg“. ------------------(51 — „Und es steht keinem Menschen zu, dass Gott zu ihm spricht, es sei denn durch Offenbarung oder hinter einem Vorhang, oder indem Er einen Boten sendet, der (ihm) dann mit seiner Erlaubnis offenbart, was Er will. Er ist erhaben und weise. 52 — Und so haben Wir dir Geist von unserem Befehl offenbart. Du wusstest nicht (vorher), was das Buch und was der Glaube ist. Und doch haben wir es zu einem Licht gemacht, mit dem Wir recht leiten, wen von unseren Dienern wir wollen. Und wahrlich, du führst zu einem geraden Weg“. Aus: Der Koran: arabisch-deutsch, Bd. 11, S. 238f. Übers. Adel Theodor Khoury) ------------------Gott ist transzendent. Niemals gibt es unmittelbare Beziehungen, weder vom Menschen aus zu Gott, noch von Gott aus zum Menschen. Beziehungen gibt es nur durch Mittler. Und doch ist Gott dem Menschen näher als seine Halsschlagader, wie es die Sure Qāf — Qāf ist ein Buchstabe des arabischen Alphabetes — sagt; es ist die fünfzigste Sure. In Vers 16 lesen wir: „Und gewisslich haben Wir den Menschen erschaffen, und Wir wissen, was seine Seele ihm ins Ohr flüstert. Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader“. ------------------(„Wir haben doch den Menschen erschaffen und wissen, was ihm seine Seele einflüstert. Und Wir sind ihm näher als die Halsschlagader.“ übers. A. T. Khoury, Der Koran Bd. 11, S. 428) ------------------Immer schon hat Gott aus allen Völkern Menschen ausgesucht, die seine göttlichen Botschaften empfangen sollten. Gott beauftragt dann himmlische Mittlerwesen, die Engel, und vor allem den Erzengel Gabriel (dieser Name bedeutet: „Macht Gottes“), seine Botschaft den Menschen zu überbringen. Diese wiederum teilen diese Botschaften ihren Völkern mit. So sind sie die Propheten Gottes. Mohammed hat gesagt, dass die Offenbarung der Botschaft bei ihm auf mehrere Weisen stattfinden konnte. Bald nahm der Engel Gabriel die Gestalt eines Menschen an und sprach zu ihm, 64 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN wie ein Mensch zu einem anderen Menschen spricht. Bald hatte er eine besondere Gestalt mit Flügeln. Mohammed merkte sich alle Worte, die der Erzengel an ihn richtete. Gelegentlich, in einem in Extase in seinen Ohren wahrgenommenen Lärm, prägten sich die Worte in sein Gedächtnis ein. Anschließend erinnerte er sich an alles. Begleiter Mohammeds haben bezeugt, dass, „der Prophet schwitzte, ja sogar am aller kältesten Tag, wenn eine Offenbarung an ihn erging“. Andere berichten, dass „der Prophet“ bei den Offenbarungen „so schwer wurde, dass sein Kamel sich lieber niederkniete. Wenn es sich dem widersetzte, bogen sich seine Beine, und man fürchtete, dass sie brechen könnten“. Ein anderer Begleiter erzählt, dass eines Tages in einem Saal der Andrang der Menschenmasse den Propheten dazu gezwungen hatte, sich auf seinen Oberschenkel zu setzen. Plötzlich wurde Mohammed in den Offenbarungszustand entrückt, und sein Begleiter fühlte ein dermaßen drückendes Gewicht, dass ihm der Oberschenkelknochen zu brechen drohte. Er gibt zu, dass er Schmerzensschreie ausgestoßen und sein Bein weggezogen hätte, wenn es sich nicht um den Boten Gottes gehandelt hätte. Khadija, die erste Frau des Propheten, überzeugte sich auf ihre frauliche Weise von der Echtheit der Offenbarung. Eines Tages, als Mohammed einen Engel sah, näherte sie sich ihrem Mann, und während sie ehrfurchtsvoll neben ihm stehenblieb, sah Mohammed immer noch den Engel. Aber als sie sich liebevoll seiner bemächtigte, verschwand der Engel. Daraus schloss sie, dass es sehr wohl ein Engel gewesen war, denn der Teufel hätte nicht das Taktgefühl besessen, sich in diesem intimen Moment des Ehelebens zurückzuziehen. Die Muslime betrachten den „Qur’ān“ daher als „das ungeschaffene Wort Gottes“. Mohammed „sagt nichts über ‘seine eigene’ religiöse Bewegung“, wie der Qur’ān sagt, in Sure 53, die als „der Stern“ benannt wird, Vers 3 und folgende. Diese Sure datiert vor dem „Higra“, der „Auswanderung“ Mohammeds und seiner Begleiter aus Mekka nach Medina. Ich übersetzte den an vielen Stellen elliptischen Text, indem ich ihn so erkläre, dass ihr ihn verstehen könnt. Es ist der Engel, der spricht: „Als Erstes, der Name Gottes, der Unendlich Barmherzige, der Ganz-Barmherzigkeit. DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 1 — (Ich schwöre) Horizont); 65 Bei dem Stern, wenn er niedersteigt (am 2 — Euer Gefährte [Mohammed] ist nicht fehlgeleitet und irrt sich nicht; 3 — und er spricht nicht aus (psychischem) Drang: 4 — Es ist nichts als reine geoffenbarte Offenbarung. 5 — Ein mit Macht (begabter) Starker [der Engel Gabriel] hat ihn belehrt, 6 — der, voll von Galle [mit edler Erscheinung] sich niederlegelassen hat, 7 — so dass er [Mohammed] sich am obersten Horizont befand [er schaute zu einem höheren Punkt des Himmels]; 8 — dann hat er [der Engel Gabriel] sich genähert (indem er niederstieg), dann (blieb) er in der Schwebe. 9 — Er [Mohammed] war also zwei Bogenlängen oder noch weniger weit entfernt. 10 — Und er [der Engel Gabriel] offenbarte also Seinem [Gottes] Sklaven das, was er offenbarte. 11 — Das Herz (des Mohammed) hat betreffend dessen, was er gesehen hat, nicht gelogen. 12 — Werdet ihr an seiner Stelle ergründen [in Zweifel ziehen], was er sah? 13 — Und ganz sicher hatte er [Mohammed] es bereits gesehen [den Engel Gabriel] anlässlich eines anderen Niedersteigens [des Engels Gabriel], 14 — nahe beim Brustbeerbaum der äußersten Grenze [nahe bei einem dornigen Strauch, der an der äußersten Grenze zwischen dem Pflanzenreich, welches als Symbol für die menschliche Welt steht, und der Wüste, die durch ihre unerkennbare und undurchdringbare Weite das Göttliche symbolisiert, wächst. Die Vision Mohammeds ist die äußerste Grenze dessen, was dem Menschen bei seiner Annäherung an Gott zugestanden ist.] 15 — dort in der Nähe befindet sich das Paradies der Zuflucht: 16 — zu dem Zeitpunkt, wo der Brustbeerbaum bedeckt war (mit Schatten?)... 17 — Der Blick (Mohammeds) schweifte nicht ab und war nicht widerspenstig. 18 — Ganz bestimmt hat er einige der wunderbarsten Zeichen seines Herrn gesehen.“ ------------------(1 Beim Stern, wenn er fällt! 66 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 2 Euer Gefährte geht nicht irre und ist nicht einem Irrtum erlegen, 3 und er redet nicht aus eigener Neigung. 4 Es ist nichts anderes als eine Offenbarung, die offenbart wird. 5 Belehrt hat ihn einer, der starke Kräfte hat, 6 der Macht besitzt. Er stand aufrecht da, 7 am obersten Horizont. 8 Dann kam er näher und stieg nach unten, 9 so dass er (nur) zwei Bogenlängen entfernt war oder noch näher. 10 Da offenbarte Er seinem Diener, was Er offenbarte. 11 Sein Herz hat nicht gelogen, was er sah. 12 Wollt ihr denn mit ihm streiten über das, was er sieht? 13 Und er sah ihn ein anderes Mal herabkommen, 14 beim Zizyphusbaum am Ende des Weges, 15 bei dem der Garten der Heimstätte ist, 16 Als den Zizyphusbaum bedeckte, was (ihn) bedeckte, 17 da wich der Blick nicht ab, und er überschritt das Maß nicht. 18 Wahrlich, er sah etwas von den größten Zeichen seines Herrn. übers. Khoury, Der Koran, Bd.11, S. 478) ------------------Dieser Bericht über die Vision Mohammeds führt jenen der Sure 17 fort: Die nächtliche Reise. „Als Erstes, der Name Gottes, der Unendlich Barmherzige, der Ganz-Barmherzigkeit. 1 — Reinheit (Lob) Dem, der, in einer Nacht, Seinen Sklaven reisen ließ, von der Heiligen Moschee [dem Kaaba] zu der sehr weit entfernten Moschee (Jerusalem oder vielmehr eine Moschee im Himmel, da Palästina in Sure 30, Vers 3, als „nächstliegendes Land“ bezeichnet wird. Außerdem handelt es sich hier um das „Mi’rāğ“. Mohammed sah sich in einer Vision in den Himmel versetzt und in die Gegenwart Gottes eingeführt. In der Vision sah er das Paradies, die Hölle und die anderen Wunder des Himmels.) deren Mauer wir gesegnet haben, um ihm etwas von unseren Wundern zu zeigen. Er ist es (Gott), wirklich, der alles hört und sieht. Der Prophet Mohammed hat sich also Gott so weit genähert, wie es für ein menschliches Wesen nur möglich ist: „bis zum Brustbeerbaum der äußersten Grenze“, bis zu dem Punkt, wo der Mensch gerade noch vor Allah bestehen kann... Aber er gibt DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 67 uns keinerlei Gotteserkenntnis von sich aus. Er hat lediglich „weitergegeben“, was der Engel ihm „von Gott“ ausrichten ließ und diktierte, ohne etwas hinzuzufügen und ohne etwas wegzulassen. Dieses Buch ist die von Gott durch sein engelhaftes Mittlerwesen offenbarte „Botschaft“. Mohammed ist also nicht der Autor dieses Buches. Wer das dennoch behauptet, beleidigt jeden Muslim. Der Qur’ān wurde nicht auf einmal offenbart, sondern im Verlauf von dreiundzwanzig Jahren, wann immer man eine besondere Offenbarung brauchte, um ein konkretes Problem zu lösen. Die Offenbarung des Strafrechtes anlässlich von Verbrechen; die Offenbarung des Erbrechtes anlässlich von Todesfällen. Soviel also zum Wesentlichen der muslimischen Auffassung von Offenbarung. Die wichtigsten Etappen der Kodifikation der Suren und ihre Anordnung, die schließlich zum Text des Qur’ān, so wie er ist, geführt hat, werde ich nicht darlegen. Mohammed behielt die Worte des Engels im Gedächtnis und unterschied sie sorgfältig von seinen eigenen Worten (die später in Hadith (Worte oder Äußerungen) des Propheten zusammengestellt wurden). Er wollte nicht, dass man seine persönlichen Ansichten mit den göttlichen Worten verwechsle. Später schrieb er sie selber nieder, oder diktierte sie Schreibern. Außerdem ließ er seine Begleiter davon auswendig lernen, und auch sie haben sie niedergeschrieben. Die materiellen Hilfsmittel zur Herstellung dieser Schriften waren unterschiedlicher Art, wie zum Beispiel Schulterblätter von Kamelen. Es gab also eine ganze Sammlung von Offenbarungsschriften. Es sind diese Schriften, die nach dem Ableben des Propheten gesammelt und geordnet wurden, um gelesen und „vorgetragen“ zu werden. Daher der Name des Buches: „Qur’ān, al-Qur’ān“, das heißt, „die Lesung“. Der Koran enthält also ausschließlich Offenbarungsworte. Die Suren sind nach ihrer Länge geordnet, mit Ausnahme der ersten, fâtihat al-kitab: das heißt, die „das Buch öffnet“. Diese Reihenfolge stimmt also nicht mit der zeitlichen Abfolge der Offenbarungen überein. Das ist übrigens unwichtig, weil es sich ja um die Offenbarung Gottes handelt, deren Wahrheit nicht von menschlichen Umständen abhängig ist. Einzig die Mitteilung der Teile dieser Offenbarung hat sich an die geschichtlichen Umstände angepasst. Alle Suren außer der neunten sind durch eine Anrufung eröffnet, die ich folgendermaßen übersetze: „Als 68 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Erstes, der Name Gottes, der Unendlich Barmherzige, der GanzBarmherzigkeit“. Glauben heißt für einen Muslim, den Qur’an zu lesen, indem er sich dabei bewusst ist, dass er die Worte Gottes ließt, und alles in die Tat umzusetzen, was er im Qur’an ließt. Was er dort ließt, sind die Gesetze Gottes, die ihn in dem Augenblick, wo er sie ließt, auch betreffen. Aber der Qur’an verlangt nicht, dass man nur glaubt; er lädt zur Betrachtung ein, zur Meditation, zum Nachdenken, zur Wahrheitssuche, sogar im Bereich des Glaubens, wie zum Beispiel betreffs der Existenz Gottes, des Jenseits und der Auferstehung der Toten am Tag der Vergeltung. Ich hoffe, dass ich Ihren Erwartungen entsprochen habe. Falls es Fragen gibt, werde ich gerne eine Antwort versuchen. DER ERSTE PHILOSOPH Ich danke meinem Kollegen, der uns so bereitwillig die Grundzüge des muslimischen Offenbarungsverständnisses zusammengefasst hat. Ich weiß, dass er auf die Einwände der nicht-muslimischen Intellektuellen vorbereitet ist. DIE FRAGE NACH PSYCHOLOGISCHEN FAKTOREN DES MUSLIMISCHEN GLAUBENS DER PSYCHOANALYTIKER Unser muslimischer Redner hat gesagt, dass man einen Muslim beleidigt, wenn man sagt, Mohammed „sei“ der Autor des Koran und nicht Gott. Ich werde mich also hüten, ihn zu beleidigen... Aber eine solche Stellungnahme macht jede Diskussion unmöglich! Ich denke jedoch, dass der Psychoanalytiker sehr wohl etwas zu sagen hat zur Psyche Mohammeds und seiner Zustände mystischer Entrückung. Ist das erstaunliche Gewicht seines Körpers ein Zeichen für die Echtheit seiner Offenbarungen? Ich erlaube mir, daran zu zweifeln. Man müsste zuerst feststellen, dass es viel eher eine Verbindung zwischen beiden gibt, als ein paranormales Phänomen in einer kleinen, religiös sehr motivierten Gemeinschaft... In anderen religiösen Umfeldern will man in Leichtigkeit und Schwerelosigkeit Zeichen des göttlichen Wirkens erkennen... Menschen haben viel Einbildungskraft, und ihre Vorstellungen von der „höheren Welt“ können ihre DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 69 Leistungsfähigkeit anregen und sie dazu bringen, in der Geschichte große Dinge zu verwirklichen. Verkünden, dass man von Gott eine Sendung erhalten hat, und seine Mitmenschen davon überzeugen, ist ein wichtiges Mittel, um Einfluss auf die Masse der Menschen auszuüben. Ich denke, dass Mohammed in zutiefst ehrlicher Weise überzeugt war und dass er seine Begleiter auf großartige Weise überzeugt hat. So ist er der Begründer einer neuen Religion, ausgehend von Elementen, die aus dem Judaismus, dem Christentum und den religiösen Gepflogenheiten Arabiens geschöpft sind. Nein, er hat kein falsches Spiel gespielt. Es fehlte ihm an kritischspekulativer Einstellung, aber er war ehrlich. Er war darüber hinaus ein tüchtiger Handelsmann, ein geschickter Politiker und ein guter Stratege. Er war ein Alexander oder Cäsar, mit einer zusätzlichen religiösen Dimension. Ein derartiges Verhalten wirft bei mir Fragen auf. Was ist dieses „Phänomen des Glaubens“, dieser „unbewusste Trieb, zu glauben, sich Offenbarungen auszudenken“? Was in der menschlichen Psyche — Mohammeds, aber auch all seiner Begleiter und der Menschen ganz allgemein — macht derartige Glaubensüberzeugungen und ihre Ausbreitung im islamischen religiösen Herrschaftsgebiet möglich? DIE HISTORIKERIN Ich schließe mich Ihrer Frage an, da ich als Historikerin in den anderen Religionen die Grundzüge dieses Phänomens wiederentdecke. In Übereinstimmung mit einer Art — unbewusstem oder wohldurchdachtem — „religiösem Standard“ schmeißt Mohammed alle früheren Propheten, Abraham, Mose und Jesus in denselben Topf... Ihre menschlichen Qualitäten sind kaum verschieden... Und dies ist kein spezifisches Phänomen ausschließlich der monotheistischen Religionen. Wenn es nicht immer so erfolgreich wie beim Islam zutage tritt, dann deshalb, weil es sich entweder ausgehend von einem komplexeren gemeinsamen psychischen Mechanismus der Menschen entwickelt, oder in einem weniger wohlgesinnten religiös-kulturellen Umfeld, oder auch in einem geopolitisch weniger günstigen Kontext. Die Historiker haben die Gründe für den Erfolg und die Ausbreitung des Islam bereits sehr gut analysiert, aber nicht das Phänomen seines Auftauchens. Ich bin mir also bewusst, dass nicht die Geschichte antworten wird, wenn ich mich aufgrund meines geschichtlichen Wissens 70 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN nach den Gründen seines Auftauchens frage... Kann die Psychoanalyse eine Antwort geben? Oder die Glaubenden selber? DER ARABISCHPROFESSOR Als Muslim stelle ich mir keine Fragen dieser Art. Ich denke sogar, dass ich nicht mehr Muslim wäre, wenn ich mir diese Fragen stellen würde. Ich bin sicher, dass der Engel Gabriel, von Gott gesandt, für Mohammed das wiederholt hat, was Gott ihm zu sagen aufgetragen hat, ohne irgendetwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Ich glaube auch, dass Mohammed seinen Begleitern treulich, ohne zu lügen, die Worte des Engels wiederholt hat. Ich bin einverstanden, das, was der Qur’ān zu tun vorschreibt, zu tun, weil dies Gottes Gesetze und Vorschriften für alle Zeiten sind. Ich bin mir jedoch bewusst, dass diese Dinge nicht so einfach sind wie die Verkehrsregeln, und dass eine oberflächliche Lektüre nicht ausreicht, um alles in unseren Handlungen zu erklären. Dazu sind besondere Studien des Textes nötig. Es gibt mehrere Auslegungen. Wenn Mohammed die Worte des Engels treulich wiederholt hat, dann ist es immer noch nicht vollkommen sicher, ob die Muslime, die sie hören — seien sie nun Ulemas, Imame oder auch nicht — sie richtig hören. Im Qur’ān gibt es keine Irrtümer, zweifellos aber bei jenen, die ihn lesen. DER PSYCHOANALYTIKER Sie antworten damit nicht auf meine Frage. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf! Nein, nur eine einfache Feststellung. Sie sagen mir sogar, dass Sie sich „diese Art von Fragen“ nicht stellen. Da Sie sie sich nicht stellen, können Sie selbstverständlich auch nicht auf meine Fragen antworten. Aber gleichzeitig geben sie durch Ihre Person und Ihre Äußerungen ein lebendiges Beispiel des „Phänomens des Glaubenstriebes“, von dem ich gerade gesprochen habe. Zweifellos denken Sie sich nicht, wie Mohammed, den Koran aus, und Sie bilden sich nicht ein, dass der Engel Gabriel zu Ihnen spricht, aber sie versetzen sich ganz und gar in den Glaubenstrieb des Mohammed und in seine Vorstellungen, genau wie seine Begleiter. Ist dies ein Phänomen der Gehirnwäsche durch Erziehung? „Warum tut ihr das, ihr und die anderen?“ Das ist die Frage, die ich mir stelle. Können Sie sich selbst ehrlich diese Frage stellen? Diese Frage, die ich DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 71 Ihnen stelle, könnte ich auch anderen Glaubenden stellen, Juden oder Christen. Sicherlich, Sie sind Muslim, aber die anderen könnten gut an Ihrer Stelle stehen; ich würde ihnen dieselbe Frage stellen... : Warum dieser Glaubenstrieb und all diese Phantasiegebäude? DER ARABISCHPROFESSOR Ich weiß nicht, ob diese anderen Glaubenden sich selbst Ihre Frage besser stellen als ich mir, und daher auch besser antworten könnten. Warum glaube ich? Warum gebe ich mich einem „Glaubenstrieb“, wie sie sagen, hin? Ich verstehe wohl, dass Sie nicht fragen, warum ich, Malik, Muslim bin. Denn dann würde ich Ihnen antworten, dass ich in einer gläubigen muslimischen Familie geboren bin, dass ich im muslimischen Glauben groß geworden bin, und dass ich eine Muslimin geheiratet habe, usw... So ist es: Malik ist durch seine Erziehung ein muslimischer Gläubiger. Aber dann würden Sie Ihre Frage erneut stellen: „Wie ist eine Erziehung durch „Glaubenstrieb“ und zum „Glaubenstrieb“ möglich?“ Eine seltsame Frage! DER PSYCHOANALYTIKER Ja, Sie haben meine Frage sehr gut verstanden. Können Sie sie sich gefühlsmäßig stellen, sie irgendwie „körperlich“ nachempfinden? DER ARABISCHPROFESSOR Ich weiß nicht... Ich leide unter keinerlei psychischen Ängsten in meinem Glauben... Ich habe den Eindruck, dass es in meinem Fall eine gute Sache ist, dem Glaubenstrieb, wie Sie ihn nennen, nachzugeben. Habe ich es nötig, mir persönlich diese Frage zu stellen? ...Ich sehe keinen Grund. DER PSYCHOANALYTIKER Und wenn Sie sich diese Frage trotzdem stellen würden, hätten Sie dann irgendwie den Eindruck, dadurch Ihren muslimischen Glauben ansatzweise in Frage zu stellen? DER ARABISCHPROFESSOR Ich weiß nicht... für euch Psychoanalytiker ist der Geschlechtstrieb erziehbar und wird zwangsläufig erzogen! Übrigens zum Guten oder zum Schlechten! Sagen wir also, dass mein „Glaubenstrieb“ in der muslimischen Religion erzogen 72 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN wurde. Aber stellen Sie sich, Sie und die anderen Psychoanalytiker, die Frage, warum es einen Geschlechtstrieb in den euch bekannten Formen gibt? Ich habe den Eindruck, dass Ihr seine Existenz feststellt und ihn als allumfassendes Mittel zur Analyse des Restes der menschlichen Psyche benutzt. Was mich anbelangt: Mein „Glaubenstrieb“ ist muslimisch. Das ist allumfassend... DER PSYCHOANALYTIKER Sie haben recht, so zu reden... Man müsste zweifellos, genauso, wie man fragt: „Warum gibt es einen Glaubenstrieb?“ auch die Frage stellen: „Warum gibt es einen Sexualtrieb?“ Und eine Antwort auf diese „Warum’s“ wäre zweifellos hilfreich, um in beiden Fällen auf die Frage nach dem „Wie“ zu antworten. „Wie soll Sexualisierung menschlich geschehen?“ „Wie soll man auf menschliche Weise glauben?“ Ich frage mich sogar, ob zwischen beidem nicht eine Beziehung besteht. Ich habe es bereits gesagt. Ihr Glaubenstrieb wurde „auf muslimische Art und Weise“ erzogen. Wurde er auf diese Weise gut oder schlecht erzogen? Ich stelle Ihnen genau dieselbe Frage, die Sie mir bezüglich des Geschlechtstriebes stellten. Gut! Nun komme ich zum Ende. Platz für andere Fragen! Aber meine Fragen bleiben offen...“ DÜRFEN WAHRHEITEN, DIE ALS OFFENBART GELTEN, HISTORISCHEN ODER WISSENSCHAFTLICHEN WAHRHEITEN WIDERSPRECHEN? DIE HISTORIKERIN Meine Frage ist von ganz anderer Art. Kann Gott, wenn er im Koran durch die Mittlerschaft des Engels die vergangene Geschichte der Menschen erzählt, oder auf historische Gegebenheiten Bezug nimmt, sich irren oder Tatsachen falsch darstellen, oder ganze Geschichtsabschnitte auslassen? DER ARABISCHPROFESSOR Nein, Gott kann sich nicht irren und er lügt nicht. Sie werden mir nun entgegnen, dass der Qur’ān geschichtliche Ungenauigkeiten enthält... Dies rührt zweifellos daher, dass frühere Autoren die Geschichte schlecht überliefert haben oder sie absichtlich verfälscht haben, wie etwa die Autoren der Bibel der Juden, die bezüglich Ismaëls und Isaaks lügt; oder die DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 73 Evangelien, die fälschlicherweise erzählen, dass Isā, Jesus, am Kreuz gestorben ist, wo doch in Wirklichkeit Allah ihn seinen Feinden entzogen hat und ihn direkt in den Himmel emporhob. DIE HISTORIKERIN Und das können Sie sagen, sogar ohne sich irgendeine historisch-kritische Frage zu stellen? Das wäre aber leichtfertig! Könnten die Kenner des Textes, die Imame oder die Ulemas, die durch spezialisierte Historiker erbrachten Beweise bestreiten, besonders dann, wenn man über andere Quellen verfügt als die der Texte, die man jederzeit der Falschheit bezichtigen kann? DER ARABISCHPROFESSOR Ich weiß nicht... Der Qur’an vor der historisch-kritischen Methode? Dazu müsste man die Islamologen hören. Ich denke, dass mehrere den Wert der geschichtlichen Berichte des Qur’an bezweifeln. Dies wirft zweifellos Fragen auf. DIE HISTORIKERIN Dann gäbe es also zwischen den „geschichtlichen“ Offenbarungen Gottes im Koran und den Berichten der Historiker Widersprüche? Die Historiker werden eher den Methoden der Geschichtsforschung folgen, als angeblich göttlichen Offenbarungen. Und was, wenn der Koran sogar naturwissenschaftliche Irrtümer enthalten sollte? Ich habe gelesen, dass der Engel Gabriel in einer Sure von der Empfängnis und dem Wachstum eines Kindes im Mutterschoß schildert. Seine Schilderung stimmt mit den Erkenntnissen der heutigen Biologie überhaupt nicht überein. Hat Gott uns schlechte Informationen gegeben? Oder hat Gott sich im Koran damit zufriedengegeben, jenes Wissen auszudrücken, das für Mohammed in seinem Zeitalter und Umfeld zugänglich war? DER ARABISCHPROFESSOR Man müsste den Text genauer anschauen. Wenn es Unstimmigkeiten mit der Naturwissenschaft gibt, dann nur scheinbare, sie wären das Resultat einer falschen Auslegung. Gott spricht jeweils die Sprache eines Zeitalters. Und er spricht in konkrete Situationen hinein. Man muss den geschichtlichen Hintergrund mit einbeziehen. Dies ist äußerst wichtig. DIE HISTORIKERIN 74 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Aber dann ist der Koran nicht mehr „das ungeschaffene Wort Gottes“, da einige seiner Verse einzig dem Zeitalter des Mohammed angehören. DER ARABISCHPROFESSOR Er ist dennoch „das ungeschaffene Wort Gottes“, denn diese Verse sind von Ewigkeit her für den Augenblick geschrieben, in dem die Offenbarung an Mohammed erging. DIE HISTORIKERIN Wenn aber alle Verse so von Ewigkeit her vorgesehen sind, dann trifft dies auch für alle Gesetze und Regeln zu, die der Engel Mohammed vorgeschrieben hat. Diese Gesetze können sich folglich nicht ändern, nicht einmal jene, die nur von irgendwelchen äußeren Umständen abhängen. DER ARABISCHPROFESSOR Hier muss man unterscheiden. Einige Verse sind im Verlauf des Offenbarungsgeschehens gestrichen und durch andere ersetzt worden. DIE HISTORIKERIN Gut! Dann sind es also diese neuen Verse, die von Ewigkeit her festgelegt sind, obwohl sie an die äußeren Umstände des Lebens Mohammeds und an die Gebräuche seiner Zeit gebunden sind. Daraus folgt, dass es im zukünftigen Verlauf der Geschichte keine Möglichkeit der Anpassung mehr geben wird. Der Koran lässt die Geschichte erstarren. Ist es in diesem Fall nicht so, dass der Koran die Muslime daran hindert, sich aktiv an der Weiterentwicklung der Menschheit zu beteiligen? Sind sie dagegen aber nicht, wenn sie sich ihrerseits den Fortschritt der Zivilisation aneignen wollen, dazu gezwungen, auf einige Verse des Koran zu verzichten?... In diesem Fall wäre er dann nicht mehr ganzheitlich das „ungeschaffene Wort Gottes“. DER ARABISCHPROFESSOR Ich verstehe Ihre Einwände... Ich persönlich denke nicht, dass jene Verse, mit denen der Historiker, der Psychoanalytiker und der Naturwissenschaftler Schwierigkeiten haben, zum Wesentlichen des muslimischen Glaubens gehören! Zweifellos werden Muslime, die in diesen Disziplinen ausgebildet sind, genauso denken wie alle anderen Wissenschaftler der Welt. Was DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 75 diejenigen Verse des Qur’ān angeht, die etwas anderes sagen als die Wissenschaften... nun ja! Sie werden sie halt nicht lesen... Belustigtes Schmunzeln in der Gruppe. DER ERSTE PHILOSOPH Ich denke, ihr Humor hilft Ihnen aus der Klemme, nicht nur, was die ihnen gegenüber vorgebrachten Einwände angeht, sondern auch, was ein „abgeschirmtes“ religiöses Offenbarungsverständnis betrifft. Sie tun gut daran, dem Gläubigen die Möglichkeit offenzulassen, nicht alles von dem, was ihm als Wort Gottes vorgelegt wird, zu „hören“. Humor kann gelegentlich mit kritischem Geist angereichert sein... Man nimmt nichts vom Text hinweg, aber man stopft sich die Ohren im richtigen Moment zu, um nicht zu hören... Dies ist eine Art und Weise, nicht dem religiösen Fanatismus anheimzufallen und sich nicht durch das Ablehnen aller nicht-religiösen menschlichen Erkenntnisse selbst zu entmündigen. Es ist auch eine Weise, nicht dadurch Atheist zu werden, dass man nichts außer den mit der Materie und empirischer Beobachtung beschäftigten Wissenschaften als Wahrheit gelten lässt. Letztere können nämlich nichts über Gott aussagen. Sie können unserem „Glaubenstrieb“ mit nichts antworten. DIE PHILOSOPHISCHE FRAGE NACH DER BESCHAFFENHEIT DER OFFENBARUNG BETRIFFT ALLE RELIGIÖSEN AUFFASSUNGEN DER ANDERE PHILOSOPH Diese ganze Diskussion ist höchst interessant. Sie zeigt deutlich, dass die Frage letztlich den Begriff der Offenbarung betrifft. Worin müsste eine Offenbarung, die Werk Gottes wäre, bestehen? Ist es, so wie im Islam, das Diktat eines Textes, und dessen Ergebnis: „der diktierte Text“, der vielleicht sogar einem einzigen Menschen diktiert wurde? Oder handelt es sich, so wie im Christentum, um eine Eingebung im innersten der menschlichen Intelligenz der biblischen Propheten oder der Evangelisten-Apostel; also um eine Eingebung, die sich in ihre menschlichen Texte einfügt, und um deren Ergebnis, „die inspirierten Texte“? Oder handelt es sich, so wie im Judentum, um beides gleichzeitig, Diktat und Eingebung? Bald ein „Diktat“ oder ein von Gott an Mose übergebener Text, zum Beispiel, bald eine den verschiedenen biblischen Büchern entsprechende „Eingebung“? Finden wir also nicht letztendlich, 76 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN wenigstens auf der Ebene der allgemeinüblichen Glaubensüberzeugung, dass die Offenbarung zu einem „geschriebenen Text“ wird, der auf eine „mündliche Tradition abgestützt“ ist, oder zu einem „auswendig gelernten Text“, wobei beide zu vielfältigen und sozusagen „unbestimmten“ Auslegungen Anlass geben, wie im Judentum, laut einigen Rabbinern? Ist es darüber hinaus, wie die christliche Überlieferung von Jesus behauptet, Gott selber, der durch den Mund eines Menschen spricht und handelt? Aber da er kein ihm persönlich zugeordnetes Textzeugnis hinterlassen hat, sind seine Worte ausschließlich durch menschliche Texte bekannt, die man als „inspiriert“ aufnehmen wird. Auch hier sind wir wiederum auf einen „Text“ verwiesen. Und wer „Text“ sagt, sagt „Hüter des Textes“ und „zur Auslegung des Textes befugte Menschen“. Diese Interpreten sind möglicherweise in ihrer Auslegung der heiligen Texte auch von Gott „inspiriert“. Ist die Wirklichkeit der Offenbarung Gottes nicht auch etwas anderes als Texte, und der Glaube etwas anderes als Zustimmung zu Texten, um es etwas vereinfacht auszudrücken? Ist der Begriff „ungeschaffenes Wort“ nicht in sich widersprüchlich, da eine Offenbarung notwendigerweise in der Ordnung des Geschaffenen stattfindet? Oder aber ein „ungeschaffenes Wort“ ist etwas anderes als eine in menschlicher Sprache diktierte Offenbarung! Und so kommen wir auf die anfängliche Frage unseres Kollegen zurück: „Was sind diese Texte wert, all diese heiligen Texte, im Vergleich zu dem, was eine „Offenbarung Gottes“ an die Menschen sein kann und sein muss? Hier stellt sich aufs Neue die Frage nach der Natur des Glaubens und jene nach der Echtheit einer Offenbarung. Diese Frage mag anmaßend erscheinen, vor allem, wenn man darin das Verlangen danach sieht, eine „psychologische Beschreibung“ als Antwort zu erhalten. Sie ist es aber nicht, wenn man sich die Frage nach dem „ontologischen Status“ des Glaubens und der Offenbarung stellt. Ich kann mir zum Beispiel die Frage stellen: „Was sollen die Worte meines Vaters oder meiner Mutter sein?“ Und ich antworte: „Sie sollen weder in sich selbst widersprüchlich sein noch mit der Vater– oder Mutterrolle meiner Eltern in Widerspruch stehen.“ Ich habe mir die Frage nach den logischen Eigenschaften ihrer Worte gestellt. Ich habe weder ihre inhaltliche Beschreibung oder ihr Gesagtwerden angestrebt, noch habe ich versucht, zu erraten, was meine Eltern mir wohl sagen könnten...“ DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 77 Außerdem kann man nicht „aus kulturellen Gründen“ um diese Frage herumkommen, da mindestens drei verschiedene Religionen den Anspruch erheben, die Offenbarung Gottes zu besitzen. Welche Offenbarung ist die richtige? Das Judentum, das Christentum, der Islam? Muss man zwischen ihnen wählen? Sollte man nur das behalten, was sie gemeinsam haben? Sollten sie in eine Rangfolge geordnet werden, je nach Anzahl ihrer Gläubigen oder nach ihrem Alter? Muss man notwendigerweise die bei der Geburt erhaltene Form von Glaubensüberzeugung nachvollziehen? Ist jede Sympathie für eine andere Form des Glaubens als die in der eigenen Kultur ererbten ein schleichend aufkeimender Verrat, und die anschließende Bekehrung ein vollbrachter Verrat? Auf welche Wahrheitsgrundlage soll man sich festlegen, um auf diese Fragen zu antworten? Was ist der Wert einer jeder dieser Formen des Glaubens in Vergleich zu einem „Ideal“ des Glaubens? Wie kann man ein derartiges „Ideal“ umschreiben? DER ARABISCHPROFESSOR Für den Muslim findet sich die Antwort auf die grundlegendsten der von Ihnen gestellten Fragen am Anfang der zweiten Sure. Nach der Higra geschrieben, ist diese Sure — im buchstäblichen Sinn bedeutet „Sure“: Mauern oder Aufenthaltsort — so etwas wie eine Zusammenfassung der islamischen Lehre. Für den Anfang gebe ich Ihnen eine Übersetzung... Es wäre allerdings besser, sie auf Arabisch zu lesen... 1 — Als Erstes, der Name Gottes, der Unendlich Barmherzige, der Ganz-Barmherzigkeit. 2 — Dieses Buch, [daran besteht] kein Zweifel, ist der Führer, der die Frommen führt; 3 — die an die unsichtbaren Dinge glauben und das festgelegte Gebet verrichten und von den Gütern, die wir ihnen zugestanden haben, austeilen (aus Liebe) [d. h.: Sie spenden, und das unterscheidet sich vom „Austeilen gemäß der Gerechtigkeit“, also vom Bezahlen der Steuer]. 4 — und die an das glauben, was man hat zu dir herabsteigen lassen [d. h.: die Offenbarung] und an das, was man vor dir hat herabsteigen lassen [vor Mohammed, also die Bibel. Es steht geschrieben: „zu dir“, und nicht „zu mir“, weil Mohammed die vom Engel an ihn gerichteten Worte wörtlich aufgeschrieben hat]. Und jene glauben fest an das Jenseits. 78 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 5 — Sie allein stehen unter der Führung des Herrn; sie allein sind die Gewinner. 6 — Was diejenigen anbelangt, die nicht glauben, ja, es ist ihnen gleichgültig, ob du sie warnst oder nicht warnst; sie glauben (deine Worte) nicht: 7 — Gott hat ein Schild über ihre Herzen und ihre Ohren gelegt, und über ihre Augen eine Binde; und für sie ist eine schwere Strafe bereit. 8 — Unter den Leuten gibt es jene, die sagen: „Wir glauben an Gott und an den Letzten Tag!“ Und trotzdem sind sie keine Glaubenden. 9 — Sie versuchen, Gott und jene, die geglaubt haben, zu betrügen; aber sie betrügen nur sich selbst und sind sich dessen nicht bewusst. 10 — In ihren Herzen haben sie sich eine Krankheit [d. h. die Heuchelei und der skeptische Glaube]: Gott tut also nichts weiter, als diese Krankheit wachsen zu lassen. Für sie also eine schmerzhafte Strafe, dafür, dass sie gelogen haben! ------------------(1 Im Namen Gottes, der Erbarmers, des Barmherzigen. 2 Dies ist das Buch, an ihm ist kein Zweifel möglich, es ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen, 3 die an das Unsichtbare glauben und das Gebet verrichten und von dem, was Wir ihnen beschert haben, spenden, 4 und die an das glauben, was zu dir herabgesandt und was von dir herabgesandt wurde, und die über das Jenseits Gewissheit hegen. 5 Diese folgen einer Rechtleitung von ihrem Herrn, und das sind die, denen es wohl ergeht. 6 Denen, die ungläubig sind, ist es gleich, ob du sie warnst oder ob du sie nicht warnst; sie glauben nicht. 7 Versiegelt hat Gott ihre Herzen und ihr Gehör, und über ihrem Augenlicht liegt eine Hülle. Und bestimmt ist für sie eine gewaltige Pein. 8 Und unter den Menschen gibt es welche, die sagen: „Wir glauben an Gott und an den Jüngsten Tag.“ Doch sie sind keine Gläubigen. 9 Sie versuchen, Gott und diejenigen, die glauben, zu betrügen. Sie betrügen aber (letztlich) nur sich selbst, und sie merken es nicht. DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 79 10 In ihren Herzen ist Krankheit, und Gott hat ihre Krankheit noch vermehrt. Und für sie ist schmerzhafte Pein bestimmt dafür, dass sie zu lügen pflegten. übers. Khoury, Der Koran, Bd. 1, S. 168 und 184) ------------------DER ERSTE PHILOSOPH An welche Menschen richten sich die Drohungen des Gottes Allah? DER ARABISCHPROFESSOR Im Bezug auf den Glauben gibt es drei Arten von Menschen: die wahren Glaubenden, also diejenigen, die glauben, dass der Qur’ān die Offenbarung ist; die polytheistischen Ungläubigen; und die Glaubenden, die auf falsche Weise glauben, Juden und Christen. Genau in dieser Sure folgen mehrere Verse, die das Verhalten dieser Falschglaubenden beschreiben, „deren Herz erkrankt ist“ an Zweifeln und dem Widerspruch zwischen dem, was sie sagen, und dem, was sie in ihrem Innersten denken. Sie wollen Gott täuschen, indem sie nicht an die an Mohammed ergangene Offenbarung glauben. Eine schreckliche Strafe erwartet sie dafür, dass sie die Wahrheit nicht gesehen und gehört haben. Wenn Gott es wollte, würde er ihnen die Seh- und Hörfähigkeit nehmen, denn er ist allmächtig. Aber Mohammed wollte sie überzeugen... So sind wir bei Vers 21 und den folgenden angelangt: 21 — Menschen! Betet euren Herrn an, der euch und jene, die euch vorausgegangen sind, erschaffen hat, — auf diese Weise werdet ihr fromm sein — 22 — Ihn, der für euch die Erde wie einen Teppich erschaffen hat und den Himmel wie ein Zelt; und der vom Himmel das Wasser herabkommen lässt; und der durch dieses aus der Erde die Früchte hervorkommen lässt, euren Anteil (an Nahrung). Gebt daher Gott keine Rivalen. Ihr wisst es genau. 23 — Und wenn ihr an dem, was Wir auf unseren Sklaven haben herabsteigen lassen, zweifelt, dann bringt doch eine ähnliche Sure bei (denjenigen ähnlich, die Wir herabsteigen lassen), und wenn ihr wahrhaftig seid, dann ruft euch Zeugen [die ihr anruft] außerhalb [also: Rivalen] Gottes! ------------------- 80 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN (21 O ihr Menschen, dienet eurem Herrn, der euch und die, die vor euch lebten, erschuf, auf dass ihr gottesfürchtig werdet, 22 der euch die Erde zu einer Unterlage und den Himmel zu einem Bau machte, und der vom Himmel Wasser herabkommen ließ und dadurch Früchte als Lebensunterhalt für euch hervorbrachte. So stellt Gott keine anderen als Gegenpart zur Seite, wo ihr (es) doch wisst. 23 Und wenn ihr im Zweifel seid über das, was Wir auf unseren Diener hinabgesandt haben, dann bringt eine Sure gleicher Art bei und ruft eure Zeugen anstelle Gottes, an, so ihr die Wahrheit sagt. übers. Khoury, Der Koran, Bd. 1, S. 198) ------------------Diese letzte Sure fasst eine Herausforderung in Worte: Wenn ihr an der im Qur’an niedergeschriebenen Offenbarung zweifelt, dann versucht, es ihm gleichzutun: versucht, so zu sprechen, wie Gott durch den Engel zu Mohammed spricht. Ihr werdet nichts sagen können außer Lügen und Ungereimtheiten. Dieses Argument wird im Qur’an noch mehrmals wieder aufgenommen. Es wirkt gleichzeitig auf die westlichen Menschen sehr seltsam, aber auf die Muslime äußerst überzeugend. Darauf folgen die Ankündigung der Strafe und die Verheißung der Belohnung. 24 — Dann, wenn ihr es nicht tut, — und es niemals tun werdet — meidet das von den Menschen und [Götzen] aus Stein genährte Feuer, das für die Ungläubigen bereitet ist. 25 — Und jenen, die geglaubt und gute Werke vollbracht haben, kündige an, dass für sie Gärten bereitet sind, wo Bäche fließen. Jedes Mal, wenn sie Früchte als Anteil (an Nahrung) erhalten werden, werden sie sagen „Das ist sehr wohl das, was damals zugeteilt wurde!“ Nun ist es aber Ähnliches [aber Besseres], was man ihnen geben wird. Und sie werden reine Bräute haben. Und dort werden sie auf ewig bleiben. (24 Wenn ihr es nicht tut - und ihr werdet es nie tun können -, dann hütet euch vor dem Feuer, dessen Brennstoff Menschen und Steine sind und das für die Ungläubigen bereitet ist. 25 Und verkünde denen, die glauben und die guten Werke tun, dass für sie Gärten bestimmt sind, unter denen Bäche fließen. Sooft ihnen daraus eine Frucht als Lebensunterhalt beschert wird, sagen sie: „Das ist, was uns vorher beschert wurde“; es DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 81 wird ihnen aber nur Ähnliches gebracht. Und sie haben darin geläuterte Gattinnen. Und sie werden darin ewig weilen. übers. Khoury, Der Koran, Bd. 1, S. 198) In den anderen Suren nimmt der Engel häufig dieselben Aussagen wieder auf und führt sie weiter aus, damit über den Sinn der Offenbarung, „die von Gott herabkommt“, keine Unklarheit herrschen kann. Meine Zitate aus dem Qur’ān waren etwas lang... Es wäre schwerlich anders möglich gewesen... Nun kann ich auf Ihre Einwände eingehen. Ich werde es als Glaubender tun... und zweifellos weniger als Philosoph. Es scheint, dass dies eine Schwäche ist, die mir mein christlicher Kollege vorwirft, der Philosoph ist. Vielleicht ist es eine dem Islam angeborene Schwäche... Man muss sehen, wie man damit zurechtkommt... DIE SELBSTAUSGERUFENE VORRANGSTELLUNG DES ISLAM GEGENÜBER DEN ANDEREN FORMEN VON RELIGION DER DOMHERR, Schriftsteller Ich weiß dass, wenn Christen und Muslime sich bemühen, ihren Glauben friedlich zu verbreiten, die Christen sich des Korans bedienen, um die Muslime zu überzeugen, an das Evangelium zu glauben, und dass die Muslime das Evangelium benutzen, um die Christen zu überzeugen, an den Koran zu glauben. Und niemand kann irgendjemanden bekehren, jeder bleibt bei seinem Standpunkt. Im Rahmen des heute in Mode gekommenen interreligiösen Dialogs achtet man darauf, nicht mehr von Unterschieden zu sprechen, oder sogar von Unvereinbarkeiten, um die Ähnlichkeiten stärker zu betonen — die eher auf der Ebene der Sprache als auf jener der Wirklichkeit bestehen und eher oberflächlich als tieferliegend sind... Es sind vor allem die Christen, die sich in diesem Dialog im Hintergrund halten, viel eher als die Muslime, die sich nicht davor fürchten, ihre Überzeugungen laut zu verkünden... Ich meine, es gibt eine berühmte Hadith, in der Mohammed sagt: „Der Islam muss herrschen und wird nicht beherrscht werden“. DER ARABISCHPROFESSOR 82 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Das trifft zu. Aber nicht wir sind es, die herrschen wollen, durch was auf immer für eine imperialistische Absicht... Es ist Gott, der in Sure 3, genannt „die Familie Arams“, sagt, in Vers 110: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die wir aus den Menschen haben hervorgehen lassen. Ihr werdet das anordnen, was gut ist, und das verbieten, was schlecht ist, und ihr werdet an Gott glauben. Wenn die Leute des Buches glauben würden, dann wäre das nur zu ihrem Vorteil [...]“ ------------------(110 Ihr seid die beste Gemeinschaft, die je unter den Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet das Verwerfliche und glaubt an Gott. Würden die Leute des Buches glauben, es wäre besser für sie ... Übers. Khoury. Der Koran, Bd. 4, S. 198) ------------------Wenn die Muslime herrschen müssen, dann damit die ganze Menschheit von den Vorteilen der besten Gemeinschaft profitiert, dank der Offenbarung des Koran. DER DOMHERR Ich stelle fest, dass sie sich im Bereich der Religion äußerst sicher fühlen... Daran zweifelte ich nicht... Kann man aber derweil einen Dialog anstreben, indem man alle religiösen Fragen ausklammert, um sich ganz im Bereich einer universalen menschlichen Ethik zu bewegen? Man kann es versuchen. Die Schwierigkeiten dabei sind ungeheuer: denn die Begriffe von „menschlicher Person“, „Rechten und Pflichten“, „Gesellschaft“, „Beziehungen zwischen Mann und Frau“ sind dermaßen unterschiedlich... DIE HISTORIKERIN Als Mohammed die unnachahmbare Qualität des Koran als Argument vorbrachte, um dessen göttlichen Ursprung zu beweisen, richtete er sich damit, so denke ich, an die Gläubigen der polytheistischen Kultur auf der arabischen Halbinsel, oder an jene eines mehr oder weniger mittelmäßigen lokalen Christentums oder Judentums. Selber konnte er übrigens nicht auf die Quellen der wie ein Stern aufgehenden mediterranen Kultur zurückgreifen. Sein religiöses Wissen sammelte er in einem „subordinationistischen“ christlichen Umfeld und in jüdischen DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 83 Gemeinden, wo einige der phantasievollsten „haggadischen“ Thorakommentare im Umlauf waren, wie Sure 27 an der Stelle über den „brennenden Dornbusch“ zeigt. Mohammed war nicht imstande, seine eigenen Schriften durch den kritischen Vergleich mit den großen philosophischen und theologischen Werken der vorausgegangenen Jahrhunderte zu beurteilen. Er wäre zweifellos weniger überzeugt gewesen, wenn... Dafür war er aber von einer mystischen Überzeugung durchdrungen, die auf seine Umgebung einen großen Einfluss ausüben musste. Diese Überzeugung verlieh seinen Argumenten in den Augen seiner Begleiter Gültigkeit. Sie waren wirklich davon überzeugt, „die hervorragendste Gemeinschaft unter den Menschen“ zu sein. Dies sicherte Mohammed die entscheidende Unterstützung gegen seine Verleumder und Feinde. Eine derartige Überzeugung ist innerhalb des Schicksals eines Menschen von nicht zu unterschätzender Bedeutung. DER DOMHERR Was die mystische Überzeugung anbelangt, würde ich gerne den Anfang von Sure 53, der uns übersetzt wurde, mit einem Bekenntnis des Paulus, im Zweiten Korintherbrief, Kapitel 12, in Beziehung setzen. Ich zitiere... Es ist Paulus, der über sich selbst spricht: „Ich kenne einen Menschen in Christus, der — war es in seinem Leib? Ich weiß es nicht; war es außerhalb seines Leibes? Ich weiß es nicht, Gott allein weiß es —, dieser Mensch wurde bis in den dritten Himmel entrückt. Und ich weiß, dass dieser Mensch, — war es in seinem Leib? war es ohne seinen Leib? Ich weiß es nicht, Gott weiß es — dieser Mensch wurde bis ins Paradies entrückt und hörte unaussprechbare Worte, die zu wiederholen keinem Menschen möglich ist.“ Die Ausdrücke „entrückt bis in den dritten Himmel...“ und „entrückt bis ins Paradies“ erinnern mich an Ihre Übersetzung: „Mohammed hat Ihn bei einer anderen Gelegenheit gesehen, beim Brustbeerenbaum der äußersten Grenze, dort in der Nähe ist das Paradies...“ Bei diesen beiden Menschen finden wir das Bekenntnis einer besonderen spirituellen Erfahrung. Mohammed beteuert, dass er nicht lügt. In diesem Punkt gibt es keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Paulus spielt die obengenannte Erfahrung in ihrem 84 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Wert nicht hinunter... Aber er identifiziert seine menschliche Existenz und seine Verkündigung des Evangeliums nicht damit. Sie ist nicht die Quelle dessen, was er lehrt... Andererseits scheint es, dass Mohammed die „Sakralisierung“ seines bei den Juden und Christen Arabiens gefundenen religiösen Wissens aus einer oder mehreren von diesen Erfahrungen geschöpft hat. Derartige Erfahrungen und die für die Bedürfnisse der jeweiligen Umstände wiederbelebten Erinnerungen daran haben es ihm erlaubt, jenes religiöse Wissen in eine fortlaufende Offenbarung von Seiten Gottes zu „verwandeln“. Die Ehrlichkeit Mohammeds betreffs der Wahrheit seiner subjektiven Erfahrung einer gewissen göttlichen Transzendenz hat sein sehr bruchstückhaftes religiöses Wissen zu objektiven, „von dieser Transzendenz herabsteigenden“ Wahrheiten gemacht. Seine Erfahrung war die absolute Garantie dafür. Deren Darlegung in verschiedenen Schriften geschah im Zeichen einer Ehrlichkeit, die mit Wahrheit gleichbedeutend ist. Sie hat sich außerhalb von jeglicher rationaler Betrachtung entwickelt, ja sogar in Abstützung auf ein gewisses volkstümliches, sowohl jüdisch als auch christlich geprägtes Misstrauen gegenüber philosophischen Überlegungen. DER ERSTE PHILOSOPH Das ist der Grund, dass mein Freund der Philosophie keinerlei Interesse schenkt. Von ihm her gesehen ist das eine gemäßigter Standpunkt der Philosophie gegenüber, da ja viele muslimische Gläubige ihr mit blankem und offenem Hass begegnen... Menschen, die in einem islamischen Umfeld Philosophie betreiben wollten, haben dafür oft einen teuren Preis bezahlt... sogar Averroës in Spanien... Als Schüler des Aristoteles, den er in sehr angesehener Weise kommentierte, war er der Ansicht, dass die Philosophie sich mit allen die menschliche Existenz betreffenden Themen auseinandersetzen müsse, besonders im Bereich der Ethik und des Rechts. Damit hat er sich den Hass der malekitischen Rechtsgelehrten zugezogen. Er versuchte, die Vernunft auf ihren höchsten Entwicklungsstand zu bringen, um ihre Grenzen zu erkennen. Dieses Suchen ließ ihn erkennen, dass die Vernunft den Fragen nach Gott, nach der Schöpfung und nach der Unsterblichkeit der Seele nicht gewachsen ist, und dass man sich daher der Offenbarung zuwenden muss. Auch für ihn steht die DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 85 Offenbarung jenseits der Vernunft. Diese übt also keinerlei Kontrolle über die Offenbarung aus. Viele katholische Theologen haben einen ähnlichen Standpunkt vertreten. Er hat den Vorteil, einfach und klar zu sein... Eilends schaltet sich DER ANDERE PHILOSOPH ein: Sagen wir: Averroës näherte sich den Grenzen der aristotelischen Vernunft, aber nicht der menschlichen Vernunft als solcher. Es sei denn, man will die ganze philosophische Fähigkeit des Menschen auf seine klassischen geschichtlichen, im Wesentlichen griechisch-lateinischen Entwicklungsstufen reduzieren. Diese sind grundsätzlich auf die in ihrer massiven Gegebenheit als „Dinge“ wahrgenommenen und erfassten materiellen Gegenstände konzentriert, und sie haben die menschlichen Personen von ihrer individuellen „objektiven“ Identität aus betrachtet, in der sie all ihre Vollkommenheit und ihren Wert sehen wollten. Daher hätte Mohammed, selbst wenn er die antike Philosophie genauso gut gekannt hätte wie Averroës, das, was er mit großer Ehrlichkeit für eine vom Himmel herabgekommene Offenbarung hielt, nicht kritisch untersuchen können. Sicherlich, wenn er Schüler des Platon oder Aristoteles gewesen wäre, dann hätte er sich davor gehütet, seinen persönlichen Erkenntnissen den Charakter eines sakralen, religiösen, unmittelbar von Gott empfangenen Wissens zu verleihen. Wenn er nicht in seiner Psyche für, sagen wir „mystische“, Erfahrungen veranlagt gewesen wäre, dann hätte er seine religiösen Erkenntnisse aus dem Bereich der Kultur nicht in jenen des Offenbarten „übertragen“. Er hat sie einer ontologischen „Veränderung“ unterzogen. Ein Missbrauch, dessen er sich nicht bewusst war. DER PSYCHOANALYTIKER Während ich mich davor hüte, diese Art von Verhalten voreilig als krankhaft zu betrachten, würde ich doch sagen, dass das tatsächliche Vertauschen der Wirklichkeitsgrade der Dinge mit deren Bedeutungen an eine Form von Wahn denken lässt... Im vorliegenden Fall an einen religiösen Wahn... DER ARABISCHPROFESSOR Für einen Muslim ist eine philosophische Redeweise, die ein derartiges psychoanalytisches Urteil erlaubt, jene eines Atheisten. Und ich höre mir das nur aus Anstand an... 86 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER ANDERE PHILOSOPH Ich danke Ihnen für Ihre Zuvorkommenheit. Ich weiß, dass sie in keiner Weise mit mir übereinstimmen können... Ich verlange von Ihnen nicht, dass Sie aufhören, Muslim zu sein... Aber im Gegenteil zu dem, was Sie denken, ist meine Redeweise nicht atheistisch. Ich lehne sogar dieses Wort ab. Wenn Sie mir sagen würden, dass meine Redeweise nicht „religiös“ ist, so würde ich diese Feststellung richtig heißen... Meine Redeweise ist weder jüdisch, noch christlich, noch islamisch. Es gibt keine „religiöse philosophische Redeweise“, genauso, wie es keine „muslimische Mathematik“ gibt. Was wiederum nicht verhindert, dass Muslime ausgezeichnete Mathematiker sein können... Wenn ich als Philosoph rede, dann rede ich nicht mehr als Glaubender. Aber dennoch bin ich gläubig. Und der Philosoph in mir rechtfertigt es, dass der Glaubende in mir so glaubt, wie er es tut. Ich glaube nicht nur an den Offenbarergott und an seine Offenbarung, sondern achte auch den Schöpfergott und die Vernunft, die Er im Menschen erschafft. Es ist derselbe Gott, und sein Handeln ist dasselbe Handeln, oder, besser gesagt, die einzelnen Entwicklungsstufen seines Handelns stehen in vollkommener Übereinstimmung mit seinem göttlichen Sein. Der Schöpfergott hat den Menschen als in seinem Sein selbst vernunftbegabt erschaffen, so dass er ebenfalls in seinem Sein die Offenbarung empfangen könne. In seiner Vernunft kann der Mensch also sich selbst entdecken als so geschaffen, dass er in seinem Sein natürlicherweise glaubend ist. Indem er also in reflexiver Weise sein „menschliches Sein“ in seiner glaubenden Dimension versteht, entdeckt er in gewisser Weise, nämlich in der in seinem Sein durch den Schöpfer angelegten Offenheit, zu empfangen, die Gestalt, die die von Ewigkeit her wirkliche Offenbarung notwendigerweise annehmen wird, wenn sie wirklich von Gott „herabsteigt“. Dieses reflexive Bewusstwerden seines Seins und seiner wesentlichen Glaubenstätigkeit ist im eigentlichen Sinn philosophisch. Es vollzieht sich in der Zeit, schrittweise, mit Rückschlägen, Irrtümern, Berichtigungen und schlussendlich begründetem und bewährtem Begreifen. Unter diesem Gesichtspunkt kann man den Anteil an Wahrheit ausfindig machen, der sich hinter den biblischen Aussagen über eine „Thora vom Himmel“ und eine „ewige Weisheit bei Gott“, und auch hinter der Vorstellung des Koran DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 87 von einem „ungeschaffenen Wort Gottes“ verbirgt. Man sieht aber auch, dass diese Aussagen und Vorstellungen keinen Sinn haben, wenn man sie innerhalb der empirischen Psychologie des Menschen betrachtet. DER ARABISCHPROFESSOR Also räumen auch sie die Wahrheit des Qur’ān ein! DER ANDERE PHILOSOPH Alles liegt darin, unterscheiden zu können, welche Art von Wahrheiten man darin erkennen kann... DER ARABISCHPROFESSOR Die Offenbarung selber. DER ANDERE PHILOSOPH Sicherlich nicht, wenigstens nicht in dem Sinn, in dem Sie es — soweit ich das erraten kann — verstehen. DER ARABISCHPROFESSOR Warum? Ich hoffe, dass Sie mir jetzt nicht jene Verse des Qur’ān vorlesen werden, die befehlen, die Ungläubigen zu töten, falls sie sich nicht bekehren... DER SINN, IN DEM RELIGIÖSE ERFAHRUNGEN DES MENSCHEN OFFENBARUNG GOTTES SEIN KÖNNEN ODER NICHT SEIN KÖNNEN DER ANDERE PHILOSOPH Keineswegs... Diese Verse gibt es,... aber ich bewege mich auf einer anderen Ebene... Mohammed zollt der geschaffenen Vernunft des Menschen nicht genug Anerkennung. Von ihm aus war das kein Fehler. In seiner geschichtlichen Situation konnte er nicht... All seine Gedanken entstehen auf der Stufe der menschlichen Psyche. Er und seine Landsgenossen hatten ein und dasselbe religiöse Innenleben gemeinsam. Es ist ziemlich weit verbreitet und bleibt sich selbst im Polytheismus und in den Monotheismen gleich... Und die Anschauungen und Verhaltensweisen dieses religiösen Innenlebens sind sehr, sehr weit davon entfernt, dem für eine wirklich von Gott stammende Offenbarung vorgesehenen menschlichen ontologischen Bewusstsein zu entsprechen. Es ist Aufgabe der Philosophie, 88 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN dies einerseits kritisch zu hinterfragen, und andererseits die Struktur zu entdecken, die an... DER DOMHERR, etwas ungeduldig Aber wenn der Philosoph sich anmaßt, zu sagen, was die Offenbarung Gottes sein kann und sein muss, dann setzt er der Freiheit Gottes Grenzen und versucht, Gott seinen eigenen Willen aufzuerlegen, anstatt sich dem Willen Gottes zu unterwerfen. Das ist eine verkehrte Welt! Sagte der heilige Paulus nicht, dass das Kreuz Christi für die Juden ein Skandal ist, für die Heiden eine Torheit, in den Augen Gottes aber Weisheit? Es obliegt also wirklich nicht dem Philosophen, zu sagen, was in einer Offenbarung enthalten ist! DER ANDERE PHILOSOPH Ich denke, dass hier ein Missverständnis vorliegt, vielleicht sogar mehrere!... Richtlinien und Normen aufzustellen, die von unseren Aussagen einzuhalten sind, falls letztere nicht falsch sein sollen, bedeutet nicht, dass man die Wahrheit dieser Aussagen in Worte fasst. In der Mathematik die Regeln der Addition in Worte zu fassen bedeutet nicht, dass ich den Gesamtpreis meines Einkaufs beim Lebensmittelhändler des Quartiers im Voraus kennen kann. Aber dank dieser Regeln kann ich mich vergewissern, dass der Kassenzettel stimmt. Diese Additionsregeln schränken außerdem keineswegs meine Freiheit ein, genauso wenig wie diejenige meines Lebensmittelhändlers,... es sei denn, einer von beiden würde beim Preis der Ware mogeln wollen... oder sich darüber ärgern, nicht tun zu können, was ihm „gefällt“. Nicht die Freiheit gibt mir die Möglichkeit, zu „mogeln“, sondern ihre Unvollkommenheit auf der Ebene der von mir ausgeführten Entscheidung... Folglich verstümmelt (verstümmelt ] verkürzt) die „Mogelei“ meine wahre Freiheit... Aber die Tatsache, dass Sie mir gegenüber diesen Einwand machen, Herr Pfarrer, zeigt, dass Sie Gott eine ziemlich mittelmäßige Form von Freiheit zuerkennen. Das, was Sie Gott zuteilen, ist genau das, was an der menschlichen Freiheit unvollkommen ist... Das ist doch die Höhe!... und sie können sich dieser Unvollkommenheiten nicht dadurch entledigen, dass Sie sie bei Gott als unbegrenzt betrachten. Als ob die Freiheit Gottes darin bestehen würde, irgendetwas, egal was, auswählen zu können, ohne Grenzen... In diesem Punkt haben Sie dieselbe DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 89 Vorstellung wie Mohammed... wenn er sagt, dass Gott, falls er es wollte, denjenigen, die den Glauben an den Koran verweigern, die Sehkraft und Hörfähigkeit wegnehmen würde, da Er allmächtig ist... Und so sind wir also in die der volkstümlichen religiösen Psychologie eigenen Denkschemen zurückgefallen... Sie geben uns eine grundlegend falsche Vorstellung von Gott... DER DOMHERR Sie werden uns doch wohl nicht vorwerfen, dass wir... DER ANDERE PHILOSOPH Ich beschuldige Sie nicht im Geringsten... Sie sind in keiner Weise schuldig... Sie und Mohammed, ihr seid beide Opfer einer klassischen Denkweise, für die die Freiheit im « Wählen » besteht. In diesem Punkt hat sie dem Denken der Masse nichts voraus... Und für eine Vielzahl von Menschen nimmt dieser volkstümliche Bedeutungsinhalt den Platz der Philosophie ein... Aber sogar im Zusammenhang mit diesem Irrtum gesehen handelt es sich nicht darum, Gott unseren Willen aufzuzwingen, sondern vielmehr darum, zu verstehen zu versuchen, wie Er sich selbst offenbart. Die nötigen Hinweise dazu gibt er uns in unserem Sein, insofern dieses nach seinem „Bild“ geschaffen ist, darin, und in dem Maß, wie dieses Abbild ihm „ähnlich“ ist. Bereits in unserem geschaffenen Sein, das sein Abbild ist, in einigen seiner Grundzüge ihm ähnlich gestaltet, muss es also irgendetwas geben, das „dem Gott, der fähig ist, sich zu offenbaren“, ähnlich ist. Dagegen tut man dem Verständnis seines Werkes Gewalt an, wenn man gewisse Anschauungs- und Denkweisen, die die Ähnlichkeiten des Menschen mit seinem Schöpfer verkürzt darstellen oder verbergen, für sich annimmt - oder sie sogar anderen auferlegt, die sie ja übrigens bereitwillig annehmen. Hierin liegt das ganze Problem der Theologie, beziehungsweise der monotheistischen Theologien... Wenn sich alle Denker im intellektuellen Raum der klassischen Philosophie bewegen, tritt das Problem nicht einmal zutage... Und wenn es dabei hier und da Steine des Anstoßes gibt, werden diese von den für die Religion Verantwortlichen beseitigt. Sie denunzieren die Unverschämtheit und Überheblichkeit dieser Kritik — Wer kann es wagen, mich auf die Probe zu stellen...! sagt Mohammed —, oder sie verschanzen sich hinter dem Vorhandensein 90 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN unergründlicher Geheimnisse, deren Dasein und Natur, wie ein katholisches Dogma sagt, nicht erkannt werden kann... Ich aber denke, dass in der Geschichte des Denkens der Augenblick gekommen ist, sich der Unzulänglichkeiten der klassischen Philosophie bewusst zu werden... DER DOMHERR, etwas verärgert: Aber, mein Herr, das hat der Apostel Paulus längst vor Ihnen gesagt... Ich habe diese Worte gerade erst zitiert: Die Botschaft vom Kreuz ist für die Juden ein Skandal, für die Griechen eine Torheit, aber Weisheit in den Augen Gottes... Was bedeuten all diese Erklärungen... all diese... unserem muslimischen Teilnehmer gegenüber... Es ist nicht möglich... DER ANDERE PHILOSOPH, gleichzeitig... Herr Pfarrer... Herr Pfarrer... Ich bitte Sie... DER MODERATOR Nur mit der Ruhe!... Wir vergleichen Ansichten, und nicht Empfindsamkeiten... Wir sollten uns nicht durch unsere jeweilige Empfindlichkeit die Diskussion verderben... Herr Kanonikus, was würden Sie gerne anfügen? DER DOMHERR Nein, nichts... gar nichts... DER MODERATOR Mein Herr, falls Sie wollen, können Sie antworten... DER ANDERE PHILOSOPH Herr Pfarrer, Ihr Zitat war durchaus angebracht. Allerdings sollte man den Anfang des ersten Korintherbriefs gut lesen, und sich fragen, was Paul unter „der Weisheit der Griechen“ versteht. Wer ermächtigt uns, die „Weisheit der Griechen“ mit der menschlichen Weisheit als solcher gleichzusetzen? Die Weisheit der Griechen ist eine Form von Weisheit, sicherlich, aber sie ist unvollständig, und ihre Mängel ziehen in der Theologie Unstimmigkeiten nach sich. Aufgrund ihrer Unzulänglichkeiten beurteilt die griechische Weisheit das für Gott abgelegte und daher für uns offenbarende Zeugnis durch einen gekreuzigten Menschen als eine Torheit, obwohl dieses Zeugnis gottgemäße Weisheit ist. Wir haben es dort also mit DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 91 einer Phasenverschiebung zu tun. Da dieses Zeugnis für Gott Weisheit ist, müsste der Theologe vielmehr zu dem Schluss gelangen, dass es auch für den Menschen Weisheit ist, jedenfalls dann, wenn der Mensch sich darum bemüht, durch eine wahrhaft menschliche Weisheit weise zu sein. Durch eine kohärente, vollständige und allen Ansprüchen der Vernunft genügende Weisheit. Nun sollen die Theologen reden... Die Theologie ist am Zug... DER THEOLOGIEPROFESSOR Besonders die Verkündigung der Auferstehung Christi durch Paulus ist für die Griechen eine Torheit. Dies wird aus der Reaktion der Athener auf dem Areopag auf die Rede des Paulus ersichtlich, eine Rede, die von Lukas in der Apostelgeschichte rekonstruiert wird, am Ende von Kapitel 17. Ich persönlich sehe nicht, wie eine „neue Philosophie“, eine neuartige Anthropologie — die ich mir übrigens nicht besonders gut vorstellen kann —, über eine so sonderbare Begebenheit wie die Auferstehung Christi nachdenken könnte. DER ANDERE PHILOSOPH Herr Professor! Entschuldigen Sie... Ihre Frage enthält zu viele stillschweigende Voraussetzungen, als dass man sie mit wenigen Worten vollständig beantworten könnte... Ich möchte nur sagen, dass keine Philosophie, ob es sich nun um eine klassische mit individualistischer Ontologie oder um eine ihr logisch widersprechende nicht-klassische mit interpersonaler Ontologie handeln möge, durch die reflexive Methode irgendeine an den Glauben des Menschen gerichtete Wahrheit aufstellen kann. Falls sie interpersonell ist, erlaubt sie lediglich,... oder erlaubt eben nicht, falls sie individualistisch ist, eine menschliche oder göttliche Offenbarung in einer ihr angemessenen Verständlichkeit aufzufassen. Unter Berücksichtigung aller Proportionen kann man sagen, dass die Mathematik niemals dazu ausreichen wird, in den Naturwissenschaften ein Erfahrungsereignis zu produzieren. Sie erlaubt lediglich, die beobachteten experimentellen Gegebenheiten in verständlicher Weise zu behandeln und von ihnen ausgehend durch Induktion Gesetze aufzustellen. Indem man dies tut, gibt man zu, dass es eine Art vorgegebene Übereinstimmung zwischen den höher entwickelten Mathematiken und der materiellen Welt gibt. In ähnlicher Weise 92 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN muss man zugeben, dass es eine Art prästabilierte Harmonie — um einen von Leibnitz geprägten Ausdruck aufzugreifen — zwischen der Philosophie in ihrer ganzheitlichen und interpersonalen ontologischen Form, und dem, was an den Offenbarungen echt ist, gibt. DER THEOLOGIEPROFESSOR Vielen Dank für Ihre Antwort... Darüber würde ich gerne noch mehr erfahren... Erlauben Sie mir aber eine Bemerkung. In Ihrem Vergleich zwischen den Beziehungen zwischen Mathematik und den Naturwissenschaften einerseits und den Beziehungen zwischen der Philosophie und den Offenbarungen andererseits ist ein wichtiger Unterschied eingeschlossen. In den Naturwissenschaften bewegen wir uns im Geltungsbereich des Determinismus, während wir uns im Bereich der Offenbarung im Geltungsbereich der Freiheit bewegen... DER ANDERE PHILOSOPH Ich bin vollkommen einverstanden. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Ihr Beitrag, geschätzter Kollege, zeigt, dass die bereits gestellten Fragen bezüglich der Offenbarung weitere Fragen bezüglich der menschlichen Freiheit und auch der Freiheit Gottes aufwerfen. Die Art und Weise, wie man sich die Freiheit vorstellt, bestimmt die Art und Weise der Offenbarungsvorstellung. Ist es nun aber die Offenbarung, die sich zur Freiheit äußert? Nein. Es handelt sich sehr wohl um eine philosophische Vorstellung. Daher muss auf die philosophische Vernunft zurückgegriffen werden, um unsere Offenbarungsbegriffe aufzuhellen. Wir werden zweifellos Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen, falls unsere Unterhaltung dieses Thema weiter vertiefen wird. An dieser Stelle würde ich die philosophische Überlegung gerne wieder aufnehmen und weiterführen. Umso mehr, da die Sprache der Gläubigen, seien sie nun Juden, Christen oder Muslime, häufig den Glauben an eine Offenbarung — an die ihre — oft als eine Bedingung für die Erlangung des Heils darstellt, als eine Bedingung für das vollständige Gelingen der menschlichen Existenz nach dem Tod... „Wenn ihr glaubt, dann werdet ihr gerettet,... werdet ihr die Gewinner sein — so habe DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 93 ich in der Übersetzung des Koran gehört — wenn ihr nicht glaubt, dann ist die Strafe euer...“ Mein Mitbruder, der Domherr, meinte, dass die durch philosophische Überlegung zur Beurteilung der Echtheit einer Offenbarung formulierten Wahrheitsnormen die Freiheit Gottes einschränken würden. In Wirklichkeit aber schränken diese Normen, die in vollkommener Weise in einer metaphysischen Überlegung begründet sind, lediglich die sehr oft in dieser Sache schwärmerische religiöse Einbildungskraft ein. Dagegen ist eine Darstellung der Offenbarung als heilsnotwendig eine Vorstellung, die unser Verständnis der Freiheit Gottes in einzigartiger Weise einschränkt. Wieder einmal ist unser Gottesbild von unseren menschlichen psychologischen Denkkategorien (Denkkategorien ] Denkschemen) beherrscht. Wenn der Philosoph dagegen die notwendigen Grundeigenschaften seines interpersonalen Seins — also seine notwendigen Beziehungen zu anderen — als ontologische Vollkommenheit und nicht nur als eine phänomenale Gegebenheit anerkennt, kann er, von der Erkenntnis dieser Grundeigenschaften ausgehend, die Normen für eine interpersonale Offenbarungs- und Glaubensbeziehung festlegen. Dieses methodologische Vorgehen scheint mir klar und stimmig zu sein, auch wenn es nicht allen gegeben ist, sich gerne darum zu bemühen. Die philosophische Genauigkeit auferlegt Gott keinerlei Zwang. Wenn der Mensch die notwendigen Grundeigenschaften seines Seins anerkennt, dann anerkennt er gerade dadurch auch die seinen Handlungen auferlegten Normen; also auch jene, die einem aktiven Vollzug des Glaubens an eine Offenbarung auferlegt sein könnten, kraft der Struktur seines interpersonalen Seins. Nehmen wir einen Vergleich aus dem Rahmen der klassischen Philosophie: die konstitutiven Grundeigenschaften, die durch eine individualistische Untersuchung trotz allem bereits erkannt werden können. Wenn der klassische Philosoph zum Beispiel zugibt, dass das Identitätsprinzip und das Prinzip der Widerspruchsfreiheit seiner Redeweise auferlegt sind, dann schließt er daraus, dass diese auch der Sprache der Offenbarung auferlegt sind. Wenn Gott sich also dem Menschen zu verstehen geben will, dann muss seine Sprache die Prinzipien der Logik beachten. 94 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Maßt sich der Philosoph dadurch an, Gott seine logischen Prinzipien aufzuerlegen, als ob es sich um eine Entscheidung handeln würde, die nur von ihm abhängt? Keineswegs. Und wenn Gott sich unter Einhaltung solcher Prinzipien offenbart, dann tut er einfach nichts anderes, als sich selbst treu zu sein, in Übereinstimmung mit seinem schöpferischen Handeln. Und genau darin liegt die „Freiheit Gottes.“ Daher erkennt der Mensch nur unter Anerkennung der ontologischen Notwendigkeiten, unter denen eine Offenbarung Gottes stattfinden kann und muss, wenn sie stattfindet, und dank einer angemessenen philosophischen Überlegung wirklich, was die Freiheit Gottes ist. Und er kann übrigens genau so auch erkennen, dass Gott sich tatsächlich in voller Freiheit offenbart. Seine Glaubensantwort kann daher also auch gänzlich frei sein... Zu denken, dass Gott sich so oft offenbart, wie es ihm beliebt, wann er will, wem er will, um das zu offenbaren, was er will — und vielleicht sogar unmoralisch handeln, unter dem Vorwand, dass es Gott ist, der da willkürlich über Gut und Böse entscheidet —, käme offensichtlich dem gleich, sich die Möglichkeit einer Offenbarung nach dem von allen am meisten auf den Menschen zugeschnittenen Muster vorzustellen. Die Berufung auf Gott kann manchmal sehr niedrige Instinkte im Menschen verdecken... Das stellt man fest... DER SOZIOLOGE Tatsächlich... Der Religionssoziologe stellt mehr oder weniger überall ähnliche Verhaltensweisen fest. Wenn Menschen vorgeben, im Genuss derartiger Offenbarungen zu stehen, dann haben ihre Zuhörer keinerlei Schwierigkeiten, „sich darin wiederzuerkennen“, also „sich wie zu Hause zu fühlen“. Sie halten dann unbewusst diese Ähnlichkeiten für Zeichen der Echtheit und glauben schleunigst daran. Diese Zustimmung ist umso begeisterter, je mehr der selbsternannte Träger der Offenbarung ihnen ewige, begehrenswerte Belohnungen verspricht, und ihnen bereits jetzt einen Vorgeschmack zusichert, in der Form von materiellen Vorteilen, die durch Gewalt über die Güter der Ungläubigen herbeizuschaffen sind. Letztere aber werden mit ewigen Strafen bedroht, welche in den Verletzungen, die man ihnen zufügt, bereits vorausgenommen werden. Da sie Gott abgelehnt haben, ist man berechtigt, sie willkürlich zu behandeln... DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 95 Ich möchte an dieser Stelle unserem Psychoanalytiker sagen, dass unser „Glaubenstrieb“ in diesem Fall „narzisstisch“ ist, bis hin zur Leugnung des Anderen. Dieser „Narzissmus“ ist eine Verkrümmung, eine Umkehrung des „Verlangens“... Wie erklären Sie das? DER PSYCHOANALYTIKER Zweifellos. Aber auch wenn „Narzissmus“ eine Perversion des Verlangens ist, so bezeugt er doch dessen Existenz. Auch hier sehe ich wieder eine Parallele zum sexuellen Verlangen. Wenn es normal entwickelt ist, erfreut es sich an der Freude des Anderen. Es ist der sinnliche Ausdruck der Liebe, die das Glück des Anderen will und sich freut, es herbeizuführen. Es pervertiert sich, wenn es besitzergreifend und beherrschend wird. Es kann sich bis hin zur Vergewaltigung und zum Verbrechen pervertieren. Wie soll ich Ihnen das erklären? Ich weiß nicht... Wenigstens kenne ich keine psychoanalytische Antwort. Wie kann das Verlangen nach Genuss, wie Freud sagte, sich selbst zerstören, indem es das zerstört, was ihm seine Selbstverwirklichung erlaubt? Ich weiß es nicht... Es ist für mich ein Geheimnis... Als Mensch denke ich, dass es sich um eine Form des Bösen handelt... Aber indem ich dies sage, verlasse ich den Bereich der Psychoanalyse... Ich müsste Philosoph werden... Aber dazu ist es zu spät... DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler Es ist nie zu spät, um das Richtige zu tun... DER PSYCHOANALYTIKER Das denken Sie... Missbrauchen Sie dabei nicht meinen Glaubenstrieb? Nachdem einige Teilnehmer wohlwollend gelächelt haben: DER ANDERE PHILOSOPH So betrachtet ist Ihr Vergleich zwischen dem Sexualtrieb und dem Dynamismus des Glaubens vertretbar... Die Abirrung unserer Glaubenszustimmung zu einem menschlichen Offenbarungstrugbild bezeugt deren Existenz. Die Millionen von Menschen, die an Mohammed glauben, bezeugen in Wahrheit nicht die Wirklichkeit einer von Gott an Mohammed ergangenen Offenbarung, sondern die Wahrheit, dass der Mensch von Natur aus ein „Glaubender“ ist. Die Menschen 96 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN sollten sich durch ein rigoroses reflexives Denkverfahren dieser natürlichen konstitutiven Veranlagung zum Glauben bewusstwerden. Es ist eine Veranlagung, die große Beachtung verdient... Eine übergroße Herausforderung... DER PSYCHISCHE HANG DES GLAUBENDEN BEWUSSTSEINS, SICH SCHEINBARE OFFENBARUNGEN IN MENSCHLICHEN WORTEN ZU GEBEN DIE ANWÄLTIN Und was sagen Sie zu den Atheisten? Die sind doch trotzdem Menschen. Ich lege Wert darauf, sie zu verteidigen... DER ANDERE PHILOSOPH Der Atheismus kann eine gesunde Reaktion des als Glaubender veranlagten Menschen gegen den „Narzissmus“ seines Glaubenstriebes sein. Die Atheisten sind für ihre glaubenden Brüder von großem Nutzen. Aber ihre Reaktion ist unzureichend. Denn hinter dem „Narzissmus“ des sich unbewusst zu seinem Spiegelbild niederbeugenden Glaubenden verbirgt sich gut und gerne die Wirklichkeit der „aktiven Glaubensfähigkeit“ eines gewissen „Dynamismus, zu glauben“. Soll man diesem jegliche Verwirklichung verweigern, wie es der Atheist will? Und soll man, angesichts der Schwierigkeiten, ihn authentisch zu verwirklichen, seine unvollständigen Verwirklichungen verunmöglichen? Soll man die Ehe verbieten unter dem Vorwand, dass eine vollkommene Liebe zwischen Mann und Frau unmöglich ist? Alle Probleme der Religionen und der Beziehungen zwischen den Religionen liegen hier... insbesondere das Problem der Beziehungen zwischen „Religionen“ und Glauben. DER THEOLOGIEPROFESSOR Aber was wird der Mensch sich selbst tatsächlich als Offenbarung geben, wenn er, wie Narziss, seinen „Glaubenstrieb“ in eine Offenbarung projiziert, die ihm das Bild seiner „religiösen Psyche“ widerspiegelt? DER ANDERE PHILOSOPH Mit dieser Frage geben Sie fast schon die Antwort. Er wird sich selbst, seine Überzeugungen, seine moralischen Gesetze, sein Recht, seinen Lebenssinn, seine Lösungen der existentiellen DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 97 Probleme, seine Riten, usw. projizieren. All seine Denk- und Handlungsweisen, die das Leben und den Tod betreffen, die Welt seiner Erfahrung, und das, was sich daraus als jenseits seiner Erfahrung liegende Wirklichkeit zu ergeben scheint, besonders seine Gottesvorstellung, all dies ist geeignet, um „als Offenbarung wieder auf ihn hinabzusteigen“. Der menschliche Wert — ich sage nicht göttliche Wert — dessen, was er sich selbst als „Offenbarung“ gibt, hängt wohlverstanden von dem Wert dessen ab, was er aus sich herausprojiziert. Der Inhalt der Offenbarungen muss also nach dem rationalen Ideal, das er sich zu geben fähig ist, beurteilt werden. Der Mensch ist fähig, sehr edle und erhabene menschliche Werte, vielleicht die edelsten und erhabensten, die man sich vorstellen kann, als „Gedanken Gottes“ — Gott ausgeliehene Gedanken — zu projizieren und sie sich „als Offenbarung wieder zukommen zu lassen“. Daran besteht kein Zweifel. Aber das bedeutet noch nicht, dass er sich in dieser oder jener „Offenbarung“ im Lauf der Geschichte bereits seine höchsten Werte gegeben habe. Zweifellos sind noch Fortschritte möglich... Vor allem, wenn der Mensch sich dieses narzisstischen Spiegelbildes seiner selbst in den Offenbarungen, die er sich gibt, bewusst wird. Er wird Fortschritte machen, wenn er die Beschaffenheit seiner Glaubensfähigkeit besser versteht und daher auch, was Gott sein kann und wie Gott ihm in einer wahrhaftigen, nichtnarzisstischen Offenbarung in seiner menschlichen Natur begegnen kann. Durch eine Untersuchung der herausragenden unter den religiösen Botschaften, die für „offenbart“ gehalten werden, könnte dies alles noch weiter ausgeführt und bis ins Letzte erklärt werden. Aber ich lege wiederum Wert darauf, hier zunächst Präzisierungen anzubringen. Diese vom Menschen durch den Glaubenstrieb durchgeführte Projektion seiner selbst in eine „Offenbarung“, die er sich „als dem von Gott Empfangenden“ gibt, ist kein unmoralisches Verhalten, und auch nicht irrational. Das Krankhafte an diesem religiösen Phänomen besteht darin, dass der Mensch sich seiner nicht bewusst wird, dass es im Unbewussten bleibt und „Störungen“ nach sich zieht. Der Glaubenstrieb muss erzogen, gepflegt, zivilisiert und „rational durchdacht“ werden... Er darf nicht durch einen „reduktionistischen“ Beurteiler verdrängt werden, ansonsten kommt er in der Gestalt der „verschleierten“ Glaubensüberzeugungen von „wissenschaftsgläubigen partiellen 98 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Vernünftigkeiten“ und „vergötzten Techniken“ wieder zum Vorschein. Er darf auch nicht in seiner ungehobelten Ursprünglichkeit belassen werden, und sich durch alle möglichen Arten von Mystizismus und religiösem Wahn entladen. Er muss in Aufrichtigkeit und Klarheit gelebt werden. Auf diese Weise kann er sich darauf einstellen, das, was eine „wahrhaftige Offenbarung Gottes“ sein könnte, aufzunehmen. Der Mensch wäre sich so der Bedingungen der Möglichkeit und Verständlichkeit einer derartigen Offenbarung bewusst geworden. Er hätte rational auf die Frage „Was kann und was soll eine wahrhaftige Offenbarung Gottes sein?“ geantwortet. Er wäre fähig, das Wesen seines Glaubens richtig einzuschätzen, und in jeder Offenbarung ihren Eigencharakter und ihren Anteil an Echtheit zu erkennen. DER THEOLOGIEPROFESSOR Dann glauben Sie also nicht, dass Gott zu Abraham gesprochen hat, zu Mose und zu den anderen Propheten? Und wenn ich Muslim wäre, würde ich anfügen: und zu Mohammed? DER ANDERE PHILOSOPH Entschuldigen Sie! Ich verstehe Ihre Frage nicht. Welchen Sinn geben Sie dem Wort „glauben“? Fragen Sie mich, ob ich „den Glauben daran habe“, dass Gott gesprochen hat...? Oder dass ich der Meinung, also der Überzeugung bin, dass Gott gesprochen habe... oder nicht gesprochen habe... In meiner Frage nach Genauigkeit geht es nicht zuerst darum, ob Gott gesprochen hat oder nicht gesprochen hat, sondern um den Sinn des Wortes „glauben“. DER THEOLOGIEPROFESSOR Ich habe hier dem Ausdruck „glauben“ in uneigentlichen, aber gebräuchlichen Sinn von „der Meinung sein, die Ansicht haben, denken, dass...“ verstanden. Ich weiß sehr wohl dass, wenn ich ihn im Sinn von „den Glauben haben“ verstehen würde, Sie mir sagen würden, dass es ebenso wenig einen Grund gibt, den Ausdruck „glauben - den Glauben haben“ zu verwenden, wie sich zu fragen, welche Farbe der Schnittpunkt zweier Geraden hat... Wenn es um Ereignisse geht, kann man nichts weiter tun als die Zeugnisse zu betrachten und sie anzunehmen oder abzulehnen. Der gebräuchliche Ausdruck ist, zu sagen, dass man DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 99 „Glauben“ schenkt oder nicht schenkt; oder sagen wir besser „Glaubwürdigkeit zuerkennet“: Man schenkt einer Überlieferung Vertrauen oder nicht. In diesem Fall kann es sich tatsächlich um nichts weiter handeln als eine Art von „menschlichem Glauben“. Wohlverstanden, wenn man in einer derartigen Überzeugung erzogen wird, dann bleibt man ihr ganz natürlicherweise treu, so wie seiner Muttersprache. DER ANDERE PHILOSOPH Bin ich also der Meinung, Gott habe zu den Propheten gesprochen...? Ich antworte. Wenn man sich ein an jemanden gerichtetes Wort, wie etwa jene, die wir in diesem Kolloquium aneinander richten, vorstellt, dann würde ich verneinend antworten, was auch immer dieses wunderbare Phantasiegebilde sein möge: Engel, himmlische Stimmen, Erscheinungen, unmittelbar in der Intelligenz stattfindende rein geistige Bewegungen, mit denen man ein solches Wort umhüllt hätte, um seinen Unterschied zu unseren Worten zu zeigen. Dieses wunderbare Phantasiegebilde ist in den Augen des Philosophen nicht in der Lage, die Transzendenz Gottes wirklich zu erkennen und zu respektieren. Diese Einbildungen wollen aber sicherlich eine Transzendenz bejahen und behaupten. Sie haben also durchaus einen Sinn. Man muss sie als die religiöse Umkleidung, als den Schmuck unseres „Glaubenstriebes“ verstehen — hier nehme ich den von unserem Psychoanalytiker gebrauchten Ausdruck wieder auf; selbst wenn wir dadurch im weiteren Verlauf der Diskussion auf diese Formel zurückkommen und uns nach ihrer wahren Beschaffenheit fragen. Diese mehr oder weniger märchenhaften Einbildungen sind vor allem unserer körperlichen Verfasstheit angepasst. Und in dem Maß, in dem sie mittels visueller, hörbarer oder fühlbarer Unterschiede einen gewissen Abstand zu unserem empirischen Bewusstsein betonen, beabsichtigen sie tatsächlich das Aussagen einer Transzendenz. Diese Aussage ist rein psychologischer Art, selbst wenn sie eine äußerst geistige psychische Qualität aufweisen kann, wie das im Fall der Visionen des Paulus und Mohammeds — der Herr Kanonikus hat uns darauf hingewiesen — und vieler anderer im Verlauf der religiösen Geschichte der Menschen gegeben ist. Die Gefahr, die Falle, die Selbsttäuschung oder der Vertrauensmissbrauch liegt darin, diese Kleidung — diese irreführende Kleidung, denn sie ist zum Teil eine „Verkleidung“ 100 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN — unseres Glaubenstriebes für die objektive Wirklichkeit einer von Gott ausgehenden Offenbarung zu halten oder sie als solche auszugeben. Ich sage also nicht, dass es nicht irgendetwas geben kann, was gemäß einer derartigen, auf Vorstellung beruhenden Darstellung dem Bereich der „Offenbarung Gottes“ angehört. Die Frage dreht sich darum, diese offenbarte Gegebenheit rational erkennen zu können. Zuerst, indem man sie von ihrer auf Einbildung beruhenden Verpackung unterscheidet; dann, indem man sich fragt, ob alles, was sich unter dieser Verkleidung verbirgt, ganz dem Bereich einer Offenbarung angehört. Wer erkennt, dass eine Verkleidung des Glaubenstriebes vorliegt, befreit sich von dieser Verkleidung, die eine doppelte Falle ist: Sie lockt die „Beurteiler“ des Glaubenstriebes in die Falle, aber auch den Glaubenstrieb selbst, wenn man diese Verkleidung für die Offenbarungswirklichkeit selbst hält. Wer könnte ohne Schaden den verschwommenen Traum von einer sexuellen Vereinigung für die Wirklichkeit einer ehelichen Umarmung mit ihrer ganzen Offenheit für das Leben und dem Aufblühen einer Familie für die Ewigkeit halten? Auf der einen Seite haben wir es mit dem klaren Bewusstsein eines menschlichen Ideals zu tun, auf der anderen mit einer zu diesem Ideal in unklarer Verbindung stehenden Traumvorstellung. DER DOMHERR Sie wollen also sagen, dass die Glaubenden „Träumende“ sind! DER ANDERE PHILOSOPH Im Hinblick auf die Zweideutigkeit des Ausdrucks „Träumender“ und daher auch auf all die Möglichkeiten, Ihre Aussage falsch zu verstehen, würde ich sagen: nein. Aber wenn Sie das Vergleichsverhältnis weiter ausarbeiten, da es zwei Verhältnisse zu vergleichen gilt, und nicht zwei isoliert betrachtete psychische Zustände, und wenn Sie sagen: „Der religiös Glaubende verhält sich zur rational erkannten Wirklichkeit einer Offenbarung Gottes, wie der träumende Mensch zur Wirklichkeit der durch den wachenden und aufmerksamen Menschen erkannten Welt; dann bin ich einverstanden. Aber Sie verstehen sicherlich, dass dieser Vergleich zwischen zwei Verhältnissen nicht zufriedenstellend ist. Wie vergleicht DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 101 man richtig den „religiös Glaubenden“ mit dem „authentisch glaubenden Glaubenden“? Es handelt sich nämlich tatsächlich nicht um zwei Individuen oder Gemeinschaften von Individuen. Es handelt sich auch nicht darum, den „glaubenden Glaubenden“ eines religiösen Nach-außen-hin-Zeigens seines Glaubens zu berauben. Eine eheliche Liebe, die sich selbst als ewige Liebe will, beraubt sich selbst nicht der sexuellen Umarmung, sondern gibt ihr im Gegenteil ihre ganze Vollkommenheit... DER THEOLOGIEPROFESSOR Sie siedeln die Religion also im Bereich der äußeren Verhaltensweisen an, im Bereich der „Riten“, Gesten und Worte; den Glauben hingegen im Bereich der Veranlagungen der Intelligenz und des Herzens? DER ERSTE PHILOSOPH Was entspricht in Ihrem Verhältnis von Proportionen in der Ordnung des Glaubens dem, was der wachende und aufmerksame Mensch im Verhältnis zur äußeren Welt ist? DER ANDERE PHILOSOPH Hier haben wir zwei Fragen! Aber im Grunde genommen warten sie beide auf dieselbe Antwort. Nehmen wir also in der Beziehung a/b = c/d, „x = a“ als Unbekannte an! In der Ordnung des Glaubens wäre das dem wachen Menschen in der Welt (c) im Verhältnis zum Träumenden (d) Entsprechende der Mensch, der über eine rationale, klare, vollständige und logisch zusammenhängende Kenntnis seines Glaubens verfügt, also eine Kenntnis seiner lebendigen persönlichen Verbindung mit einem Anderen, der sich ihm offenbart und verpflichtet (mit anderen, die sich ihm offenbaren und verpflichten) (a). Nennen wir ihn den „glaubenschaftlich Glaubenden“, den „vertrauenden Menschen“, im Vergleich zum „religiös Glaubenden“, oder besser zum „Glaubenden, der ausschließlich religiös ist“ (b). Der „glaubenschaftliche Glaubende“ ist niemals allein, er steht immer, von Angesicht zu Angesicht, in bewusster interpersonaler Verbindung mit „seinem“ Selbstoffenbarer. Dies kann in bestimmten, besonderen Augenblicken durch ein außerordentliches, aber ganz und gar menschliches Bewusstsein der göttlichen „Nähe“ und „Gegenwart“ geschehen. Das glaubenschaftliche Bewusstsein ist gemäß seiner Beziehung zu 102 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Gott für Gott offen und Gott ist ihm in schöpferischer Weise gegenwärtig. Genauso verhält es sich mit der Glaubenschaftlichkeit oder Vertrautheit zwischen menschlichen Personen, gemäß den ihr eigenen Verwirklichungsweisen. Im Verhältnis zu Gott kann der glaubenschaftliche Mensch einerseits sehr wohl auch religiös seinen Glauben an eine echte und rational als solche erkannte Offenbarung zum Ausdruck bringen. Unter der Voraussetzung, dass die Beziehung des Menschen zu Gott in dem Sinn allgemein einzigartig ist, dass jeder in seiner persönlichen Einzigartigkeit zu Gott in Beziehung steht, wird der religiöse Ausdruck des Glaubens, der gewöhnlich Persönlichkeiten vereint, die als nebeneinanderstehend betrachtet werden, (wie alle Gegenstände der materiellen Welt), nun gemeinsam, gemeinschaftlich und kirchlich sein. Dagegen verwirklicht sich die zwischenmenschliche Glaubenschaftlichkeit in einem Netzwerk von ähnlichen Beziehungsstrukturen. Dies ist der Fall in einem „Volk“, das eine „durch Familien strukturierte Gesellschaft“ ist. Andererseits setzt der in seinem religiösen Glauben ehrliche religiöse Glaubende, falls er seinen Glauben mit den ethischen Ansprüchen seines Gewissens in Einklang bringt, auf gültige, wenn auch mangelhafte Weise einen Glaubensdynamismus in die Tat um, der ihn darauf vorbereitet, vielleicht schon zu Lebzeiten, aber gewisslich in seiner Sterbestunde, dem sich offenbarenden Gott zu begegnen. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Entschuldigen Sie! Mein Beitrag ist nichts weiter als eine Klammer, die ich zu schließen gedenke... Mir scheint, dass Ihre Unterscheidung zwischen „Ansammlungen von Individuen“ und „aus Familien bestehende Gesellschaft“ den Entwurf zweier Kirchenbilder enthält: eine Gemeinde von glaubenden Individuen, oder eine Gemeinschaft von glaubenden Familien, deren Glieder zueinander in Glaubensbeziehung stehen. Ich schließe die Klammer, aber ich würde Ihnen persönlich gerne mehr dazu sagen... DIE ANWÄLTIN Sie haben gerade von „echter, rational als solche erkannter Offenbarung“ gesprochen. Aber wie kann man rational, also in für den Anwalt ersichtlicher Weise unterscheiden, welche Bestandteile einer offenbarten Botschaft oder Folge von DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 103 Botschaften von Gott stammen und welche nicht; welche von Gott stammen und welche eine Verkleidung „des Glaubenstriebes“, wie Sie sagen, sind? DIE HISTORIKERIN Gute Frage! Wenn es genaue Unterscheidungsmerkmale gäbe, wäre das für den Historiker tatsächlich interessant. DER ARABISCHPROFESSOR Richtig! Mohammed unterscheidet sehr genau zwischen dem, was ihm von Gott durch den Engel Gabriel mitgeteilt wurde, und seinen persönlichen Einstellungen. Letztere sind für den Muslim trotzdem wichtig, da sie ja eben die eines Propheten sind, also eines Menschen, der sicherlich am besten über die Übereinstimmung seines Verhaltens mit dem Willen Gottes, des Herrn der Welten, des Unendlich Barmherzigen, des Ganz Erbarmen, urteilen konnte. Mohammed hat nicht ... geträumt... Der Qur’ān sagt es. „Weder ist er fehlgeleitet, noch irrt er, noch spricht er aus eigenem Antrieb...“ Sure 53, Verse 2 und 3. DER ANDERE PHILOSOPH Ich denke nicht, dass es der Anwältin um eine Unterscheidung zwischen dem, dessen göttlicher Ursprung beansprucht wird, und dem, was dem Menschen zugeschrieben wird, geht. Jeder Beliebige kann eine derartige Unterscheidung vornehmen, mag er sich nun als inspiriert bezeichnen, oder als Prophet, oder als Auserwählter einer religiösen Institution. Meiner Untersuchung unterziehe ich jede Religion, oder besser gesagt jede religiöse Lehre, die für sich beansprucht, auf eine Offenbarung gegründet zu sein, oder eine solche übermittelt. Es handelt sich um eine Unterscheidung, oder vielmehr um ein Erkennen, welches für das durchzuführen ist, was ausdrücklich als „offenbarte Worte oder Texte“ dargestellt wird. Auf diese Frage der Anwältin muss ich antworten. EINE VON GOTT KOMMENDE OFFENBARUNG SETZT EINE ONTOLOGISCHE FÄHIGKEIT VORAUS, SIE ZU EMPFANGEN Damit stellen Sie, Herr Professor, eine verwirrende Frage. Sie fordern sichtbare Kriterien... Auch fürchte ich, jeden Historiker oder Soziologen zu enttäuschen... Es ist nicht möglich, in einer Botschaft, die sich als offenbart darbietet, mündlich oder 104 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN schriftlich, das, was wirklich offenbart sein mag, von dem, was es nicht ist, etwa so zu unterscheiden, wie man in einem Text die gut aufgebauten Sätze von denen unterscheiden kann, die es nicht sind, oder die gute Rechtschreibung von der schlechten. Es gibt keine „Grammatik der offenbarten Rede“. Damit will ich sagen, dass es keine objektiven, erfahrbaren, äußeren, beobachtbaren Kriterien gibt, um eine derartige Unterscheidung vorzunehmen. Der Grund dafür ist, dass wir uns, wenn es um den Glauben geht, nicht mehr im Bereich der empirisch oder naturwissenschaftlich verarbeiteten Sinneswahrnehmung bewegen. Dies zu denken, oder zu denken, dass derartige Kriterien existieren könnten, wäre eine neue Art der „Verkleidung“ unseres „Glaubenstriebes“. Zum Beispiel, wenn man außergewöhnliche Heilungen einer medizinischen Untersuchung unterzieht, um festzustellen, ob es sich um „echte“ Wunder handelt oder nicht, ob man darin ein Eingreifen Gottes sehen muss oder nicht. In derartigen Situationen versucht unser „Glaubenstrieb“, sich gegen einen skeptischen „Beurteiler“ zu schützen. Dadurch unterwandert er sich selbst und anerkennt sich selbst nicht wirklich in seiner für unser Sein konstitutiven Dimension. Der Mensch, der träumt, hält seine Traumbilder für die Wirklichkeit, selbst wenn er träumt, dass er sich in die Luft erhebt und auf ihr treibt. In seinem Traum würde er sich sogar darüber wundern, zu schweben... Er kann das sogar hinterfragen, um herauszufinden, ob er wirklich schwebt oder nicht. Was würden ihm die experimentellen Kriterien, die ihm im Traum beweisen, dass er schwebt, nützen? Der Glaubende, der ausschließlich religiös ist, oder sein Prophet, der sich auf nichts weiter als auf seine Offenbarung beruft, um die Echtheit seiner Offenbarung zu beweisen, gleicht diesem „Träumenden“. Sobald der Mensch aufwacht und sich aufmerksam mit der Welt und ihren Angelegenheiten beschäftigt, wird er urteilen, dass sein Traum nichts weiter ist als „Traum“, dass es sich nicht um dieselbe Wirklichkeit wie die seiner Berührung mit den Dingen und seinen Begegnungen mit anderen Menschen handelt. Um seinen Traum zu bewerten, muss der Träumende aus seinem Traum aussteigen. Um seine „Offenbarung“ zu bewerten, muss der religiös Glaubende oder der erleuchtete Prophet aus seiner „Offenbarung“ heraustreten, aus seiner DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 105 „Erleuchtung“, um deren Wirklichkeit und Wahrheitsgehalt einzuschätzen. Und dieses Herausgehen geschieht durch philosophisches Nachdenken über seine bewusste Glaubensaktivität und seine konstitutive Glaubensfähigkeit. Ich wiederhole mich nochmals... Aber es gibt keinen anderen Weg zu einer Offenbarungswahrheit für meinen Glaubensdynamismus. Ich beende die Erklärung meines Vergleichs... Von seinem Schlaf erwacht, kann der Mensch auch nach seinen Träumen fragen. Vielleicht haben sie einen Sinn? Träumen ist für den Menschen eine Wirklichkeit. Und weil sie sich während des Schlafes abspielt, ist es noch lange nicht so, dass seine Traumaktivität keinen psychologischen Sinn hätte oder dass ihr Inhalt nicht in irgendeiner Weise sein Seelenleben widerspiegeln würde. So sind also die Offenbarungen, die die Menschen sich notwendigerweise als von Gott stammend geben, deswegen nicht sinnlos oder eine reine Ansammlung von Irrtümern. Sie sind ein kulturelles Greifbarwerden dieses im Tiefsten des menschlichen Seins angelegten „Dynamismus, zu glauben“. Das glaubenschaftliche Bewusstsein des Menschen gibt sich einen Gegenstand. Und als solche sind diese selbstgemachten Offenbarungen durchaus anzuerkennen... Daran besteht kein Zweifel. Die Frage in diesem Punkt betrifft das Wissen, welchen Offenbarungsgegenstand das glaubenschaftliche Bewusstsein im Bereich seiner natürlichen Tätigkeit als in seinem Sein immanente Offenbarung erkennen kann, und welche einer transzendenten Offenbarung entsprechende Wirklichkeit es anzunehmen fähig ist, ohne darüber in irgendeiner Weise entscheiden zu können. Die Erforschung dieser selbstgemachten Offenbarungen kann sogar eine Art Vorbereitung auf ein philosophisches Nachdenken über die Glaubenstätigkeit sein. Das Entdecken von Hinweisen auf Abartigkeiten des Glaubens und Offenbarungstrugbilder, und zwar an deren Berührungspunkten mit anderen menschlichen Tätigkeiten, mit denen sie im Widerspruch stehen, kann uns auf den Weg einer Wahrheitssuche führen. Schließlich, nachdem man sich von der Illusion der angeblich transzendenten Offenbarungen befreit hat, kann man sich auch noch genauere Fragen stellen. Was sagen uns derartige Offenbarungstatsachen und Glaubensüberzeugungen über die 106 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN ontologische Wirklichkeit unserer Beziehung zur Transzendenz? Was „enthüllt“ uns ihr Inhalt über diese Beziehung zur Transzendenz? Was in ihnen ist in gewissem Grad zwar keine transzendente Gottesoffenbarung, aber „immanentes Aufleuchten“, Enthüllung der Beziehung des Menschen zu Gott, auf relationale interpersonale und daher glaubenschaftliche Weise? Davon ausgehend und abgestützt auf philosophische Überlegung, kann man sich dem rationalen Unterscheiden dessen, was wirklich Offenbarung, transzendente Selbstoffenbarung Gottes ist, annähern, weil man dessen Übereinstimmung mit unserer ontologischen Veranlagung zum Glauben wahrnimmt, die von Gott selbst als „Wiege“ für seine von Ewigkeit her vorhergesehene Offenbarung geschaffen wurde. Ich mache einen anderen Vergleich... Indem man zwischen einem Kasten, einem Korb und einer Wiege unterscheidet, kann man beurteilen, ob das, was hineingelegt wird, auch das ist, was hineingehört... Würden wir uns mit Holzscheiten oder Dosen in einer Wiege zufriedengeben? Falls ich die Anwältin oder die Historikerin enttäuscht habe, hoffe ich, dass ich trotzdem den Glaubenden, die sie ja auch sind, ... etwas Licht gebracht habe. DER ARABISCHPROFESSOR, in protestierendem Tonfall Wollen Sie damit sagen, dass der Islam eine Ansammlung von Konservendosen ist? DER ANDERE PHILOSOPH Entschuldigen Sie, mein Herr, das habe ich nie gesagt... Das wäre Ihnen gegenüber respektlos... aber mit ähnlichen Verdrehungen meiner Gedanken könnten Sie mir ein „TodesFetwa“ einhandeln. DER ERSTE PHILOSOPH: Aber! Dem können wir uns nicht anschließen!... Mein muslimischer Freund ist kein fanatischer Anhänger des „heiligen Krieges“... Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass er für Überlegungen sehr offen ist... Aber als Literaturprofessor ist er nicht mit dieser Art von Redeweisen, also mit dem Vergleich von Verhältnissen, vertraut. In der Dichtkunst sind Metaphern DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 107 direkter, einfacher... Und auch die religiösen Aussagen des Islam sind sehr einfach... Man muss seine Reaktion verstehen... DER ANDERE PHILOSOPH Ich verstehe... Aber Einfachheit ist in unserer Debatte keine Gegebenheit, von der wir ausgehen können. Sonst verfallen wir in übermäßige Vereinfachungen der Meinungen und in die Entstellung der Wirklichkeit. Einfachheit ist das Ergebnis eines Zusammendenkens der Komplexität des Daseins... Platon zeigt dies sehr gut mit dem Höhlengleichnis und dem Sinnbild des Liniensegments, das nach einem gegebenen Verhältnis a/b in vier Teile aufgeteilt ist, so dass von den Teilen zwei einander gleich sind und die zwei anderen jeweils von drei anderen verschieden... Plato gebraucht Sinnbilder, um die verschiedenen Formen der menschlichen Erkenntnis untereinander in Einklang zu bringen. Aber mit dem glaubenden Bewusstsein — das Platon nicht kannte — haben wir es wiederum mit einer besonderen Form von Erkenntnis zu tun... Dazu muss eine Methodologie entwickelt werden... Ich stellte daher einen Vergleich zwischen zwei Verhältnissen und nicht zwischen vier Dingen an, je zwei und zwei. Diesen Vergleich arbeite ich noch etwas aus: die Offenbarung des Koran ist für das glaubenschaftlich-ontologische Bewusstsein des muslimischen (oder nicht-muslimischen) Menschen das, was jedes Objekt, das nicht ein Baby ist (Konservendosen oder eine Katze, die sich auf der Decke räkelt oder was auch immer, wie der Schal seiner Mutter) für die von den Eltern vorbereitete Wiege ist. Sie verstehen, dass „die von den Eltern vorbereitete Wiege“ ein Sinnbild für das von Gott geschaffene „glaubenschaftliche Bewusstsein“ ist, vorgesehen für seine transzendente, aber bereits in seiner Erschaffung immanente Offenbarung Gottes. Wenn es Koranverse gibt, die Wahrheiten aussagen, und die es verdienen, als offenbart verstanden zu werden — und solche Koranverse gibt es, das bestätige ich — dann gliedern sie sich in den inneren Aufbau des glaubenschaftlichen menschlichen Bewusstseins ein. Sie entsprechen - ich rede in Vergleichen bestimmten Teilen der Wiege... Sie hängen von einem natürlichen Bewusstsein des Glaubens im Menschen ab... Aber es gibt keinerlei transzendente Offenbarung Gottes, die durch die Worte eines Engels übermittelt werden könnte... 108 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Da der muslimische Mensch erst Mensch und dann Muslim ist, obliegt es ihm, sich zu fragen, welcher Grad an Übereinstimmung mit den konstitutiven Eigenschaften seines menschlichen glaubenschaftlichen Bewusstseins seiner muslimischen, kulturellen und geschichtlichen Glaubensweise zukommt. Ich kann mir diese Frage nicht an seiner Stelle stellen... Nun weiß ich auch durch meine persönliche Auseinandersetzung mit dem Koran, dass im Umfeld des Islam alles darauf ausgelegt ist, dieses Hinterfragen zu verhindern, besonders dadurch, dass einem eingeprägt wird, dass der Mensch als „Muslim“ erschaffen wurde, dass Adam der erste Muslim ist, und dass alle anderen, Juden und Christen, Verräter an dieser ursprünglichen muslimischen Offenbarung gewesen sind. Aber lassen wir diese Anmerkungen und die durch sie entstehenden Streitigkeiten, um zum Wesentlichen an der Unvereinbarkeit von Philosophie und religiösem Offenbarungsbild... im Islam, aber nicht nur im Islam... zurückzukommen. Am Anfang Ihres Beitrags haben Sie gesagt, dass es im Menschen keinerlei Fähigkeit gibt, eine Offenbarung zu empfangen... DER ARABISCHPROFESSOR Der Qur’ān sagt: „Was hat der Mensch, (also: was besitzt der Mensch, so) dass Gott zu ihm sprechen würde? Die Antwort ist selbstverständlich verneinend. Er besitzt nichts. Er hat keinerlei Macht, keine Befähigung dazu, dass Gott zu ihm spricht. Außer durch Offenbarung: entweder wie durch Schleier hindurch, oder dass Er einen Engel sendet, der dann, auf sein Geheiß hin, das offenbart, was Er will. Weil sich dies nun für Mohammed zugetragen hat, kann der Mensch durch die Vermittlung des Engels eine Offenbarung empfangen. Aber er ist nicht fähig, Gott unmittelbar sprechen zu hören, denn Allah — gelobt sei sein Name — ist unendlich erhaben. DER ANDERE PHILOSOPH Diese Antwort kommt unserer religiösen Vorstellungskraft entgegen... Sie ruft Bruchstücke biblischen Gedankenguts in DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 109 Erinnerung... Gott ist hinter dem „Vorhang des Tempels“ verborgen... Ein Engel, der zwischen Gott und dem Menschen die Rolle eines „telefonischen“ Boten spielt, überbringt die Botschaft... Das ist psychologisch einfach und kann unmittelbar angenommen werden... Man neigt dazu, es zu glauben... Man glaubt... Aber eben! Für die Vernunft ist es nicht so einfach, denn Gott spricht nicht, nicht einmal zu dem Engel... Es wäre nötig, dass der Engel nicht nur ein Botschafter des „unsichtbaren Alleinherrschers“ wäre, sondern noch dazu ein „Entschlüssler und Wiederverschlüssler“, indem er das ihm gezeigte göttliche Gedankengut entschlüsselt und es in einer menschlichen Sprache wieder verschlüsselt, in diesem Fall auf Arabisch, damit Mohammed es verstehen kann... Die Religionsgeschichtler wissen, dass Gabriel viele Sprachen beherrscht... Aber selbst wenn Gabriel zu Mohammed und zu jedem beliebigen anderen sprechen könnte, so könnte er nichts weiter offenbaren als das, was Gabriel „ist“, und das was er, Gabriel, mit dem Menschen vorhat. Die Offenbarung, die Gott an Gabriel ergehen lassen kann, ist nichts anderes als „Gabriel“ selber. Denn wenn Gott „spricht“, erschafft er. Die „Worte Gottes“ sind wirkliche Seiende, und nicht nur „Gedanken von Menschen oder ... Engeln“. Und diesem psychologischen Anthropomorphismus, der Gott betrifft, entgeht man nicht dadurch, dass man noch mehr Mittlerwesen annimmt. Man wird nicht dadurch dem Raum entsteigen, dass man einer Leiter unendlich viele Sprossen hinzufügt... Der Mensch muss der göttlichen Transzendenz auf andere Weise als die der Einbildung Achtung zollen... Er muss es ... „in der Vernunft“ tun. Dennoch ist seine Achtung in der Vorstellung nicht wertlos. Sie ist ein Abglanz dieses grundsätzlichen Anspruchs auf Achtung, auch wenn sie sich selbst im Irrtum befindet... Außer, sie wäre rein symbolisch, allegorisch... Wenn Gott sich also dem Menschen offenbaren will, dann erschafft er ihn in Hinsicht auf diesen Plan. Er braucht keine Notlösungen, um diesen für einen Menschen zu verwirklichen, der am Anfang unfähig gewesen wäre, Gottes Offenbarung zu empfangen. Nun zeigt die jahrhundertelange Weigerung des Islam, andere Formen der Offenbarung als die an Mohammed ergangene in Betracht zu ziehen, und die dementsprechende Darstellung aller vorausgegangenen Propheten, Jesus darin 110 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN eingeschlossen, sehr wohl den Sinn des Koranverses: „Der Mensch trägt die Fähigkeit, eine Offenbarung Gottes zu empfangen, nicht in sich, es sei denn...“, sondern einzig die Möglichkeit, in seiner Sprache eine angeblich von Gott ausgehende Rede zu hören, mit Aussicht auf Belohnungen für den Fall, dass er einwilligt, und Strafen, wenn er ablehnt... Für den Philosophen ist die Offenbarungsvorstellung des Islam unvereinbar mit dem geschaffenen Sein des Menschen und der Natur Gottes. Sie versetzt Gott und alle seine Taten in das Gefängnis einer psychologischen, menschlichen Darstellung. Weil diese eingebildeten Darstellungen für die Wirklichkeit selbst gehalten und „verabsolutiert“ werden, besteht hier ein unüberwindbarer konzeptueller Widerspruch. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Damit unser muslimischer Redner die Analyse des Herrn Debruquel nicht als Widerspruch des Christentums gegen den Islam deutet, sollten Sie wissen, dass ich als Theologe zum „Ursündenchristentum“ dieselbe Bemerkung mache. Auch bei Letzterem handelt es sich um eine sehr klassische Theologie, gegründet auf psychische Mechanismen des Menschen, die unglücklicherweise noch klassischer sind... In diesem Fall, um die in Ihrem Vergleich gebrauchten Ausdrücke wiederaufzugreifen, würde ich sagen, dass diese einen ursprünglichen Fehler voraussetzende Theologie (a) sich zum glaubenschaftlichen Bewusstsein (b) so verhält, wie ein Haufen Konservendosen (c) zu einer Wiege (d), und als Theologe füge ich hinzu: die das Baby enthält... Die Katze ist gerade dabei, das Baby zu ersticken... oder die Konservendose, es zu verbergen... Zum Glück ist das Baby kräftig... Das Verständnis der evangelischen Offenbarung Gottes à la „Ursünde und deren Tilgung durch den Tod des Sohnes Gottes am Kreuz“ verhüllt und erstickt die Wirklichkeit und den wahren Sinn dieser Offenbarung in Jesus, in seinem Leben, in seinem Tod am Kreuz und in seiner Auferstehung. Die Theologie misst heute der Person, an die der Christ glaubt, immer mehr Bedeutung zu. Er glaubt an Gott. Er glaubt an Jesus. In diesem Sinn ist das Christentum keine „Buchreligion“, wie der Koran sagt. Dem Islam hingegen würde diese sehr vereinfachte Benennung zukommen. Im Christentum steht die Glaubensbeziehung zu Jesus Christus und zu Gott an erster Stelle. Ich sage nicht, sie sei wichtiger als das „ich glaube, DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 111 dass Gott..., dass Jesus..., dass...“. Aber die Formulierung „ich glaube, dass...“ hat die ausschließliche Funktion, die Einheit der lebendigen Glaubensbeziehung zwischen dem Christen und Gott, der sich persönlich im Menschen Jesus Christus offenbart, in bruchstückhafter Weise zu explizieren. Eine Theologie, die nicht die der Ursünde ist, ist im Aufkommen. Das erklärt das Schwanken der heutigen Theologie. DER THEOLOGIEPROFESSOR Nach dem, was mein Kollege gesagt hat, versteht man noch besser, dass es keine „Grammatik der Offenbarung“ gibt. Es gibt keine Grammatiken außer jenen der unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen oder Glaubenslehren, wie zum Beispiel den „Katechismus der katholischen Kirche“. Dennoch sind dogmatische Definitionen unentbehrlich. In einer Situation, wo der Glaubende dem Offenbarer nicht mehr persönlich begegnen kann, sprechen sie die Orthodoxie eines zu Gott hin ausgerichteten Glaubens aus. Der Glaubende kann den Offenbarer nur noch ausgehend von der Weitergabe seiner offenbarten Botschaft in der Gemeinschaft der Menschen, in diesem Fall in der Kirche, erreichen. Daher müssen die ausgesprochenen Propositionen nach einem „ich glaube, dass...“ zu den Eigenschaften seiner Glaubensbeziehung zu Gott und seinem Offenbarer werden. Dies ist nur deshalb möglich, weil Gott nicht der Vergangenheit angehört, sondern der Gegenwart des Glaubenden. Die Überlieferung in der kirchlichen Gemeinschaft kann sogar das Verständnis, das der Glaubende von seiner Glaubensbeziehung haben kann, bereichern. Ich denke, dass diese sehr klassische kirchliche Theologie sich mit den Ansprüchen der Philosophie vereinbaren lässt. Das in den Dogmen formulierte kirchliche Glaubensbewusstsein kann sehr gut mit der philosophischen Analyse des glaubenschaftlichen Bewusstseins in Dialog treten und ihr gegenübergestellt werden. Ich denke, dass beide einander als Spiegel dienen können, bis zu dem Punkt, wo sie zusammenfallen. Damit möchte ich sagen: Alle ontologischen Ansprüche des glaubenschaftlichen Bewusstseins — auch ich bediene mich nun dieses Ausdrucks — können in den geschichtlichen Verwirklichungsweisen des kirchlichen Bewusstseins nach und nach Gestalt annehmen... 112 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Am Anfang zögerte ich noch mit meiner Zustimmung, weil ich die heftigen Angriffe gegen die klassische Philosophie, die althergebrachterweise unser Werkzeug ist, als solche sah, aber nun denke ich, dass es für ein neues Nachdenken durchaus eine Zukunft gibt. Es wird uns vielleicht ermöglichen, aus einigen der Sackgassen des heutigen Denkens herauszufinden. Wie mein Kollege, der von einer großen Forschungsfreiheit Gebrauch macht, würde ich gerne vor allem mehr über den Gebrauch eines glaubenschaftlichen Maßstabs als Prinzip zur Wahrnehmung der Offenbarung erfahren. Zuerst muss tatsächlich zwischen den verschiedenen Offenbarungsansprüchen unterschieden werden, dann — ich gehe davon aus, dass die Botschaft des Evangeliums diese harte Probe besteht — müssen die verschiedenen Formen unserer theologischen Erkenntnis davon beurteilt werden. Mir scheint, dass man für diese Aufgabe tief graben muss, bis hin zu den ersten oder letzten Gründen der Existenz. Wie soll das möglich sein? Ich wende mich an die Philosophie, um zu erfahren, wie diese „Wiege“, die wir sind, gebaut ist, so dass sie eine transzendente Offenbarung aufnehmen kann... DER ANDERE PHILOSOPH Wie viel Zeit bleibt mir, um zu antworten? Das Problem ist nämlich sehr komplex. DER MODERATOR Ich denke, es ist an der Zeit, zum Schluss zu kommen... Wie bei unserer ersten Zusammenkunft, sehe ich, hatte auch dieses Mal unser Theologieprofessor, diesmal ohne meine Aufforderung, das letzte Wort. Dafür möchte ich ihm danken... DER THEOLOGIEPROFESSOR Es ist in der Tat gut, eher mit einer Perspektive der Zusammenarbeit in der Forschung, als mit einer Beleidigung zu schließen... DER MODERATOR Ich schlage vor, dass wir uns morgen für eine weitere Sitzung unseres Kolloquiums über den Glauben zusammenfinden. Indem er sich an den Arabischprofessor wendet: DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN 113 Darf ich Sie fragen, ob sie auch morgen unter uns anwesend sein werden? DER ARABISCHPROFESSOR Ich wäre lebhaft daran interessiert. Der Rahmen dieser Diskussion ist mir neu. Gewöhnlich sind es die christlichen Theologen, die den Islam kritisieren, und der Islam beruft sich gegen ihre byzantinischen Spitzfindigkeiten betreffs des Gottdrei-in-Einem und des Gottmenschen auf die menschliche Vernunft. Diesmal kommt der Widerstand von der Philosophie, und der Herr Kanonikus verteidigt die religiöse Erfahrung Mohammeds... Auch würde ich gerne sehen, wie Ihr eure Argumentationen weiterführen werdet... Aber leider muss ich morgen in meiner Gruppe einen kleinen Vortrag zum Thema „Der poëtische Synkretismus in Bagdad im dritten und vierten Jahrhundert nach dem Higra“ also im neunten und zehnten Jahrhundert westlicher Zeitrechnung, halten. Sehr zu meinem Bedauern werde ich Ihrer Debatte also nicht folgen können. DER MODERATOR Auch wir bedauern das. Aber wir werden unsere Anwältin bitten, Ihre Interessen zu vertreten... Wir wünschen Ihnen eine aufmerksame Zuhörerschaft. Danken wir einander für die Anregung zur gemeinsamen Forschung. Und nun bis morgen! 115 DRITTE BEGEGNUNG DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES DIE ANWÄLTIN zur Historikerin, unter zwei Augen... Wie fanden Sie die Dokumentation über Varanasi, die unser Gruppenleiter gestern Abend veranstaltet hat? DIE HISTORIKERIN Sehr aufschlussreich! Es ist beeindruckend, diese Scharen von Menschen auf Pilgerfahrt zu sehen! Und diese Vielzahl von Tempeln! Während der langen muslimischen Besetzung der Stadt vom Zwölften bis ins dreizehnte Jahrhundert sind sie fast alle zerstört worden. Danach haben die Hindus sie wiederaufgebaut. DIE ANWÄLTIN Bei den Brahmanen ist mir eine intellektuellere Sicht der « allumfassenden Ordnung » aufgefallen, bei den anderen eine eher hingebungsvolle Frömmigkeit. Ist das wirklich Glaube? Sicherlich eine tiefe Überzeugung! Alle halten die heiligen Bücher der Veden für offenbart und unantastbar. Derweil sind die Auslegungen sehr unterschiedlich... aber sie vertragen sich miteinander. Das ist bewundernswert. DER MODERATOR Guten Morgen! Ich sehe, dass alle da sind. Wir können also unsere Debatte weiterführen. Wie würden Sie, geschätzter Kollege, uns die Kriterien zum Erkennen einer wahren Offenbarung darlegen? 116 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES KANN DIE PHILOSOPHISCHE VERNUNFT ÜBER DIE ECHTHEIT EINER OFFENBARUNG URTEILEN? DER DOMHERR, Schriftsteller Erlauben Sie mir, auf die anfängliche Frage zurückzukommen, die ich bereits gestern gestellt habe. Kann der « glaubende » Mensch, mag er nun Christ sein oder einer anderen Religion angehören, hinnehmen, dass die menschliche Vernunft seinen Glauben beurteilt, um ihn ... als gültig zu erklären, oder als weniger gültig, oder als wertlos? Es ist normal, dass der Glaubende seinerseits aus den Mitteln der Vernunft und der Gesamtheit der natürlichen Erkenntnisse das heraussucht, was ihm hilft, seinen Glauben besser zu verstehen, und Nicht-Glaubenden gegenüber zu rechtfertigen. Das ist das berühmte « fides quaerens intellectum ». „Der Glaube sucht das Verstehen“! Ja! Der Glaube sucht „den Glauben zu verstehen“. Es handelt sich hierbei nicht um eine Unterwerfung des Glaubens unter das Urteil der menschlichen Vernunft, oder auf das Warten auf eine Echtheitserklärung seitens der Vernunft. Durch den Glauben sind wir, durch die göttliche Gnade, in Wahrheiten eingeführt, die die « Natur » übersteigen, also in « übernatürliche Wahrheiten ». Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich die Vernunft über sie äußern könnte. Sie sind « überrational ». Die Vernunft kann sich selbst davon überzeugen. Wenn ich ein Gewicht von 50 kg heben kann, dabei aber merke, dass ich damit an meine Leistungsgrenze gelangt bin, dann kann ich daraufhin sagen, dass ich ein Gewicht von 100 kg nicht heben kann. So einfach ist das... DER MODERATOR, indem er sich an die Philosophen wendet: Mir scheint, dass dieser Einwand bereits bezüglich des Islam gemacht wurde. Vielleicht war die Antwort unzureichend. Würden Sie nochmals darauf zurückkommen, falls der eine oder andere von Ihnen etwas hinzuzufügen hat? DER ERSTE PHILOSOPH Ich fürchte, dass der Herr Kanonikus wie so viele Schriftsteller aus dem Gebiet der Spiritualität ausschließlich von einem materiellen Vergleich ausgehend urteilt... Erstens würde sein Vergleich nur für seine eigenen Muskelkräfte gelten. Andere Männer können Gewichte heben, die 100 kg überschreiten. Wenn die Muskelkraft von Mann zu Mann DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 117 verschieden ist, dann kann das natürlich im intellektuellen Bereich ebenso sein, und auch in allen anderen Disziplinen. In der Physik ist nicht jeder ein « Einstein ». Und genauso ist es auch in der Mathematik, der Philosophie und der Theologie... Es ist normal, dass jemand, der sich bewusst ist, in diesen Materien nicht in ausreichendem Maße bewandert zu sein, jenen Leuten Glauben schenkt, die sich besser auskennen als er... ohne aber deshalb auf sein persönliches Urteil zu verzichten, besonders dann nicht, wenn seine Verantwortung gefragt ist... wie in den Fragen der Gesundheit..., des moralischen Verhaltens..., und des Glaubens... In diesen Fragen muss jeder trotzdem lernen, selbst zu urteilen, nach seinem eigenen Verstand... der soweit wie möglich « ganzheitlich und universal » zu sein hat... Deshalb sollte man im Bereich der Philosophie nicht eine persönliche Schwierigkeit, den eigenen Glauben zu verstehen, für eine konstitutive Grenze der menschlichen Vernunft als solcher halten. Leider ist das oft das, was viele tun... obwohl sie in anderen Bereichen klüger sind... Aber mein Kollege geht noch weiter, denn er behauptet, dass nicht einmal die am besten ausgearbeiteten rationalen Erscheinungsformen der klassischen Philosophie für die vollendete und daher einzige Verwirklichung der menschlichen Vernunft gehalten werden dürfen... Vielleicht hat er recht? Das weiß ich noch nicht... Aber sogar für die klassische Philosophie ist das Gebiet des Vernunftsurteils unbegrenzt. Es ist das Sein als solches, wie Aristoteles sagt. Die Wahrheiten der Offenbarung fügen sich, insofern sie der Wirklichkeit angehören, in dieses Gebiet ein. Man kann sie der Vernunft also nicht entziehen. Wer sie der Vernunft entziehen will, sagt damit implizit, dass sie „irreal“ sind. Und das, Herr Kanonikus, wollen Sie doch wohl kaum sagen... DER ANDERE PHILOSOPH Sicherlich, so denkt der Herr Kanonikus nicht... Aber ich stimme mit Ihnen, geschätzter Kollege, darin überein, zu folgern, dass eine Offenbarung, die auch nur teilweise außerhalb des Bereiches der Vernunft gedacht wird, nichts weiter wäre als Unwirklichkeit. Eine derartige Auffassung von der Stellung der Offenbarung müsste notwendigerweise auch innere Widersprüche enthalten, die zusätzliche Zeichen ihrer Irrealität 118 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES wären, trotz des Anscheins von Selbstverständlichkeit, den ihr irgendein materieller Vergleich mit dem unterschiedlichen Ausmaß von menschlichen Fähigkeiten verleihen könnte... Zuerst würde ich also nochmals auf der absoluten Notwendigkeit, zwei Verwechslungen zu vermeiden, beharren. Die erste ist die zwischen den Begriffen von „Offenbarung“ und „Glaube“; die zweite jene zwischen den Begriffen von „menschlicher Vernunft als solcher“ und „menschlicher Vernunft in ihrer griechischen Erscheinungsweise“. Diese Begriffe hängen wohlverstanden zusammen, aber sie haben nicht denselben Sinn, und die von ihnen bezeichneten Wirklichkeiten fallen nicht notwendigerweise zusammen..., vielleicht aber teilweise. Man muss dies im Lichte der verschiedenen angeschnittenen Fragestellungen betrachten. Wir werden es sicherlich im weiteren Verlauf unserer Debatte klarer sehen. Zweitens meine ich, in dem Einwand mehrere innere Unstimmigkeiten auszumachen. Ist dieses Urteil, dass die menschliche Vernunft nicht die Echtheit einer Offenbarung von deren Falschheit unterscheiden könnte, eine offenbarte Aussage? Oder ist es im Gegenteil eine vernünftige Aussage, wie dieses Urteil: „Die Vernunft ist nicht fähig, diese Unterscheidung vorzunehmen“? Nach dem Einwand gibt es, soweit ich sehe, keine dritte Möglichkeit. Nehmen wir sie beide unter die Lupe. In der Hypothese, die dieses Urteil als offenbarte Aussage betrachtet, hat dieses eine erste Offenbarung in ihrem Verhältnis zur Vernunft zum Gegenstand. Das Urteil selbst ist dann eine Offenbarung zweiten Grades. Kann die Vernunft hier die Echtheit bewerten? Wenn ja, dann widerlegt diese Möglichkeit in der Tat das, was sie in Begriffen aussagt. Die Hypothese ist also falsch. Falls nicht, dann braucht man folglich eine Offenbarung dritten Grades, um die Wahrheit jenes offenbarten Urteils zweiten Grades über die Unfähigkeit der Vernunft zu bestätigen. Somit befinden wir uns in einem endlosen Prozess der Bestätigung einer vorausgehenden Offenbarung durch eine unendliche Anzahl von folgenden... die niemals folgen werden. Man wird sagen, dass die Offenbarung „sich selbst rechtfertigt“, und dass es so kein absurdes Sich-versteigen in einen endlosen Prozess gibt. Diese Selbstrechtfertigung ist im menschlichen Bewusstsein nicht möglich, weil die Offenbarung definitionsgemäß „von außen kommt“ und sich nicht, wie das rationale Bewusstsein, selbst in DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 119 ihrer eigenen Wirklichkeit wahrnehmen und so selbst rational für echt erklären kann. Wenn die Unmöglichkeit, die Wahrheit einer Offenbarung durch die Vernunft zu bewerten, nun aber eine vernünftige Aussage ist, dann kann sie selbst rational hinterfragt werden. Denn die Vernunft weiß sich selbst zu Irrtümern fähig, und auch dazu, sich von ihren Irrtümern zu befreien, wenn sie die dazu nötigen Anstrengungen erbringt. Wir hätten es hier also mit einer „neugestaltbaren“ Aussage zu tun. Und es ist sehr vernünftig, zu denken, dass jene, die an dieser Neugestaltung teilnehmen, sich selbst eine neue Gestalt geben werden. Wenn derweil irgendjemand im Namen der Vernunft beanspruchen würde, dass diese Aussage: „Die Vernunft kann sich nicht zur Wahrheit und Wirklichkeit einer Offenbarung äußern“ eine nicht neu gestaltbare Aussage sei, dann steht seine Vernunft zu sich selbst im Widerspruch. Denn tatsächlich muss sie, um die Nicht-Neugestaltbarkeit ihrer Aussage zu beanspruchen, in sich und a priori ihre eigene Unfähigkeit in sich und a priori, die Wahrheit oder den Irrtum einer „Offenbarungsaussage“ zu unterscheiden, behaupten. Das würde darauf hinauslaufen, dass diese Person sagt, für sie seien Offenbarungsaussagen nicht rational zugänglich. Es kann aber sein, dass der „religiöse Wahn“ so weit geht, zu sagen, dass die „Offenbarungswahrheiten absurde Wahrheiten sind“. Wenn es im Gegenteil darum geht, a posteriori eine a posteriori gegebene Unfähigkeit zuzugeben, dann haben wir es möglicherweise mit einer besonderen kulturellen Situation zu tun. Und genau dies trifft auf die klassische Philosophie in ihrer Stellung zur evangelischen Botschaft in der Person Jesu zu. Ihre Ontologie kann die Dreieinigkeit nicht verständlich machen. DER THEOLOGIEPROFESSOR Aber wären nicht noch zwei andere Möglichkeiten denkbar, nämlich ein aposteriorisches Erkennen einer apriorischen Unfähigkeit und ein apriorisches Erkennen einer aposteriorischen Unfähigkeit? DER ERSTE PHILOSOPH Durch kombinatorisches Denken ist es selbstverständlich möglich, diese beiden anderen Möglichkeiten zu formulieren. Aber ich denke, dass sie überflüssig sind. Wenn es apriorisches 120 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES Erkennen gibt, dann ist die erkannte Wirklichkeit nicht nur eine aposteriorische Gegebenheit ohne innere, apriorische Notwendigkeit. Deren Vorhandensein abzustreiten käme dem gleich, etwas rein Kontingentes zu einem Absolutum zu erheben. Und ein aposteriorisches Erkennen des a priori Seienden kann ein konkretes, zu einem apriorischen Erkennen führendes, situationsbedingtes Bewusstwerden darstellen, oder der psychologische und geschichtliche Rahmen eines Erkennens a priori sein. So kann man etwa nicht leugnen, dass der christliche Glaube Thomas von Aquin erlaubte, ein Gedankengebäude aufzubauen, das die Existenz eines Gottes bejaht, der die Erstursache der Welt und daher ihr Schöpfer ist. Es ist unbestreitbar, dass der christliche Glaube den Philosophen oft bei ihrem Entdecken, also a posteriori, gewisser erster, also apriorisch gegebener, erster notwendiger Grundeigenschaften der Existenz geholfen hat, ohne zu verhindern, dass dieses philosophische Erkanntwerden apriorisch wäre. Das ist ein sehr klassischer Standpunkt... DER ANDERE PHILOSOPH Man kann gegenüber der Vernunft, die die Offenbarung bewerten will, misstrauisch oder zurückhaltend sein. Die Anmerkung meines Kollegen lässt erkennen, welcher Anteil an Wahrheit in solch einer Haltung liegt. Welcher Anteil? Die Vernunft, damit will ich sagen: Der mit Vernunft begabte Mensch kann a posteriori feststellen, dass dieser oder jener rationale Versuch, das zu erfassen, was für offenbart gehalten wird, fehlgeschlagen ist. Das ist normal. Aber es gibt da kein endgültiges Urteil. Und wenn diese rationale Bemühung, die nichts anderes ist als die Bemühung des „wissenschaftlichen“ Theologen, ihr Ziel nicht erreicht hat, dann kann das darauf zurückzuführen sein, dass die Offenbarung fehlerhaft und daher unecht ist, oder auf die kontingente und geschichtliche Begrenztheit seiner Vernunft, die aber keineswegs Wesensmerkmal seiner Vernunft ist. Dies ist nun sehr wohl der Fall, wenn die biblische und evangelische Botschaft sich mit der „griechischen Form der Vernunft“ konfrontiert sieht. Darauf werden wir sicherlich noch zurückkommen. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 121 All diese Überlegungen waren etwas abstrakt..., aber ich denke, sie waren nötig, um eine Anfangsschwierigkeit zu beseitigen. Allerdings bedeutet das Entfernen eines Hindernisses von der Straße noch nicht, dass man auf dem Weg vorwärtskommt. Man müsste nun aufbrechen, um zu verstehen, dass eine echte Offenbarung in sich auch ganz und gar rational ist. Wie könnte es auch anders sein, da doch derselbe Gott Schöpfer unserer Vernunft und Urheber seiner Offenbarung ist? DER DOMHERR, Schriftsteller Ja, aber seit und wegen der „Ursünde“ verfügt unsere menschliche Vernunft nicht mehr über all ihre Möglichkeiten. Daher kommt es, dass sie nicht mehr fähig ist, die Echtheit der Offenbarung wahrzunehmen. Das, was sie sagen, würde für eine ideale Vernunft zutreffen, aber wir haben nun nichts mehr weiter als eine „gefallene Vernunft“. DER EXEGET, der bis jetzt geschwiegen hatte: Schon wieder diese „Ursünde“...! Das Neue Testament spricht nie von ihr, und das Alte auch nicht... Es gibt von Anfang an „Sünde“, das ist klar... Also sehr wohl schon bevor diese makabere „Ursünde“ mit der verbotenen Frucht geschah... Dieses kulturbedingte Urbild des Bösen ist ein schlechter Anhaltspunkt, ein „Durcheinanderwerfer“ im Sinne der Texte... DER ANDERE PHILOSOPH Es ist aber dennoch gut, alle möglichen Einwände zu formulieren... Aber man soll es sich nicht schwieriger machen als nötig... Ich werde es den Dogmatikern und Exegeten überlassen, festzustellen, in welchem Maß die Lehre von der „Ursünde“ zur christlichen Offenbarung gehört. In diesem Punkt scheinen sich die Vorstellungen sehr stark gewandelt zu haben... DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Einige Anmerkungen zu dieser Lehre... Um diese Theorie zu rechtfertigen, reicht es nicht aus, die Gegenwart des Bösen in der Welt und im Menschen zu erwähnen. Sie ist auch nicht die einfache Feststellung, dass es das Böse gibt, seit der Mensch existiert. Die Erzählung aus dem Buch Genesis, auf die sich diese Lehre bezieht, kann als ein archaischer Versuch, das Dasein des Bösen zu erklären, verstanden werden. Ist es ein gelungener 122 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES Versuch oder nicht? Die Philosophie könnte diesem Mythos vom Ur-Ungehorsam mehrere ernsthafte und unzerstörbare Einwände entgegenstellen... Dies wäre einer genaueren Untersuchung wert. Im Rahmen der christlichen Theologie hat die Theorie von der „Ursünde“ vor allem die Funktion, einen anscheinend rationalen, in Wirklichkeit aber nur psychologischen Grund für das in Jesus Christus vollbrachte Heilswerk beizubringen. Man sagte: Wenn es einen Erlöser gibt, dann muss er uns natürlich von etwas erlösen. Besorgt um Glaubwürdigkeit hat man also die Existenz eines Fehlers angenommen. Wenn er alle Menschen erlösen soll, dann muss es wohl so sein, dass der Fehler im Ursprung liegt und zudem vererbt wird... damit kein Mensch von dieser Rettung ausgenommen oder ausgeschlossen sein kann... Ist das ein triftiger „Grund“, um das Erlösungsopfer Christi anzunehmen? Ist der Tod Christi überhaupt ein Löseopfer? Ist das juristische Sprechen von „Schuld, Lösepreis, Wiedergutmachung“ nicht „symbolisch“? Hier stellen sich viele Fragen der theologischen Deutung. Aber sie alle fügen sich in den Rahmen einer als echt anerkannten Offenbarung ein. Es scheint mir recht ungeschickt, eine bestimmte, übrigens im Rahmen dieser Offenbarung in Frage gestellte Einzeltheorie herbeizuziehen, um in Abrede zu stellen, dass eine Untersuchung der Echtheit der Gesamtheit dieser Offenbarung wohlbegründet ist. Diese Theorie wird übrigens einer generellen Untersuchung auf Echtheit nicht standhalten. Schlussendlich, anstatt eines Arguments ad hominem — das eben gerade keine Beweiskraft besitzt — kann man sich einfach darüber wundern, dass eine sich als offenbart bezeichnende religiöse Lehre, nachdem sie die Vernunft als gefallen und vermindert bezeichnet hat, auf diese gefallene Vernunft zurückgreift, um sich selbst verständlich zu machen. Wenigstens im Rahmen des Katholizismus ist das seltsam..., daher sagt man, dass die Vernunft nicht ganz und gar verdreht ist... Aber wäre das gerade genannte Urteil nicht auch ein bisschen „verdreht“? Müsste eine derartige „offenbarte Lehre“ nicht, um in sich selbst stimmig zu sein, daran festhalten, dass das „Licht der Offenbarung“ sich selbst genügen muss... und sich in keinem Fall, für was auch immer, auf die menschliche Vernunft berufen muss... wie es die reformatorischen Theologien lehren? Wir kennen Luthers Ausspruch: „die Vernunft! Diese Hure des DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 123 Teufels...“? (WA 51, 126, 7). Hier haben wir eine Form von religiösem Skeptizismus... Ausgehend von einer falschen Voraussetzung (der Ursünde) stellt man eine in sich stimmige Überlegung an, um die Vernunft aus dem Spiel zu ziehen. DER ANDERE PHILOSOPH, scherzend: Ich würde nur zu gerne Luther verteidigen, indem ich dazu sage, dass die Vernunft, von der er spricht, die « griechischlateinische » ist,... die einzige, die er kannte... Aber ich kenne sein Werk nicht gut genug... daher werde ich es wohl sein lassen müssen… DER PHYSIKPROFESSOR Eine authentische Untersuchung des christlichen Glaubens scheint mir nun ganz und gar begründet und notwendig. Aber muss jeder sie auf eigene Faust durchführen? Ich ziehe einen Vergleich zu meiner Unterrichtstätigkeit. Ich halte meine Vorlesung vor meiner Zuhörerschaft. Die Studenten schreiben mit und bestehen ihre Examen. Sie vertrauen mir, und mit ihrer universitären Ausbildung können sie in jedem beliebigen Land Physiker oder Ingenieure werden... Einige, aber nicht alle, werden Forscher werden... Ist es etwa nicht normal und berechtigt, dass die meisten Christen ihren jeweiligen kirchlichen Autoritäten vertrauen? DEN GLAUBEN HABEN, OFFENBAREN, GLAUBEN, SICH OFFENBAREN: DIE MEHRDEUTIGKEIT DIESER BEGRIFFE IN IHREM SINN UND GEBRAUCH DER ERSTE PHILOSOPH Es ist menschliche Klugheit, zuzugeben, dass man nicht in allen Fachgebieten bewandert ist. Wenn ich krank bin und mich nicht selbst zu heilen weiß, gehe ich zum Arzt. Ich nehme seine Hilfe in Anspruch. Ich vertraue ihm und hoffe, dass er die richtige Diagnose stellt und mir die nötigen Medikamente verschreibt, um mich auf die bestmögliche Weise zu heilen. Aber dieses Vertrauen in meinen Arzt ist nicht ein „Akt des Glaubens“ an sein „Rezept“. Im eigentlichen und spezifischen Sinn könnte ich nicht sagen, dass er mir sein medizinisches Wissen „offenbart“. Er redet mit mir darüber. Und wenn er mich über meine Krankheit informiert, dann „offenbart“ er sie mir auch nicht im 124 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES eigentlichen Sinn, selbst wenn ws, in keinem Moment, „offenbart“ sich uns ein Arzt, und wir sind nie veranlasst, ihm unseren „Glauben“ so zu schenken, als ob wir es mit Gott zu tun hätten. Der Grund dafür ist, dasir in der Umgangssprache sagen, dass er einem die Krankheit, an der man leidet, „bekanntgibt“. Wenn er mir meine Krankheit und deren Behandlung erklärt, teilt er mir lediglich ein Wissen mit, das er besitzt und das ich verstehen muss. Und wenn ich nicht verstehe, gebe ich meine Unkenntnis zu und gehe davon aus, dass mein Arzt das medizinische Wissen gut beherrscht und anwendet. Diplome und andere äußere Zeichen seines Ansehens bestärken mich darin. Aber niemals zwischen meinem Arzt und Gott ein unendlich großer Abstand besteht. Ein Abstand, der durch den Glauben überwunden würde, während ich medizinisch gesehen ein Kranker bleiben würde. Es gibt einen Unterschied, denn der Weg meines persönlichen Bewusstseins und meiner Freiheit ist in den beiden Fällen nicht derselbe. Die einzige Ähnlichkeit würde darin bestehen, dass ich an meinen Arzt „glaube“, wenn er mir über sich selbst sagt: „Ich werde alles tun, um Sie zu heilen“. Deswegen glaube ich es. Genauso verhält es sich mit Ihrer Unterrichtstätigkeit. Sie vermitteln das Wissen eines Physikers. Sie offenbaren den Studenten nicht die Physik. Ihre Studenten müssen nicht an Ihre Vorlesung glauben. Und falls es Ihnen unterlaufen würde, dass Sie sich in einer Frage oder bei einem Experiment irren, dann würden die besten Ihrer Studenten Sie möglicherweise darauf aufmerksam machen. Dasselbe gilt auch von den Theologen, die uns erklären, was Offenbarung ist und was sie uns „offenbart“; diesmal im eigentlichen Sinn des Wortes. Aber wir schenken den Theologen nicht unseren „Glauben“. Wenn wir sie und die „Offenbarung“, die sie uns vermitteln, richtig verstehen, dann „glauben wir an Gott“. Wir anerkennen die Kompetenz der Theologen und müssen uns bemühen, das zu verstehen, was sie uns über die „Offenbarung“ sagen. Sie können sich irren, so wie Ärzte sich irren können. Aber trotz dieser Irrtumsgefahr, und im Bewusstsein unserer Unkenntnis, bringen wir ihnen Vertrauen entgegen. Dies setzt allerdings ein Mindestmaß an Bewusstsein und Wissen voraus. Wenn ich krank bin, werde ich mir bewusst, dass ich mich auskurieren muss, und zwar richtig. Als Mensch nehme ich zumindest undeutlich wahr, dass ich glauben muss, DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 125 und zwar „richtig glauben“. Daher kommt die Notwendigkeit, das, was unser Psychoanalytiker als „Glaubenstrieb“ bezeichnete, ans Licht zu bringen. Und ich denke, dass wir alle in diesem Kolloquium genau das tun wollen. Aber die aufgrund des Bewusstseins unserer eigenen Unkenntnis und der Notwendigkeit der Wissensvermittlung durch andere (sozusagen durch eine Gemeinschaft von Menschen) gesuchte Zuflucht zu fremder Kompetenz, ist ein Vollzug von ganz anderer Natur als der Vollzug des Glaubens an Gott. Seien wir vorsichtig! Die Umgangssprache verleitet uns zum Irrtum. Wenn eine Illustrierte Geheimnisse des Gefühlslebens oder des politischen Einsatzes gewisser Leute an die Öffentlichkeit zerrt, dann sagt die Umgangssprache, dass diese Illustrierte „Offenbarungen macht“, und wenn sie eine Dokumentation über die Ozeane darbietet, dann steht da, „dass sie die Geheimnisse der Natur offenbart“. Derartige Ausdrucksweisen erwecken den Eindruck, dass das Verb „offenbaren“ soviel bedeutet wie „verborgene, oder bis anhin unbekannte, oder der Entdeckung durch den Menschen unzugängliche Dinge kundgeben“. Diese Bedeutungen könnte man obendrein (obendrein ] bestenfalls) noch auf die Umstände des menschlichen Lebens anwenden, oder auf bestimmte geschichtliche Hintergründe der göttlichen Offenbarung. Sie bringen nicht ihr Wesen oder ihre Natur zum Ausdruck. DIE ANWÄLTIN Was soll man denken, um „Gott offenbart sich den Menschen“ richtig zu denken? Oder vielmehr: Was soll man nicht denken? DER ERSTE PHILOSOPH Was muss bei der Anwendung des Verbs „offenbaren“ auf Gott noch alles ausgeschlossen werden? Alle Bedeutungen, durch die Gott als Garant oder Bürge für das, was die Menschen entscheiden oder lehren, herangezogen wird. Einstmals, vor zwei, drei oder vier Jahrtausenden, konnten die Menschen denken, dass wegen ihres sehr geringen Wissens die Gottheiten ihnen die Geheimnisse des Lebens, der Natur und des Jenseits offenbaren müssten. Sie waren auch der Ansicht, dass angesichts der Neigung der Menschen zu Auseinandersetzungen und Kriegen Offenbarungen nötig sind, um alle zum Einhalten 126 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES der gemeinsamen Gesetze zu bewegen. Dies war eine Meinung, die man Zarathustra, einem iranischen Weisen, zuschrieb. Deshalb haben die Menschen, die über diese Dinge geschrieben haben, ihre eigenen Äußerungen in den Mund der Gottheiten gelegt. Und ihre Bücher wurden mit der je länger je stärkeren Überzeugung, dass sie durch Gottheiten oder Gott selbst „diktiert“ und „offenbart“ seien, aufgenommen und überliefert. Man könnte hier als Beispiel der Veden Indiens nennen. Im Rahmen des Monotheismus sind diese psychologischen Voraussetzungen bei der Redaktion der Bücher der Bibel gegeben. Aber die monotheistische Idee formt deren Bedeutung tiefgreifend um, besonders beim Buch Exodus und bei der Verkündigung der Gebote Gottes. In der Magna Graecia legt der Philosoph Parmenides seine Lehre ebenfalls einer Göttin in den Mund. Aber er täuscht sich durch sein literarisches Vorgehen nicht selber. Die Neigung zu einem derartigen Vorgehen ist in der religiösen Psyche des Menschen immer unterschwellig vorhanden. Den Philosophen und „wissenschaftlichen“ Theologen obliegt es, darüber nachzudenken, was den authentischen Vollzug eines erwachsenen, zur Reife gelangen Glaubens ausmacht, und ihn von seinen sozusagen kindhaften und pubertierenden Anfängen, und auch von seinen Perversionen oder Abweichungen oder ganz einfach von seinen häufigsten krankhaften Entartungen zu unterscheiden... DIE HISTORIKERIN Dann ist es also gar nicht so einfach, wahrhaftig zu glauben, wenn man vorher dermaßen viele Dinge beachten muss! DER EXEGET Das denke ich nicht. Es genügt, natürlich zu sein. Um bei guter Gesundheit zu sein, braucht man sich nicht in der Medizin auszukennen, und um normale Beziehungen zu den Mitmenschen zu haben, braucht man nicht in Psychologie bewandert zu sein. Meine Definition des Glaubens scheint mir sehr einfach: Glauben heißt, dass man sich von jemandem geliebt weiß, unter anderem... von Gott. Gott „sagt“ mir, — ohne zu sprechen — „zu mir“, zu den Meinen, zu den Menschen, dass er mich liebt und dass er sie liebt. Aber wie liebt er mich, wie liebt er uns? Er DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 127 sagt es mir auf zwei Weisen, oder auf zwei Ebenen, nämlich in meinem „inmitten“ seiner Schöpfung geschaffenen Sein, und in der Person Jesu „aus der Mitte“ seiner Gottheit selbst... Seine erste, alte, für immer bleibende Offenbarung ist im Grunde genommen allen zugänglich. Als Exeget würde ich sagen, dass die Menschen ihr im Alten Testament einen Ausdruck verliehen haben. Seine zweite und neue Offenbarung, in einem kurzen Augenblick unserer unermesslichen Zeit in der Person Jesu für die Ewigkeit bewirkt, ist uns heute ausschließlich durch ihre Weitergabe an die (an die ] in der) Gemeinschaft der Menschen zugänglich. Eine derartige Offenbarung kommt uns also von außen zu. Man muss also das, was man erhält, beurteilen. Ich würde das meinerseits mit der Nahrungsaufnahme vergleichen. Wir alle wissen, wie man Nahrung zum Mund führt und isst. Das ist angeboren. Und wir haben Sinne: vor allem den Geruchs- und Geschmackssinn, um die Qualität der Nahrung festzustellen. Aber wir können uns irren und unverdauliche, verdorbene Nahrungsmittel zu uns nehmen, oder sogar solche, die für den Menschen giftig sind..., auch wenn sie für andere Lebewesen Leckerbissen sind, wie etwa der grüne Knollenblätterpilz, der für Ziegen ein Hochgenuss ist. Menschen sind verantwortlich und müssen verantwortlich sein für das, was sie essen. Und sie müssen verantwortlich sein für das, was sie für ihren „Glaubenstrieb“ als „Offenbarung“ annehmen. Den von unserem Psychoanalytiker geprägten Ausdruck „Glaubenstrieb“ nehme ich sehr gerne auf, auch wenn ich ihn zum ersten Mal höre... Aber alles in allem: warum nicht? Dies würde zeigen, wie tief die ewige Offenbarungsinitiative Gottes in unsere Natur hineingeschrieben ist... DER DOMHERR Wir haben also einen „Glaubenstrieb“, genauso wie wir Appetit haben. Lassen wir diesen Vergleich gelten! Aber zu was drängt uns unser „Glaubenstrieb“? Zur Aufnahme von guter Nahrung, oder von Gift, oder von entwerteter Kost? DER EXEGET Ja! Ich war noch nicht fertig. Ich baue meinen Vergleich noch weiter aus. Für die Nahrung in unserer unmittelbaren Reichweite... damit will ich sagen, für die erste Offenbarung Gottes, die „in seiner Schöpfung“ in unserer unmittelbaren Reichweite liegt, sind wir 128 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES allein und direkt verantwortlich... Unsere Philosophie und unser spontaner Glaube unterstehen hier einzig dem Urteil der Vernunft. Wenn ich von „spontanem Glauben“ spreche, dann meine ich damit nicht naive Gläubigkeit. Ich spreche vielmehr vom „Glauben des Psalmisten“, von diesem tiefen Glauben, der in den Psalmen zum Ausdruck kommt. Ich könnte sagen „natürlicher Glaube“, natürlich und gleichartig mit der Schöpfung, wenn man diese als „Offenbarwerden“ Gottes versteht, und als „nur in einem, obendrein noch undeutlichen, Spiegel geschautes Angesicht“ des ewigen Gottes. Für jene Nahrung, die von anderen hergestellt und abgepackt wurde, und die wir als solche aufnehmen, sind wir immer noch direkt verantwortlich, und zwar durch den Vergleich der abgepackten Nahrungsmittel mit den natürlichen, und wir sind auch indirekt für sie verantwortlich, nämlich, indem wir für die Bewertung verantwortlich sind, die unser Glaube und unser Vertrauen den Verteilern dieser Nahrungsmittel geben. Damit will ich sagen, dass wir für unseren Glauben an die Offenbarung Gottes zweiten Grades, eine in der Person Jesu herausragende Neuigkeit, durch den Vergleich mit unserem spontanen Glauben, der mit den Eigenschaften unseres glaubenden Bewusstseins so gut wie möglich übereinstimmen muss, direkt verantwortlich sind, wozu ich das Beispiel des Psalmisten heranziehe, und indirekt verantwortlich durch die Glaubensbewertung, die wir denen, die uns die evangelische Botschaft davon überbringen, erteilen. So wie jeder von euch sagt: „ich glaube an meinen Arzt, wenn er mir implizit versichert, dass er alles tun wird, um mich zu heilen“; so sage ich, wie ihr: „ich glaube an meinen Lebensmittelhändler, wenn er mir implizit versichert, dass er alles tut, um mir gute Nahrungsmittel zu verkaufen“. Genauso „glaube ich an“ meine kirchliche Gemeinschaft, wenn sie mir implizit versichert: „Ich tue alles, um Ihnen auf bestmögliche Weise die neue und ewige Offenbarung Gottes in Jesus zu vermitteln“. Auf dieser Ebene bewegt sich mein Glaube an die Kirche. Aber wie mein Arzt sich irren kann, oder sogar in seinem Wissen getäuscht werden kann, und wie mein Lebensmittelhändler durch seine Lieferanten getäuscht werden kann — ohne dass ich die Rechtschaffenheit meines Arztes oder meines Lebensmittelhändlers in Zweifel ziehe — so kann sich auch meine Kirche täuschen oder sogar getäuscht werden, DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 129 besonders durch die Philosophien, auf die sie zurückgreift, oder durch die Übertragung ihrer Lehre von einer Sprache in eine andere, von einer Kultur in eine andere, usw... Die Gründe für Irrtümer bei der Vermittlung der Offenbarung Gottes in Jesus können vielfältig sein, ohne dass ich meinen Glauben an die grundsätzliche Ehrlichkeit unserer Hirten, angefangen bei den Autoren des Neuen Testaments, in Frage stelle... Auch denke ich, trotz meines etwas ablehnenden, oder wenigstens zurückhaltenden anfänglichen Schweigens, dass die Frage danach, worin denn nun eigentlich eine „wahrhaftige Offenbarung Gottes“ bestehen muss, oder, um es etwas weniger ehrgeizig auszudrücken: „was eine wahrhaftige Offenbarung Gottes nicht sein kann“, tatsächlich und sehr ernsthaft gestellt werden muss. DER DOMHERR Und wie werden Sie es bewerkstelligen, auf diese Frage zu antworten? Das, geschätzter Mitbruder, ist nicht mehr Ihre Aufgabe als Exeget... Und falls eine kritisch begründete Antwort auf diese Frage eine gewisse Anzahl von exegetischen Untersuchungen in Frage stellen würde, was würden Sie dann sagen? Wie würden Sie sich gegen die philosophischen Angriffe wehren? DER EXEGET Erstens würde ich die philosophische Kritik, wenn sie wirklich begründet ist, nicht als Angriff betrachten. Und weil die Exegese ja nicht festgelegt ist und viele Auslegungen möglich sind, würde eine derartige philosophische Kritik es außerdem vielleicht ermöglichen, einigen dieser Auslegungen mehr Gewicht beizumessen als anderen. Und falls schließlich gewisse Auslegungen, selbst wenn es meine sein sollten, in Frage gestellt oder sogar aufgegeben werden müssten, dann würde ich sie eben aufgeben. Nun ist der Theologe, der ich bin, auch ein « Mensch » wie alle anderen. Ich bin also imstande, etwas Physik, etwas Geschichte und sogar etwas Philosophie zu betreiben... Auch wenn ich auf diesen Gebieten genaugenommen kein Fachmann bin. Aber der Exeget genießt unter anderem den Vorteil, nahe an den Texten zu sein. 130 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES Und da in diesen Texten das konkrete Leben von Menschen aus Fleisch und Blut zum Ausdruck kommt, bleibt der Exeget nahe an der menschlichen Erfahrung... daher auch nahe am gelebten Glauben..., also nahe an dieser Wirklichkeit, der sich der Philosoph auf seine Art, mit der Genauigkeit, die ihm zu eigen sein muss, anzunähern versucht... Hier kann man also zu weiterführenden Übereinstimmungen gelangen... EINE FRAU meldet sich zum ersten Mal zu Wort: Wie sehen Sie also den Glauben im Alltag des Lebens? KEIN OFFENBARER IST GLAUBHAFT, WENN ER SICH NICHT DARUM BEMÜHT, DEN MENSCHEN BESSER UND GLÜCKLICHER ZU MACHEN DER EXEGET « Glauben heißt, sich von Gott geliebt zu wissen », habe ich gesagt. Es geht also darum, zu wissen, mit welcher Liebe wir geliebt werden. Welche Art von Liebe Gottes zu uns zeigen uns die « Offenbarungen »? Mir scheint, dass unsere Überlegungen in diese Richtung gehen sollten. Die besten Stellen der Bibel und der Evangelien zeigen uns einen Gott, der zuvorkommend, großzügig, geduldig, mitleidig und sogar zärtlich liebt... immer als Abbild dessen, was im Menschen das Beste ist... Sie werden mir also sagen, dass dies Projektionen unserer Psyche auf Gott sind... Wie auch immer dem sei! Für mehr Genauigkeit übergebe ich den Philosophen das Wort... Ich habe genug geredet... DER ERSTE PHILOSOPH Um ehrlich zu sein: Die Philosophen haben nie besonders viel über die Liebe Gottes zu den Menschen nachgedacht, sondern vielmehr über die Liebe des Menschen zu Gott, oder wenigstens zu höheren Wirklichkeiten. Genau das zeigen die „Bewegungen der Seele zum Guten an sich“ in Platons Dialogen, und der aristotelische Versuch, das im reinen Akt Seiende zu schauen. Dieses Seiende, das reine Tätigkeit ist, ist das „Bewegungsprinzip“ aller unvollkommenen und in Bewegung befindlichen Dinge. Es selbst aber ist unbeweglich, weil es vollkommen ist. Die Liebe wird gesamthaft als „Verlangen“ nach etwas Ansich-zu-Liebendem und folglich für uns Gutem betrachtet. Aber die Existenz einer „Liebe“ zu den Menschen in Gott scheint sich DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 131 unseren Betrachtungen zu entziehen. Sie scheint sogar unmöglich zu sein. Vielleicht ist das eine Unzulänglichkeit, die in der Philosophie noch überwunden werden müsste! DER ANDRERE PHILOSOPH Aber das wäre nicht ein Zusatzkapitel, das den Themen der klassischen Philosophie noch hinzuzufügen wäre, sondern eine vollständige Überarbeitung der Vorstellung von der Liebe im Menschen, der Liebe zum „menschlichen Du“ und der Liebe zu Gott. DER PSYCHOANALYTIKER Die Psychoanalyse kennt die „Libido“, die ein Verlangen nach Lust darstellt. Diesem Verlangen nach Lust ist die „Realitätsprüfung“ entgegengestellt. Zwischen beiden besteht eine Spannung. Wenn die Realitätsprüfung die Oberhand gewinnt und die Libido daran hindert, sich zu verwirklichen, sieht sich letztere verdrängt. Daher die Entstehung eines aus all diesen „Verdrängungen“ gebildeten Unbewussten. Von diesen Verdrängungen irgendwie gezeichnet oder geformt, versucht sich die Libido nun auf Umwegen zu verwirklichen, in denen das Verdrängte in einer „Kompromisslösung“ eine gewisse Verwirklichung findet. Diese Kompromisssituation ist nicht immer glücklich, oft ist sie sogar krankhaft, weil sie nicht in bewusster Übereinstimmung mit der Realitätsprüfung steht. Daher ist psychoanalytische Behandlung notwendig, um die unbewussten Verdrängungen ins Bewusstsein zu bringen, und um sie daraufhin, und das ist das Schwierigste an der Therapie, mit der Wirklichkeit in einer gesunden, sozial integrierten Verwirklichung in Einklang zu bringen, oder sie bewusst und frei zu unterdrücken. Aber die psychoanalytische Praxis zeigt, dass sich nicht alle psychischen Krankheiten nach den klassischen Methoden der freudschen Schule behandeln lassen. Daher die anderen Versuche der Erklärung des Unbewussten, wie etwa durch Jung. Aber sie alle scheinen die psychischen Kräfte ganz allgemein als ein „Verlangen“ zu betrachten, „das zu etwas hinstrebt“, und zwar „in einer einzigen Richtung“. Nun habe ich aber festgestellt, dass auch diese „Eingleisigkeit“ im Verlangen ein Grund von Neurosen ist. Zu Neurosen kommt es nicht nur, wenn das Objekt des Verlangens nicht erreicht wird, sondern auch, weil das Verlangen nur in 132 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES eine einzige Richtung strebt, so wie eine Stimme, die nie ihr Echo hört..., als ob ein „Sprechender“ sich nie hören würde... Gibt es also nicht auch eine andere Dimension der psychischen Kräfte, und zwar in der Gestalt eines „Strebens zu dem, was von etwas kommt“? Das Verlangen ist „zweigleisig“, weil es nicht von solitärer Art ist. Es gibt gleichzeitig das „Verlangen nach...“ und das „Warten auf...“. Auch Sexualität hat keinen solitären Charakter, weder definitionsgemäß noch in Wirklichkeit. Man kann die „Libido“ also nicht nur in einer Richtung, zum Besitz ihres Phantasieobjekts hin, betrachten, gemäß den verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung. Wenn die Libido in ihrer ersten Dimension den wirklichen Besitz ihrer Phantasieobjekte außerhalb ihrer selbst anstrebt, dann wäre sie in ihrer zweiten Dimension das Verlangen, „verlangt zu werden“, das Warten auf eine Aufnahme seitens der äußeren Phantasiegebilde, die sie nun ihrerseits zum Objekt machen. Der „Glaubenstrieb“ würde sich dem in seiner zweiten Dimension betrachteten Verlangen anschließen. Das Verlangen nach dem, was von... kommt, das Warten auf... Glauben, dass etwas oder jemand für mich kommen wird... Die negativen Ausdrucksweisen davon sind Furcht und die Angst, verlassen zu werden. Dies kommt auch in Redewendungen zum Ausdruck, wo der Mensch sich als „Spielball der Götter oder des Schicksals“, „zum Glück oder Unglück vorherbestimmt“ bezeichnet, oder sagt, dass sein Erfolg oder Misserfolg „in den Sternen steht“. Dermaßen verallgemeinerte und vielfältige religiöse Überzeugungen können psychologisch nur in dieser Weise verstanden werden. Sie sind Mittel gegen die Frustration des Verlassenseins... Wenn die Libido einerseits „Verdrängungen des Verlangens“ erfährt, unterliegt sie andererseits selber „Verdrängungen des Wartens“, also negativem „Aufnehmen“, das unbewusst abgelehnt wird, so, wie die Verwirklichungen der missbilligten und zensurierten Phantasievorstellungen abgelehnt werden. Wenn der Sadismus eine Perversion der ersten Bewegung der Libido ist, dann hängt der Masochismus von der Perversion ihrer zweiten Bewegung ab. DER ERSTE PHILOSOPH Haben wir in dieser analytischen Sichtweise der menschlichen Psyche wirklich eine Begründung für den „Glaubenstrieb“, der DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 133 ihrer Ansicht nach auf eine Offenbarung wartet? Ist die zweite Ausrichtung der Libido nicht ganz einfach ein auf die erste Bewegung einwirkender Spiegeleffekt? Handelt es sich dabei vielleicht nicht um eine narzisstische Fehlausrichtung der ersten Bewegung, um eine Umkehrung des „Verlangens nach“? Falls dem so ist, dann wäre die zweite Bewegung eine Perversion der ersten Bewegung, und das würde verhindern, dass man zu dem hinstrebt, was an sich „zu lieben“ ist. Sind die philosophische Auffassung des Platon und Aristoteles auf der Ebene des Seins, und das Echo, das sie auf der Ebene der menschlichen Psyche in der Psychoanalyse gefunden hat, nicht viel richtiger und entsprechen der menschlichen Erfahrung eher? DER PSYCHOANALYTIKER Ich verstehe ihre Einwände. Auch ich würde sie von meiner klassischen Bildung her machen. Aber mir scheint, dass die traditionellen Untersuchungen unzureichend sind. Also suche ich weiter... DER ANDERE PHILOSOPH Ich persönlich finden diesen psychoanalytischen Versuch sehr interessant. Ich meine, man sollte ihn zu Ende führen, und nicht auf das zuvor Gesagte zurückkommen, wie mein Kollege vorgeschlagen hat. Der Versuch scheint mir ein Ufer verlassen zu haben, um sich auf das andere zuzubewegen. Er soll jetzt nicht inmitten in der Furt stehenbleiben... DER PSYCHOANALYTIKER Was schlagen Sie also vor, um das Übersetzen zu einem besseren Ufer zu vollenden? DER ANDERE PHILOSOPH Zuerst möchte ich darauf aufmerksam machen, dass ich nicht Psychoanalytiker bin. Dennoch kann ich in gewissem Maß Ihre Sprache entschlüsseln und die in ihr enthaltenen stillschweigenden Voraussetzungen suchen und finden. Denn ob man will oder nicht: Die Psychoanalyse setzt, sogar ohne es zu merken, ein bestimmtes Menschenbild voraus. Bestimmte philosophische Vorstellungen erkennen sich darin wie in ihrem „Echo“ wieder, wie mein Kollege sagte. Ich werde Ihnen also als Philosoph antworten, und überlasse Ihnen die Aufgabe, ihrerseits zu „entschlüsseln“ und das, was von meinen 134 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES philosophischen Aussagen für die Psychoanalyse nützlich sein könnte, herausschälen. Niemand kann die Arbeit eines anderen erledigen, aber zweifellos kann jeder aus der Arbeit des anderen Nutzen ziehen. Ich muss also gleichzeitig einem Psychoanalytiker, einem Kollegen im Gebiet der Philosophie, und einem Theologen antworten. Das ist viel, aber es hängt tatsächlich alles zusammen. Wie verstehe ich als Philosoph das Verlangen? Wie verstehe ich als Philosoph die Liebe? Zuerst ist das eine begrifflich nicht das andere. Nicht nur, weil nicht jedes Verlangen ein Verlangen nach Liebe ist. Das ist eine für Schüleraufsätze geeignete Binsenwahrheit, deren Gegenstück es wäre, zu sagen, dass die Liebe dennoch ein Verlangen ist. Und daraufhin würde man erneut die allgemeinen Eigenschaften des Verlangens auf die Liebe anwenden, um es daraufhin etwas näher zu bestimmen, und zwar so, dass es unsere verschwommene Intuition von dem, was Liebe ist, so gut wie möglich wieder trifft. Und da diese Anstrengung zu keinem Endergebnis führen wird, wird man danach noch „verschiedene Formen“ der Liebe bestimmen wollen, die alle gewissermaßen Vertreter einer einzigen Art sind: wohlwollende Liebe..., begehrende Liebe..., sinnliche Liebe..., intellektuelle Liebe..., aufopfernde Liebe... usw... Wenn Verlangen nicht Liebe ist, dann deshalb, weil das Verlangen und die Liebe nicht dasselbe Fundament, nicht dieselbe Wurzel in der Wirklichkeit eines Seinenden haben. Wohlverstanden, beim Menschen gibt es keine Liebe ohne Verlangen, so, wie es keine Erkenntnis ohne Verlangen gibt. Aber die Liebe, die Erkenntnis, das Bewusstsein und die Freiheit sind transzendentale Eigenschaften des Seins, also Eigenschaften, die dem Sein als solchem zukommen. Im Menschen sind es Qualitäten, die das offenbaren, was an seinem Sein vollkommen ist. Sie können deswegen sogar von Gott ausgesagt oder ihm in analoger Weise zugeschrieben werden. Dagegen sind Verlangen, Streben, Dynamismus, Fortschritt und Entwicklung Qualitäten, die dem begrenzten Seienden als solchem zu eigen sind. Es sind Merkmale eines Seienden, das „im Werden“ ist, das nicht „reiner Akt“ oder reine Tätigkeit ist, um hier einige für unsere Untersuchung brauchbare aristotelische Begriffe aufzugreifen. Man muss also festhalten, dass die Liebe, insofern sie eine Eigenschaft der Vollkommenheit eines Seienden ist, nicht ein DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 135 Verlangen ist. Gleichzeitig muss festgehalten werden, dass der Mensch als Seiendes im Werden „danach verlangt, zu lieben“, und zwar nicht so, dass die Liebe der Gegenstand eines Verlangens wäre. Der Mensch „liebt“, indem er in seiner Liebe voranschreitet. Er liebt, „indem er danach verlangt“, mehr und besser zu lieben. In der Liebe, zu der er fähig ist, insofern er ein Seiendes ist, ist notwendigerweise „Verlangen“ enthalten, denn der Mensch ist ein begrenztes Seiendes und ein sich-selbstwerdendes Seiendes. Der Mensch „verlangt danach, zu lieben“, weil er in den Prozess seiner Selbstwerdung eingebunden ist. Ohne dieses Verlangen zu lieben, würde für den Menschen bedeuten, nicht zu existieren. Gott hingegen liebt auf vollkommene Weise, und daher ohne das Verlangen, eine höhere Vollkommenheit zu erreichen. Ansonsten wäre er nicht Gott. Wenn der heilige Johannes uns sagt, dass Gott die Liebe ist, dann spricht er eine hochstehende philosophische Wahrheit aus, aber es ist eine philosophische Wahrheit. Es ist keine „Offenbarung“, auch wenn es von einem Glaubenden ausgesprochen wird. Und es ist natürlich und ganz und gar logisch, dass ein Glaubender es ausspricht, denn er ist sich bewusst, mit dieser Liebe geliebt zu werden. Aber indem er sagt „Gott ist die Liebe“, spricht der Glaubende nicht eine ihm von außen zukommende Wahrheit aus, sondern eine Wahrheit, in der er existiert. Für den Menschen, der Philosoph ist, bedeutet „Gott ist die Liebe“ wenigstens und zweifellos mehr: „Gott liebt mich“, oder „ich bin von Gott geliebt“. Indem er diese Liebe annimmt, wird er „gläubig“, denn Gott offenbart sich ihm „als jemand, der ihn liebt“. Ich meine davon ausgehen zu dürfen, dass diese Unterscheidung zwischen „Verlangen“ und „Liebe“ nicht zu schwer verständlich ist, und dass Sie sie für berechtigt halten. DIE ANWÄLTIN Sie nehmen eine Vorstellung der Bibel auf, und entwickeln sie, wie... Ihr Kollege hat es dargelegt... DER ANDERE PHILOSOPH Ganz genau! Ich wollte lediglich eine Verwechslung zwischen Verlangen und Liebe beheben. Diese Verwechslung wird vom allgemeinen Menschenverstand, von der romantischen Literatur und von der klassischen Philosophie aufrechterhalten. Man begreift dort die Liebe als „Verschmelzung“. Tatsächlich ist das 136 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES Verlangen in seine verschiedenen Momenten einheitlich. Seine letztendliche Verwirklichung verschmilzt mit seinem anfänglichen Bedürfnis. Diese Verwechslung musste behoben werden, denn sie ist ein wichtiger Grund für intellektuelle Kurzsichtigkeit. Auch habe ich kurz einen Berührungspunkt zwischen der philosophischen und der glaubenden Vernunft skizziert. Aber wir sollten fortfahren... Wenn wir gesagt haben, dass die Liebe sich auf die Dimension von Vollkommenheit des mit Bewusstsein und Freiheit begabten Seienden bezieht, müssen wir dann nicht auch fragen, wie wir uns die Vollkommenheit des Seins vorstellen müssen, oder konkreter ausgedrückt, „wie das vollkommene Sein, also Gott, existiert?“ Geht es nicht darum, zu wissen, was das vollkommene Sein existieren lässt? Das wäre eine in sich widersprüchliche Frage. Wenn irgendetwas ihm Existenz verleihen müsste, dann wäre dieser „ins Sein gebrachte Gott“ nicht vollkommen und unendlich. Dieses „andere Etwas“ wäre dann der vollkommene Sein-Gott, der reine Akt, wie Aristoteles sagt. Die Frage lautet also: „Wie ist Gott in sich selbst, kraft seiner Vollkommenheit?“ Diese Frage ist eine konkrete Art, sich nach der Beschaffenheit der „Vollkommenheit“ des Seins des Menschen zu fragen. Natürlich weiß der Philosoph, dass er auf diese Frage dadurch antwortet, indem er reflexiv nach dem Menschen, der er ja selber ist, fragt, und nicht, indem er Gott unter die Lupe nehmen würde! Wie fassen also Plato, Aristoteles und die ganze aus ihnen gewachsene westliche Tradition die Vollkommenheit des Seins auf, oder das Sein in seiner Vollkommenheit? Ich antworte: als ein in seiner einsamen Individualität in sich selbst abgeschlossenes Seiendes. Das ist es! Mein Kollege wird das nicht widerlegen! EINE ANONYME TEILNEHMERIN ergreift zum zweiten Mal das Wort: Entschuldigen Sie, aber jetzt verstehe ich gar nichts mehr... Es tut mir leid... Zuerst werde ich mich kurz vorstellen... Mein Mann ist Allgemeinpraktiker in einer Provinzstadt, ich bin Krankenschwester in einem Zentrum für Palliativmedizin... Wir haben fünf Kinder großgezogen, drei Mädchen und zwei Buben... Wir sind nicht an theologische Diskussionen gewöhnt... DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 137 und wir nehmen das Leben unmittelbar wahr, gewissermaßen durch „Hautkontakt“. Ich verstehe also nicht, wie Sie sagen können, dass Gott die Liebe ist, um ihn anschließend zu einer Art einsamem Überunendlichem zu machen. Um zu lieben, muss man mindestens zu zweit sein, und wenn man sich zu zweit wirklich liebt, dann liebt man sich nicht nur zu zweit... Wir haben unsere Kinder... Und wir schöpfen auch aus unserer Partnerschaft, um unseren Patienten etwas Zärtlichkeit zu schenken, vor allem jenen, die gerade unter Einsamkeit leiden... Erklären Sie mir also bitte, wie Gott gleichzeitig einsam und liebend ist,... ich verstehe das nicht... Viele Zeichen der Zustimmung und sogar einige des Beifalls... verhalten, wie es sich gehört... DER MODERATOR Meine Dame, ich denke, Sie haben die Gefühle vieler hier Anwesender geäußert... wie etwa, ob die philosophische Diskussion nicht etwa den Schwung der Herzen unterdrückt... ERMÖGLICHT DIE KLASSISCHE PHILOSOPHIE ZU VERSTEHEN, DASS GOTT SICH FÜR DAS GLÜCK DER MENSCHHEIT EINSETZT? DER ANDERE PHILOSOPH Meine Dame, nach dem, was Sie gesagt haben, ist es überflüssig, dass ich die klassische Philosophie mit ihrer individualistischen Vorstellung von Liebe widerlege. Liebe und Einsamkeit sind völlig unvereinbar. Wo es Liebe gibt, kann es keine Einsamkeit geben, und auch kein solitäres Sein. Und wo es Einsamkeit gibt, da fehlt es an Liebe, da gibt es den Ruf nach Liebe... leidende Liebe, erlösungsbedürftige Liebe... Um Ihre Anmerkung zu untermauern, sollten wir aber trotzdem einen Blick darauf werfen, wie die klassische Philosophie das Kunststück vollbracht hat, die Vollkommenheit der Liebe mit der vollständigsten aller Einsamkeiten zusammenzudenken. Ich skizziere die Grundzüge ihres Denkens... Für die Philosophie der griechischen Antike bestand Lieben darin, „danach zu verlangen, das An-sich-zu-Liebende zu besitzen“, und die vollkommene Liebe darin, danach zu verlangen, das vollkommen An-sich-zu-Liebende zu besitzen, also das 138 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES vollkommene Sein. Unvollkommene Liebe hat die Eigenschaft, nach dem Besitz unvollkommener Seiender zu streben. Genauso hat die vollkommene Erkenntnis das zum Gegenstand, was in sich selbst vollkommen ist. Die Erkenntnis unvollkommener Gegenstände kann nie etwas anderes sein als unvollkommene Erkenntnis. Die Menschen haben also die Fähigkeit, „durch ein Bedürfnis, aufgrund eines Mangels an Erkenntnis und Liebe“ zu verlangen und auf das vollkommene Sein zuzustreben: auf das Gute an sich nach Platon, oder den reinen Akt, nach Aristoteles. Sie können etwas oder jemand von ihnen selbst Unterschiedenen lieben, weil sie begrenzte und unvollkommene Seiende sind. Es ist ihre Unvollkommenheit, die sie vom Vollkommenen unterscheidet, und es ist ebendiese Unvollkommenheit, die ihnen erlaubt, mehr zu verlangen als das, was sie haben, und zu dem hinzustreben, was vollkommen und von ihnen unterschieden ist. Ihre Unvollkommenheit erlaubt ihnen auch, auf andere Begrenzte Seiende zuzustreben, wobei alle gleichermaßen begrenzt sind. Diese werden ihre anfängliche Unvollkommenheit verhältnismäßig ausgleichen. Begrenzte Seiende sind für andere begrenzte Seiende „ergänzend“, je nach ihrer „Qualität, zu-lieben zu sein“, ihrer „Liebenswürdigkeit“ und „Verständlichkeit“. Dagegen kann man vom vollkommenen Sein nicht sagen, dass es nach etwas verlangen oder streben würde, was vom ihm verschieden und vollkommen wäre, denn es selbst ist die Vollkommenheit des Seins. Und da es vollkommen ist, sind seine Erkenntnis und Liebe vollkommen, und das, insofern es sich selbst als das, was die Vollkommenheit des Seins ist, erkennt und liebt. Nach Aristoteles ist das vollkommene Sein oder der reine Akt „noeis noeseôs, boulesis bouleseôs“ „Selbstdenken seines Selbstdenkens“ „Selbstwollen seines Selbstwollens“. Das kann man folgendermaßen verstehen: „Es ist gedachter Gedanke an sein denkendes Denken und gewollter Wille zu seinem wollenden Willen“. Anders gesagt: „Seine vollkommene und einzigartige Wirklichkeit als erkennendes und liebendes Subjekt ist gleichzeitig auch sein vollkommenes, einzigartiges, erkanntes und geliebtes Objekt“. Ich fasse es noch genauer: Es ist der Gedanke an ausschließlich sein Denken, und der Wille zu ausschließlich seinem Willen. Die Besonderheit der klassischen DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 139 Vorstellung liegt in dieser ausschließenden Identität, und nicht in der Behauptung des Sich-selbst-gegenwärtig-Seins des Bewusstseins und seiner Initiative, in Freiheit sich selbst zu sein. Aristoteles präzisiert dann tatsächlich, dass der reine Akt (Gott), wenn er von ihm unterschiedene Dinge erkennen und lieben würde, etwas im Vergleich zu ihm weniger Vollkommenes erkennen und lieben würde. Und da in der Erkenntnis und Liebe eine „Identifikation“ des erkennenden und liebenden Subjekts mit dem erkannten und geliebten Objekt zustande kommt, müsste man daraus schließen, dass Gott selbst unvollkommen würde. Was aber nicht sein kann. Und genauso wenig kann er etwas erkennen, das von ihm verschieden wäre und genauso vollkommen wie er, denn diese Unterscheidung würde bedeuten, dass weder er noch das andere vollkommen sind. Man sieht also, dass das, was ein Seiendes vom anderen unterscheidet, ein Unterschied in der Qualität des Seins ist. Während das vollkommene Sein das einzige vollkommene Sein ist, können sich die anderen Seienden von ihm nur durch ihre geringere Seinsvollkommenheit unterscheiden. Spinoza hat dieses in unseren Augen „zu Unrecht offensichtliche“ Postulat mit drei Worten umschrieben: „omnis distinctio imperfectio“. Für die klassische Philosophie kann die absolut vollkommene Liebe also nur die Selbstliebe, und nicht die Liebe zu jemand anderem sein. Konstitutiv dazu genötigt sein, einen anderen in seinem Unterschied zu einem selbst zu lieben, kann also nur ein Merkmal eines begrenzten Seins und daher einer unvollkommenen Liebe sein. Selbstverständlich ist die Liebe des Menschen zum vollkommenen Sein (Gott) die vollkommenste Liebe, zu der der Mensch innerhalb der Grenzen seiner natürlichen Unvollkommenheit fähig ist. Aber die Identität des menschlichen liebenden Subjekts und des göttlichen Objekts seiner Liebe kann niemals zustande kommen. Eine derartige Liebe kann niemals zu einem Ergebnis führen. Sie bleibt für immer ein Verlangen, das niemals erfüllt wird... DER DOMHERR In der natürlichen Ordnung, von der Aristoteles spricht, verhält es sich tatsächlich so. Aber in der übernatürlichen Ordnung kann Gott ein derartiges Liebesverlangen zum Ziel führen. Es ist die „Schau Gottes, die die Auserwählten im Paradies mit Glück erfüllt“. Es ist die seligmachende Gottesschau, die eine reine Gnade Gottes ist. Der heilige 140 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES Johannes sagt, dass wir nach dem Tod „Gott sehen werden und ihm ähnlich sein werden“. Die großen Mystiker der Kirche, wie etwa Johannes vom Kreuz oder Theresa von Avila, haben dieses unermessliche Verlangen nach Gott erfahren. Es ist ein Verlangen, das sie gelegentlich glücklich machte, weil sie den Beginn der Verwirklichung fühlten und auf dessen Vollendung hofften... Es ist ein Verlangen, das sie auch unglücklich machte, indem es sie ihre gegenwärtige Unzufriedenheit hier auf dieser Welt fühlen ließ... DER EXEGET Ich persönlich lese Vers 2 des dritten Kapitels des ersten Johannesbriefs nicht wie ihr „hellenistisch“, im Sinne einer Erfüllung, die in der Verschmelzung mit Gott bestehen würde. Johannes spricht vielmehr von einer Schau des auferstandenen Christus in seiner Herrlichkeit beim Vater. Auch wir werden ihm, Christus, ähnlich sein..., nicht dem Vater... Worin diese Ähnlichkeit bestehen wird, sagt Johannes nicht. Von diesem Text ausgehend und im gedanklichen Umfeld des Hellenismus — wie bereits gesagt — hat man sich das Glück des Glaubenden in Jesus als Erfüllung eines Verlangens nach der Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheit an sich vorgestellt. Und was die griechischen Philosophen in vollkommener Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen für unmöglich erklärt hatten, das haben die Theologen für durch die Gnade möglich erklärt... Wie? Sie geben keine Antwort... Es handelt sich um ein Geheimnis... Und missbräuchlicherweise haben sie daraus fast schon ein Geheimnis des christlichen Glaubens gemacht. DER ANDERE PHILOSOPH So können Sie selbst feststellen, dass sich die Theologen von damals einer ungeeigneten Philosophie bedient haben. Diese griechische Philosophie befindet sich tatsächlich in Unkenntnis jener „glaubenden Vernunft“, die das menschliche Bewusstsein bildet, und passt daher nicht zur evangelischen Botschaft. Die Theologen von damals haben eine philosophische Vorstellung (den Besitz des Guten an sich) mit einer Glaubensaussage (die Begegnung mit dem auferstandenen Christus in der Herrlichkeit Gottes) gleichgesetzt. DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 141 Und überzeugt davon, dass der Glaube die Vernunft übersteigt, und dass der Gott der Offenbarung den Gott der Schöpfung überbietet, und dass die Macht der Gnade der Kraft der Natur überlegen ist, haben sie das, was natürlicherweise nicht möglich war, für übernatürlicherweise möglich erklärt. Bei diesem intellektuellen Vorgehen erschien es ihnen fast selbstverständlich, dass dieses Werk der Gnade eine Offenbarungswahrheit sei, dass es in geheimnisvoller Weise all das, was unsere Vernunft begreifen könnte, übersteige, und sich an unseren Glauben richte, wie ein ungetrübtes Licht. Ich persönlich fühle mich immer unwohl, wenn ich während liturgischen Feiern singen höre, dass „der Glaube unser Licht ist...“, dass „das Wort Gottes uns aus unserer Dunkelheit befreit...“, obwohl diese Lieder uns doch niemals etwas erklären... Aber lassen wir das! Der Einwand des Herrn Kanonikus ruft in mir ein weitaus tieferes Gefühl hervor als eine Enttäuschung bei der liturgischen Verkündigung des Evangeliums. Sein Einwand impliziert die Unvereinbarkeit in der Ordnung des Seins zwischen dem, was von der natürlichen Schöpfungsordnung abhängt, und dem, was beansprucht, der Ordnung der Offenbarung anzugehören. Das ist schlimm... Wenn man beim Wortlaut dieser Fragestellung stehenbleibt, dann ergibt sich daraus hypothetisch, dass sich der gesunde Menschenverstand der natürlichen Ordnung der Schöpfung anschließt, und sich der Ordnung der Offenbarung entledigt, um diese den leichtgläubigen und abergläubischen Menschen zu überlassen... DER PHYSIKPROFESSOR Und wie soll man einer solchen Katastrophe entkommen? DER ANDERE PHILOSOPH Indem man den Mut hat, zuzugeben, dass uns die klassische Philosophie keine fehlerfrei begründete Ontologie der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit bietet! Die falsche Denkweise, die den Widerspruch verursacht, der im Standpunkt des Herrn Kanonikus enthalten ist, ist nicht jene der evangelischen Offenbarung, sondern jene der Philosophie, der er diese Offenbarung entgegenstellt... Als Philosoph geht es mir darum, diese Philosophie zu widerlegen, und auch die theologischen Standpunkte, die sie nach sich zieht, und nicht die Offenbarung in Jesus Christus. Die Unzulänglichkeit dieser Philosophie 142 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES kommt nicht nur in der Vorstellung von der vollkommenen Liebe in Gott zum Vorschein, wie wir bereits gezeigt haben, sondern auch in der Vorstellung von der interpersonalen menschlichen Liebe. Tatsächlich impliziert die Beziehung zu einem von einem selbst verschiedenen Seienden gemäß dieser Vorstellung immer eine Unvollkommenheit in einem selbst. „Lieben“ beinhaltet für das begrenzte Seiende, das der Mensch ist, eine „Steigerung“ seiner Vollkommenheit. Andere zu lieben und Freunde zu haben ist besser, als keine Freunde zu haben. Für Aristoteles ist die Freundschaft ein großer Reichtum. Er hat sehr tiefsinnig darüber geschrieben. Ein behobener Mangel und ein erfülltes Bedürfnis sind besser als das Verharren in der Bedürftigkeit. Aber eine derartige Vollkommenheit ist keine einfache und reine Vollkommenheit. Ihr ist Unvollkommenheit beigemischt. Diese ganze Vorstellung ist in sich stimmig. Platon und Aristoteles wussten richtig zu denken. Aber sind ihre Schlussfolgerungen auch wahr? Die logische Stimmigkeit ist eine notwendige, aber nicht zureichende Bedingung für Wahrheit. Damit das Ergebnis eines Gedankengangs richtig sei, müssen auch seine Prämissen richtig sein. Stimmt die besagte philosophische Vorstellung im Lichte der Vernunft betrachtet mit der Wirklichkeit überein? Das ist die Frage, die man sich nun stellen muss. Man sollte den Mut dazu aufbringen. DIE HISTORIKERIN Und warum hat man sie nicht früher gestellt? DER ANDERE PHILOSOPH Weil die philosophische Methode noch nicht genügend ausgearbeitet war. Sehr vereinfacht dargestellt suchten die Philosophen bis zu Descartes nach der Wahrheit des Seins in den Seienden, die sich ihnen „entgegenstellten“, und die von ihnen aus gesehen „außerhalb“ lagen, also in den „Gegenständen“. Wenn sie die Wahrheit in sich selbst suchten, dann nur, indem sie sich objektive Vorstellung von sich selbst machten. Es war daher normal, dass Platon und Aristoteles den Wert der Erkenntnis und der Liebe vom Wert und von der Vollkommenheit des erkannten und geliebten Objekts abhängig machten, insofern „kennen und lieben“ die Tätigkeiten der Intelligenz und des Willens sind, die jeweils durch ihre Objekte bestimmt werden, nämlich durch das Wahre und das Gute. DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 143 Descartes hat das philosophische Denken auf das Cogito ausgerichtet, auf das „Ich denke“, auf das Subjekt. Es ist der Übergang von einem auf das Objekt ausgerichteten philosophischen Denken zu einem auf das Subjekt ausgerichteten Denken. Dadurch wird unser Seinsverständnis verändert. Ein auf das Subjekt ausgerichtetes Denken kann sich nicht ausschließlich auf das Subjekt ausrichten, während eine Philosophie des Objekts sich tatsächlich ganz auf das Objekt ausrichten kann. Tatsächlich wird das auf das Objekt ausgerichtete Denken im Objekt niemals irgendeine notwendige und konstitutive Beziehung zum Subjekt sehen. Das Objekt kann als „in sich selbst abgeschlossen“ gedacht werden, und die Vollkommenheit seines Seins wird dann als „eine in sich selbst ruhende Einheit in ihrer Einzigkeit“ gedacht. Dagegen kann sich ein auf das Subjekt ausgerichtetes Denken nicht auf das Subjekt allein beschränken. Zweifellos kann sich das Subjekt anfänglich — denn derartig tiefgreifende Entwicklungen gehen niemals anders als langsam vor sich — so betrachten, als ob es wie ein „Objekt“ vor sich selbst stünde. Aber je mehr das Subjekt seine eigene Erkenntnis- und Willenstätigkeit erforscht, umso mehr wird es sich bewusst, dass es sich selbst notwendigerweise in Beziehung zu Anderem sehen muss. Kant hat die kartesianische Methode verfeinert und damit die philosophische Methode endgültig bereitgestellt. Es handelt sich darum, die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit jeglicher Tätigkeit des Subjekts als solchem, und jeglichen Subjekts als solchem zu suchen. Seither ist es nicht mehr möglich, die Tätigkeit eines Subjekts zu betrachten, indem man dieses Subjekt auf sich selbst beschränkt, so, als ob man sich ein Objekt denkt, das in sich selbst allein ein Subjekt wäre, wie dies die platonische oder aristotelische Tradition tut. Es ist auch nicht mehr möglich, ein Subjekt als einzeln und für sich selbst wie im Zustand eines Objekts befindlich zu denken, wie es gewisse Kommentatoren Descartes’ tun, weil sie die „kartesianische Wende“ nicht zu Ende führen. Dagegen ist festzuhalten, dass das sich selbst in der Ausübung seiner Bewusstseinstätigkeit reflexiv wahrnehmende Subjekt sich notwendigerweise als in Beziehung stehend zu „etwas anderem“ versteht: zur Welt und den anderen Subjekten. Indem es die apriorischen Bedingungen derartiger Tätigkeiten sucht und die Frage stellt, ob derartige 144 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES Beziehungen auf die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit seines Seins gegründet sind, kommt es schließlich dahin, zu erkennen, dass seine Beziehung zum Anderen, ohne eine absolut vollkommene Beziehung zu sein, doch, insofern sie wirklich ist, in der Vollkommenheit seines Seins begründet ist. So gelangt man zu einer neuen Schlussfolgerung, die zur griechischen und klassischen Auffassung in direktem Widerspruch steht. Die Erkenntnis- und Liebesbeziehung zu einem von einem selbst unterschiedenen Seienden entspringt der im Sein vorhandenen Vollkommenheit. Die Liebe kann also nicht mehr mit einem Verlangen oder dem Willen, das „An-sich-zuLiebende“ zu besitzen, verglichen werden. Die Liebe ist natürlich ein Wollen, aber das Wollen, dass der andere er selbst sei, und zwar in der ihm eigenen Vollkommenheit, selbst wenn diese durch die Natur begrenzt ist. Das zutiefst menschliche „Verlangen“ besteht nicht darin, zu einem vollkommenen Objekt hinzustreben, sondern zur Vollkommenheit der eigenen Tätigkeit, insofern diese das „Wollen“ ist, „dass der andere in sich selbst sei, und zwar gemäß seiner Natur in vollkommener Unterscheidung von mir“, und dies, soweit es dem Menschen möglich ist. Diese hervorragende Entwicklung des Denkens konnte nicht von heute auf morgen geschehen. Das ist verständlich. Ein langsames Reifen ist nötig. Und wenn die Wahrheit dann sichtbar wird, muss sie Wurzeln fassen und sich langsam ausbreiten. Dazu braucht sie viel Zeit... DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Die ersten christlichen Theologen sind auf eine ähnliche Schwierigkeit gestoßen. Wie sollte man die Vorstellung von der Schöpfung für Menschen verständlich machen, die einerseits die Welt als ewig betrachteten, und andererseits dachten, dass ein vollkommenes Seiendes mit einer unvollkommenen Welt nicht die geringste Beziehung eingehen könnte? Die kombinierte Vorstellung von einer ewigen Materie und von einem Seienden, das durch seine Vollkommenheit von allem isoliert ist und in sich selbst verschlossen ist, widerspricht der Vorstellung von einer Schöpfung, bei der ja eben ein vollkommenes Seiendes in enge Beziehung zu den Dingen dieser Welt tritt, da es sie macht, da es sie „erschafft“. Es gibt verschiedene psychologische und intellektuelle Gründe, die erklären, warum sich die Menschen die Welt als DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 145 „ewig“ vorstellten, oder vielmehr als „fortdauernd“, ohne Beginn und ohne Ende in der Zeit. Das Fehlen einer Vorstellung vom „Beginn“ zeigt, dass es nicht möglich war, sich eine „Schöpfung“ durch ein absolutes Seiendes vorzustellen, dessen Existenz im wahrsten Sinn des Wortes als ewig gedacht worden wäre, also als „jenseits“ der Zeit, so dass die Frage nach dem Fehlen eines Beginns sich für dieses Seiende gar nicht stellt, da es nicht in der Zeit existiert. Weil es außerhalb dieser Zeit steht, die verrinnt und die ein Aspekt der Schöpfung ist, ist es falsch, zu sagen, dass es seit aller Zeit existiert hat, von jeher und für immer. Die Ewigkeit ist nicht ein „endloser Lauf der Zeit“. Es war also eine der größten Schwierigkeiten der Evangelisierung, innerhalb einer solchen Vorstellung von der Welt und dem Menschen den Glauben an einen Gott zu wecken und zu verbreiten, der Schöpfer ist, und der an der Geschichte der Menschen teilnimmt, indem er sich ein Volk auserwählt, mit ihm einen Bund schließt und ihm verspricht, es in Zukunft zu erhalten, und all das gegen das Einhalten seiner Gebote durch dieses Volk, und der schlussendlich, wie der heilige Johannes sagt, selbst bei seinem Volk Wohnung nimmt, sich Jünger auserwählt und das Heil, das er den Menschen bringt, verkündet und durch seinen Tod am Kreuz bezeugt. Wie Paulus von Tarsus sehr richtig sagt, ist eine derartige Vorstellung von der Beziehung zwischen Gott und den Menschen eine „Torheit“, eine ganz und gar „sinnlose“ und „irrationale“ Sichtweise, die sich dem grundlegendsten gesunden Menschenverstand der griechischen Kultur entgegenstellt. Deshalb bewahrheitet sich Ihre logische Folgerung, nämlich die strikte Unvereinbarkeit der griechischen Vorstellung und jener einer transzendental-reflexiven Philosophie, wenn es um die Beschaffenheit einer Beziehung zum Anderen geht, zuerst gewissermaßen in der Geschichte, anlässlich der beiden Auffassungen von der Beziehung zwischen Gott und den Menschen, nämlich der griechischen und der biblischen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es hier Parallelen gibt, die eine genauere Untersuchung verdienen würden. Die sich daraus ergebende Folgerung ist auch für den Theologen in gewisser Weise erleuchtend, und in ganz besonderer Weise für den Dogmengeschichtler. 146 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES Die platonische Idee des Guten oder der Hypostase des Einen nach Plotin, oder auch der unbewegte Beweger der himmlischen Sphären, nach Aristoteles, waren das, was die Christen als am ehesten ihren eigenen Gottesvorstellung entsprechend vorfanden. Aber das ist es ja gerade! Diese Vorstellungen vom absoluten Sein scheinen es diesem „absoluten Seienden“ aufgrund ebendieser Beschaffenheit der ihm zugesprochenen Vollkommenheit nicht zu erlauben, mit der Welt und dem Menschen auf irgendeine Weise in Beziehung treten zu können, und noch viel weniger, sie zu erschaffen, sie also aus dem Nichts, „ex nihilo“, ins Sein zu rufen. In diesem Punkt schließe ich also die kritischen Untersuchungen an, die Sie als Philosoph vorgenommen haben. Im griechischen Denken sind diese transzendenten Wirklichkeiten tatsächlich nur das Objekt eines Verlangens des Menschen, eines intellektuellen Verlangens, eines Verlangens nach Schau. Dennoch ist auf der Ebene seines Werdens und seiner Erfüllung eine Annäherung zwischen dem „griechischen Verlangen nach dem Guten an sich“ und dem „christlichen Verlangen nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“ möglich. Aber wenn Gott mit der Vorstellung vom Guten an sich gleichgesetzt bleibt, dann ergibt sich daraus eine schwerwiegende Verwechslung zwischen der Vorstellung von „Gott“ und jener vom „Reich Gottes“. Das Reich Gottes ist der in seiner Vollkommenheit verwirklichte Mensch. Es ist das Glück des Menschen, das Glück der ganzen Menschheit. Wenn man das Reich Gottes mit Gott gleichsetzt, so, als ob beide ein und dasselbe Objekt eines einzigen Verlangens wären, wird das sogenannte „Verlangen nach Gott“ wenigstens in der Theorie, und manchmal auch auf der Gefühlsebene, dem Verlangen des Menschen nach Glück gegenüber feindselig werden. So entsteht ein Gottesbild, das ihn als mehr oder weniger eifersüchtig oder mit dem Glück des Menschen wetteifernd zeigt. Das Glück, das die Menschen genießen können, indem sie wahre Menschen sind, muss dem Verlangen nach Gott „geopfert“ werden. Und folgerichtig ergibt sich daraus, dass Gott diejenigen besonders belohnen wird, die diesem „Verlangen nach Ihm, nach Gott“ eher gefolgt sind als dem Verlangen, „so weit wie möglich Mensch zu sein“. Und dies ist umso verständlicher, als dieses „Verlangen, so weit wie möglich Mensch zu sein“ dann nicht anders verstanden werden kann als DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 147 individualistisch und egoistisch. Gott wird dann als der gesehen, der für die Wahl dieses „Verlangens nach Ihm“ entschädigt, indem er jenen, die es jeglichem anderen Glück, besonders dem Glück des Ehe- und Familienlebens, vorgezogen haben werden, ein besonderes Glück zuspricht. Wenn man die Gleichwertigkeit einer griechischen und einer jüdischen Formulierung des menschlichen „Verlangens“ nachweisen müsste, dann müsste man zwischen dem „Verlangen, so weit wie möglich Mensch zu sein“ und dem „Verlangen nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“ einen Vergleich ziehen. Aber das verlangt das Annehmen einer anderen philosophischen Vorstellung von der Vollkommenheit des Menschen, einer relationalen und interpersonalen Vorstellung, und die Loslösung von der individualistischen Vorstellung. Griechische Überlegungen dieser Art oder solche, die ihnen nahestehen, sind auch in einer bestimmten Lehre und Praxis der christlichen Heiligkeit vertreten, besonders in der Art und Weise, wie das geweihte Leben verstanden wird. Es wäre gut, das zuzugeben, in der Hoffnung, dass ein Heilmittel dagegen gefunden wird. Das geweihte Leben muss ganz sicher auf Überlegungen anderer Art gegründet werden, die mehr mit der evangelischen Offenbarung übereinstimmen und weniger von heidnischen Vorstellungen vom Göttlichen geprägt sein. Letztere schwanken zwischen zwei Extremen derselben Art: magische Techniken des Machtgewinnens über göttliche Kräfte, und Verhaltensweisen der sklavischen Unterwürfigkeit unter eine willkürliche Allmacht. Diese beiden Vorstellungen schließen einander logisch aus. Sie können nicht beide wahr sein, aber sie können beide falsch sein. Einem Verlangen, Gott zu besitzen, entgeht man nicht durch Gesten der Unterwerfung. Das Verlangen, zu besitzen, ist des Menschen unwürdig, und Unterwürfigkeitsgesten ergeben ein Gottesbild, das Seiner nicht würdig ist. Das geweihte Leben auf die Nachfolge Christi, des einzelnen vollkommenen Menschen, der dem Willen seines Vaters ganz und gar gehorsam war, zu begründen, würde auch eine Verwechslung zwischen einem narzisstischen, auf einen kleinen Kreis beschränkten philosophischen Ideal und dem evangelischen Ideal vom „Reich und seiner Gerechtigkeit“ 148 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES beinhalten. Diese Verwechslung wäre den eben genannten Gleichsetzungen ähnlich... Es wäre gut, wenn die Theologen und christlichen Denker die evangelischen Grundlagen des christlichen Lebens mehr zur Geltung brächten, indem sie deren Bedeutungsinhalte von heidnischen Einflüssen befreien. Letzteren fehlt es in ihrem Gedankengut übrigens nicht einer gewissen Erhabenheit und Höhe. Ich bin der Ansicht, dass hier noch viel spirituelle Forschung zu leisten ist, und ein tiefes Bedürfnis nach „ethischer Bekehrung“ besteht. DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: Die ersten Christen mussten die evangelische Botschaft allerdings sehr wohl in dem kulturellen und philosophischen Umfeld, das Sie im Namen der Vernunft aburteilen, zum Ausdruck bringen. Indem sie es taten, haben sie in keiner Weise am Evangelium Verrat geübt... EINE PHILOSOPHIE DER RATIONALITÄT DES GLAUBENSAKTES FÜR EIN BESSERES VERSTÄNDNIS DER EVANGELISATION DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Paradoxerweise hat diese Schwierigkeit, den Sinn der evangelischen Botschaft mit den Begriffen des griechischen Denkens auszusagen, den Eifer der ersten Christen angeregt. Denn obwohl sie im riesigen Römischen Reich eine verschwindende Minderheit darstellten, hatten sie ein starkes Bewusstsein ihrer Eigenständigkeit, ihrer « unglaublichen » Besonderheit im Unterschied zu den anderen. Und sie waren darum bemüht, so viele Menschen wie möglich daran teilhaben zu lassen. Ihr Glaube war voll Begeisterung. Sie « glaubten » an ihren « Glauben », wenn es mir erlaubt ist, mit den beiden Bedeutungen des Wortes « Glaube », theologischer Glaube einerseits und innere Überzeugung andererseits, zu spielen. Sie « glaubten » (im psychologischen Sinn) an ihren Glauben (im theologischen Sinn). Ihr Glaube an den Schöpfergott und den am Kreuz gestorbenen und auferstandenen Christus, den Erlöser der Menschen, « schockierte » die heidnische Welt. Heutzutage sind sich die Christen eines derartig aufwertenden Unterschieds nicht mehr bewusst. Sie sind „gleichgültig“, oder vielmehr fühlen sie sich zu „gleichgesetzt“, zu „vereinheitlicht“ mit der Welt, in der sie leben, und mit der zusammen sie die DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 149 große Masse bilden. Sie „provozieren“ nicht mehr und wollen nicht mehr „provozieren“ oder „schockieren“. Oder sie verbünden sich mit den „kleinen Provokationen, die gerade in Mode sind“: Umweltschutz, Rechte der Flüchtlinge, Kampf gegen den Krieg, Offenheit für ausländische Kulturen, Recht auf Wohnung für alle, Rechte der Frau, usw... Ihrem kulturellen Umfeld gegenüber fühlen sie sich nicht mehr als Träger einer neuen Botschaft... Ihr Überzeugungen erscheinen ihnen gebraucht, abgeschabt. Und das ist wahr: Zwanzig Jahrhunderte Christentum haben die „Neuheit“ des Evangeliums angegriffen, zumindest eine gewisse „Neuheit“, nämlich genau jene, die gealtert ist, und die von kultureller Art war. Das soll nicht heißen, dass das Evangelium seinen Wert verloren hat. Dieser Gedanke liegt mir fern! Das Evangelium bleibt immer eine „Neuheit“, eine ontologische Neuheit im Bezug auf unsere menschliche Existenz in dieser Geschichte. Es ist die bleibende „Gute Nachricht“ von unserer Vergöttlichung jenseits unseres gegenwärtigen Lebens... Vielleicht sind diese Gute Nachricht und die Gründe dieser guten Nachricht für die heutige Welt immer noch eine kulturell neue Botschaft. Vielleicht gibt es im Evangelium immer noch etwas kulturell „Neues“, das immer noch zu entdecken ist und das die anfängliche Neuheit, die althergebracht geworden ist, „erneuern“ wird. Wenn das christliche Bewusstsein dieses ontologischen „Unterschieds“ nachgelassen hat, oder zumindest heutzutage weniger fühlbar ist: Ist das deshalb, weil die Christen aufgehört haben, Christen zu sein, um wieder Heiden wie damals zu werden? Oder ist es deshalb, weil die „Neuheiten“ von heute unbewusst dermaßen von der christlichen Kultur durchdrungen sind, dass die äußeren Zeichen des Christentums im Vergleich zu früher nicht mehr so bedeutsam und anziehend wirken? Muss man also daraus schließen, dass das Bedürfnis nach Umkehr und Einsatz für das christliche Ideal für die Gemüter und Herzen nicht mehr dermaßen bereichernd ist? Tatsächlich haben nämlich gewisse moderne Ideen, wenigstens in der westlichen Welt, wie etwa jene vom wahren Sinn der Menschenrechte, oder die Forderung nach mehr wahrer Gerechtigkeit in der Welt, in vieler Hinsicht christliche Anwandlungen, die man nicht zur Kenntnis nimmt. Wozu und warum soll man sich also als „Christ“ hervortun, wenn es im 150 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES alltäglichen Leben auf dasselbe herausläuft, ob man Christ ist oder nicht? Gibt es also ausschließlich in kultureller Opposition gegen die herrschenden Meinungen so etwas wie einen „motivierenden Unterschied“? Sind die modernen Ideen nur deshalb, weil sie aus Undankbarkeit ihre jüdischen und christlichen Wurzeln ignorieren wollten, von den kirchlichen Einrichtungen, die sich ihrer geistigen Güter beraubt sahen, wenig geachtet — ein seltsames Phänomen —, ja sogar verurteilt worden? Muss zur Motivierung des Christen ein Gegner oder ein zu eroberndes Gebiet, auch spiritueller Art, bezeichnet werden, wie etwa „die Seelen vor der Hölle zu retten“? Muss man die Aussage, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt, von einem Hintergrund der Angst um sich, um die einem Nahestehenden und um die Gesellschaft als ganze aus verstehen? Dadurch würde man den Eifer des Christen in ähnlicher Weise beeinflussen, wie man jenen eines Kämpfers einer politischen Partei anregt! Nein! Der „christliche Unterschied“ ist nicht von dieser Art. Er ist nicht kultureller Art. Er ist ganz und gar anders. Er ist von ontologischer Art, auch wenn er auf der Ebene der Kultur Unterscheidung schafft. Zum Glück findet die Kirche heute gewisserweise zu „ihrem Reichtum“ und ihrem biblischen Erbe zurück, indem sie den Abglanz der biblischen Überlieferung in gewissen Idealen der Welt anerkennt. Freuen wir uns über diesen Dialog zwischen der Kirche und der Welt, der weit entfernt ist von den Streitigkeiten der Fundamentalismen. Aber riskiert dieser neue Dialog nicht doch, etwas zu sehr in einem „schwammigen Einverständnis“ zu verlaufen, in der „Ähnlichkeit und Vereinheitlichung“ mit dieser Welt der „Verwässerung des Christlichen“ oder in „modischen kleinen Provokationen“, wie ich es nannte? Sind sich die Christen zu Genüge einer motivierenden „ontologischen Neuheit“ bewusst, die sie noch einmal in der Geschichte aus einer eigenständigen Weise, an Christus zu glauben, schöpfen, und diesmal in tieferer Übereinstimmung mit der ontologischen Neuheit Seiner Offenbarung? DER DOMHERR Dann schließen Sie sich also dem Neuevangelisierungsvorhaben Johannes Pauls des Zweiten an? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 151 Selbstverständlich! Sonst hätte ich nicht den Auftrag, diese neuen Wege zu suchen... Denn diese neue Evangelisierung darf in der Tat nicht als eine Neuauflage der althergebrachten verstanden werden, etwa so wie bei Schulbüchern... „überarbeitete und verbesserte Neuauflage...“. Darum handelt es sich nicht! Das Problem besteht darin, in der heutigen Zeit erkennen zu können, worin die Charakteristiken dieser neuen Evangelisierung liegen. Zuerst darf sie nicht mehr zu sich selbst im Widerspruch stehen, wie es die althergebrachte tat. Dann darf sie die Welt, die sie erneut umgestalten soll, nicht mehr mit derselben Art von streitverursachender Beziehung angehen. Die ehemalige Evangelisierung hatte eine Welt, mit der sie sich im Streit befand, umgestaltet. In dieser Auseinandersetzung war sie in den Bereich dieser Welt eingedrungen, hatte ihre Sprache gesprochen und ihr im Namen des Evangeliums Überzeugungen auferlegt, die ihr entgegengesetzt waren oder zu ihr in konträrem Gegensatz standen. Dadurch sah sich die evangelische Botschaft verstanden als in konträrem Gegensatz stehend zu den Vorstellungen, die die heidnische Welt von sich selbst hatte. Das Evangelium wurde nicht gemäß seiner eigenen Verständlichkeit verstanden, sondern gemäß der Verständlichkeit der griechischen Welt und konträrem Gegensatz zu ihr. In dieser mehrdeutigen Situation des ausdrücklichen Gegensatzes der Überzeugungen (also die Schöpfung gegen die Idee der Ewigkeit der Welt), und auf dem Fundament einer impliziten Zustimmung zum Gebrauch bestimmter Begriffe (Gott mit dem Guten an sich, dem Einen, dem reinen Akt gleichgesetzt) konnte man einer gewissen Verformung des Sinns der Offenbarung nicht mehr entgehen. Die Welt, die es zu evangelisieren gilt, ist nicht mehr dieselbe. In gewisser Hinsicht müssen sich die Christen von heute und von morgen auch als „in eine neue heidnische Welt Gesandte“ betrachten, aber in eine heidnische Welt, die nicht zu ihrem ehemaligen Zustand zurückgekehrt ist, sondern tiefgreifend verändert ist durch die in den jüdischen biblischen Schriften und den evangelischen Schriften implizierten moralischen Werte. In einem polytheistischen Heidentum wie jenem von damals ehrte man bestimmte Gottheiten, und man war anderen gegenüber gleichgültig oder befand sich sogar im Konflikt mit ihren Verehrern. In einem „monotheistischen“ Heidentum, wie dem von heute, betet man entweder immer noch den einen Gott 152 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES an, oder man ist ihm gegenüber gleichgültig, oder man befindet sich im Konflikt mit seinen Gläubigen... Und die moralischen Werte sind entweder auf der Bodenhöhe der Vielzahl der „Gottheiten“ angesiedelt, oder sie sind hoch und erhaben, wie es der Einmaligkeit Gottes entspricht. Tatsächlich anerkennt die gegenwärtige „monotheistische“ heidnische Welt weitaus höhere moralische Anforderungen als die antike Welt es tat. Heutzutage sollen die Christen den „ontologischen Unterschied“, der sie anregt und ihnen ein würdigeres moralisches Verhalten ermöglicht, nicht mehr wie damals im Gegensatz zu einem schwachen ethischen Verständnis und einer mittelmäßigen Ausführung des moralischen Gesetzes suchen, und auch nicht mehr angesichts der Vorstellung, dass Gott sich nicht um die Menschen kümmern kann. Außerdem wirft das Thema des „Schweigens Gottes“ zu den Gräueltaten und Massakern der Moderne für diejenigen, die glauben, dass das „Wort Gottes“ die heidnische Welt von damals umgestaltet hat, weitere Fragen auf. Angesichts einer neuen heidnischen Welt müssen die Christen also danach fragen, was dieser „ontologische Unterschied“ ist, diese „immerwährende Neuheit“, die wohlverstanden im Evangelium begründet ist. Dadurch werden sie das Evangelium in einem neuen Licht erscheinen lassen, und das wird diese „neue Evangelisierung“ ermöglichen. DER DOMHERR, Schriftsteller: Das ist ja alles wunderschön... Aber wie soll ich für die große Masse der Gläubigen über diesen „ontologischen Unterschied“ und diese „immerwährende Neuheit“ gegenüber der Welt schreiben? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Ich weiß, das ist nicht einfach... Dazu muss zuerst die religiöse Lage der heutigen Welt, nämlich das ethische individualistische Heidentum, genau untersucht werden. Dann muss man die evangelische Neuheit richtig verstehen: nämlich die interpersonale Offenbarung und eine Ethik der Gemeinschaft. Ich erkläre mich: Die antike heidnische Welt befand sich in Unkenntnis der biblischen und evangelischen Ethik und des Gottes, der sich darin offenbart. Sie hat deren Verkündigung daher als eine DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 153 kulturelle Neuheit aufgenommen. Die moderne heidnische Welt, die christianisiert gewesen ist, befindet sich in einer anderen Lage. Sie hat von der evangelischen und biblischen Ethik, sowie auch vom Gott Jesu Christi einige starke und mehrdeutige Bilder beibehalten, die aus der Art und Weise herrühren, wie die antike Welt diese aufgenommen hat. Diese Bilder überbringen heute immer noch die evangelische Botschaft, aber sie verhüllen auch das wahre Gesicht der Offenbarung Gottes in Jesus, und den sich daran anschließenden wahren Sinn der biblischen Ethik. Und wenn die Christen sich nicht dazu durchringen können, in ihrer Beziehung zur Welt den Zustand einer wachsweichen Übereinstimmung hinter sich zu lassen, und dazu neigen, sich mit den Werten der Welt zufriedenzugeben — oder sich ihnen zu widersetzen, indem sie sie schlechtmachen —, dann bedeutet das, dass sie selber, individuell und kollektiv, noch nicht die letzte Eigenständigkeit des Evangeliums erreicht haben. Etwas von der Botschaft Jesu entgeht ihnen noch. Irgendetwas an der Offenbarung Gottes in Jesus haben wir immer noch nicht wahrgenommen. Nicht, das Gott es verborgen hätte, was immer es auch sei, aber wir haben zweifellos noch nicht „alles“ von dem, was er uns gezeigt hat, gesehen, oder wenn wir es gesehen haben, dann haben wir es nicht verstanden. Wir müssen also einen „Sinn“ finden für das, was er uns bereits gezeigt hat, und dieser Sinn muss mit den Tatsachen seiner Offenbarung übereinstimmen. Eine „neue Evangelisierung“ kann also nicht eine Wiederholung der alten sein. Zu denken, dass die römische Kirche mit diesem Wort soziale und politische Positionen der Vergangenheit zurückerobern wollte, wäre, nebenbei gesagt, eine sehr schlechte Deutung der Gedanken Johannes Pauls des Zweiten. Nein. Es geht um einen neuen geistigen Dynamismus. Dieser kann aber nicht eine Neuausgabe des religiösen Eifers von damals sein. Denn tatsächlich befinden wir uns in einer neuen heidnischen Welt; ich wiederhole, um nicht in verkürzende Vereinfachungen zu verfallen: neu, denn es handelt sich um eine christianisierte Welt, die nicht zum antiken Heidentum zurückkehrt, sondern ihr „eigenes“ Heidentum hervorbringt, also ein Heidentum, das besonders im Bereich der moralischen Werte von seiner Christianisierung gezeichnet bleibt. Damit eine neue Evangelisierung zustande kommt, müssen die Christen sich der Welt mit einem klaren Bewusstsein 154 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES des in Jesus offenbarten „ontologischen Unterschieds“ zeigen. Und dieses neue Bewusstsein kann nirgends sonst herkommen als aus einem neuen Verständnis des Evangeliums. Verstehen Sie mich gut: nicht aus einen neuen Evangelium. Und dieses neue Verständnis des Evangeliums wird es dann auch sein, was die neue christliche kulturelle Unterscheidung von der neuen heidnischen Welt ausmachen wird. Diese neue christliche Unterscheidung oder dieses neue Verständnis des Evangeliums muss folglich die erste kulturelle Unterscheidung und das erste Verständnis des Evangeliums übersteigen. Denn tatsächlich trägt unsere neue heidnische Welt immer noch das Zeichen der ersten Evangelisation, aber sie versteht es nicht mehr als Übermittler der Offenbarung Gottes und ihrer immerwährenden und radikalen Neuheit gegenüber der Erfahrung des gegenwärtigen Lebens. In der Kirche müsste man diesen neuen Unterschied in einem neuen Selbstbewusstsein der Kirche teilen. Ein neues Verständnis von Jesus und dem Evangelium würde notwendigerweise ein neues Selbstverständnis der Kirche nach sich ziehen. Umgekehrt und damit eng zusammenhängend ist zu sagen, dass es ohne ein neues Selbstverständnis der Kirche kein neues Verständnis des Evangeliums gibt, und also auch keinen neuen Unterschied von der Welt für eine neue Welt, und keine Neuevangelisierung. Ein neuer Weg zurück zu den Quellen setzt also ein neues, vertieftes Verständnis derselben voraus. Es muss eine Vertiefung sein, die unser Verständnis des Evangeliums „erneuert“ und seinen Unterschied zu dem, was durch die erste heidnische Welt, nämlich jene der griechischen Kultur, als Evangelium dargestellt und vor allem „kulturell aufgenommen“ wurde, deutlich macht. Der Auftrag an die christlichen Theologen lautet heutzutage: ein besseres Verständnis des Evangeliums, für eine bessere Evangelisierung, um eine neue missionarische Motivation hervorzurufen und den Menschen eine Botschaft der Hoffnung zu verkünden. DER PSYCHOANALYTIKER Ich sehe, dass die Probleme der Theologie fast genauso verwickelt sind wie jene der Psychoanalyse... und für die Nichtspezialisten fast genauso verwirrend... DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Vereinzelt wird gelacht, manch einer bringt zurückhaltender Weise sein Einverständnis zum Ausdruck... 155 in DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Dem stimme ich gerne zu... und ich denke sogar, dass es für Nichtspezialisten weitaus schwieriger ist, mit diesen philosophischen und theologischen Fragen vertraut zu werden, als die verwickelten Intrigen des eigenen Unbewussten zu entwirren... DER DOMHERR Dennoch ist „Glauben“ eine ganz einfache Angelegenheit. Und Kinder glauben, ohne darüber nachdenken zu müssen... DER ERSTE PHILOSOPH Zum Glück... Auch wenn sie sprechen lernen, denken sie nicht nach... Aber das befreit sie nicht davon, während langer Schuljahre zu lernen, ihre Muttersprache fehlerfrei zu sprechen. Wer opfert genauso viel Zeit, um zu lernen, fehlerfrei zu „glauben“, wie die Kinder, um ihre Sprache zu lernen? Außerdem laufen und fallen Kinder genauso natürlicherweise. Damit will ich sagen, „gemäß der Natur der Dinge“. Aber sie kennen das „Fallgesetz“ des Galilei und das newtonsche Gesetz über die gegenseitige Anziehung zweier Körper noch nicht. Nun könnten wir uns aber ohne die Kenntnis dieser Gesetze nicht mit Satelliten ausrüsten, oder den Weltraum erobern und zum Mond fliegen... Aber ganz spontan ziehen die Kinder aus ihren Fehlern „Schlüsse“, die sie zu „verallgemeinern“ wissen, indem sie sie auf andere, ähnliche Situationen anwenden. Zudem verfügen Kinder auch über ein intuitives Gefühl für die logischen Prinzipien der Identität, des Nicht-Widerspruchs und für deduktives Denken, sowie auch für die ersten moralischen Gesetze; und das alles, ohne bereits nachzudenken und ohne systematisches Wissen darüber. Aber einzig durch Studium werden sie lernen, dies als Normen ihres Denkens und ihrer Handlungen zu erkennen. DER DOMHERR, Schriftsteller: Jedoch hat Jesus gesagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen“. 156 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES DER ERSTE PHILOSOPH Ganz ohne Zweifel, denn er beachtete ihre intellektuelle Aufrichtigkeit und spontane Moral. Übrigens wendete er sich damit an Erwachsene, und setzte voraus, dass sie wissen, was es heißt, Kind zu sein, so dass sie den symbolischen Sinn seines Vergleichs verstehen konnten. Nun ist aber nicht sicher, dass sie es wussten... Denn wissen, was es heißt, Kind zu sein, besteht nicht darin, sich als Kind aufzuführen oder kindisch zu sein. Und außerdem gibt es mehrere Ebenen der Antwort auf diese Frage, so, wie es auch mehrere Ebenen der Antwort auf die Frage „Was heißt „glauben“’“ geben muss. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Könnten Sie uns über diese Frage ins Bild setzen? Dies könnte vielleicht eine neue Perspektive eröffnen für dieses neue Verständnis des Evangeliums, das für die Tätigkeit der Kirche in der Zukunft absolut notwendig ist. DER ERSTE PHILOSOPH Es handelt sich um ein philosophisches Nachdenken über den Glaubensakt. Nun öffnet mir die klassische Philosophie allerdings keine neuen Perspektiven in diesem Bereich. Ich würde es also vorziehen, dass mein Kollege redet. In diesem Bereich scheint er mir weitaus einfallsreicher zu sein als ich... DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: Tatsächlich kenne ich keinen Philosophen, der sich wirklich mit diesem Thema auseinandergesetzt hätte... Würden Sie daher, geschätzter Kollege, für unsere nächste Zusammenkunft einige Ideen zum Thema vorbereiten? Denn Sie haben bereits mehr als einmal von der Notwendigkeit einer reflexiven Analyse des glaubenden Bewusstseins gesprochen. Ich persönlich wüsste gerne, worin sie besteht... Für heute früh ist die Zeit bereits so gut wie abgelaufen. Heute Nachmittag legen wir in Neapel an, und morgen gibt es die Möglichkeit, die Ruinen von Pompei zu besichtigen, oder etwas anderes, je nach Geschmack. Unser Gruppenleiter wird uns sicherlich wiederum seine Kompetenz als Reiseleiter unter Beweis stellen. Wir werden uns also übermorgen wieder treffen. Was denken die Teilnehmer der Gruppe dazu? Die meisten der Teilnehmer zeigen ihr Einverständnis. DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN 157 DER ANDERE PHILOSOPH, indem er sich an seinen Kollegen wendet: Da sie mich nötigen, zwischen Archäologie in Pompei und Philosophie zu wählen, werde ich die Philosophie wählen... Ihre Fragen sind dringender, sogar in den Augen der „philosophia perennis“, die Sie mit Bravour betreiben... Die Archäologie kann warten... Sie ist daran gewöhnt... Ich bin also einverstanden, für unsere nächste Zusammenkunft einige Ideen über den Glauben zusammenzustellen. DER MODERATOR, indem er sich an alle wendet: Ich wünsche Ihnen heute Nachmittag viel Freude in Neapel, und tiefe Eindrücke in Pompei und Herculanum, morgen... VIERTE BEGEGNUNG DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES DER MODERATOR Ich nehme an, dass Ihnen die Besichtigungen von Pompei und Herculanum gefallen haben... Nach diesem Tag der Entspannung, wenn man das so sagen darf, werden wir die Zusammenkunft dieses Vormittags der Debatte um eine Analyse des Glaubensaktes widmen... Ist eine derartige Analyse möglich? Wer möchte sie? Wer lehnt sie ab? Was ist das Wesen des Glaubens? Was sind seine Fehlformen? Warum glauben und wie? Soll man glauben oder nicht? Und was soll man glauben und wem? » Es fehlt nicht an Fragen! Wie bereits während der letzten Tage, werden eure spontanen Fragen den Verlauf der Diskussion bestimmen... KEIN GLAUBE OHNE OFFENBARUNG, ODER KEINE OFFENBARUNG OHNE GLAUBE? DER DOMHERR Eine vorausgehende Frage zum Gegenstand dieser Analyse! Der Glaubensakt setzt eine Offenbarung Gottes voraus. Es ist nicht möglich, zu glauben, wenn nichts offenbart wurde. Welche Offenbarung werden Sie als Ausgangspunkt annehmen, die muslimische oder die christliche? DER EXEGET, indem er den Domherrn unterbricht: Es gibt auch eine biblische Offenbarung, jene des antiken Judentums, in der sowohl die evangelische Offenbarung als auch die muslimische Religion ausgiebig schöpfen werden... und die im zeitgenössischen Judentum weiterlebt... 160 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER DOMHERR fährt fort: Zudem hat Herr Debruquel in der Gegenwart des Arabischprofessors gesagt, dass Gabriel, wenn er Mohammed irgendetwas zu offenbaren gehabt hätte, nichts anderes hätte offenbaren können als das, was er, Gabriel, selbst ist, und die Pläne, die er selbst mit Mohammed hat. Das scheint die Möglichkeit einer Offenbarung durch Engel, wie etwa jene des Engels an Maria in Nazareth, auszuschließen. DER ANDERE PHILOSOPH Nun befinden wir also mitten im Thema, noch bevor wir es angeschnitten haben! Ich antworte dem Herrn Kanonikus... Die philosophische Analyse des glaubenden Bewusstseins ist frei von jeglicher Verpflichtung, zwischen mehreren Offenbarungen zu wählen. Das glaubende Bewusstsein ist eine primäre Gegebenheit. Seine Analyse hängt also nicht von dieser oder eher jener Offenbarung ab. Sie setzt nicht einmal die aktuelle Existenz einer sich von außen an das glaubende Bewusstsein richtenden Offenbarung voraus. Dagegen setzt die Anerkennung einer von außen kommenden Offenbarung unsere aktuelle Glaubensfähigkeit voraus. Folglich, indem ich von einem Apriori des Erkennens zur Ordnung des Seins übergehe, kann ich sagen, dass die Möglichkeit, dass es für den Menschen eine Offenbarung gibt, in ihm die aktuelle Glaubensfähigkeit voraussetzt. Wenn es im Menschen keine aktuelle Glaubensfähigkeit gäbe, dann gäbe es keine Möglichkeit einer Offenbarung. Machen Sie, Herr Kanonikus, den Bäumen in Ihrem Garten Offenbarungen? Natürlich nicht! Und Gott ist genauso vernünftig wie Sie! Sie wissen, dass die Bäume in Ihrem Garten nicht fähig sind, Ihnen irgendeine Form von Glauben zu schenken. Und sie können es nicht, denn sie sind unfähig, Philosophie zu betreiben... Ein zum Philosophieren fähiger Baum würde auch glauben können... Aber es wäre dann kein „Baum“ mehr, es wäre ein Mensch... Und einem Menschen, der konstitutiv unfähig ist zu glauben, würde Gott sich nicht offenbaren... Es wäre eben kein „Mensch“ mehr. DER DOMHERR Sie verdrehen meine Frage durch einen unterhaltsamen Vergleich und subtile Überlegungen... Dennoch wissen Sie, dass es ohne die Existenz der Mathematiken keine Philosophien der DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 161 Mathematiken gibt, und ohne die Existenz der Naturwissenschaften keine Philosophie der Naturwissenschaften, und also ohne die Offenbarung keine Philosophie des Glaubens. DER ANDERE PHILOSOPH Jetzt stellen Sie, Herr Kanonikus, eine andere Frage. Sie sind von einer Frage, die mir von der reflexiven Philosophie abzuhängen schien, zu einer epistemologisch-hermeneutischen Frage übergegangen. Ohne die Geschichte gibt es keine Geschichtsphilosophie; ohne die Geschichte der Naturwissenschaften keine Philosophie der Naturwissenschaften, oder genauer gesagt keine epistemologische Hermeneutik der Naturwissenschaften; ohne die Geschichte der Mathematiken keine epistemologische Hermeneutik der Mathematiken. Damit bin ich einverstanden. Das läuft darauf hinaus, zu sagen, dass es ohne die geschichtliche Existenz von Offenbarungen keine Epistemologie dieser religiösen Offenbarungen gibt. Und im Besonderen keine „christliche Theologie“ ohne die evangelische Offenbarung. Damit bin ich vollkommen einverstanden. Sie sehen... Worte können einen täuschen. Jedes von ihnen ist eine Maske, die in mehreren Exemplaren existiert und über verschiedenen Gesichtern gleich aussieht. Um zu wissen, mit wem man es zu tun hat, muss man das anschauen, was die Maske umgibt, und so das Gehaben und Auftreten der Person erkennen. Der Begriff „Philosophie der Naturwissenschaften...“ bedeutet, dass man die Entwicklung der Naturwissenschaften von einer bestimmten Metaphysik des Wirklichen und einer bestimmten, möglicherweise durch einige Beispiele ihrer Anwendung verdeutlichte Methodologie der wissenschaftlichen Erkenntnis ausgehend „deutet“. Es gibt spiritualistische und materialistische Deutungen der Naturwissenschaften. Das hängt von der Seins- und Erkenntnisphilosophie ab, die sich der Epistemologe (oder der Philosoph im weitesten Sinn) zu eigen macht... Und genauso kann es verschiedene Theologien des Evangeliums geben, je nach der für seine Deutung verwendeten Metaphysik oder Philosophie. In der logischen und methodologischen Reihenfolge geht die Philosophie im eigentlichen, engeren Sinn, also die „reflexive“ Philosophie, den von ihr abhängenden „Anwendungen“ voraus, 162 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN insofern sie in der hermeneutischen Reihenfolge der „Deutungen“ die Bezugsfunktion ist. Da ich Ihre Frage auf der apriorischen Ebene der metaphysischen Überlegung aufgefasst hatte, habe ich Ihnen geantwortet, dass Gott, falls der Mensch konstitutiv glaubensunfähig wäre, sich niemals herbeigelassen hätte, sich ihm persönlich zu offenbaren. Und das ganz einfach deshalb, weil ihm nicht ein „menschliches Wesen“ gegenüberstehen würde. Dagegen ist es, damit ich im Lauf meines Lebens tatsächlich an eine Offenbarung glauben kann, nötig, dass ich vorher von einer Offenbarung höre. Aber nicht die Unterweisung, die ich über diese Offenbarung erhalte, macht mich glaubensfähig. Damit ein Kind seine Muttersprache erlernt, muss es seine Umgebung in dieser Sprache sprechen hören. Und doch macht nicht das Geschwätz der Umgebung das Kind sprachfähig. Es ist von Natur aus fähig, eine Sprache zu lernen, aber diese Fähigkeit muss ausgeübt werden. Wenn es von Geburt an taub ist, dann wird es die Zeichensprache lernen können. Verallgemeinern wir diese Beispiele. Auf der aposteriorischen Ebene der menschlichen Tätigkeiten muss es im Verlauf der Geschichte eine Offenbarung geben, die sich vor den Menschen als solche ausgibt, damit sie tatsächlich an eine Offenbarung glauben können. Das zu sagen, ist schon fast eine Tautologie. Sie können in ihrem Garten keine Bäume sehen, wenn es dort keine Bäume gibt. Aber das Fehlen von Bäumen nimmt Ihnen nicht die Sehfähigkeit. Der Glaube eines Menschen an eine Offenbarung Gottes setzt nicht nur die menschliche Glaubensfähigkeit voraus, sondern auch die zumindest implizit vorhandene oder kollektiv anerkannte philosophische Erkenntnis der Existenz Gottes, und sogar das — oft imaginäre — Bewusstsein, dass Gott in sich selbst die Fähigkeit hat, sich zu offenbaren. Auch das gestehe ich Ihnen noch zu. DER DOMHERR Einverstanden! Ich stelle fest, dass ich die philosophische Argumentation nicht so gut wie Sie beherrsche... Übrigens hat man sie mir damals nicht gut genug beigebracht... Aber das ist ein anderes Problem... Dennoch komme ich auf meine Aussage zurück. Der Glaubensakt setzt die Offenbarung voraus, denn mit der Offenbarung wird die Gnade des Glaubens gegeben. Der DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 163 Glaube ist ein Geschenk, das dazu dient, die bereits vollendete Offenbarung anzunehmen. DER THEOLOGIEPROFESSOR Tatsächlich ist der Glaube ein „Geschenk“. Das bringe ich den zukünftigen Priestern meines Bistums bei. Denn was sonst erklärt, dass angesichts derselben Verkündigung des Evangeliums die Einen glauben und die Anderen nicht? Dass die Einen die Gnade, zu glauben, empfangen haben, und die anderen nicht. DER ANDRE PHILOSOPH Ich weiß gar nicht, wo ich mit meiner Antwort beginnen soll!... Fragen dieser Art enthalten dermaßen viele implizite und unbemerkte Voraussetzungen... Irgendwie habe ich den Eindruck, dass ich mit ihnen Verstecken spiele. Ich meine, sie entdeckt zu haben... und beseitigt zu haben... aber da kommen sie an einer anderen Stelle frisch fröhlich wieder zum Vorschein. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Sie sprechen von Voraussetzungen... Es handelt sich aber vielmehr um Vorurteile... und sie alle bezeugen ein schwerwiegendes falsches Verständnis oder die Ignoranz des natürlichen Glaubensbewusstseins, der menschlichen Glaubenschaft. Wenn man sowohl im Rahmen der klassischen Philosophie seine Wirklichkeit als auch im Rahmen der Theologie seine Natur ignoriert, ist man sehr wohl gezwungen, auf Scheinerklärungen wie „der Glaube ist ein Geschenk“ zurückzugreifen. Und auf diese Erklärungen, die keine sind, pfropfen sich empirische oder psychologische Sinnveränderungen auf. Es ist nicht einfach, aus intellektuell dermaßen verworrenen Situationen auszubrechen. DER ANDERE PHILOSOPH Bitte erlauben Sie, Herr Kanonikus, dass ich die Aussage, „der Glaube ist ein Geschenk“, im Augenblick im husserl’schen Sinn „ausklammere“. Ich verspreche Ihnen, darauf zurückzukommen. Das ist übrigens eine intellektuelle Verpflichtung... Kommen wir auf unsere Frage zurück. Ich fasse sie etwas weiter... Was kommt zuerst: die Offenbarung, oder der Glaube? 164 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Ihr Standpunkt ist: Zuerst kommt die Offenbarung, dann der Glaube. Ihre Aussage ist wahr, wenn sie das kontingente Verhalten eines Menschen in der Zeit betrachten, eines Menschen, der entweder direkt durch einen Offenbarer oder indirekt durch dessen Zeugen von der Offenbarung erfährt. Hier befinden wir uns im Bereich der aposteriorischen Urteile, die eine Erkennenstätigkeit betreffen. Dieselbe Aussage ist im Bereich der apriorischen Urteile falsch, wenn man die für ein erkennendes Subjekt bestehende Möglichkeit, eine Botschaft oder etwas anderes als offenbart anzuerkennen, ins Auge fasst. In diesem Fall kommt die Fähigkeit, zu glauben, als Erstes, und die Offenbarung als Zweites. Der Mensch wird eine „Mitteilung“ als offenbart anerkennen, weil er konstitutiv glaubensfähig ist. Ein weiteres Zeichen dieses logischen Vorrangs des glaubenschaftlichen Bewusstseins ist die Möglichkeit der glaubenschaftlichen Fehleinschätzung. Wenn sie sich irrt, ist diese menschliche und natürliche Fähigkeit fähig, das, was nicht Offenbarung ist, in eine „Offenbarung“ umzuformen, und damit schwerwiegende Irrtümer zu begründen. Daher die Notwendigkeit, eine Methodologie des glaubenschaftlichen Bewusstseins auszuarbeiten, und seine Beziehungen zu den anderen Erkenntnisarten gut festzulegen. So gelangen wir zu einer dritten Hypothese, die nun als erste der ontologischen Ebene angehört. Das, was ich hier über den Glauben gesagt habe, insofern er eine Erkenntnisart darstellt, gilt übrigens für alle Formen des Glaubens. DER DOMHERR Ach! Es gibt mehrere Formen des Glaubens?... Das war mir noch nicht bekannt... DER ANDERE PHILOSOPH Aber selbstverständlich! Die menschliche Glaubenschaft ist in Übereinstimmung mit den ontologischen Beziehungen, die das menschliche Sein bilden, strukturiert. Es gibt den theologischen Glauben, von dem wir gerade sprechen, aber auch den Glauben, den Ehepartner einander schenken, und die verschiedenen zur Freundschaft gehörenden Arten von Glauben, und eine große Vielzahl von „Glaubensarten“ im sozialen Leben. Ein richtiges DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 165 Verständnis des theologischen Glaubens setzt voraus, dass wir seine Beziehungen zu den anderen Formen von Glauben untersuchen. DIE ANWÄLTIN Dann sind wir also noch lange nicht am Ziel!... Aber wenn wir dafür interessante Dinge lernen... zum Beispiel etwas über den „Glauben im Eheleben“... warum nicht? DER ANDERE PHILOSOPH Zunächst muss nun bedacht werden, was auf der ontologischen Ebene zuerst kommt: der Glaube oder die Offenbarung? Hier müssen zwei Gesichtspunkte ins Auge gefasst werden: jener des glaubenden Menschen und jener des Gottes, der sich offenbart. Im Rahmen einer Ontologie der menschlichen Erkenntnis steht das glaubenschaftliche Bewusstsein an erster Stelle. Dessen Analyse wird uns erlauben, Kriterien zu gewinnen, um grundsätzlich zwischen der Wahrheit und der Falschheit einer Offenbarung zu unterscheiden. Diesen grundsätzlichen Kriterien fügen sich dann jene zweitrangigen an, die aus dem Vergleich resultieren, in dem die offenbarte Botschaft den durch andere Erkenntnisformen, nämlich Philosophie und Naturwissenschaften, gewonnenen Wahrheiten gegenübergestellt wird. Gehen wir noch weiter... Von Gott aus gesehen..., wenn das erlaubt ist,... denn nun spreche ich nicht mehr, indem ich die Bewusstseinstätigkeit des Menschen, insofern er ein erkennendes Wesen ist, betrachte, sondern nun betrachte ich die göttliche Tätigkeit in Bezug auf den Menschen... nicht, dass ich mir anmaße, im innersten des göttlichen Bewusstseins zu lesen... sondern ich halte mich an das, was ich aus der ontologischen Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins, insofern es geschaffen ist, ableiten kann. Ein apriorisches Erkennen dieser Veranlagungen setzt voraus, dass man für sie nicht in einer in der Geschichte abgeschlossenen Offenbarung nach logischen Begründungen sucht, selbst wenn man davon a posteriori, durch Bildung, Kenntnis hat. Auf eine aposteriorische Erkenntnis kann man keine Aussage als notwendig und apriorisch begründen. Umgekehrt kann man aber aus der inneren Struktur der Glaubenschaft des Bewusstseins herauslesen, dass ihr in der 166 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN bleibenden Ordnung der Schöpfung selbst eine Offenbarung gegeben ist. Weiterhin kann man aus der Entwicklung des theologischen glaubenschaftlichen Bewusstseins in Funktion der von der philosophischen Überlegung ausgearbeiteten Gottesvorstellung herauslesen, dass eine transzendente Offenbarung in der Geschichte möglich ist. Das „Verlangen nach einem Wort Gottes“ gründet auf einer derartigen Entwicklung des glaubenden Bewusstseins. Die biblische „messianische Erwartung“ ist eine geschichtliche Form davon. Sie ist eine aposteriorische Form der von der Vernunft erleuchteten Glaubenschaft. Das glaubenschaftliche Bewusstsein hat die Pflicht, sich richtig zu entwickeln, in Übereinstimmung mit seiner Seinsverfasstheit. Um das zu wissen, muss man auch hier auf die transzendentale Metaphysik zurückgreifen. Eine letzter Schluss: Wenn Gott den Menschen als Glaubenden und theologisch Glaubenden erschaffen hat, dann deshalb, weil es sein Plan war, sich ihm in Fülle zu offenbaren, und nicht nur im Spiegel seiner Schöpfung. Ich hoffe, Herr Kanonikus, dass ich damit Ihre wichtigste Frage beantwortet habe. Zu dem, was ich über Gabriel gesagt habe, und woran Sie nun erinnert haben, ist hinzuzufügen, dass es eine Anwendung eines Wesensmerkmals eines jeden Offenbarungsverhaltens auf diese Engelsgestalt war, nämlich dass der Offenbarer sich selbst offenbart, und nichts außer sich selbst und der Beziehung, die er zu jenem hat, der ihm Glauben schenken wird. Ich persönlich ziehe es vor, daraus zu schließen, dass Gott, wenn er sich offenbart, es unmittelbar tun muss, denn die Offenbarung ist das Wesen selbst seines göttlichen Seins. Aber darauf werden wir sicherlich noch zurückkommen. Und was die Gestalt Gabriels angeht: Ist sie mehr als eine Einbildung, die einige Aspekte jener Beziehung personifiziert, in der sich die Menschen Gott gegenüber sehen? Es ist die Symbolik des Boten des „Großen Königs“, des persischen „Basilëus“, dem sich das gemeine Volk nicht nähern darf... Ein volkstümliches, etwas kindliches Erklärungsmuster für die Transzendenz Gottes... Aber in Anbetracht seiner Absicht ist es dennoch sehr beachtenswert... Behalten wir also diese Absicht, und beseitigen wir die Einbildung, um uns der Wirklichkeit besser und mit mehr Licht zu nähern. Sie ist in der Tat viel DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 167 schöner. Der Philosoph, der ich bin, ist ihr in der Fleischwerdung des Wortes begegnet und glaubt daran. DER MODERATOR Sie schließen mit einer persönlichen Stellungnahme. Das zeigt, dass Ihre philosophische Genauigkeit Sie sehr weit bringen kann, ohne dass Sie eines wunderbaren Phantasiegebildes bedürfen würden. DER DOMHERR Ich danke Ihnen für Ihre Antwort. Aber ich bleibe unsicher... Meine geistlichen Begleiter pflegten zu sagen, dass Zweifel vom Teufel kommt... Ich scherze ein wenig... Aber wenn Sie die ganze Philosophie ändern, dann ändern Sie auch die ganze Theologie... DER ANDERE PHILOSOPH Zweifellos, aber ich ändere nicht die Offenbarung. Im Gegenteil. Dank einer besseren Philosophie wird sie verständlicher. DER DOMHERR Da müsste man also ein kleines Wörterbuch haben, um die nach der alten Philosophie verstandene Offenbarung zu entschlüsseln und sie nach einer glaubenschaftlichen Philosophie neu zu verschlüsseln. DER ANDERE PHILOSOPH Nein, nein!... Bitte verwenden Sie nicht diesen Begriff. Es gibt keine glaubenschaftliche Philosophie und kann sie nicht geben. Es gibt eine Philosophie der Glaubenschaft des Bewusstseins. Und diese ist eine reflexive, ausschließlich rationale Philosophie. Den Theologen sollte man für die Zukunft wünschen, dass sie über eine ganzheitliche, reflexive Philosophie verfügen, die methodologisch von jeglichem Bezug auf eine Offenbarung unabhängig ist. Auf der Ebene des Bewusstseins wird sie dessen glaubenschaftliche Dimension integriert haben, und auf der ontologischen Ebene wird sie verstanden haben, dass die interpersonale Beziehung eine Vollkommenheitsbeziehung des Seins ist. Sie wird auch festgestellt haben, dass die Einheit des Seins in Gott nicht eine „Einheit der Ungeteiltheit“ ist. Letztere 168 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN ist ein Abklatsch des mathematischen Einheitsbegriffs. Die Einheit des Seins Gottes ist eine lebendige interpersonale Einheit der Seinsmitteilung. Diese relationale Philosophie, die neu, aber weitaus genauer als die klassische Philosophie ist, kann als einzige dem Verstand das Verstehen von zwei zentralen Wahrheiten des Christentums ermöglichen: die Fleischwerdung des Wortes und die interpersonale trinitarische Struktur Gottes. Der Mensch wird mit Würde sagen können: Ich verstehe, dass dies die transzendente Offenbarung ist, die dem entspricht, was in meinem geschaffenen Glaubensbewusstsein vorgegeben ist. Daher glaube ich fest daran. Der Kampf um das Verstehen des Glaubens wird in der Philosophie ausgetragen. DER MODERATOR Ich stelle fest, dass Sie Ihre Verteidigungsrede sehr gut halten, und gleichzeitig Ihre philosophischen Thesen darlegen... Die vom Herrn Kanonikus aufgebrachte Idee eines Wörterbuches sollte beibehalten werden: die Beziehungen zwischen Vernunft und Glaube nach der klassischen Sichtweise und nach einer relationalen Sichtweise so, wie Sie es empfehlen, einander gegenüberzustellen. Was halten Sie davon? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Die Idee ist nicht schlecht... Aber meiner Ansicht nach besteht zwischen den beiden Systemen keine biunivoke Entsprechung. Ich denke, wir sollten im Augenblick keinen zu großen Ehrgeiz zeigen, und stattdessen noch eine gewisse Anzahl von Begriffen klären. Wir haben gerade gesehen, dass begriffliche Unklarheiten uns vom Thema abbringen. Natürlich sind es interessante Abschweifungen, aber gelegentlich ist es schwierig, ihnen zu folgen. Außerdem können sie uns zu schnell und zu weit vom Thema abbringen... DIE KONSTITUTIVE GLAUBENSCHAFTLICHKEIT IN IHREN WESENTLICHEN FORMEN DER ANDERE PHILOSOPH In der Tat! Ich habe in meinen Antworten gelegentlich zu fortgeschrittene Standpunkte eingenommen, ohne alle Schritte des Beweises auszuführen. Ich gehe daher einige Punkte nochmals durch... DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 169 Zuerst müssen wir jene Bedeutungen des Begriffs « glauben » ausschließen, die nicht in den Zusammenhang unseres Themas gehören, aber in unsere Diskussion hineinspielen. Daher möchte ich die begriffliche Unterscheidung, die Sie gegen Ende unserer letzten Zusammenkunft machten, mit einer kleinen Änderung nochmals aufgreifen. Es ist die Unterscheidung zwischen dem psychologischen und dem theologischen Sinn des Begriffs « Glaube ». In der Umgangssprache drückt nämlich der Begriff „glauben“ — je nach Kontext — zwei psychische Haltungen von „Gewissheit“ aus, die sich graduell in zwei unvereinbare Extreme aufteilen. Bisweilen kann „glauben“ bedeuten, dass man nicht wirklich „weiß“, dass man lediglich eine „Meinung“ hat, dass unsere Gewissheiten nicht absolut sind, oder dass wir nicht durch eine Äußerung Stellung beziehen wollen. Bisweilen kann „glauben“ genau das Gegenteil bedeuten: dass wir wirklich überzeugt sind von dem, was wir behaupten, und dass wir aus abgesicherten Urteilen die nötigen Konsequenzen für unser Handeln ziehen. Dies sind die psychologischen Bedeutungen, von denen Sie sprachen, als sie sagten, dass die ersten Christen an ihren „Glauben“ „glaubten“, während heutzutage zu viele Christen nur noch schwach an ihren „Glauben“ „glauben“. Die Glaubensüberzeugung kann tatsächlich mehr oder weniger lebhaft sein. Wer mit Inbrunst betet: „Herr, ich glaube, aber mehre meinen Glauben“, der ist sich wahrscheinlich der Verwirrungen, die in dieser Bitte stecken können, nicht bewusst... Es könnte sich um das Verlangen nach größerem Eifer in einem möglicherweise irrigen Glauben handeln... Etwa so, als ob man sich einen größeren Appetit wünscht, um ein giftiges Pilzgericht zu essen... Es wäre besser, sich ein vertieftes Verständnis des Glaubens an den, der sich offenbart, zu wünschen..., und diesen Wunsch ins Gebet zu fassen. Der Eifer wäre dann besser eingeordnet... und gleichzeitig gefestigt... Die beiden psychologischen Bedeutungen des Begriffs „glauben“ bezeichnen die minimale und maximale Intensität unserer Gewissheiten, und gehören nicht zum Wesen des Glaubensaktes. Ihre Erforschung lässt uns nicht verstehen, was der Glaube ist. Denn gemäß diesen psychologischen Bedeutungen kann das Verb „glauben“ mit verschiedenen Vollzügen des Bewusstseins in Verbindung gebracht werden. Wenn es zum Beispiel auf philosophische Aussagen bezogen 170 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN wird, drückt es die dem „reflexiven Bewusstsein“ eigene Gewissheit aus, mit der letzteres überzeugt oder unsicher ist. Ein Forscher kann seinen Experimenten „Glauben schenken“ oder auch nicht... Ein Unternehmer kann an den Erfolg seines Projekts „glauben“ oder auch nicht... Aber weitaus häufiger bezeichnet das Verb „glauben“ — und das vor allem dann, wenn es im Sinn einer starken, und nicht einer schwachen Überzeugung gebraucht wird — solche Wahrheiten, die den „Glauben des Subjekts (oder mehrerer Subjekte gemeinsam) an jemanden“ aussagen. Es wird also mit einem Denkvorgang, der sich von jenen der Naturwissenschaft oder der Philosophie unterscheidet, in Zusammenhang gebracht. Es drückt dann die eigentliche Tätigkeit des „glaubenschaftlichen Bewusstseins“ aus, insofern diese eher eifrig ist als lau. In einem eigentlichen und methodologischen Sinn, den ich „glaubenschaftlich“ nenne, bezeichnet das Verb „glauben“ diese Haltung, diese Verhaltensweise, diese besondere Be-wegung des persönlichen Bewusstseins in seinem „Glauben an jemanden“. Der Begriff „Glaube“ kann seinerseits sowohl die direkte gelebte Glaubensbeziehung zu jemandem bezeichnen, wobei der Glaube eifrig oder lau sein kann, als auch die Erklärung - in einer „zweiten und reflexen“ Redeweise - dessen, was diese gelebte Beziehung ist und impliziert. — Hier sage ich nicht „reflexiv“, denn der Begriff „reflexiv“ wird auch auf das „erste und unmittelbare Bewusstsein“ angewendet. — Diese Erklärung des Glaubens wird innerhalb der Religionen durch die mehr oder weniger genaue Formulierung eines „Lehrgebäudes“, also durch „Glaubensartikel“ erbracht, weil in diesem Fall mehrere Glaubende die Glaubensbeziehung zu einem göttlichen Sein gemeinsam haben, und diese als solche den Mitgliedern dieser Gruppe von Glaubenden auferlegt werden muss. Es handelt sich also um das, was wir die „Lehre des Glaubens“ nennen: die christliche Lehre vom christlichen Glauben; die katholische Lehre vom katholischen Glauben; die jüdische Lehre vom jüdischen Glauben; die muslimische Lehre vom muslimischen Glauben. Die Ausdrucksweisen der „Glaubenslehre“ der verschiedenen Religionen sind unterschiedlich, aber jede Religion kennt eine „Glaubenslehre“, auch wenn sie nicht so genannt oder sogar abgelehnt wird, wie etwa im Judentum. DIE HISTORIKERIN DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 171 Um die Frage nach dem Glauben zu klären, haben Sie jetzt schon mehrmals einen Begriff gebraucht, der uns nicht geläufig ist. Ich habe ihn in dieser Woche, in unseren letzten Zusammenkünften, zum ersten Mal gehört. Ich meine, dass das Adjektiv „glaubenschaftlich“ dem Begriff „theologischer Glaube“ aus dem Wortschatz der Theologen entspricht. Ich verstehe natürlich, dass ein Begriff, der in der Diskussion Klarheit schaffen soll, uns nicht sofort geläufig ist. Wenn wir ihn vorher schon gekannt hätten, dann wäre zweifellos nicht so viel Bemühung um Klarheit notwendig gewesen... Aber würden Sie uns trotzdem besser mit seinem Sinn vertraut machen, und uns seine „Klarheit“ auch psychologisch näher bringen? DER ANDERE PHILOSOPH Mit Vergnügen! Sagen wir, dass der theologische Glaube eine Form der menschlichen Glaubenschaft ist, also der Fähigkeit, das Glauben auszuüben, die wiederum wesentlich zum menschlichen Bewusstsein gehört. Sie ist nicht die einzige dieser Formen. Es gibt auch den „Glauben im Eheleben“ und den „Glauben in der Gesellschaft“. Vor einigen Augenblicken habe ich sie erwähnt, und der Herr Kanonikus war darüber sehr erstaunt... Wir werden darauf zurückkommen... auf die verschiedenen Formen der Glaubenschaft..., nicht auf das Erstaunen des Herrn Kanonikus!... Aber zuerst werde ich den Begriff erklären. Obwohl Glaubenserkenntnis von ganz anderer Art ist als die anderen Erkenntnisweisen, kann man, um die Begriffe zu klären, zwischen den vom Verb « wissen » abgeleiteten Wörtern, und dem Verb « glauben », eine Parallele finden. Wir haben die Substantive « das Wissen », und « der Glaube », die beide sowohl das Objekt als auch das Ergebnis der durch die jeweiligen Verben bezeichneten Tätigkeit darstellen. Nun können wir das von diesen Verben vorausgesetzte Vermögen und die ebenfalls vorausgesetzte Tätigkeit ins Auge fassen: die « wissenschaftliche Erkenntnis », also « die Wissenschaft », und die glaubenschaftliche Erkenntnis oder Glaubenschaft. Und genauso, wie das Wort « Wissenschaft » dann die Gesamtheit der verschiedenen « Wissenschaften » bezeichnen kann, so kann das Wort « Glaubenschaft » die Gesamtheit der verschiedenen Formen von « Glaubenschaften » bezeichnen. 172 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Und schließlich können wir die spezifischen und methodisch bezeichnenden Eigenschaften dieser « Bewusstseinsvorgänge » oder « Erkenntnisweisen » mit weiter gefassten Begriffen, wie „Wissenschaftlichkeit“ und „Glaubenschaftlichkeit“ bezeichnen. Die Adjektive « wissenschaftlich » und « glaubenschaftlich » lenken unsere Aufmerksamkeit auch auf die methodischen und rationalen Anforderungen, die grundsätzlich an unsere Wissensweisen und „Glaubenszustimmungen“ gestellt sind, insofern diese Anforderungen ihrerseits in den notwendigen Grundeigenschaften unseres interpersonalen menschlichen Bewusstseins begründet sind. DER THEOLOGIEPROFESSOR Warum bilden Sie mit einem Wortstamm, der übrigens sehr viele Bedeutungen hat, ein neues Wort? Und dann gleich drei: Glaubenschaft, glaubenschaftlich, Glaubenschaftlichkeit? Aber ich meine, Sie gebrauchen das Wort „glaubenschaftlich“ nicht der Absicht, unverständlich zu sein, denn Sie wollen ja durch diese Begriffe eine klassische Analyse, die Sie für unzureichend halten, ins rechte Licht rücken. DER ANDERE PHILOSOPH Sie sagen es: Es geht mir nicht um eine komplizierte und schwerverständliche Ausdrucksweise. Und genauso wenig mag ich Vereinfachungen, die anscheinend klar sind, weil sie uns, leider, vertraut sind. Sie machen die Komplexität der Dinge wirr und unklar, anstatt Licht auf sie zu werfen. Sagen wir also, dass ich hoffe, dass der Gebrauch eines neuen Wortes und der von ihm abgeleiteten Worte es uns ermöglichen wird, mit der Untersuchung dieser „Glaubenstätigkeit“, die wesentlich zur menschlichen Natur gehört, fortzufahren, ohne uns durch die Grenzen der klassischen Vernunft einschränken zu lassen. Ich hoffe, dass diese Begriffe, wenn sie auch neu sind, es uns doch ermöglichen werden, die volle Tragweite unserer menschlichen Existenz zu erfassen. Einiges davon wurde in der klassischen Tradition leider aus verschiedenen philosophischen, sozialen, religiösen, psychologischen und gefühlsbedingten Gründen „abgeblockt“. DER DOMHERR Da wir gerade vom „Wortschatz“ reden, möchte ich hier meine Bemerkung anbringen. Ich höre die folgenden DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 173 Ausdrücke: „Glaubenstrieb“, „Glaubenstätigkeit oder Glaubensvollzug“, der wesentlich zur menschlichen Natur gehört...“! Sie gebrauchen diese oder ähnliche Formulierungen öfters. Aber Sie erklären nicht, welche Wirklichkeit mit dieser Formulierung gemeint ist... Sie sehen, das ist unzufriedenstellend... DER ANDERE PHILOSOPH Wenn es nur von mir abhängen würde, dann hätte ich Sie schon lange mit einem gehörigen „roten Gericht“, „von dem Roten da“ abserviert, nämlich mit einem „Linsengericht“, wie Jakob in der Bibel seinen erstgeborenen Bruder Esau... (Gen. 25, 30) DER DOMHERR Das ist allerhand! DER ANDERE PHILOSOPH Mit diesen Wortschöpfungen will ich die Wirklichkeit einer menschlichen Person bezeichnen, die sich in einer authentischen Glaubenstätigkeit befindet, indem sie in Übereinstimmung mit den konstitutiven Anforderungen ihrer geistigen Natur „glaubt“. Der Mensch „glaubt“ unter drei Bedingungen authentisch. Erstens, wenn er ein, wenn möglich reflexives, Bewusstsein des „Warum und Wie“ der Glaubenszusage besitzt; zweitens und folglich, wenn er die Offenbarung, die seine Glaubenszustimmung anregt, kritisch versteht; und drittens, wenn er in einer spezifischen Dimension seiner persönlichen Freiheit aufblüht, die durch die freie Selbsthingabe des Offenbarers an ihn ermöglicht wurde. Das alles fasse ich zusammen, indem ich sage, dass der Mensch sich als „glaubenschaftliches Seiendes“ verwirklichen muss. Und um auch noch den letzten Schritt zu wagen, würde ich sagen, dass diese glaubenschaftliche Dimension des Seins des Menschen eine „einfache Vollkommenheit“ ist, und dass sie in Gott selbst gründet. DER THEOLOGIEPROFESSOR Schlagen Sie dann also vor, dass auch die Beziehungen in Gott von glaubenschaftlicher Art sind? Das ist mir sehr... Es verschlägt mir die Sprache... 174 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER ANDERE PHILOSOPH Ja..., aber für den Augenblick hätte ich mich nicht nochmals diesem Punkt nähern sollen... Spannen wir nicht den Wagen vor die Ochsen... und bleiben wir für den Augenblick beim „Wortschatz“ und seiner Begründung... Wir werden von der „Glaubenschaftlichkeit des menschlichen Bewusstseins“, von „glaubenschaftlicher Freiheit“, vom „sich demjenigen, der sich uns offenbart, anverglaubenschaftlichen“, von der „glaubenschaftlichen Verbindung zwischen dem Offenbarer und dem Glaubenden“ und von der „glaubenschaftlichen Struktur der Existenz“ sprechen. Wir werden sogar vom „glaubenschaftlich Glaubenden“ und vom „glaubenschaftlich glauben“ sprechen, obwohl wir wissen, dass diese beiden Ausdrücke Pleonasmen wären, wenn die Worte „Glaubender“ und „glauben“ in ihrer vollen reflexiven Verständlichkeit aufgefasst würden. Aber sie werden es nicht... Der Begriff „glaubenschaftlich Glaubender“ wird also gleichbedeutend sein mit „authentisch Glaubender“, aber er wird den Vorteil haben, die Beschaffenheit dieser Authentizität genauer auszudrücken. Wenn wir so sprechen, dann nicht, um die traditionellen Lösungen auf die Fragen, die die menschlich-religiöse Tatsache, glauben zu können und tatsächlich zu glauben, aufwirft, wieder aufzugreifen. Und diese Fragen drängen sich umso mehr auf, wenn diese Glaubensfähigkeit sich einerseits ungeschickt und stotternd verwirklicht, und sich andererseits sogar — leider! — in unwürdigen Lehren und Verhaltensweisen pervertiert. Hierin liegt eine Form des Bösen, und vielleicht befinden wir uns hier sogar an der Wurzel des Bösen... Und was, wenn sich die Wurzel des Bösen im Bereich des Glaubens festsetzt!... in der glaubenschaftlichen Beziehung!... DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: Ich muss feststellen, dass viele von Ihnen durch ihre Fragen die Diskussion weitaus schneller haben voranschreiten lassen, als ich dachte,... oder zumindest unseren Philosophen dazu gebracht haben, so gründlich vorzugehen, dass unsere Voraussetzungen bei weitem überboten sind... Ich persönlich schlage nochmals vor, — aber ich will niemanden dazu zwingen — dass wir die klassische Auffassung von der Beziehung zwischen Vernunft und Glaube auf den Punkt bringen. Das soll uns helfen, besser Stellung zu beziehen DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 175 in der Konfrontation zwischen einer klassischen Philosophie, also einer Philosophie der auf sich selbst ausgerichteten Substanz, und einer interpersonalen Philosophie, also einer Philosophie der Beziehung zwischen geistigen Substanzen... wenn Sie es mir, einem Historiker, erlauben, mich so auszudrücken... Dies ist meine Art und Weise, die vom Herrn Kanonikus aufgebrachte Idee eines Wörterbuches wieder aufzugreifen, allerdings unter Berücksichtigung der durch unseren Theologen beigebrachten Einschränkung. DER ANDERE PHILOSOPH Ich verstehe Ihre Frage... Ich werde daher die Beschreibung der inneren Haltung des Glaubenden, von dem wir bereits viel gesprochen haben, zusammenfassen. Er stellt den Glauben über die Vernunft. Da der Glaube nicht zur Natur des Menschen gehört, muss er ihn zusammen mit der Offenbarung von Gott empfangen. Der Glaube ist für ihn eine „Gnade“. Hier tappen wir im Dunkeln. Ich habe dem Herrn Kanonikus versprochen, auf die letzte Aussage zurückzukommen: „Der Glaube ist eine Gnade“. Man muss auch die entgegengesetzte innere Haltung des Rationalisten in Betracht ziehen, der den Glauben der Vernunft unterordnet, insofern es sich um irrationale Überzeugungen handelt. Paradoxerweise stimmt dieser Rationalist mit dem religiös Glaubenden darin überein, der „Vernunft das natürliche Glaubensvermögen abzusprechen“. Tut man der Vernunft dadurch eine Ehre an, dass man sie eines Vermögens beraubt, das für sie genauso natürlich ist wie das Atmen für einen lebendigen Organismus? Beide inneren Haltungen sind bezeichnend für die klassischen Substanzphilosophien, deren Ontologie sich auf das ausschließlich in seiner Individualität betrachtete individuell Seiende beschränkt. Für diese Philosophien ist die Beziehung zu anderen Substanzen nur ein Akzidenz, das auf die Substanzen aufgepfropft ist und für ihre Wesenheit, die unter dem Gesichtspunkt der Vollkommenheit betrachtet wird, in keiner Weise konstitutiv ist. DIE ANWÄLTIN Jetzt reden Sie unter Philosophen... und man hat den Eindruck, dass Sie es genießen, einander zu verstehen. Aber wir... die Normalsterblichen!... Wir fragen uns, ob diese 176 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN unterschiedlichen Haltungen auch für uns, in gewöhnlichen und alltäglichen Fragen, Bemerkungen oder Verhaltensweisen, zugänglich sein können. DER ANDERE PHILOSOPH Zum Beispiel, indem man sich vor Augen führt, dass man nicht gleichzeitig wissen und glauben kann; dass Wissen und Glauben sich nicht in einem einzigen Bewusstseinsakt vereinen lassen. Und noch mehr: Um „über das hinauszugelangen“, was man wissen kann, muss man glauben. „Um klug zu werden, muss man dem Lehrer in der Schule gut zuhören...“, sagen die Mütter ihren Kindern. Ein weiser Rat, der aber oft irreführend wirkt… Oder noch anders gesagt: dass man aufhört, zu glauben, sobald man zum Wissen gelangt, wie das gewisse Sekten für sich beanspruchen, die man daher als „gnostisch“ bezeichnet, falls dies nicht wiederum ein unberechtigter Vorwurf der „Orthodoxen“ an diese Sekten ist. Oder noch anders gesagt: dass jemand, der gesehen hat, nicht mehr glaubt. Dazu formt man einen halben Vers des Johannesevangeliums: „Selig sind die, die nicht sehen, und doch glauben“ in eine Redewendung um, die genau das Gegenteil des aus seinem Kontext heraus verstandenen Verses besagt. Denn genau davor sagt Jesus: „Du hast geglaubt, weil du mich gesehen hast“, was besagt, dass das Wissen den Glauben nicht unmöglich macht... Und noch eine weitere Meinung, die Unkenntnis bezüglich des Wesens des Glaubens verrät: zu meinen, dass Glaube sich in der Vollkommenheit einer Liebesbeziehung auflöst. Im Bereich des Menschlichen wäre „Glaube“ die Tugend der „Verlobten“, aber er würde sich in der ehelichen Liebe auflösen. Und viele Christen meinen, dass sie jetzt „im Glauben“ an Gott leben, aber dass sie nach dem Tod das „sehen“ werden, woran sie geglaubt haben. Nach dem Tod wird der Glaube überholt sein... In diesem Sinn legt man das Lob des Paulus auf die Liebe aus, im ersten Korintherbrief, Kapitel 13. Man macht aus dem Glauben eine Art begrenzte und verworrene Erkenntnis, wie durch einen Spiegel... Aber wenn nach dem Tod die Vollkommenheit erreicht wird, wird das, was begrenzt ist, abgeschafft, wohingegen die Liebe niemals verlöscht. DIE KRANKENSCHWESTER, die in einem Zentrum für Palliativmedizin arbeitet: DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 177 In der Tat helfen Sie mir, dass ich mir nun dieser Ausdrucksweisen bewusst werde... Ich höre sie oft bei jenen unserer Patienten, die auf das Ende ihres Lebens zugehen... Ich bemerkte die Unzulänglichkeit dieser Ausdrucksweisen bis anhin nicht... Aber ich denke auch, dass die in diesen Ausdrucksweisen enthaltenen Unbeholfenheiten oder Fehler unsere Sterbenden weniger beunruhigen als die Ungewissheiten und Ängste vor dem Jenseits... Derweil denke ich doch, dass Letztere an eine falsche Auffassung vom Glauben an Gott gebunden sind... Wer an einen Richtergott glaubt, hat Schwierigkeiten, gefasst zu bleiben, und die Erwähnung des Erbarmens Gottes ist selbst oft nichts anderes als eine palliative Maßnahme... Verzeihen Sie, aber die konkreten Erfahrungen des Lebens sind manchmal grausam... DER MODERATOR, nach einer kurzen Weile des Schweigens... Ihr Beitrag, meine Dame, lässt mehrere Ideen in mir aufkommen: dass zwischen einer angenehm verlaufenden Diskussion wie dieser hier und den existentiellen Leiden eine Distanz besteht; dass der Reifungsprozess unserer Glaubensbeziehungen im Laufe des Lebens zum Stillstand kommt oder gänzlich fehlt; und schlussendlich, dass unsere derzeitige Diskussion für die Weiterentwicklung der Denkweisen und die Vertiefung unseres Verständnisses der Offenbarung und des Glaubens notwendig ist. Ich hoffe, dass unsere Diskussion Ihnen Wege zeigt, Ihren Patienten noch besser zu helfen... DER EXEGET Trotz aller Bemühungen der Exegese um eine richtige Erklärung der Texte muss ich feststellen, dass viele irrige Auslegungen bestehen bleiben. Warum? Gewiss, die Texte sind nicht immer klar und einfach verständlich... Und nicht alles, was man dort liest, ist ewige Wahrheit, manchmal ganz einfach nicht einmal Wahrheit... Aber deswegen sind diese Texte noch lange nicht für die systematischen Verzerrungen, denen sie unterliegen, verantwortlich. Vielmehr muss es im Denken der Leser, vielleicht auch der Exegeten, irreführende Schemen geben, unbewusste Prozesse der Verfälschung, die zu Fehldeutungen der Botschaft führen, oder sogar zu sinnlosen Aussagen oder zu mehr oder weniger wilden Phantasien... 178 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER MODERATOR Das Aufspüren dieser Irrwege geht über das Studium der Texte selber hinaus und ist eher Sache der Psychoanalyse oder der philosophischen Kritik. DIE TRADITIONELLERWEISE ANERKANNTEN ERKENNTNISFORMEN DER ANDERE PHILOSOPH Ich schließe mich der Diagnose, die Sie als Exeget gestellt haben, an. Und dabei muss man sogar bedenken, dass man diese « irreführenden Schemen » sogar in den Texten selbst antreffen kann. Ihre Autoren waren nämlich tatsächlich einfach nur Menschen, und sie waren nicht automatisch vor den Schwächen ihrer eigenen menschlichen Intelligenz bewahrt. Um diese Schwächen ausfindig zu machen und sich vor ihnen zu schützen, braucht man zunächst eine klare Vorstellung von der menschlichen Erkenntnis an sich und von den Regeln des « richtigen Erkennens ». Wenn man von „Erkenntnis“ spricht, denken die Leute spontan und an erster Stelle an die Erkenntnis der Welt der Dinge und der Körper: also zuerst an die empirische Erkenntnis, die sich bemüht, unsere sinnlichen Wahrnehmungen der äußeren Welt so genau wie möglich zu beschreiben, und dann an die methodologisch erarbeitete wissenschaftliche Erkenntnis, die sich in allen modernen Wissenschaften von der unbelebten und von der belebten Materie, und in den Humanwissenschaften der beobachtbaren menschlichen Verhaltensweisen verwirklicht. Nach dieser Form von „objektiver“ und experimenteller Erkenntnis, deren technische Anwendungen uns eindrücklich und großartig vor Augen stehen, nehmen die Leute in zweiter Linie die Existenz einer „formalen Erkenntnis“ an, nämlich die Logik und Mathematik, und an dritter Stelle die „philosophische Erkenntnis“. Letztere ist wesentlich reflexiv. Wir versuchen unablässig, uns selbst als „Subjekte unserer Akte“ zu erkennen, und daher auch als Subjekte und Urheber unseres objektiven und formalen Wissens. Aber gibt es nicht auch noch... DER ERSTE PHILOSOPH interveniert... Diese drei Erkenntnisformen, die Sie aufzählen, sind sehr klassisch. DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 179 Platon erklärt sie im Gleichnis von der geteilten Linie, am Ende des sechsten Kapitels der Republik, und im Höhlengleichnis, Kapitel sieben. Er stellt sie vor in den drei „realistischen“ Segmenten der geteilten Linie: die doxa (Meinung oder empirische Erkenntnis), die dianoia (das argumentierende Denken, oder Logik und Mathematik) und die noèsis (das geistige Erkennen). Aristoteles unterscheidet sie je nach Ebene der „diskursiven Allgemeinheit“ ihrer Redeweise voneinander, also nach drei Graden von Abstraktion: die empirische Abstraktion von der sinnlich wahrnehmbaren Form der Dinge, die mathematische Abstraktion, und schließlich die Abstraktion dritten Grades, nämlich die philosophische und metaphysische Abstraktion in der Untersuchung des Seienden als solchem. Darauf werden sich die Platoniker und Aristoteliker während etwa zwanzig Jahrhunderten, und heute immer noch, beziehen, und die Eigenschaften dieser drei Erkenntnisformen erörtern. Descartes wird sie alle nochmals durchgehen, indem er sie der Probe seines Zweifels unterzieht, um so zu einer ersten Wahrheit zu gelangen, die „unumstößlich und sicher“ in der Erfahrung unseres persönlichen bewussten Seins besteht. „Ich denke, also bin ich“. Auch Kant wird diese dreigliedrige Einteilung in seiner Weise wieder aufnehmen. Zusätzlich war er darum bemüht, zu zeigen, dass sich die Naturwissenschaften, die sich mit den uns durch unsere Sinneswahrnehmung bekannten Phänomenen befassen, wesentlich unterscheiden von der Philosophie, die sich um das Sein des Menschen und alles, was dieses Sein mit sich bringt, bemüht. Er wird den Begriff „Erkenntnis“ den experimentellen und formalen Wissenschaften vorbehalten. Er wird es ablehnen, von „philosophischer Erkenntnis“ zu sprechen. Damit will er vermeiden, dass philosophische Wahrheiten mit naturwissenschaftlichen Aussagen in einen Topf geworfen werden, und dass die philosophische Methode als „Verlängerung“ und „Auslagerung“ der experimentellen Erkenntnis angesehen wird. DER ANDERE PHILOSOPH Hervorragend! Wie in den falschen Auslegungen der Texte, so gäbe es dann auch in dieser Art von „Gleichsetzung“ einen 180 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Prozess der Irreführung! Ich denke, Kant fürchtete zu Recht, dass die Grundzüge der experimentellen Erkenntnis ganz einfach sogar auf die transzendentale Ebene des Seins als solchem übertragen werden könnten, also auf die Ebene der allergrößten Universalität des Denkens. Diese fatale Übertragung könnte auf zwei Arten zustande kommen: entweder durch die begriffliche Verallgemeinerung gemäß einer aristotelischen Sichtweise, oder durch die vereinfachende Gleichsetzung der philosophischen Aussageweise mit der experimentellen Aussageweise, aufgrund der unumgänglichen Tatsache, dass beide dieselbe Sprache gebrauchen. Wenn wir von Naturwissenschaft oder Philosophie sprechen, unterhalten wir uns, indem wir dieselbe Sprache und dieselbe Grammatik benutzen... Nun ist die Sprache aber, wie bereits Bergson bemerkte, wesentlich der Erkenntnis und dem Umgang mit materiellen Gegenständen angepasst, und den Gefühlen, die wir dabei haben. Unsere menschlichen Sprachen beschreiben drei Beziehungsgebiete sehr gut: jenes der gegenseitigen Beziehungen von Gegenständen, jenes der beobachtbaren Beziehungen von Menschen zu Gegenständen, und schließlich jenes der gegenseitigen Beziehungen von Menschen, wenn diese objektiv betrachtet werden. Die Sprache kann aber weniger gut die Beziehungen des menschlichen Subjekts als solchem zu Gegenständen und menschlichen Subjekten, insofern diese füreinander Subjekte sind, zum Ausdruck bringen. Sie verfügt über keinerlei Konjugationen oder Verbformen, die der bleibenden ontologischen Struktur der Bewusstseinstätigkeit angepasst wären. Und das ist verständlich! Weil diese Struktur ja für jeden Menschen dieselbe ist, ist sie immer implizit enthalten. Und das mit Grund! Wenn wir uns über das unterhalten, was uns beschäftigt, bewirkt diese Struktur keinerlei Unterschied zwischen uns, und wird daher von der Sprache nicht zum Ausdruck gebracht. Denn die Sprache drückt tatsächlich nicht all das aus, dessen wir uns bewusst sind. Ein kleines, vielleicht nicht sehr glückliches Beispiel: Ein Mensch lügt. Das, was er sagt, bring nicht sein Bewusstsein, zu lügen, zum Ausdruck... Ein anderes Beispiel: Ich spreche zu Ihnen. Das, was ich sage, drückt nicht mein Bewusstsein, zu Ihnen zu sprechen, aus, und auch nicht mein Bewusstsein, dass Sie nicht ich sind. Der Sprechakt, den ich in diesem Moment an Sie richte, drückt nur meine „Meinung“ zu Kants philosophischen Analysen aus. DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 181 DER ERSTE PHILOSOPH Das lässt erkennen, warum die Philosophie laut Kant nicht „ein Wissen“ ist, wenn wir unter „Wissen“ eine aposteriorische Erkenntnis verstehen, die von derselben Art ist wie jene, die wir von den Dingen besitzen, die uns sichtbar „erscheinen“: eine Erkenntnis also, von der man dann aber annehmen würde, dass sie diese Erscheinungen übersteigt. Die Erkenntnisweise, die unserer „Erkenntnis der Phänomene der Welt“ eigen ist, kann uns in keiner Weise zur Erkenntnis des „Seins“ dieser Phänomene, und daher des Seins als solchem, führen. Die philosophische Wahrheit ist nicht eine hinter den Erscheinungen versteckte Wahrheit... Für das „philosophische Denken“, das keinesfalls auf dieselbe Art funktioniert wie das Erkennen der Phänomene, gebraucht Kant das Wort „rationaler Glaube“. „Glaube“, weil sich die philosophische Erkenntnis nicht auf eine Sinneswahrnehmung stützt; und „rational“, weil sie nicht von der Zustimmung zu einer Offenbarung abhängt. Daher ist sie rationaler Glaube, im Sinne einer „Gewissheit des Denkens und des Bewusstseins“ bezüglich der „apriorischen Bedingungen“ unserer Existenz und Tätigkeit. Diese terminologische Vorsichtsmaßnahme aus Kants Feder wird dann noch besser verständlich, wenn man sie im Lichte seiner Bemühung betrachtet, die Philosophie endgültig auf ihren eigentlichen Gegenstand auszurichten. Dieser eigentliche Gegenstand ist nicht die Gesamtheit der „objektiv“ äußeren Dinge, denn jenseits von ihnen, wohl aber in ihren Auswirkungen, gibt es keinen Zugang zum Sein. Das Untersuchungsobjekt der Philosophie ist das „Subjekt mit Bewusstsein“ selbst, in seiner inneren Wirklichkeit, in der die Eigenschaften des Seins sich in der Gestalt von „apriorischen Bedingungen seiner Tätigkeiten“ offenbaren. In der Fachsprache sagt man, dass die apriorischen Bedingungen in „apriorischen synthetischen“ Urteilen formuliert werden, also in Urteilen oder „Propositionen“, deren grammatikalisches Subjekt nicht nur durch eine „Analyse“ seiner Bedeutung expliziert wird, wie im Fall einer Definition, sondern durch hinzukommende Qualitätsbezeichnungen, die nicht aus einer einzelnen Erfahrung an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit stammen, wirklich in seiner Bedeutung „erweitert“ wird. 182 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER ANDERE PHILOSOPH Da haben wir also noch eine andere Bedeutung des Wortes „Glaube“! Wir sollten deswegen nicht die Wirklichkeit des glaubenschaftlichen Bewusstseins aus den Augen verlieren, oder sie mit dem reflexiven Bewusstsein verwechseln. Diese Gleichsetzung ist tatsächlich sehr häufig die erste Reaktion meiner Professorenkollegen... Ich persönlich ziehe es vor, dass wir den Begriff „Erkenntnis“ für das „philosophische Wissen“ beibehalten. Sie sagten, dass Kant sehr darauf bedacht war, den grundsätzlichen Unterschied zwischen experimenteller und philosophischer Erkenntnis zu verdeutlichen. In diesem Punkt bin ich ganz und gar mit ihm einverstanden. Aber zusätzlich zu dem, was Kant gesagt hat, und genau wie in seinem vorausgegangenen Gedankengang, bin ich persönlich darauf bedacht, die Wirklichkeit des „glaubenschaftlichen Bewusstseins“ darzustellen, und seinen rationalen Charakter zu begründen. Damit zeige ich auch, dass es einen grundsätzlichen Unterschied und eine genauso grundsätzliche Komplementarität zwischen „philosophischer Erkenntnis“ und dieser „glaubenschaftlichen Erkenntnis“ gibt. In meiner Wortwahl werde ich mich also von Kant unterscheiden müssen, da ich ein Gebiet betrete, das er nicht erforscht hat. Dennoch mache ich mir seine Denkmethode ganz und gar zu eigen. Und wenn Kant gesagt hat, dass der Mensch die noumenale Wirklichkeit der Dinge nicht erkennen kann, also die metaphysischen Wahrheiten, dann spricht er von der experimentellen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Dinge. Er lehnt also im Voraus die Anmaßung gewisser „Wissenschaftler“ ab, sich zu Gott und zur Struktur des menschlichen Bewusstseins äußern zu können. Der „Glaube“ an offenbarte Wahrheiten entzieht sich daher der „experimentellen“ Erkenntnis, nicht aber der philosophischen „Erkenntnis“. Eine ganzheitliche Philosophie — die nicht auf Kants Werke beschränkt ist — legt die Vernünftigkeit des glaubenschaftlichen Vollzugs fest, aber sie bringt keinerlei Offenbarungswahrheit hervor, die sich dann an meinen „Glauben“ richten würde. Sie stellt lediglich die Richtlinien zur Unterscheidung der Offenbarungswahrheiten auf. In der unzerbrechlichen Einheit des menschlichen Bewusstseins kommt es der von philosophischen Überlegungen DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 183 geleiteten glaubenschaftlichen Initiative zu, sich bis hinein in ihr innerstes Sein einzusetzen. Man kann nicht Kant und seine „Kritik der reinen spekulativen Vernunft“, die die „Erkenntnis“ auf die Phänomene beschränkt, dazu heranziehen, um eine „Kritik der reinen glaubenden Vernunft“ zu untersagen. Letztere stünde übrigens im Einklang mit der „Kritik der reinen praktischen Vernunft“. In dieser zweiten Kritik erreicht Kant die Seinsebene des Aristoteles und des Thomas von Aquin. DER ERSTE PHILOSOPH In unserer Einschätzung der philosophischen Methode, besonders in ihrer kantianischen Ausformung, stimmen wir ganz und gar überein. Die Transzendentalphilosophie sollte nicht ihrer ontologischen Absichten entleert werden, weil ja gerade sie uns davor gewarnt hat, das, was wir durch unsere Wahrnehmung der Phänomene erfahren, zu « ontologisieren »! Wie zum Beispiel davor, zu meinen, dass alles Existierende in Raum und Zeit existiert. Eine reflexive Erkenntnis des Seins in seinen letzten Eigenschaften lehnt sie zwar nicht ab, aber sehr wohl die Illusion eines angeblich ontologischen Zugangs zum Wirklichen, der darin besteht, dass man unsere Art und Weise, die Phänomene zu erkennen, auf eine jenseits der Phänomene dieser Welt liegende Sphäre projiziert. Heute ist der Übergang von einer Philosophie des „Objekts“ zu einer Philosophie des „Subjekts“, der mit Descartes begonnen hat und von Kant gefestigt wurde, eine endgültige Errungenschaft der philosophischen Überlegung. Daher ist es erlaubt, den Begriff „Erkenntnis“ als allgemeinen Begriff wieder aufzugreifen, wie Sie es tun, um jegliche Form von Wirklichkeitsbewusstsein zu bezeichnen, ohne dass dadurch die bezeichnenden Eigenschaften unseres Bewusstseins in die Gefahr geraten würden, zugunsten der experimentellen Erkenntnisweise gleichgeschaltet zu werden. Das reflexive, philosophische Denken ist sehr wohl eine eigentliche Methode der Erkenntnis, genauso wie die formale oder experimentelle Erkenntnis, aber es ist von anderer Natur. Wenn es um die Beziehungen zwischen Glaube und Vernunft geht, muss man diese drei Erkenntnisweisen mit einbeziehen... DER ANDERE PHILOSOPH Tatsächlich gilt es traditionellerweise als „klassisch“, diese drei Erkenntnisformen als rational anzuerkennen: philoso- 184 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN phische, logisch-mathematische und naturwissenschaftliche Erkenntnis. In allen drei ist die „menschliche Vernunft“ am Werk. Das ist eine unbezweifelbare Tatsache. Aber ist die Vernunft nur in diesen drei Erkenntnisformen tätig? Warum sollte man diese Frage nicht stellen? Wäre sie nicht auch in einer vierten Erkenntnisform am Werk? In der „Glaubenserkenntnis“? Warum nicht? Verstehen wir uns richtig! Es geht nicht um die Erkenntnis der Glaubensüberzeugungen der Menschen — die Gegenstand einer objektiven Erkenntnis besonderer Art, wie etwa der Soziologie oder der Religionsgeschichte sind — sondern um ein „Erkennen in der Glaubenstätigkeit selbst“. Ist sich das authentisch glaubende Bewusstsein nicht auch gewiss, in der ihm eigenen Weise zu erkennen, also, kurz gesagt, „glaubenschaftlich zu erkennen“? Und wäre diese Erkenntnisform, die also ihren eigenen Gegenstand hat, nicht auch „rational“? Hier muss zuerst ein gemeinsames Verständnis des Wortes „Vernunft“ geschaffen werden. Für einige ist die Tätigkeit der erkennenden Vernunft auf experimentelle und formale Erkenntnisse beschränkt; anders gesagt, auf Logik, Mathematik und die objektiven Wissenschaften. Sie greifen den kantianischen Sinn des Wortes « Vernunft » wieder auf und verabsolutieren ihn so, dass er jede andere Erkenntnisform ausschließt. Damit tun sie genau das Gegenteil von dem, was Kant wollte. Darin liegt der Fehler. Es ist eine « reduktionistische » Strömung. Dieser Reduktionismus ist in vielen dieser Philosophien spekulativ und explizit, bei nicht wenigen auch praktisch und implizit: Empirismus, Positivismus, Neopositivismus und psychologischer Relativismus. Noch andere, und nicht wenige, sind der Ansicht, dass sich die Vernunft voll und ganz und daher ausschließlich in den drei vom griechischen Denken erforschten Zweigen der Erkenntnis entfaltet, deren vielfache Verästelungen vom modernen Denken weiter ausgearbeitet wurden: die Naturwissenschaften, die Logik und Mathematik, aber auch die „Philosophie“. Mein Kollege hat es uns gerade in Erinnerung gerufen. Genau das betrachten wir als die „klassische Auffassung“ von Erkenntnis. Wir haben sie auch bereits, wegen ihres Ursprungs, „griechische Auffassung“ genannt. Dieser klassischen Auffassung entspricht eine Auffassung von der Wirklichkeit, eine dementsprechende Auffassung vom Sein, DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 185 also eine Ontologie. Auch diese Ontologie betrachten wir als „klassisch“. In dieser Ontologie hat die Vorstellung von der Einheit, die als „In-sich-Ungeteiltheit“ aufgefasst wird, den absoluten konzeptuellen Vorrang. Wenn sie einmal so definiert ist, bestimmt diese Vorstellung allein alle anderen Begriffe. Sie wird als eine „transzendentale Eigenschaft des Seins“ bezeichnet. Das ist sie zweifellos. Aber traditionellerweise wird sie für die einzige rationale Form der Einheit des Seins angesehen. Aufgrund dieser Definition der Einheit nennen wir diese Ontologie und diese traditionelle Philosophie „unitär“. Es ist die Philosophie der ungeteilten Einheit, des « ungeteilten Einen ». Was denken Sie: Sind diese genaueren Begriffsbestimmungen und Bezeichnungen gerechtfertigt oder nicht? DER ERSTE PHILOSOPH Ich denke, dass man sie so annehmen kann. Sie sind neutral und beleidigen niemanden. DER DOMHERR Alles wird von dem Gehalt abhängen, den man diesen Begriffen beimisst. DER THEOLOGIEPROFESSOR Mir scheinen diese Begriffe dem zu entsprechen, was man auch als philosophia perennis bezeichnet. Es sei denn, dass sie für Herr Debruquel nicht die einzige Form der Einheit des Seins in seiner Vollkommenheit darstellt... DER ANDERE PHILOSOPH Gewiss! Aber in meinen Augen haben diese Begriffe nicht das Ziel, die klassische Philosophie abzuwerten. Ihre Aussagen sind eine wunderbare Errungenschaft unserer Kultur. Aber sie sagt nicht alles. Ihre Untersuchungen der menschlichen Wirklichkeit weisen große Lücken auf, die es zu füllen gilt. Welchen Platz räumt sie zum Beispiel dem „Glauben“ ein? Genau gesagt: gar keinen. Das ist für Glaubende und Nichtglaubende gleichermaßen klar. Hier haben wir also eine erste Lücke. Doch auch die Tatsache, dass es in der menschlichen Existenz „Glauben“ gibt, ist offensichtlich. Man wird also den Glauben „außerhalb“ der Vernunft und ihrer dreifachen Gliederung ansiedeln und als irrational bezeichnen. Wer nicht glaubt oder 186 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN im Glauben nur eine existentielle Gefühlsregung sehen will, wird ihn als infra-rational bezeichnen; wer einer Offenbarung göttlichen Ursprungs anhängt, die er erhalten zu haben meint, als supra-rational. Aus diesen Voraussetzungen (nennen wir sie „klassisch“, „griechisch“ oder auch „unitär“) ergeben sich die wohlbekannten traditionellen Fragen nach den Beziehungen zwischen « Glaube » und « Vernunft », die je nach kulturellem Zentrum der Glaubensüberzeugungen verschiedene Gestalten annehmen, wie wir in unseren vorhergehenden Zusammenkünften gesehen haben. Es kann tatsächlich nicht sein, dass diese Fragen sich nicht aufdrängen, denn einerseits begegnen « Rationalisten » und « Glaubende » einander notwendigerweise im sozialen Leben und können nicht vollständig aneinander vorbeischauen, und andererseits sind Nachdenken, Folgern, Berechnen, Erproben und auch Glauben Fähigkeiten und Tätigkeiten des innersten Bewusstseins eines jeden, die er zwar mit mehr oder weniger Erfolg ausübt, aber eben notwendigerweise. Es ist außerdem auch nicht möglich, keine Antwort auf diese Fragen zu suchen. Die tatsächliche Einheit der Person mit sich selbst, und die tatsächliche gewisse Einheit der Gesellschaft zwingen die Menschen dazu, eine Einigung der in „naturwissenschaftliche Vernunft“ und „philosophische Vernunft“ aufgegliederten „Vernunft“ einerseits, mit dem „Glauben“ andererseits, zu finden, was uns mein Kollege in Erinnerung gerufen hat. Die Vernunft, die mit dem Glauben geht..., die sich mit ihm konfrontiert... und die mit ihm zusammenarbeiten kann, ist nicht eindimensional. DER MODERATOR Sie haben die Grundzüge der klassischen Philosophie, im weitesten Sinne des Wortes, für unsere Teilnehmer sehr gut dargestellt. Nun wäre es nützlich, ebenfalls die Stellung des Glaubens im Vergleich zu dieser Philosophie zu skizzieren, die der Glaubenserkenntnis spekulativ keinen Platz einräumt, während doch der Glaube eine Wirklichkeit ist. Sie haben gerade darauf aufmerksam gemacht. DER ANDERE PHILOSOPH Es ist eine paradoxe Situation. Der glaubende Mensch bewegt sich in einer äußeren, begrifflichen und gedanklichen Welt, die DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 187 ihm rationale Forderungen auferlegt, aber gleichzeitig nichts davon wissen will, dass er als Glaubender existiert, und was er ist, insofern er ein Glaubender ist. Er ist wie ein Landwirt, der in einem industrialisierten Umfeld wohnt, das keine Kenntnis von der Existenz und Eigenart der Landwirtschaft besitzt. Wie soll dieser Landwirt ein guter Landwirt sein, wenn er über keine anderen Normen als die der Industrie verfügen kann, denen er sich zwangsläufig fügen muss? Was wird mit diesem Landwirt geschehen? Entweder wird er, um nicht den Verstand zu verlieren, die industriell orientierten Überwacher (nämlich alle klassischen Voraussetzungen) abweisen, um Landwirt zu bleiben und in unmittelbarer Berührung mit seinem Boden zu leben. Dann wird er aber ohne die industriellen Arbeitshilfsmittel auskommen müssen, die ihm nützlich sein könnten (gewisse Methoden, Verfahrensweisen und Wahrheiten der klassischen Philosophie und der Naturwissenschaften). Oder aber er wird, unter dem Druck der globalisierten Industrie, seine Landwirtschaft schlecht betreiben, oder sogar nur noch unnatürliche Produkte herstellen und schließlich sterben. Das wäre eine gar nicht beneidenswerte Situation, die man nur bemitleiden könnte. Genauso verhält es sich mit dem normalen religiös Glaubenden. Damit will ich sagen: Wie können diese Glaubenden, in einer ähnlichen Situation, den Wahrheitswert ihrer Glaubensüberzeugungen richtig einschätzen? Sie halten sie für wahr und setzen sie mit Überzeugung in die Tat um; aber sie können dafür keinerlei Rechenschaft ablegen oder Begründung angeben, wie diese von der nicht-glaubenden oder nichtglaubenschaftlichen Vernunft verlangt wird. Tatsächlich sind sie dazu unfähig, denn sie verfügen über keinerlei Argumente, die in die einschränkenden Kategorien hineinpassen würden, die diese Vernunft im Voraus definiert hat, die den „Glauben“ nicht kennt und den „Glaubenstrieb“ verkennt, also kurz gesagt die Entfaltung des spontanen glaubenschaftlichen Bewusstseins ablehnt. Aber selbst wenn die Glaubenden über Argumente verfügen würden, wären sie nicht dazu berechtigt, diese auch zu gebrauchen, ansonsten würden sie zu sich selbst in Widerspruch geraten. Denn warum sollten sie auf die nicht-glaubende Vernunft zurückgreifen, der sie doch jegliches Vertrauen verweigern, weil diese Vernunft sie nicht als Glaubende sieht? 188 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Ich habe bereits die Worte Luthers zitiert: „Die Vernunft, die Hure des Teufels!“ Aber durch die Ablehnung der tatsächlich verkrüppelten nicht-glaubenden Vernunft, wie etwa der „klassischen“ Vernunft, die sich auf zwei oder drei Erkenntnismethoden einschränkt — Mathematik, Naturwissenschaften und Philosophie — bestärken diese Glaubenden die nicht-glaubende Vernunft in ihrer „Selbstgefälligkeit“. Und noch mehr bestärken sie sie dadurch, dass sie sich mit ihr abfinden und ihren Anspruch, allein die Gesamtheit der menschlichen Rationalität auszudrücken, stillschweigend hinnehmen. Dies ist der Standpunkt derer, die sich der klassischen und griechischen Rationalität als „ancilla theologiae“ (lat. für „Magd der Theologie“) bedienen wollen. Und hier kommt es zu einem seltsamen Phänomen... Der religiös Glaubende beginnt, anstatt innerhalb seines Glaubens zu bleiben, und die Naturwissenschaften und die Philosophie sich selbst zu überlassen, sich in das Gebiet dieser Wissenschaften hineinzuwagen, so, als ob er eine Art Frustration bezüglich der anderen Erkenntnisweisen, die er nicht beherrscht, ausgleichen müsste. DER THEOLOGIEPROFESSOR Es gibt also zwei Gebiete, in die der Glaubende sich nicht hineinwagen sollte, nämlich die Naturwissenschaften und die Philosophie. DER ANDERE PHILOSOPH Genau. RELIGIÖSE AUSSAGEN IN KONFRONTATION MIT WISSENSCHAFTLICHEN AUSSAGEN DER ERSTE PHILOSOPH Aber Sie, der Sie ja nun ein Glaubender sind, haben sich ganz schön weit in das Gebiet der Philosophie hineingewagt, denn Sie lehnen das Fundament der klassischen Ontologie der Einheit und den griechischen Wissensbegriff ab. Stehen Sie da nicht irgendwie zu sich selbst im Widerspruch? DER ANDERE PHILOSOPH DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 189 Das ist nur ein „scheinbarer“ Widerspruch, denn mit der klassischen Philosophie debattiere ich nicht als Glaubender, sondern als Philosoph. Ich bringe also die Erkenntnismethoden keineswegs durcheinander. Und wenn ich die Existenz und Beschaffenheit des glaubenschaftlichen Bewusstseins anerkenne, so tue ich dies ebenfalls als Philosoph. Dagegen wagt sich der Glaubende deshalb auf eigene Faust in das Gebiet der Naturwissenschaften, weil er diesen Unterschied aufgrund seiner Unwissenheit nicht beachtet. Aus Unkenntnis des Unterschieds zwischen den Erkenntnismethoden meint er, dass ihm die göttliche Offenbarung wissenschaftliche Erkenntnisse vermitteln könnte. Das ist ein schwerwiegender Irrtum. Das geben Sie gewisslich zu... Vorausgesetzt, dass die Unterscheidung der Erkenntnismethoden das erste offensichtliche Prinzip der Methodologie des Erkennens ist, kann eine Offenbarung, die dieses Prinzip missachtet, in diesem Punkt nicht göttlich sein. Es sei denn, man würde wiederum annehmen, dass sich Gott als Offenbarer lustig macht über die Art und Weise, in der er als Schöpfer den menschlichen Verstand gestaltet hat. DER THEOLOGIEPROFESSOR Heutzutage weiß sich die katholische Theologie vor diesem Irrtum zu bewahren. Wenn wir in den Offenbarungsschriften, wie etwa in der Bibel und im Neuen Testament, Bezugnahmen auf die damalige Naturwissenschaft finden, bedeutet das nicht, dass diese Aussagen offenbart sind. Sie sind nichts weiter als der äußere Rahmen oder Hintergrund, der die offenbarte Bedeutung umkleidet. So ist etwa die Vorstellung von der Erschaffung der Welt im ersten Kapitel des Buches Genesis anhand eines zeitlichen Ablaufs von sieben Tagen umschrieben. DER ANDERE PHILOSOPH Ein Glück für die katholische Theologie! Denn in Situationen, wo religiöse und naturwissenschaftliche Lehren einander widersprechen — ein jeder kann sich aufgrund seiner Geschichtskenntnisse ein Bild davon machen — muss die intellektuelle Niederlage der religiösen Sicht von der physischen Natur und der materiellen Welt eingestanden werden. In dieser Situation entstehen zwei Verhaltensweisen. Entweder ist der Glaubende, der seinen Fehler feststellt, zum Umdenken bereit, oder er kapselt sich ab, indem er die 190 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Offensichtlichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis ablehnt und sich auf seinen Text oder seine Tradition beschränkt. Letzteres bezeichnet man heutzutage als Fundamentalismus. Bleiben die Glaubenden, die umdenken wollen, doch Glaubende, oder verwerfen sie zusammen mit ihren falschen Glaubensüberzeugungen ihren „Glauben“ auf der ganzen Linie? Es wäre widersinnig, den Glauben — mag er auch von vielen Fehlern durchsetzt sein — auf der ganzen Linie zu verwerfen. Soll man auf das Laufen verzichten, nur weil man sich einmal verirrt hat? Soll man von der Intelligenz keinen Gebrauch mehr machen, nur weil man sich getäuscht hat und einen Irrtum für wahr gehalten hat? Müssen wir darauf verzichten, zu glauben, nur weil wir falsch „geglaubt“ haben, und unser glaubendes Bewusstsein, also unsere „glaubenschaftliche Vernunft“ sich schlecht entwickelt hat oder schlecht erzogen wurde? Zweifellos muss man zugeben, dass zwischen der „naturwissenschaftlichen Vernunft“ und dem „Glauben“ — wir sollten hier besser sagen „zwischen der naturwissenschaftlichen und der glaubenschaftlichen Vernunft“ — ein spezifischer Unterschied besteht, aber dieser besteht ausschließlich in der Einheit des Bewusstseins, in einer „eins-seienden“, „geordneten“, aber nicht „einförmigen und homogenen“ Wirklichkeit der persönlichen, menschlichen Vernunft. In der Einheit der persönlichen Wirklichkeit der menschlichen Vernunft verhalten sich ihre verschiedenen Fähigkeiten zueinander komplementär und können einander nicht ausschließen. Wenn man ihr harmonisches Miteinander nicht kennt, das doch auch für das, was jede von ihnen ist, maßgeblich ist, beeinträchtigt man die eigene harmonische Selbstverwirklichung. Dies kann so weit führen, dass man Gefahr läuft, sich selbst intellektuell und gefühlsmäßig in einer Art intellektueller Schizophrenie zu entwürdigen. Die Glaubenden, die so umdenken wollen, dass sie dabei doch Glaubende bleiben, sind heutzutage meistens klug genug, um grundsätzlich keine Glaubensüberzeugung als Gegenstand ihres Glaubens anzunehmen, die ihrerseits einen bestimmten rein naturwissenschaftlichen Standpunkt impliziert. Weil ihnen dies aber bereits unterlaufen ist, und weil die Naturwissenschaft die Falschheit einer oder mehrerer ihrer „Glaubensüberzeugungen“ nachgewiesen hat, haben sie sich damit abgefunden, diese nach und nach aus der Gesamtheit ihres Glaubens zu „entfernen“. DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 191 Dies kann manchmal dramatisch sein, aber das Entstehen dieser Gewohnheit begleitet den Fortschritt der experimentellen Wissenschaft... Die Aufgabe der Lehre von der „Ursünde, die durch den Tod des Sohnes Gottes am Kreuz gesühnt werden muss“ ist ein Beispiel für diese Entwicklung. Und abgesehen von Polemik und Apologetik, wie etwa den Argumenten ad hominem, gehen diese Glaubenden zudem meistens davon aus, dass Wahrheiten, in denen ihr Glaube mit der Wissenschaft übereinstimmt, als von der Wissenschaft aufgestellte Wahrheiten nicht als „Begründung“ dieser oder jener ihrer Glaubensüberzeugungen als solchen herangezogen werden können. Und obendrein wird das, was bis anhin Gegenstand einer derartigen „Glaubensüberzeugung“ war, augenblicklich aufhören, ein Teil des Gebäudes der Glaubenswahrheiten zu sein, eben weil das, was sie aussagte, zu einer naturwissenschaftlichen Wahrheit geworden ist. So vermeiden die Glaubenden jegliche vereinfachende oder ausgefeilte „Übereinstimmerei“ zwischen dem heiligen Text und naturwissenschaftlichen Ergebnissen. Nicht, dass etwas, was vorher eine „Glaubensüberzeugung“ war, nun für falsch gehalten würde, weil es nun eine durch Erfahrung belegte Wahrheit ist! Das wäre absurd, weil es sich ja nicht notwendigerweise so verhält, dass die Wahrheit auf der einen Seite steht, und der Irrtum ins andere Lager gehört. Aber die Glaubenden verhalten sich so, weil der Bereich des Glaubens sich a priori von den wissenschaftlich begründeten Wahrheiten unterscheidet. Die Übereinstimmung von Glaube und Wissenschaft kommt nicht durch eine « angemessene Überlagerung » ihrer jeweiligen Aussagen zustande, sondern durch Komplementarität ihrer jeweils eigenen methodologischen Autonomien und ihrer verschiedenen Wahrheiten. Diese Glaubenden könnten sogar zugeben, dass sie in der Schuld der Naturwissenschaftler stehen. Und das nicht nur, wenn eine Unvereinbarkeit zutage tritt zwischen einer definitiven wissenschaftlichen Schlussfolgerung und einer Glaubensüberzeugung, die von da an unannehmbar ist, weil sie einen „wissenschaftlichen Irrtum“ ausdrückt; sondern vor allem dann, wenn es zwischen beiden zu einer Übereinstimmung kommt, aufgrund derer die „wissenschaftlich nachgewiesene“ Glaubensüberzeugung den Titel „offenbart“ verliert. Auf diese Weise führen die Naturwissenschaftler die Glaubenden indirekt 192 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN bereits zu einem authentischeren, von störenden Fremdkörpern „befreiten“ Glauben. Ein derartiger indirekter Dienst der Naturwissenschaft am Glauben ist daher möglich, weil derselbe Mensch, der glaubt, auch ein Naturwissenschaftler sein kann, und der Naturwissenschaftler glauben kann, zwar nicht als Naturwissenschaftler, aber als Mensch. Der Mensch, der mit seinen Augen sehen kann, kann auch hören, ohne dass das Auge dafür zum Ohr werden müsste. Der Wissende kann ein Glaubender sein, ohne dass die Wissenschaft deswegen Glaube wäre, oder umgekehrt. Wer würde sich, um besser zu hören, die Augen ausreißen, oder sich taub machen, um besser zu sehen? DER MODERATOR Sie haben die Gedanken zusammengefasst, die wir bereits bezüglich der Beziehungen von Glaube und Naturwissenschaft ausgetauscht haben. Könnten Sie dasselbe auch für die Beziehungen zwischen Glaube und Philosophie tun? Dadurch wären unsere vorausgegangenen Diskussionen zusammengefasst. DER ANDERE PHILOSOPH Diese Beziehungen sind viel komplizierter und auch eher mit Konflikten belastet. Aber umso fesselnder ist die Arbeit an deren Lösung. Wenn der Glaubende angesichts der Naturwissenschaften mit einiger Glaubhaftigkeit behaupten kann, dass der Glaube der naturwissenschaftlichen Vernunft überlegen ist — wobei der Glaube sich allerdings davor hüten wird, auf das Gebiet der Naturwissenschaften überzugreifen — dann deshalb, weil der Glaube auf Fragen antwortet, die sich der Mensch bezüglich seiner eigenen Existenz stellt, und die innerlicher und tiefer sind als jene, die den Aufbau der Materie betreffen. Die naturwissenschaftliche Erkenntnistätigkeit hingegen geschieht innerhalb einer bestimmten Auffassung von Existenz. Der Naturwissenschaftler kann sich also mit diesem „Anspruch“ des religiös Glaubenden abfinden, und das umso leichter, als die Wirklichkeitsgebiete, mit denen sich beide auseinandersetzen, als unterschieden und verschieden angesehen werden. Aber angesichts der Philosophie kann nicht mehr so verfahren werden! Warum? Weil auch der Philosoph sich mit der Existenz des Menschen beschäftigt, und durch sie hindurch mit der DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 193 Gesamtheit der Wirklichkeit, und auf diese Fragen auch Antworten findet. Philosophie und Glaubensüberzeugungen scheinen also wenigstens teilweise ein und dasselbe Gebiet beanspruchen zu wollen, und auf ähnliche Fragen zu antworten, zum Beispiel auf jene nach der Existenz der Welt und des Menschen, nach Gut und Böse, nach Leben und Tod... Daher kommen die Spannungen. Daher lehnt die Vernunft den Anspruch der religiösen Überzeugungen, ihr überlegen und höherstehend zu sein, und sich über ihre Fähigkeiten zu stellen, ab. Die von den Philosophen im Lauf der Geschichte beigebrachten Antworten sind gewiss sehr unterschiedlich, und manchmal untereinander unvereinbar — was impliziert, dass einige davon Irrtümer enthalten —, aber sie alle werden als Ertrag der Bemühung der menschlichen Vernunft angesehen. Die Menschen können über den Wert dieser Antworten debattieren und so der Wahrheit näher kommen. Wenn der Glaubende — vergessen wir nicht, dass es sich hier um jene Art von Glaubendem handelt, der sich nicht gegen die philosophische Vernunft stellt, aber über sie — seine Antworten auf die Fragen gibt, die er gemeinsam mit der Philosophie stellt, dann behauptet er, dass sie von Gott stammen. Laut ihm sind diese Antworten wahrhaftig den rein menschlichen überlegen. Dadurch entzieht sich seine Glaubensantwort allen kritischen Debatten. Man kann sie nur annehmen oder nicht: glauben oder den Glauben ablehnen. Der Wahrheitswert seiner Glaubensaussagen kann nicht zur Diskussion gestellt werden. Ein Glaubender dieser „Art“ meint, nur eine einzige intellektuelle Anstrengung unternehmen zu müssen, nämlich, die „Offenbarung“ göttlichen Ursprungs gut zu verstehen, soweit seine Vernunft dies mit Hilfe eines „übernatürlichen Lichtes“ kann. Anderenfalls, wenn seine Vernunft also nicht fähig ist, diese „Offenbarung“ zu verstehen, sei es durch seine persönliche Unfähigkeit, oder sei es durch die Unzulänglichkeit der natürlichen Vernunft, dann hat er als Glaubender die Pflicht, sie so, wie sie ist, anzunehmen. Im Fall einer zur menschlichen Intelligenz als solcher gehörenden wesentlichen Unzulänglichkeit folgt daraus, dass das, was dem Glaubenden „offenbart“ wurde, an sich für jeden Menschen unverständlich ist. Welche Bedeutung hat eine solche Offenbarung dann für ihn? Und welches Gottesbild muss man 194 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN haben, um zu meinen, dass Gott sich derartigen Offenbarungen anvertraut? Und weil diese angebliche Glaubenswahrheit für an sich unverständlich erklärt wird, wird diese Unverständlichkeit der Glaubensüberzeugung wiederum ein Glaubensgegenstand und eine zusätzliche, noch hinzugefügte Glaubensüberzeugung. Eine neue Glaubensüberzeugung, die ihrerseits wieder unverständlich ist, und die auch geglaubt werden muss, ohne dass man versteht. Hier kann man den Anfang eines unendlichen Prozesses sehen, der zeigt, dass hier eine Absurdität vorliegen muss... Und das wäre ja das Letzte, was wir von einer Wahrheit, die Gott uns zukommen lässt, erwarten! Da wir nun einmal dabei sind, die Probleme zu umreißen, oder sogar die Unstimmigkeiten, die aus der Begegnung zwischen Glaube und Vernunft, so wie diese der griechischen Vorstellung entsprechen, entstehen, müssen wir unsere kleine Untersuchung zu Ende führen. Wenn also der Glaube, als Gesamtheit der offenbarten Glaubensüberzeugungen, „außerhalb und oberhalb“ der menschlichen Vernunft steht, nicht nur der naturwissenschaftlichen, sondern auch der philosophischen, wie kann er dann auch nur teilweise als „Offenbarung“ erkannt werden, also als Glaube, der seinen Ursprung in einer als wahrhaftige Offenbarung anerkannten „Offenbarung“ hat? Das wäre ganz und gar unmöglich! Wenn dagegen die Offenbarung von einer derartigen Vernunft als wahr beurteilt wird, steht sie nicht mehr über der Vernunft. Es würde gar keinen Glauben mehr geben. Wenn man sie aus Glauben beibehalten würde, könnte sie nicht als wahr anerkannt werden. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Sackgasse. Was tun? Wir müssen ein paar Schritte zurückgehen. Das bedeutet, dass wir bis auf die ersten Axiome der westlichen Philosophie, die von den ersten griechischen Denkern formuliert wurden, zurückschauen müssen. Dies sind tatsächlich die Axiome des spontanen psychologischen Bewusstseins des Menschen, und leider nicht die seines reflexiven Bewusstseins. Sie betreffen die ontologische Einschätzung, mit der wir die Einheit und Vielheit der Dinge einander gegenüberstellen, und auch die verschiedenen Erkenntnisformen, wie bereits gesagt. Diese Axiome vertreten die erste Ebene des Verständnisses, das der Mensch von seinen eigenen Tätigkeiten hat. Und dieses Selbstverständnis ist analog zu seinem Verständnis der Dinge, DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 195 und gebraucht eine Sprache, die in erster Linie auf den Gebrauch von Dingen und auf zwischenmenschliche Beziehungen, die mit diesen Dingen zu tun haben, zugeschnitten ist. Um auf menschenwürdige Weise zu glauben, also so, dass man den Forderungen des reflexiven Bewusstseins voll und ganz gerecht wird, ist es nötig, dass man sich die Frage nach den apriorischen Bedingungen einer möglichen Offenbarung und ihren Wahrheitskriterien in angemessener Weise stellt. Der Glaube ist nur dann menschenwürdig, wenn er philosophisch „überdacht“ werden kann. Aber ist ein Vernunftsbegriff, der dem „Glauben“ als rationaler Tätigkeit keinen Platz einräumt, ihn also nicht als „glaubenschaftlichen“ Bestandteil der Vernunft sieht, fähig, diese Funktion des Überdenkens und Einsehens des menschlichen „Glaubens“ auszuüben? Während die herkömmliche Philosophie über experimentelle, und auch über formale, logisch-mathematische Erkenntnis „nachgedacht“ hat, und natürlich über sich selbst, so hat sie es meines Wissens unterlassen, über die glaubenschaftliche Erkenntnis „nachzudenken“. Die griechischen Philosophien haben den Offenbarungscharakter des jüdischen und des christlichen Glaubens bekämpft und abgelehnt. Descartes übergeht das Problem. Im ersten Teil des Discours gesteht er uns: « Ich achtete unsere Theologie, und beabsichtigte wie jeder andere auch, den Himmel zu verdienen; aber als ich erfuhr, dass der Weg ganz gewisslich den Unwissendsten genauso offen steht wie den Gelehrtesten, und dass die offenbarten Wahrheiten, die dort hinführen, über unserer Intelligenz stehen, wagte ich nicht, sie der Schwachheit meiner Überlegungen zu unterwerfen, und ich dachte, dass man einer besonderen Hilfe vom Himmel bedürfe und mehr als nur ein Mensch sein müsse, um eine Untersuchung dieser Wahrheiten erfolgreich in Angriff zu nehmen. » DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Dieser Text eines großen Denkers ist bezeichnend für die „Vorurteile“, über die wir debattieren. Könnten Sie ihn uns nach dieser Sitzung geben? DER ANDERE PHILOSOPH Ich werde bei unserer nächsten Zusammenkunft jedem eine Kopie davon geben... 196 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Kant wagt es, theologische Lehrinhalte zu behandeln, aber als Glaubender. Als Philosoph erarbeitet er den Sinn der religiösen Aussagen „in den Grenzen der einfachen Vernunft“. Dabei behält er von der christlichen Offenbarung nichts weiter bei als die ethischen Aussagen, die sie mit sich bringt. Gewiss, wenn man aus dieser Untersuchung schließen kann, dass diese ethischen Aussagen nicht wesentlich zum Glauben gehören, sondern Imperative der Vernunft, oder, genauer gesagt, der reflexiven Vernunft sind — was nicht ohne Bedeutung ist, selbst für den Glaubenden, wie wir gesehen haben —, dann kann man nicht sagen, dass Kant die Frage nach der Natur des Glaubens und den ethischen Anforderungen anschneidet, die dem Glauben als glaubenschaftlichem Vollzug zu eigen sind. Viele andere Philosophen, wie etwa Hegel, Bergson, Blondel, Lavelle, Marcel, Jaspers, Buber, Levinas, und andere, haben über die jüdische oder christliche Offenbarung gesprochen und haben sehr lehrreich in ihre philosophischen Untersuchungen Vorstellungen aus religiösen Überlieferungen eingefügt. Damit haben sie gewiss ein Umfeld der philosophischen Denkkultur geschaffen, in dem die Frage nach den ontologischen Grundlegungen des Glaubens und jene nach den Bedingungen der Möglichkeit der Verständlichkeit einer göttlichen Offenbarung endlich gestellt werden können. Aber warum besitzen wir keine systematischen Darstellungen der Vernünftigkeit des Glaubens als solchem? Liegt es daran, dass unsere Erkenntnis nicht erschöpfend ist, ... denn sie ist sogar sehr begrenzt ...? Durch derartige Untersuchungen kamen die klassischen Philosophen nicht zur Anerkennung des spezifischen natürlichen Charakters des Glaubensaktes, des „glaubenschaftlichen Aktes“. Hätten sie es gekonnt? In Anbetracht ihres „begrenzten“ Vernunftsbegriffs würde ich sagen: nein. Aber ist dieser griechische Vernunftsbegriff ganz und gar „vernünftig“? Dies ist eine wichtige Frage. Die Erklärung für die verschiedenen unvereinbaren Überzeugungen von der Irrationalität des Glaubens muss in der Art und Weise, wie man sich den Aufbau der „Vernunft“ vorstellt, gesucht werden, und zwar sowohl bei den Glaubenden als auch bei den klassischen Philosophen. DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 197 Als Historiker war ich etwas erstaunt, als sie sagten, dass die Glaubenden, die ihren Glauben für der Vernunft überlegen hielten, methodologisch nicht berechtigt waren, auf die Vernunft zurückzugreifen, um die an sie ergangene Offenbarung zu verteidigen. Nun sind es aber in der Geschichte paradoxerweise die Glaubenden, — die immer Gläubige eines bestimmten Glaubens sind, also des Glaubens in seiner jüdischen, christlichen oder muslimischen Form — die auf rationale Beweisführungen zurückgegriffen haben, um ihren Glauben anderen nahezubringen oder ihn gegen andere Formen des Glaubens, oder gegen Philosophien, die den Wert der von ihnen angenommenen Offenbarung verneinten, zu verteidigen. So entstanden erst die apologetischen, danach die spekulativen und besser systematisierten „Theologien“, die sich zusammen mit den großen philosophischen Strömungen der Antike entwickelten, also mit der Stoa, dem Platonismus, dem Aristotelismus und mit deren immer noch weiterexistierenden Schulen. Natürlich konnten sie sich nicht auf die Vernunft berufen, um ihren Glauben methodologisch zu rechtfertigen, in der Weise, wie das Ihnen nötig erscheint. Der Historiker sucht für diese paradoxe Situation der Glaubenden, die zur Verteidigung ihres Glaubens auf eine historisch ausgeprägte Philosophie zurückgreifen, obwohl sie innerhalb ihres Glaubens die Philosophie zur Beurteilung des Wahrheitswertes dieses Glaubens ablehnen, eine historische Erklärung. Von Ihrem methodologischen Standpunkt als Philosoph aus sprechen Sie über ein „Durcheinanderbringen der Methoden“ und verurteilen dieses. Sie zeigen auch auf, dass jene, die dies tun, sich entweder zu den in ihrem Glauben enthaltenen Vorurteilen in Widerspruch setzten, oder zu den philosophischen Prinzipien, die sie heranziehen. Der Historiker sieht in dieser paradoxen Situation nicht ein fortschreitendes Durcheinandergeraten zweier verschiedener Erkenntnisse (Erkenntnisse ] Erkenntnisweisen), so, als ob man Milch mit Kaffee mischen würde, also zwei Flüssigkeiten, die vorher getrennt waren, sondern eine fortschreitende Differenzierung, so, als ob man die Sahne von der Milch absondert, um zwei verschiedene Substanzen zu erhalten: die Sahne und die entrahmte Milch. Es geht darum, ob man die Flasche als halb 198 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN leer oder halb voll betrachtet... Für mich ist diese Flasche dabei, gefüllt zu werden... Diese unangebrachte Anwendung — logisch gesehen ist sie das, damit bin ich ganz und gar einverstanden — der philosophischen Vernunft innerhalb der Glaubensüberzeugungen ist also im Vergleich zu einer vorhergegangenen Epoche des vollständigen Durcheinanders ein Fortschritt, oder, besser gesagt, eine erste Unterscheidung. Ähnlich verhält es sich bei einem Embryo, dessen Gliedmaßen und Organe noch nicht ausgebildet sind. Es ist eine Entwicklung hin zu einer besseren Verständlichkeit. Daher gewinnt der „Glaube“ als „Gesamtheit von Glaubensüberzeugungen“ immer dadurch, dass er sich rational „durchdenkt“, trotz der inneren Widersprüchlichkeit dieses Vollzugs... Der Historiker stellt fest, dass diese Glaubensüberzeugungen tatsächlich nichts weiter sind als archaische Entwürfe theoretischer oder praktischer philosophischer Gedanken. Dabei handelt es sich um eine normale Weiterentwicklung innerhalb einer großen Bewegung hin zur Unterscheidung der Erkenntnismethoden. Man könnte sogar sagen, dass das philosophische Denken selbst aus Glaubensüberzeugungen entstanden ist, und dass es sich selbst nach und nach methodologisch ausgeformt hat. Diese Glaubensüberzeugungen, die einstmals die passive Zustimmung des Menschen forderten, hören auf, Glaubensüberzeugungen zu sein, wenn sie infolge ihrer Weiterentwicklung dazu anregen, verstanden zu werden: wie etwa die Aussage, dass es einen Gott gibt, der die schöpferische Wirkursache der Welt ist. Ich würde also sagen, dass die Religionen mit ihrem enormen Aufgebot an Glaubensüberzeugungen und Praktiken am Ende dieses Differenzierungsprozesses der Nährboden sowohl der Philosophie als auch des Glaubens sind. Und ich würde es so sehen — das wird Euch gefallen — dass ein gutes Verständnis der „philosophischen, reflexiven Vernunft“ und der „glaubenschaftlichen, für eine echte Offenbarung offenen Vernunft“ das Endergebnis dieses historischen Differenzierungsprozesses sein könnte. GLAUBEN ODER VERSTEHEN? WANN KOMMT ES ZUM DILEMMA? DER DOMHERR DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 199 Die Äußerungen des Leiters unserer Zusammenkunft haben mich überrascht... Sie scheinen die Vorstellung wieder einzuführen, dass man zu glauben aufhört, sobald man versteht. Nun hatte aber Herr Debruquel bereits gesagt, dass diese Redensart ein falsches Verständnis der Beziehungen zwischen Glaube und Vernunft impliziert. DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: Ich habe das nicht auf den Glauben als solchen, und auch nicht auf die Vernunft als solche bezogen, sondern auf gewisse Glaubensüberzeugungen, die zu einer bestimmten Zeit fälschlicherweise « geglaubt » wurden, und die danach aufhörten, zur Gesamtheit der Glaubensüberzeugungen zu gehören, und zwar, sobald man verstanden hatte, dass es sich um rationale Wahrheiten philosophischer Art handelt. Zu verstehen, dass eine gegebene Aussage, wie etwa jene, dass Gott existiert, nicht von einer Offenbarung abhängig ist, sondern vom menschlichen intellektuellen Nachforschen, bedeutet noch nicht, dass man behauptet, dass der Glaube als solcher stirbt, sobald die menschliche Intelligenz die an sie ergangene Offenbarung versteht. DER ANDERE PHILOSOPH Tatsächlich! Nicht nur die Glaubensüberzeugungen, deren Falschheit die klassische philosophische Vernunft aufzeigt, sondern auch jene, deren Wahrheit sie reflexiv nachweist, hören dadurch, genau wie naturwissenschaftliche Wahrheiten, auf, in den Bereich einer Offenbarung zu gehören. Die Philosophie kann, genau wie die Naturwissenschaften, dem Glauben einen indirekten Dienst erweisen, wenn sie gemäß ihrer eigenen Methode zu begründeten Wahrheiten vordringt. Es ist der Dienst, den Glauben von Wahrheiten zu befreien, die ihm nicht zu eigen sind, auch wenn sie mit dem Glauben verbunden sein mögen, wie etwa im Bereich der Ethik, weil ja ethische Ansprüche und der Vollzug des Glaubens ein einziges ontologisches Fundament haben. Die Philosophie kann, genau wie die Naturwissenschaften, dem Glauben die Richtung zu mehr Wahrheit im Verständnis dessen weisen, was er als „offenbart“ annimmt. Übrigens haben die Naturwissenschaften in ähnlicher Weise der Philosophie gegenüber genau dieselbe Funktion. Eine experimentell begründete Wahrheit, die man vorher für eine philosophische 200 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Wahrheit hielt, hört auf, eine Wahrheit philosophischer Art zu sein. Die Philosophen werden sie natürlich weiterhin als wahr annehmen, aber nicht mehr, insofern sie philosophisch ist, sondern insofern sie naturwissenschaftlich ist. Gemäß einer speziellen Erkenntnismethode, und im Bezug auf eine bestimmte Philosophie, wird dann der Philosoph die epistemologischen Bedeutungen und Werte dieser Wahrheiten aufzeigen. Der Glaubende aber, der den ihm von der Philosophie erwiesenen Dienst anerkennt, der in erster Linie den „dem Glauben vorgelegten Gegenstand“ betrifft, wird sich sicherlich nicht damit zufriedengeben, zu sehen, dass die klassischen Philosophien ihn ganz — oder weitgehend — im Dunkeln lassen, wenn es um die Beschaffenheit seines „Glaubensvollzugs“ und seines Glaubensaktes als Akt eines persönlichen geistlichen Lebens geht. DER DOMHERR Wie soll denn der Philosoph den Glaubenden erleuchten können, selbst den Glaubenden, der er selbst ist, wo doch sein „Glaube“ ein „Geschenk“ ist? Insofern er ein Geschenk ist, ist sein Glaube kein Bestandteil der menschlichen Natur, über die allein er mit seiner rationalen Methode „nachdenken“ kann. Die Vernunft muss ihre Grenzen annehmen und darf sich nicht zum Maß der Taten Gottes machen. DER ANDERE PHILOSOPH Damit erinnern Sie mich, Herr Kanonikus, dass ich Ihnen noch eine Erwiderung auf diesen Einwand schulde. Jetzt ist die richtige Gelegenheit dazu. Normalerweise sind Glaubende zu der Überzeugung gebracht worden, oder reden sich selbst ein, dass der Glaube ein „Geschenk Gottes“ ist, eine Begünstigung, die anderen nicht zuteilwurde. Wenn der Seinsstatus des Glaubens so aufgefasst wird — und das ist ohne Verwirrung gar nicht möglich —, dann ist es für den Menschen nicht mehr möglich, als Philosoph nach den Bedingungen der Möglichkeit des Glaubens zu suchen, und mit seinen Bemühungen, sich seinen Glauben verständlich zu machen, Erfolg zu haben. Aber gehört diese Aussage, dass der „Glaube“ ein Geschenk Gottes ist, zur „Glaubenslehre“, oder kommt sie von außen zu dieser Lehre hinzu? Falls diese Aussage auch zur DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 201 „Glaubenslehre“ gehört, wäre dann nicht der Tatbestand, zu glauben, dass der Glaube ein Geschenk ist, wiederum ein neues Geschenk? Wenn ja, dann befinden wir uns hier in einem Prozess ohne Ende. Dem Glaubensakt würde also eine Widersinnigkeit anhaften. Das kann aber nicht sein, denn der Mensch ist tatsächlich zu einer authentischen Glaubenszustimmung fähig. Daher muss die gewohnte Weise, in der wir über die Verfasstheit des Glaubens sprechen, generalüberholt werden. Wenn nun aber die Aussage, dass der Glaube ein „Geschenk“ ist, von außen zu dem hinzukommt, was uns zum glauben vorgelegt wird, dann kann der Glaubende sich damit kritisch auseinandersetzen, ohne dabei seinen Glauben aufs Spiel zu setzen, falls dieser Glaube authentisch ist und auf einer rational gerechtfertigten Offenbarung beruht. DER THEOLOGIEPROFESSOR Und wenn das Bewusstsein, dass der Glaube ein Geschenk ist, gleichzeitig mit der Annahme der Offenbarung geschenkt wird? Dann wäre es nicht mehr angebracht, von einem „zweiten“ Glauben zu sprechen, der in einer absurden Weiterentwicklung auf einen „ersten“ Glauben unendlich oft zurückkommt! DER ANDERE PHILOSOPH Zweifellos! Aber nur dann! Oder es könnte auch ein reflexiver Vorgang im Inneren des Glaubens stattfinden; und daher eine Möglichkeit gegeben sein, rational über die Offenbarung zu urteilen. Oder die Glaubenszustimmung ist von einem reflexiven Bewusstsein umgeben, wodurch es möglich würde, dass eine Offenbarung, die dies veranlasst, kritisch beurteilt werden kann. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Man sollte zwischen Glaube und Offenbarung unterscheiden. Bis anhin haben wir das zwar getan, aber vielleicht nicht klar genug. Wir müssen bei der Wortwahl mehr Sorgfalt walten lassen... DER ANDERE PHILOSOPH Genau! Ich hätte diese Unterscheidung ganz offensichtlich in Erinnerung rufen sollen... Das „Geschenk Gottes“ im eigentlichen Sinne ist seine „Offenbarung“. Wir sollten also die „Offenbarung“, die ein Werk Gottes ist, nicht mit dem Glauben, 202 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN der die Antwort des Menschen darstellt, verwechseln. Die Offenbarung bietet sich als von Gott kommende Initiative dem „Glauben“ des Menschen an. Einige Menschen nehmen dieses Geschenk an, andere lehnen es ab und verharren im „NichtGlauben“. Diese Sicht der Dinge macht keinerlei Probleme. Und die Tatsache, dass einige Menschen der Offenbarung zustimmen und andere sie ablehnen, sollte nicht einer von Gott vorgenommenen Auswahl zugeschrieben werden... Selbst angesichts einer „Scheinoffenbarung“ wird der Glaubende, der ihr aus Einfalt Glauben geschenkt hat, sagen, dass sie ein „Geschenk Gottes ist“, denn er betrachtet sie als „wahre Offenbarung“. DIE HISTORIKERIN Womit könnte man diese einfältige, in ihrem Verhalten einer Leidenschaft gleichende Zustimmung zu Glaubensüberzeugungen erklären? DER ANDERE PHILOSOPH „... einer Leidenschaft gleichend“? Ihr Vergleich ist gewagt, aber erleuchtend... Eine Leidenschaft ist etwas, was über einen kommt... Also auch etwas, was einen ergreift... Das, was einen ergreift, überkommt einen... Mit solchen Worten spricht man von der Liebe zwischen Mann und Frau. Es ist etwas, was einem „in den Schoß fällt“... und zwar manchmal für das ganze Leben... zum Glück! Ähnlich verhält es sich mit dem Glauben... Es ist wahr, dass der innere Schritt, zu glauben, einem scheinbar „in den Schoß fällt“, genau wie die Liebe... Und da die Offenbarung definitionsgemäß von Gott kommt, spricht man von einem « Geschenk Gottes ». Dieser Ausdruck zeigt also eine affektive Haltung, die bei Einigen mehr, bei Anderen weniger deutlich zutage tritt, und bei wieder Anderen fast ganz fehlt... Es geht um eine psychische Art und Weise, den Vollzug des Glaubens zu leben. Die Redensart « der Glaube ist ein Geschenk » drückt nicht den reflexiv erkannten Seinsstatus des Glaubensaktes aus. Dasselbe gilt für die Begriffe « Berufung » und « Ruf Gottes ». Sie bringen psychologisch die Bewegungen des glaubenschaftlichen Bewusstseins zum Ausdruck. DER PSYCHOANALYTIKER Um die Naivität gewisser Zustimmungen zu religiösen Überzeugungen zu erklären, berufen sich Psychologen und DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 203 Anthropologen auf eine Form des Herdentriebs der menschlichen Spezies. Sie sind übrigens der Meinung, dass diese Veranlagungen sich auch umgekehrt zugunsten der « Glaubensüberzeugungen » des Atheismus auswirken können. Genauso, wie es Modeströmungen gibt, gibt es auch Wellen der Begeisterung für Glaubensüberzeugungen. DER ANDERE PHILOSOPH Dies trifft sicherlich auf die religiösen Massenbewegungen bei großen Anlässen oder Wallfahrten zu. Aber die Schafe des Panurge in dem Buch Pantagruel von Rabelais würden sich nicht aus Panik in einen Abgrund stürzen, wenn das Schaf nicht von einer Angst getrieben wäre, die zur Flucht vor Raubtieren zwingt... In ähnlicher Weise wäre diese gläubige religiöse „Massenbegeisterung“ obwohl sie sich durch einen bedauernswerten Mangel an Intelligenz auszeichnet, nicht möglich, wenn es im menschlichen Bewusstsein nicht eine gewisse Veranlagung zum Glauben gäbe, der eine gewisse Verpflichtung anhaftet, sich zu verwirklichen... Außerdem sollte man es nicht ausschließen, dass sich einzelne überlegt und authentisch Glaubende in der Menge der Gläubigen befinden... oder solche, die es zumindest werden wollen... DER THEOLOGIEPROFESSOR Ihr Vergleich scheint sagen zu wollen, dass es eine Art Glaubensinstinkt gibt, oder sogar, dass die Glaubenszustimmung einem Determinismus unterliegt. Nun ist der Glaube aber ein freier Schritt. Wenn ich an irgendeine Notwendigkeit gebunden wäre, gäbe es keinen Glauben mehr. DER ANDERE PHILOSOPH Aus Ihrem Einwand kann ich mehrere Argumente schöpfen. Mit der Behauptung, dass der Glaube ein freier Schritt ist — wovon ich übrigens voll und ganz überzeugt bin — machen Sie ihn zu einem Teil der Ausübung der Freiheit, die zum Wesen des Menschen gehört. Der innere Weg des Glaubens ist also für den Menschen sehr wohl konstitutiv. Die Glaubenschaft ist sogar der vorzüglichste Ort der Ausübung der Freiheit des Menschen. Und der Glaubensakt ist die Begegnung zweier Freiheiten, nämlich jener des Offenbarers und jener des Glaubenden. Und in dieser Begegnung sind weder die Freiheit des Offenbarers, noch diejenige des Glaubenden einer 204 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN zwingenden, äußeren Notwendigkeit unterworfen. Zur Präzisierung habe ich dem von Ihnen gebrauchten Ausdruck „Notwendigkeit“ zwei Adjektive hinzugefügt: « zwingende, äußere Notwendigkeit ». DER THEOLOGIEPROFESSOR Es steht dem Menschen also frei, zu glauben, oder nicht zu glauben! DER ANDERE PHILOSOPH Diese Aussage ist aus mehr als einem Grund falsch, obwohl ein Gemisch aus dem, was man empirisch feststellt, und dem, was konstitutiv Wahrheit ist, ihr den Anschein von Wahrheit verleihen kann. Ich erkläre mich. Im Bereich der Erkenntnis von Gegenständen, der von Platon „doxa“ oder „opinion“ genannt wurde, stellt man fest, dass einige Menschen Glaubende sind, und andere nicht. Der Soziologe könnte dazu Statistiken aufstellen, Umfragen bezüglich der Absichten der Glaubenden als Glaubende und ihrer in bestimmte Gruppen eingeteilten Glaubensüberzeugungen machen. Damit würde man „religiöse Soziologie“ betreiben. Der Soziologe kann aber über das Wohlbegründetsein dieser Verhaltensweisen kein Urteil abgeben. Er stellt nicht einmal die Frage, wie der Mensch sich als glaubenschaftliches Wesen verhalten soll. Diese Frage ist Sache der philosophischen Überlegung. Nun beurteilt er das Verhalten der von ihm beobachteten Glaubenden nicht mehr aufgrund einer Norm des glaubenschaftlichen Verhaltens, die ihm die Soziologie nicht liefern kann. Auch der Philosoph tut genau das nicht, obwohl er diese Norm und die verschiedenen Verhaltensweisen, die sie missachten, kennt und zur Sprache bringt. Ein derartiges Urteil hängt von der moralischen Verantwortung eines jeden ab, je nach dem, wie er sich persönlich dieser Norm bewusst ist. Aus der soziologischen Feststellung, dass Einige glauben und Andere nicht, kann ich nicht ableiten, dass es dem Menschen freigestellt ist, zu glauben oder nicht zu glauben. Daraus, dass gewisse Menschen Mörder sind, kann man nicht ableiten, dass es dem Menschen freisteht, zu töten oder nicht zu töten. Vielmehr ist jeder verpflichtet, nicht zu töten, und das Leben seines Nächsten zu achten. DIE ANWÄLTIN DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 205 Sie dürfen diejenigen, die nicht glauben, nicht mit Mördern vergleichen... und alle Glaubenden mit ehrlichen Menschen... DER ANDERE PHILOSOPH Natürlich nicht! Das tue ich auch nicht... Mein Vergleich diente nicht dazu, die Nicht-Glaubenden mit Mördern zu vergleichen, sondern einen Gedankengang anzuprangern, der beansprucht, aus der Offensichtlichkeit der Feststellungen objektiver Art, auf die er sich abstützt, eine Aussage reflexiver Art herleiten zu können. Hierbei handelt es sich um eine der häufigsten und bedauerlichsten Verwechslungen von Erkenntnisweisen. Aus einer soziologischen Wahrheit kann man keine philosophische Aussage herleiten. Aber ich kann nicht alle Verwechslungen, die in dem gegen mich vorgebrachten Einwand impliziert sind, durch einen Satz beseitigen. Dieser Einwand ist von einer klassischen theologischen Redeweise bestimmt. Aber für Sie als Anwältin, die mir implizit eine Frage stellt, werde ich meinen Vergleich etwas abändern, aus dem Blickwinkel, von dem her Sie ihn verstanden haben, und nun mehrere, nämlich mindestens vier Fälle unterscheiden. Es gibt den ehrlichen Glaubenden, der einer wahrhaftigen Offenbarung anhängt. Es gibt den ehrlichen Nicht-Glaubenden, der eine wahrhaftige Offenbarung ablehnt. Es gibt den ehrlichen Glaubenden, der einer trügerischen Offenbarung anhängt. Es gibt den ehrlichen Nicht-Glaubenden, der eine trügerische Offenbarung ablehnt. Wegen ihrem grundsätzlich aufrichtigen Gewissen kann man in diesen vier Fällen dem Glaubenden und dem NichtGlaubenden keinerlei moralische Vorwürfe machen. Jedoch ist der Mensch im ersten und im vierten Fall jener Idealsituation näher, die der Philosoph zu beschreiben sucht. Im ersten Fall muss man sich fragen, ob der Glaubende in seiner Ehrlichkeit auch die Gründe der Wahrheit der Offenbarung, der er anhängt, sieht. Genau über diese Gründe der Wahrheit unterhalten wir uns seit Beginn unserer Zusammenkünfte. Wir stellen auch fest, dass es bei uns eine weite Palette von konkreten, feinen Unterschieden gibt... Im vierten Fall muss man sich fragen, ob der NichtGlaubende in seiner Ehrlichkeit auch die Gründe der Falschheit 206 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN der Offenbarung, die er ablehnt, sieht. Und genau über diese Begründung der Falschheit, die der Begründung der Wahrheit widerspricht, unterhalten wir uns hier auch. Zum zweiten und dritten Fall ist zu sagen, dass man diesen Menschen erst einmal verständlich machen muss, dass es Begründungen der Wahrheit und der Falschheit gibt. Das ist weitaus schwieriger, als einfach zu fragen, ob man diese Begründungen sieht, wobei man deren Existenz implizit annehmen würde. Hier handelt es sich also darum, die intellektuellen Ansprüche anzuerkennen und ihnen zuzustimmen. Dies ist für die menschliche Intelligenz eine Pflicht, die noch vor der moralischen Pflicht kommt, zu glauben, und „moralisch“ zu glauben. Sie sehen also, dass ich nur den Menschen mit einem Mörder verglichen habe, der eine wahrhaftige Offenbarung in Kenntnis der Anzeichen für deren Wahrheit ablehnen würde. Dieser Mensch würde schlecht handeln, nämlich einen Fehler begehen, der für ihn selbst innerlich vernichtend wirken würde. Auch derjenige, der weiterhin einer trügerischen Offenbarung anhängen würde, obwohl er Kenntnis von den Anzeichen der Falschheit derselben besitzt, handelt in unwürdiger Weise. DIE ANWÄLTIN Vielen Dank für diese ... schon fast juristische Erklärung... DER MODERATOR Könnten Sie vielleicht auf die von unserem Theologieprofessor gestellte Frage nach der Freiheit des Glaubens zurückkommen? DER ANDERE PHILOSOPH Aber sehr gerne! Sie möchten, dass ich den Glaubensakt erneut ins Auge fasse, und diesmal, insofern er ein freier Akt der Person ist, und also nicht das Problem der Religionsfreiheit in den Organisationen der Staaten? DER MODERATOR Genau. Das Problem der Religionsfreiheit betrifft die kollektiven sozio-politischen Verhältnisse, die es dem Menschen ermöglichen müssen, zu glauben und seine Glauben in würdiger Weise zu bezeugen, und dies sowohl innerhalb eines durchorganisierten religiösen Rahmens als auch ohne einen DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 207 solchen. Das Recht auf Religionsfreiheit stellt sich in diesem Sinn gegen die Verfolgungen, die die Ausübung aller, oder nur bestimmter Religionen verbieten wollen, indem sie den Menschen eine Religion aufzwingen, die alle anderen ausschließt. Unser Theologe fragte sich..., — aber habe ich seine Frage richtig verstanden? — ob Sie nicht unzulässigerweise von der Anerkennung der glaubenschaftlichen Dimension des Bewusstseins zu einer Art psychischem Glaubensdeterminismus übergehen, der dem Glaubensakt seine auf Freiheit beruhende Würde nehmen würde, so wie die Leidenschaft — hier nehme ich den Begriff wieder auf, der am Anfang dieser Diskussion stand — in gewissen Fällen unsere Freiheit einschränken und unseren Verstand verdunkeln kann, ... wie man gewöhnlich sagt. DER ANDERE PHILOSOPH Ich beginne mit zwei lateinischen Kantzitaten, da ich das Problem der Freiheit jetzt unmöglich bis ins letzte Detail behandeln kann. „Non datur fatum; non datur casus: Es gibt kein Schicksal, es gibt keinen Zufall.“ Aber es gibt „Determinismus“. Ohne das Prinzip des Determinismus könnte man die Wissenschaften, die sich mit der Materie befassen, nicht betreiben, und genauso wenig jene, die sich mit dem Leben und dem psychischen Leben des Menschen befassen. Dem Aufbau der Welt, die uns umgibt, und deren Teil unser Körper ist, entsprechen im Menschen, insofern er eine geistige Person ist, die zu unserem Sein und zum Sein an sich gehörenden notwendigen Grundeigenschaften. Der Mensch ist als sich im Werden befindendes Seiendes verpflichtet, sich gemäß den notwendigen Grundeigenschaften seines Seins zu verwirklichen. Dies ist die philosophische Grundlage der Moral. Sich gemäß den ihm eigenen inneren notwendigen Grundeigenschaften zu vollenden, ist also für den Menschen die höchste Form seiner Freiheit. Darin ist er von den Einflüssen der äußeren Welt unabhängig. Aber um sich so zu vollenden, gebraucht er die Determinismen der Welt, darin eingeschlossen auch diejenigen seiner körperlichen und psychischen Verfasstheit. Auch kann man hinter den tiefen Neigungen der menschlichen Psyche, sogar in ihren Fehlformen, das erahnen, was durch Nachdenken im Tiefsten als „Verpflichtung“ erkannt werden kann. 208 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Steht nicht aufgrund der Geistigkeit des Menschen hinter einer zum Glauben „determinierten“ Psyche, natürlich ohne dass sie dadurch zum Glauben „gezwungen“ wäre, eine Art „moralische Verpflichtung, zu glauben“, wenn und sobald man anerkennt, dass es eine für unsere Existenz in ihrer Gegenwart und Zukunft konstitutive Offenbarung gibt? Diese Verpflichtung, aus eigenem, freien Antrieb zu glauben, um selber als glaubenschaftliche Person zu sein, würde, wenn sie nicht richtig bewusst oder sogar unterentwickelt ist, die psychische Neigung, vorschnell und ohne Unterscheidungsvermögen zu « glauben », erklären, genauso, wie es viel leichter ist, aus Mitgefühl und rein emotional Nächstenliebe zu üben, auch auf die Gefahr hin, dass dies für Betrug missbraucht wird, als dasselbe aufgrund von Überlegungen und Sinn für Gerechtigkeit und Verantwortung zu tun. DER PSYCHOANALYTIKER Soll das heißen, dass hinter dem Glaubenstrieb eine „moralische Verpflichtung“ steht? So, wie hinter dem Sexualtrieb die Verpflichtung steht, das Leben weiterzugeben... Und genauso steht hinter dem Mutter- oder Vaterinstinkt die moralische Verpflichtung der Eltern zur Liebe und Verantwortung. Die Tatsache, dass diese Verhaltensweisen für spontan angesehen werden, besagt nicht, dass sie nicht von einer moralischen Forderung getragen werden. Ganz im Gegenteil! Dies wird dann besonders gut sichtbar, wenn diese Verhaltensweisen verkannt oder belächelt werden. In solchen Fällen wird man sagen, dass die grundlegendsten Pflichten missachtet und verraten wurden... Wenn es eine Verpflichtung gibt, an eine Offenbarung, die man als gültig anerkennt, zu glauben, dann ist der Glaube nicht ein Geschenk. Denn man kann nicht verpflichtet sein, ein Geschenk anzunehmen, auch dann nicht, wenn dies den Geber verärgern könnte... der sich dann seinen Teil denkt... wie man sagt. Erlauben Sie mir noch zwei letzte Gedanken... Ich möchte sie nicht in die Länge ziehen, aber ich möchte doch noch auf den Beitrag des Muslim zurückkommen, und Ihnen zwei Parallelen mitteilen, die mir durch den Kopf gehen. Die Vorstellung von Verpflichtung wird mit jener von Strafe in Verbindung gebracht, und umgekehrt... Im Koran bedroht Mohammed jene, die nicht glauben wollen, immer wieder mit den schlimmsten Strafen... Er DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 209 bedroht diejenigen, die nicht an Gott und an seinen Propheten glauben wollen. Liegt darin nicht so etwas wie ein unklares Bewusstsein dieser Verpflichtung, zu glauben, die ihrerseits hinter dem Glaubenstrieb steht? Wir haben es hier vielleicht mit einer ansatzweisen Wahrnehmung dieser Verpflichtung zu tun, und gleichzeitig mit einem Missbrauch dieser spontanen Veranlagung, der in einer Schuldzuweisung an jene besteht, die sich nicht der religiösen Gemeinschaft Mohammeds anschließen. DER ANDERE PHILOSOPH In diesen Strafandrohungen ist auch eine Gottesvorstellung enthalten, die jener der philosophischen Überlegung widerspricht. Das ist also ein Hinweis, dass diese Offenbarung nicht echt ist. Ein kritisches Hinterfragen seitens des Glaubenden würde ihr den Boden unter den Füßen wegnehmen, so dass sie niemanden mehr verpflichten kann, ihr zu glauben. Die Freiheit unterliegt keiner Verpflichtung, zu glauben, außer gegenüber einem Offenbarer, der sich auch seinerseits in Freiheit für die vollkommene Verwirklichung desjenigen Menschen einsetzt, von dem er Glauben verlangt. Aber man muss auch zugeben, dass in Sachen der Moral sogar ein irriges Gewissensurteil bindet, bis der Fehler festgestellt wird... Das zeigt noch einmal, dass „Glaube“ kein Geschenk Gottes ist. Es sei denn, dass man mir jetzt nochmals erwidert, dass nur der „christliche Glaube“ ein „Geschenk Gottes“ ist! Ich denke, es ist nicht nötig, auf diesen Einwand einzugehen... Aber nun zur Möglichkeit, einer sich als „göttliche Offenbarung“ darstellenden Offenbarung zu glauben: Ist sie ein Geschenk Gottes oder nicht? Ich werde bejahend antworten, aber kritisch. Die Fähigkeit, zu glauben, und ebenfalls der Glaubensakt sind genauso „Geschenk Gottes“ wie die Fähigkeit zu philosophischen Überlegungen, denn sie gehört zu unserer menschlichen Natur. Sie ist „Geschenk Gottes“, genau wie die Existenz, die Freiheit und die moralische Verpflichtung, darin eingeschlossen die Verpflichtung, zu glauben, wie wir bereits gesagt haben. Aber es ist falsch, zu sagen, dass der Glaube ein Geschenk ist, oder, wie einige Theologen präzisieren, ein übernatürliches Geschenk, wenn wir darunter verstehen, dass es sich um eine Fähigkeit handelt, die unserer Natur von außen hinzugefügt und 210 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN quasi mit der Offenbarung mitgeliefert wird, etwa wie ein Schlüssel, der unsere Intelligenz für die Offenbarung öffnet. Wenn dem so wäre, dann wäre Glauben nicht nur irrational, sondern es wäre eine widernatürliche Tätigkeit, und nicht eine, die „unsere Natur vollendet“. Wenn unsere menschliche Natur „auf diese Weise vollendet“ werden kann, dann ist das eine Eigenschaft ihres Seins. Sie hat dann also in ihrem Sein eine natürliche Befähigung, zu glauben. Hier befinden wir uns mitten im Problemkreis der „capacitas fidei“ (Befähigung zum Glauben) und der „potentia oboedientialis“ (Fähigkeit, folgsam zu hören), auf den auch Thomas von Aquin gestoßen ist. Aber auch in diesem Bereich müssen wir uns einen Grundsatz Ockhams in Erinnerung rufen: « Entia non sunt multiplicanda sine necessitate » (Man sollte nur dann mehr zur Erklärung dienende Wirklichkeiten annehmen, wo dies unbedingt nötig ist). Zu behaupten, dass Glaube ein Geschenk Gottes an Einige ist, und Andere es nicht erhalten, so dass sie in ihrem « natürlichen Zustand » und natürlicherweise glaubensunfähig verbleiben, wäre die Zerstörung jeglicher Möglichkeit des richtigen und echten Glaubens. STEHT DER GLAUBE ÜBER DER VERNUNFT ODER GEHÖRT DER GLAUBE ZUR VERNUNFT? DER DOMHERR Mit Thomas von Aquin fahren Sie die schweren Geschütze auf... Aber sie haben gerade auch zugegeben, dass es ohne Offenbarer keinen Glauben gibt. Wären Sie also soweit, zuzugeben, dass der Glaube... ich würde nicht mehr sagen, der Vernunft überlegen ist, denn das stört Sie, sondern dass er außerhalb der Vernunft liegt? DER ANDERE PHILOSOPH Diesmal bin ich mit Ihnen zur Hälfte einverstanden. Dass der Mensch nicht durch sich selbst allein, also ohne die Initiative eines Offenbarers, sein Glaubensvermögen in die Tat umsetzen kann, ist ganz offensichtlich, sogar mit analytischer Offensichtlichkeit. Wie sollte ich „glauben“, wenn es keinen Offenbarer gibt, an den ich glauben kann, und folglich auch nichts, was mir offenbart ist? Aber das heißt noch nicht, selbst dann nicht, wenn es sich beim Offenbarer um Gott handeln DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 211 sollte, dass das, was er dem Menschen offenbart, für den Menschen unverständlich wäre, so dass er es nicht durch seine natürlichen, eigenen Fähigkeiten verstehen würde. In der Wirklichkeit dieser Fähigkeiten kann man übrigens reflexiv eine Offenbarung Gottes erkennen und ihr daraufhin glaubenschaftlich zustimmen. Aber aus der Evidenz, dass ein ontologisch einzeln gedachter Mensch über keine Möglichkeit verfügt, zu glauben, kann man nicht den voreiligen Schluss ziehen, dass der Glaube außerhalb der tatsächlichen menschlichen Vernunft liegen muss. Eine derartige Schlussfolgerung wäre nur dann wahr, wenn man sie auf einen Menschen beziehen könnte, der im Vornherein schon als in seiner tiefsten Wirklichkeit als eine „in ihre Einsamkeit eingeschlossene geistige Person“ definiert wurde, und wenn der Glaube nichts anderes als eine Vernunft vor sich hätte, die wiederum schon im Vornherein auf diejenigen Tätigkeiten eingeschränkt wurde, die der Mensch „allein“ durchführen kann, also ohne methodologisch oder ontologisch die Anwesenheit einer anderen Person zu benötigen. Dies trifft auf die Erkenntnis von Gegenständen und allen anderen wahrnehmbaren Wirklichkeiten zu, auf die Logik und Mathematik und auf solipsistische philosophische Überlegungen. Aber in diesem Fall wäre jegliche Offenbarung unmöglich. Müsste man die tiefste oder erste Wurzel der Dissonanz zwischen Glaube und Vernunft nicht gerade in einer falschen Auffassung von dieser Evidenz sehen, und in all dem, was sie an individualistischen Personbegriffen voraussetzt? Aus welchen Gründen sollte man die Vernunft auf jene Tätigkeiten einschränken, die der Mensch „allein“ durchführen kann, wie dies der klassische und griechische Erkenntnisbegriff tut? Aus welchen Gründen sollte man zugeben, ohne sich dessen bewusst zu werden, dass der Mensch dann vollkommener wäre, wenn er in seiner Person allein alle menschlichen Fähigkeiten vereinen und so allein das ganze Universum besitzen könnte? Man stellt sich die Vollkommenheit des Menschen anhand des Modells der göttlichen Einheit vor. Dies ist ein MonoAnthropoismus, ein Abklatsch eines auf Einheit konzentrierten Monotheismus. Genau das ist die dauerhafte Vorstellung der klassischen Ontologie seit Platon und Aristoteles. Sie beide haben den Widerspruch zwischen der Behauptung der Einheit, die 212 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Parmenides besungen hat, und jener der Vielheit, deren Verfechter Heraklit war, zugunsten von Parmenides entschieden. Sie haben diesen Widerspruch aufgelöst, zugunsten der Einheit, definiert als vollständige Ablehnung jeglicher Unterscheidung und jeglicher Beziehung, in der absoluten Gestalt ihrer unitären Vollkommenheit. In einer solchen Vorstellung von Erkenntnis und Wirklichkeit gibt es keinen Raum für den Glauben an eine Offenbarung. DER DOMHERR Dann würden also die Menschen, die nicht glauben, eher in Übereinstimmung mit der klassischen Philosophie leben als die anderen? DER ANDERE PHILOSOPH Wenn man von den Voraussetzungen Ihrer Frage ausgeht, lautet die Antwort „ja“. Aber diese Menschen wären weniger gut als menschliche Personen entfaltet, nämlich im Einklang mit einer unzureichenden Philosophie. Weniger im Einklang stehen würde ihr Leben dagegen mit einer ganzheitlichen und interpersonalen Philosophie. Wenn sie sich Letztere aneignen würden, könnten sie sich ganz gewiss besser entfalten. In der alltäglichen Wirklichkeit muss man die Dinge anders beurteilen. Ich kenne Einsteins Relativitätstheorie nur sehr schlecht und bin kein Doktor der Mathematik. Ich bin also weniger „entfaltet“, als ich es sein könnte, wenn ich auch dieses Wissen beherrschen würde. Aber das heißt noch nicht, dass ich nicht so, wie ich bin, glücklich und entfaltet bin. Wenn gewisse Menschen nicht glauben — und das ist eine Tatsache — dann deshalb, weil sie eine natürliche Glaubensfähigkeit einem bestimmten religiösen „Glauben oder Glaubensgut“ gegenüber nicht zur Ausübung oder Entfaltung gelangen ließen, ob sie nun die ethische Anforderung, sich glaubenschaftlich einer kritisch überprüften und als für ihre Existenz konstitutiv befundenen Offenbarung zu verpflichten, verstanden haben oder nicht. Vielleicht haben sie recht damit, noch Nicht-Glaubende zu sein — was nicht heißt, dass sie glaubensunfähig wären —, nämlich falls sie bisher noch auf keine offenbarte Botschaft gestoßen sind, die ihres menschlichen Glaubens würdig gewesen wäre, oder falls ihnen bewusst geworden ist, dass das, was man ihnen als „göttliche Offenbarung“ angeboten hat, nicht DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 213 menschenwürdig und auch nicht mit einer erhabenen Gottesvorstellung vereinbar war. In diesen Fällen liegt für sie mehr Würde darin, nicht zu glauben. Hier sage ich in anderer Form nochmals das, was ich bereits unserer Anwältin erwidert habe. Natürlich können sich die Menschen auch weigern, zu glauben, indem sie die „Glaubenspflicht“ zurückweisen, oder aus Angst vor den geistigen und moralischen Forderungen, die sich aus einer derartigen Glaubenszustimmung ergeben. Aber derartige Gründe für das Zurückweisen des Glaubens verdienen hier nicht unsere Aufmerksamkeit, denn uns geht es darum, auf der ontologischen Ebene den Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft zu verstehen, wobei beide in ihrer ganzheitlichen menschlichen Echtheit betrachtet werden sollen. Es handelt sich dabei natürlich um einen „Idealzustand“ des Wirklichen, wie ihn der Philosoph betrachten muss, um die tatsächliche und kontingente Wirklichkeit besser zu verstehen. In einer pastoralen Sicht der Dinge, und gewissermaßen mit dem Blick des Arztes betrachtet, dürfen die psychologischen Gründe der Zurückweisung des Glaubens sicherlich nicht übergangen werden. Das Ideal für den Menschen besteht also darin, zu glauben, aber dies im Einklang mit einer Philosophie, die seinen Glaubensvollzug auf das unveränderliche Sein des Menschen begründet und die ihm eben dadurch die Mittel bereitstellt, die Wahrheit der Offenbarung und die Wahrhaftigkeit des Offenbarers, dem er Glauben schenkt, als solche zu erkennen. DER MODERATOR Allmählich müssen wir zum Schluss kommen. Daher möchte ich Sie bitten, kurz das Wesentliche Ihrer Verteidigungsrede für ein auf das philosophische Denken abgestütztes Glaubensvermögen und für eine Philosophie, die dem Glauben den Platz vollumfänglich einräumt, der ihm gemäß der interpersonalen Natur des Menschen zukommt, zusammenzufassen. DER ANDERE PHILOSOPH Ich fasse also zusammen. Der Glaubende, der für seine Glaubenszustimmung vollumfänglich verantwortlich sein will, wird sich nicht nur die Frage nach der Vereinbarkeit dieser oder jener seiner Glaubensinhalte mit diesen oder jenen klassischen 214 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN philosophischen Standpunkten stellen. Eine begriffliche Übereinstimmung zwischen den beiden würde nur das rationale Aussagen des Glaubens bestehen lassen, und eine Glaubensleere nach sich ziehen. Der Glaubende wird vielmehr nach dem Warum und Wie der Möglichkeit der Glaubenszustimmung und ihrer authentischen Ausführung im Einklang mit den ethischen Bedürfnissen seines Gewissens und seiner Freiheit fragen. Er wird sich außerdem darum bemühen, die spezifische Eigenart einer Glaubenswahrheit an sich zu verstehen. Letztere darf nicht für eine philosophische Wahrheit gehalten werden, aber sie ist nicht weniger voll und ganz rational, in einer „glaubenschaftlichen Rationalität“ die ohne irgendeine Gleichsetzung oder Überlagerung mit den drei anderen Formen der Rationalität in einem vollkommenen ontologischen Einklang harmoniert. Um diese « glaubenschaftliche Rationalität » zu entdecken, wird der Mensch als Glaubender also aus eigener Verantwortung seine philosophische Überlegung auf ein natürliches Glaubensvermögen ausrichten, und dabei eine Glaubensvorstellung anzweifeln, die in die Richtung geht, den Glauben in sich selbst einzuschließen, indem sie ihn als eine « Gesamtheit von Bevorzugungen » ansieht. Letztere Glaubensvorstellung ist eine sehr unangebrachte Art, dem Schöpfer unsere Dankbarkeit für eine herausragend kostbare natürliche Fähigkeit zu erweisen. Und derselbe Mensch wird sich als Philosoph, aufgrund seines eigenen Glaubensvollzugs oder vor dem Glaubenszeugnis einiger Seinesgleicher, die Frage nach der traditionellen Vorstellung von der Vernunft stellen, die ihrerseits dazu neigt, die Vernunft in sich selbst einzuriegeln, indem sie sie in einen „Status der Einsamkeit“ einschließt. Denn tatsächlich sind die einzigen drei Erkenntnisformen, in denen man „klassischerweise“ die Entwicklungsmöglichkeiten der Vernunft zu sehen meinte, durch und durch und wesentlich „individuelle“ Tätigkeiten. Sie werden als das ontologische Vorrecht eines menschlichen Seienden betrachtet, das „allein“ in der Welt existieren könnte, selbst wenn sie erfahrungsgemäß „in Gruppen“ ausgeübt werden. Und es ist wahr, dass die Wahrheiten dieser Erkenntnisformen, also der doxa-Naturwissenschaften, dianoiaMathematik und noésis-Philosophie, selbst für einen Menschen, der „allein auf der Welt“ wäre, wahr zu bleiben scheinen. Die DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES 215 klassischen Philosophen sind außerdem der Ansicht, dass es sich sogar mit Gott analog verhält, der ganz offensichtlich als ...allein in seiner Gottheit gedacht wird: „Selbstdenken seines Selbstdenkens“ „Selbstwollen seines Selbstwollens“, nach dem berühmten Ausspruch des Aristoteles. Wenn der Glaubende und der Philosoph beide darum bemüht sind, den Anforderungen ihrer jeweiligen Denkweisen zu genügen, so können sie nicht anders, als einmütig folgende Dinge erneut in Frage zu stellen: a) die bei den Glaubenden gängige Glaubensvorstellung, die den Glauben für der Vernunft überlegen und als besonderes Geschenk Gottes ansieht, b) die klassische Vorstellung von der Vernunft, die von der traditionellen Philosophie auf wesentlich solitär-individuelle Tätigkeiten eingegrenzt wurde. Eine bessere Lösung würde darin bestehen, den Glaubensvollzug philosophisch als voll und ganz rational, also als Aktualisierung einer „glaubenschaftlichen Rationalität“ zu betrachten, die es genauso gibt wie eine experimentelle oder naturwissenschaftliche Rationalität. So, wie es möglich ist, dass man, indem man sich auf die Bejahung einer naturwissenschaftlichen Rationalität abstützt, eine Methodologie der Naturwissenschaften ausarbeitet und den experimentellen Wert der naturwissenschaftlichen Forschungen anhand dieser für die menschliche Intelligenz konstitutiven Rationalität beurteilet, würde es auch möglich sein, dass man, auf der Grundlage einer für das menschliche Bewusstsein konstitutiven glaubenschaftlichen Rationalität den Wert einer Glaubenszustimmung und der „glaubenschaftlichen Vertrauenswürdigkeit“ einer Offenbarung, die eine derartige glaubenschaftliche Zustimmung verlangt, feststellt. Diese Zusammenfassung ist auch ein „Programm“. Ich müsste diese Aussagen jetzt nur noch untermauern... DER MODERATOR Die Sitzung ist beendet. Wir sehen uns heute Nachmittag wieder... Die frische Luft auf Deck haben wir uns nun sehr wohl verdient... FÜNFTE BEGEGNUNG DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS Auf Deck des Kreuzschiffs bittet die Anwältin die Historikerin um einige Erklärungen. DIE ANWÄLTIN Nach dem zu urteilen, was ich heute Morgen gelernt habe, scheint also die ganze Philosophiegeschichte von Anfang an durch die Auseinandersetzung zwischen zwei Männern bestimmt zu sein: Heraklit und Parmenides. DIE HISTORIKERIN Und dabei haben sie einander nie getroffen! Parmenides lebte gegen Ende des 6. Jahrhunderts in Eleas, einer Stadt an der Westküste Italiens, die von Siedlern aus der Stadt Phokaia gegründet worden war, einige Hundert Kilometer südlich von Neapel. Um die Jahrhundertwende kam er nach Athen und verbrachte dort die zweite Hälfte seines Lebens. Dort wurde er zum Gegner der Schüler des Heraklit. Dieser wiederum hat in Ephesus gelebt, in Kleinasien. Er, etwa dreißig Jahre älter als Parmenides, behauptete, dass sich alles in ununterbrochener Bewegung befinde und dass die unzähligen gegensätzlichen Pole dieser vielfältigen Veränderungen wie Tag und Nacht unvereinbar sind und aufeinander folgen. Als gegenteilige Sicht zu dieser in bleibender Unbeständigkeit befindlichen Vielfalt von Elementen behauptete Parmenides die Einheit, Beständigkeit und Ewigkeit des Seins. Während die Veränderung und die Verschiedenheit der Dinge unsere Wahrnehmungsfähigkeit beschäftigen, verfügt allein unser Denken über einen Zugang zu dem, was beständig, sicher und 218 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN ganz und gar in dem Kreise der Einheit des Seins eingeschossen ist. Ich erinnere mich, dass er dieses Bild in einem seiner Verse gebraucht... Was den Rest anbelangt... erinnere ich mich nicht mehr so genau... Oh! Ich sollte das in meinen Skripten nachlesen. DIE ANWÄLTIN Mir scheinen sie beide recht zu haben. DIE HISTORIKERIN Genau das haben auch die Athener gedacht. Und doch sind die beiden Auffassungen unvereinbar, zumindest auf den ersten Blick. Platon und Aristoteles haben ihren Gegensatz geerbt. Sie haben versucht, ihn zu überwinden. In der allgemeinen Geschichte der philosophischen Vorstellungen ist man der Meinung, dass sie die Veränderung und die Vielfalt der Phänomene mit dem, was materiell ist, in Verbindung gebracht haben, also mit unserem Körper, mit unserer sinnlichen Wahrnehmung. Und das Verstehen der Einheit, des Bleibens der Dinge und der Ewigkeit der Welt wäre Sache unseres Denkens, also kurz gesagt dessen, was geistig ist. Und so gaben sie der Einheit mehr Gewicht als der Vielheit; und dem, was beständig ist, mehr Gewicht als dem, was sich bewegt; und dem, was bleibt, mehr Achtung als dem, was vergeht; und dem, was ewig ist, mehr Bewunderung als dem, was nur zeitlich ist. DIE ANWÄLTIN Aus dieser allgemeinen Sicht der Dinge heraus kann ich nun verstehen, warum sie meinen konnten, dass die Seele ihre Einheit beibehält und unsterblich ist, während der Körper das bisschen Einheit, das er hat, verlieren und sich in eine Vielzahl von Staubteilchen auflösen muss. DIE HISTORIKERIN Tatsächlich bin ich der Ansicht, dass die abstrakten Überlegungen zur Einheit und Vielheit der Dinge für diese Philosophen in engem Zusammenhang zu unserem schmerzlichen Zustand des Sterblichseins standen... Wir werden noch Gelegenheit haben, unsere „Philosophen“ darüber zu befragen... Sie mögen unsere Fragen... DIE ANWÄLTIN DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 219 Für mich sind diese Diskussionen neu. Ich habe oft auch etwas Mühe, ihnen zu folgen. Aber die Debatte gefällt mir. Manchmal kommt es zu Konfrontationen, wie unter Anwälten... Und ich mag ihre Sorge um die Genauigkeit der Begriffe... Das ist sehr juristisch... Und unerlässlich, wenn man verschiedene Meinungen klar auseinanderhalten will... DIE HISTORIKERIN Genau! In diesem Gebiet versündigen sich die Historiker gelegentlich, vorgegebenermaßen... Aber gelegentlich kann Ungenauigkeit auch eine Art und Weise sein, der zu rekonstruierende Wirklichkeit näher zu kommen. Man sagt, dass die Geschichte keine exakte Wissenschaft ist... Und sie ist auch nicht immer eine deutliche Wissenschaft... und die Wirklichkeit selbst? DIE ANWÄLTIN Auch zu unserem Beruf gehört es, gelegentlich mit der Mehrdeutigkeit gewisser Situationen zu jonglieren... Ja! Aber da sind diese „gelehrten Herren“ ja schon, auf dem Weg zu unserem Sitzungszimmer... Gehen wir ihnen entgegen... Haben Sie bemerkt, wie sie sich freuen über die Aufmerksamkeit, die wir ihnen schenken? DIE HISTORIKERIN Um sie zufrieden zustellen, reicht es vollends, so zu tun, als ob man aufpasst... Gelegentlich sind sie genauso naiv, wie ihre Abstraktionen hochstehend sind... Was für ein Gegensatz zur Geschichte und ihren Tatsachen... DER MODERATOR Guten Tag, meine Damen... Sind nun alle da?... Ja! Alle Sessel sind besetzt... Sehr gut! Sind Sie der Meinung, dass wir uns das Wesentliche der Diskussionen von heute Morgen in Erinnerung rufen sollten? EINIGE WEIBLICHE STIMMEN: Nein... Das ist nicht nötig... Nur, wenn uns die Diskussion darauf zurückführt... Ich denke nicht... DER MODERATOR Aber vielleicht stehen Fragen im Raum? 220 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN EINE KLASSISCHE PHILOSOPHIE DES INDIVIDUUMS ODER EINE PHILOSOPHIE DER INTERPERSONALEN BEZIEHUNG? DIE KRANKENSCHWESTER, Mutter von 5 Kindern: Anstatt eine Frage zu stellen, würde ich gerne mein Erstaunen und meine Verwunderung zum Ausdruck bringen... Ich hätte nie gedacht, dass die griechische oder klassische Philosophie, wie Sie sie nennen, eine individualistische Philosophie ist. Ich dachte, dass der Individualismus eine eher neue Erscheinung ist, nur zwei oder drei Jahrhunderte alt..., vielleicht gab es ihn schon seit der Französischen Revolution... und ich dachte auch, dass man in der Antike mehr Familien- und Gemeinschaftssinn hatte... sowohl im bürgerlichen als auch im religiösen Leben. Früher starb man meistens „in der Familie“ und nicht einsam in einem Krankenhausbett; womit ich übrigens nicht die Qualität der Pflege in Abrede stellen will... Die Angehörigen besuchen den Kranken natürlich, aber sie leben nicht mit ihm zusammen im Krankenhaus. Das wäre ja auch gar nicht möglich. Aber nicht nur das Alter ist der Einsamkeit ausgesetzt, sondern auch die Kindheit, zum Beispiel, wenn die Mutter oder der Vater das Kind oder die Kinder allein erziehen muss, oder mit einem neuen Lebenspartner. Heutzutage ist das soziale Netz vielleicht materiell besser ausgebaut als damals, und kollektiv besser organisiert,... aber eben gerade dadurch ist es auch entpersönlicht. Eine von einem staatlichen Organ zugeteilte Unterstützung ist anonym... Ihr fehlt die Wärme der familiären Bindungen und die für mitmenschliche Beziehungen bezeichnende Aufmerksamkeit. Hiermit kritisiere ich nicht die soziale Sicherheit, sondern prangere an, dass ihre Solidarität nicht von offenherzigen Beziehungen der Zärtlichkeit, Freundschaft oder Zusammengehörigkeit getragen ist. Und wo derartige Beziehungen vorhanden sind, können sie sich gar nicht durch materiell wirksame Hilfe äußern, denn dazu fehlen die Mittel... die ja von den offiziellen Organen in Anspruch genommen werden... Wir haben es mit einem wirtschaftlichen Kalkül des „jeder für sich, mir genauso viel wie dir“ zu tun. Eine solch entpersönlichte Großzügigkeit gibt keinen Anlass mehr für Dankbarkeit und Anerkennung... Sondern nur dafür, dass ein jeder sein Recht einfordert... Die Dinge, die wir DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 221 empfangen, sagen uns nichts mehr über den, der sie uns gibt... Nun hat aber eine Tasse Kaffee, zubereitet von jemandem, der uns liebt, einen anderen Geschmack als der Kaffee aus einem Automaten... Wenn die Dinge, die wir besitzen, uns nichts sagen über Menschen, die uns lieben... wozu nützen sie uns dann? Daher war ich überrascht, zu hören, dass für die klassischen Denker mehr Vollendung darin liegt, allein die Dinge zu besitzen, als darin, sie mit anderen zu teilen, und mehr Vollendung darin, dass man allein erkennen kann, als darin, dass man das erkennt, was die Dinge uns vermitteln, wenn sie uns von anderen gegeben werden. Der Rosenstrauß, den mir mein Ehemann schenkt, sagt mir mehr als derselbe Strauß im Schaufenster eines Blumengeschäfts... auch wenn ich Letzteren kaufen könnte, um das Wohnzimmer zu verschönern... DIE HISTORIKERIN Was Sie feststellten, lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass die Solidarität in den modernen Staaten ein ganz anderes Ausmaß annehmen muss. Es ist wahr, dass die gegenseitige Hilfe in den Dörfern und Städten von damals unmittelbarer war und sozusagen ein Gesicht hatte. Aber sie war auch weniger umfangreich. Und je mehr sie sich auf eine Region oder einen Staat ausweitet, umso mehr wird sie „globalisiert“, und die interpersonalen Beziehungen dadurch aufgelockert. Das ist unvermeidbar. Soll man es bedauern? Ich weiß nicht. Ganz gewiss ist die Hilfe, die offizielle nationale und internationale Organisationen in von Hunger oder Armut betroffenen Ländern leisten, weitaus wirksamer als die Taten Einzelner, obwohl Letztere auf keinen Fall in Folge der Werbung von Wohltätigkeitsorganisationen vernachlässigt werden dürfen... Diese bemühen sich übrigens darum, zwischen ihren „Bedürftigen“ und ihren Wohltätern eine Beziehung aufzubauen, die so direkt wie nur möglich ist... Das wurde auch durch Ihre Bemerkungen bestätigt... DIE ANWÄLTIN So gesehen hat die Anonymität der sozialen Hilfeleistung etwas für sich. Sie ermöglicht, dass sich der Empfänger seinem Wohltäter gegenüber nicht verpflichtet fühlt. Dies kann durchaus eine Frage der persönlichen Würde sein, vor allem dann, wenn man keine Gegenleistung erbringen kann... Ich 222 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN denke, es ist schwierig, ein einziges Ideal zu finden für alle Situationen, wo Großzügigkeit zur Pflicht wird. Aber leider gibt es auf der Welt nicht nur Menschen, die einander lieben... sonst würde man uns Anwälte und auch die Richter gar nicht mehr brauchen... DER EXEGET Um Ihre Überlegungen noch zu vertiefen, meine Dame, wäre es vielleicht interessant, zu sehen, wie Jesus sich verhält, wenn man ihn um eine großzügige Hilfeleistung bittet. So schickt er zum Beispiel einmal die Aussätzigen, die er gerade geheilt hat, sich den Priestern zu zeigen, und gebietet ihnen, die Steuer für die Wohltätigkeitswerke des Tempels abzugeben. Ein anderes Mal lobt er den Aussätzigen, der als Einziger von zehn Geheilten zurückgekommen war, um sich bei Jesus zu bedanken, und beglückwünscht ihn zu seinem „Glauben“. Oder schauen wir, welche inneren Haltungen Jesus absichtlich „aufwertet“. So bleibt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter dieser dem Geretteten unbekannt. Im Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner verurteilt er diesen, weil er, nachdem er Hilfe erhalten hatte und sein Gläubiger ihm aus dem Elend geholfen hatte, sich nicht selber den anderen gegenüber genauso verhält... Das würde also bedeuten, dass die beste Art und Weise, Gott für seine Großzügigkeit zu danken, darin besteht, dass wir uns unsererseits anderen gegenüber als großzügig erweisen. Unserer Anwältin würde ich also erwidern, dass diese an Drittpersonen geübte Großzügigkeit es ermöglicht, dass man sich nicht gegenüber demjenigen, der an erster Stelle geholfen hat, durch „Schuldgefühle verpflichtet fühlt“. Und der Dankbarkeit und Anerkennung ist dadurch Raum gegeben, dass wir eine Großzügigkeit, von der wir vorher profitiert haben, nun für andere wiedererstatten. Und indem wir das tun, befreien wir uns auch von einer Fixierung auf ein rein forderndes Verhalten... Übrigens liegt es nicht in der Natur eines echten Geschenks, demjenigen, der es empfängt, Verpflichtungen aufzuerlegen... Ganz im Gegenteil! DER MODERATOR Mir scheint, dass sich Ihre Gedanken gegenseitig ergänzen. Wenn ich darin nach dem roten Faden suchen wollte, so würde ich bei der Ablehnung einer individualistischen Vorstellung von DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 223 der Existenz ansetzen. Für die Exegese des Evangeliums ist dies sonnenklar. Aber genauso ist es wahr, denn unsere Anwältin spricht von einer „zur Pflicht gewordenen Großzügigkeit“, und unsere Teilnehmerinnen haben eine Empfindung für die Gefahr der „Entpersönlichung“ der menschlichen Beziehungen. Auf der Ebene dieser praktischen Überlegungen würden wir uns also von der klassischen Philosophie distanzieren. Sie wären der günstige Hintergrund, so werden wir sagen, für eine Philosophie der Beziehung. Andererseits sind die Faktoren der Entpersönlichung sehr wirklich. Trotzdem sind die Glaubensund Vertrauensbeziehungen die persönlichsten Beziehungen, die es überhaupt gibt. Sind sie durch diesen von der Anonymität bewirkten Abstand bedroht? Oder sind sie im Gegenteil so tief in uns eingeprägt, dass sie allen menschlichen Beziehungen eine Seele verleihen können? DER ANDERE PHILOSOPH Mich überrascht Ihr Erstaunen keineswegs, meine Dame. Der Individualismus, den Sie bei der Ausübung Ihres Berufs feststellen, und auch das Phänomen der „Entpersönlichung“ in der modernen Gesellschaft sind beide tatsächlich Auswirkungen der klassischen Philosophie, die die Gedanken langzeitig unterwandert hat, und zwar aufgrund ihrer wahren Werte, wie etwa des Sinnes für Erfahrung und deren technische Anwendung in der Arbeit, und gleichzeitig auch aufgrund ihres Mangels an der Untersuchung von allem, was „beziehungsbedingt“ ist. Die theoretischen Fehler in unserer Vorstellung vom Leben kommen auf der praktischen Ebene erst verspätet zum Vorschein, vor allem dann, wenn man, um ihre Falschheit zu erkennen, erst durch ihre schmerzhaften Folgen hindurchgehen muss. Ich mache ein Beispiel: die marxistische und kommunistische Existenzvorstellung. Die theoretischen Fehler des Marxismus wurden von den Philosophen sehr bald erkannt. Aber dennoch setzte sich diese Lehre ein ganzes Jahrhundert lang durch. Die Unzulänglichkeiten, von denen sie gezeichnet war, mussten zwangsläufig eine Tragödie verursachen. Derweil war es aber ihr Versagen auf der praktischen Ebene, das der großen Maße ihre theoretischen Irrtümer zeigte, und das, obwohl die klarsten Denker sie bereits diagnostiziert hatten. Betrachten wir nun die soziologischen Auswirkungen der klassischen Philosophie, also der Philosophie der ungeteilten Einheit und der Unkenntnis der wesentlichen beziehungsbe- 224 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN dingten Dimension der menschlichen Person. Wir haben kaum damit angefangen, ihre spekulativen Mängel zu erahnen. Und sie bestimmt die Geister nicht seit einem Jahrhundert, sondern im Westen seit einem Jahrtausend... Angesichts des Fehlens einer intellektuellen Diagnose ihrer Mängel muss man zwangsläufig den Umweg der Feststellung ihres Scheiterns auf der praktischen Ebene nehmen. Und dieses Scheitern ist gerade erst dabei, sichtbar zu werden. Und dieses Scheitern nehmen Sie, meine Dame, in Ihrer Umgebung wahr. Auch in anderen Bereichen, wie etwa im bürgerlichen oder kirchlichen Leben macht es sich sehr wohl bemerkbar... Darüber können wir später noch sprechen, falls sich eine Gelegenheit ergibt. Und dass frühere Generationen, selbst zur Zeit der ersten Ansätze dieser Philosophie, noch in einer von ihren Mängeln weniger berührten Weise leben konnten, ist auch ganz und gar normal. Sie sind aber auch nicht in den Genuss der positiven Entwicklung der wirklichen Werte dieser Philosophie gelangt, besonders, was das Gebiet der Naturwissenschaften und der Technik anbelangt, oder auch den juristischen und sozialen Bereich. Meine Dame, trauern Sie nicht einer Zeit nach, wo die Generationen vielleicht noch auf menschlichere Weise lebten, aber ohne es zu wissen... und ohne ihre Veranlagung zur Großzügigkeit materiell zum Ausdruck bringen zu können. Wir sollen uns vielmehr wünschen, eine neue Vorstellung vom Leben auszuarbeiten. Diese wird zuerst auf der theoretischen Ebene die klassischen Mängel beseitigen, und dann bewusst zu ganzheitlicher menschlichen Verhaltensweisen anregen, indem sie auf der praktischen Ebene über bessere technische Möglichkeiten verfügt. DER DOMHERR „Eine neue Vorstellung vom Leben“... Aber, mein Herr, alle Reformatoren haben das gesagt, und sogar alle Diktatoren... Äh... Entschuldigen Sie... Ich weiß, dass sie für Diktatoren keinerlei Sympathie hegen... Aber, um konkret zu sein, welche Mittel sind es denn nun, die Sie vorschlagen, um diese „neue Vorstellung vom Leben“ auszuarbeiten? DER ANDERE PHILOSOPH Herr Kanonikus, es geht mir nicht um das „um jeden Preis Neue“, um die Neuheit um der Neuheit willen... „um auf der DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 225 neuen Welle zu reiten“, oder um „mit der Mode zu gehen“. Dem Ufer entlang sind alle Wellen neu, und sie alle zerschellen sehr schnell, im Sand oder an den Felsen... Ich meine, dass ich bereits zu Genüge gesagt habe, dass es sich um eine Neuheit handelt, die gegen die Unzulänglichkeiten der klassischen Philosophie Abhilfe schaffen soll. Tatsächlich gibt es in der modernen Philosophie Strömungen, die man als „neu“ bezeichnen kann, als auf dem Kamm einer Welle reitend. Aber sie werden gegen die Mängel, die ich bereits angesprochen habe, keine Abhilfe schaffen, sondern tragen sogar noch ihren Teil dazu bei... DER DOMHERR Aber dann... Welche Wege zeigen Sie uns? Uns stehen nämlich nicht allzu viele Mittel zur Verfügung, um die Welt zu verändern... Wir können nichts weiter tun als einige Gedanken formulieren... DER ANDERE PHILOSOPH Die Wege und die Mittel? All unseren Kollegen in der Philosophie und all jenen, die für Erziehung und Information verantwortlich sind, eine Philosophie darbieten, die den glaubenschaftlichen Verhaltensweisen endlich den Status der Rationalität einräumt, der ihnen gebührt, und das sowohl im Bereich der Erkenntnis, als auch in jenem des Seins, also in der Ontologie. DER ERSTE PHILOSOPH Dazu wäre dann aber auch noch nötig, dass diese Darlegung kräftig untermauert ist... und jeglicher rational begründeten Kritik standhalten kann... DER ANDERE PHILOSOPH Ganz und gar einverstanden, lieber Kollege... Behalten wir von der klassischen Philosophie das, was gut begründet ist! Wir sollten von ihren Standpunkten nur diejenigen verwerfen, die uns daran hindern würden, gegen ihre eigene Lückenhaftigkeit Abhilfe zu schaffen, also gegen ihre spekulativen Tabus, die es uns verbieten, die Wirklichkeit des glaubenschaftlichen Bewusstseins und seine ontologischen Folgen rational anzuerkennen. Hier handelt es sich um ein ganzes Programm... 226 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Warum nicht ganz bescheiden mit der Hypothese anfangen, dass der „Glaube“ eine rationale Erkenntnisform darstellt? Ich spreche natürlich vom „Vollzug des Glaubens“. Es geht mir nicht darum, alle Glaubensüberzeugungen als rational zu deklarieren... Davon bin ich sehr weit entfernt... Und wenn diese Hypothese einmal bewiesen ist, könnten wir dann zur Formulierung eines Grundsatzes fortschreiten? Welche Folgen würde eine derartige Hypothese für unser Glaubensverständnis haben? Schon Aristoteles wies darauf hin, dass „der Mensch von Natur aus danach verlangt, zu erkennen“. Und er fasste die drei dem „individuellen“ Menschen zugänglichen Erkenntnisformen ins Auge. Warum sollten wir nicht auch sagen: Der Mensch verlangt von Natur aus danach, zu glauben? Also danach, das glaubenschaftlich zu erkennen, was ihm ein Anderer ihm Versprechen an ihn offenbaren will? In diesem Fall würde man den Glauben als besondere Erkenntnisform ins Auge fassen. Sie gehört wesentlich zur mit Bewusstsein und Freiheit begabten menschlichen Natur, in jedem Menschen, ganz und gar. Daraus folgt, dass die Beziehung zum Anderen, zu demjenigen, der Offenbarer ist, wesentlich zum Sein des Menschen gehört, dass diese Beziehung also nicht gelegenheitsbedingt, nebensächlich oder akzidentell ist. Aristotelisch ausgedrückt würde die Verbindung zwischen dem Offenbarer und dem Glaubenden also zu seinem geistigen Wesen gehören. DER ERSTE PHILOSOPH Ich als klassischer Philosoph kann das sehr wohl annehmen. Der Glaube ist gleichzeitig ein intellektueller und willentlicher Akt... DER ANDERE PHILOSOPH Genau deshalb muss, damit man den Unterschied gut erfasst, hinzugefügt werden, dass die Verständigungsbeziehung zwischen Offenbarer und Glaubenden, falls sie ein Faktor unseres geistigen Wesens ist, dies nicht aufgrund des Unvollkommenheitsprinzips, der Endlichkeit und der inneren Vielheit unseres Seins (also nicht aufgrund seines „menschlich“ begrenzten und „materiell“ vervielfältigen Wesens in einer Vielzahl von Individuen) ist. DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 227 Das gibt mein klassisch denkender Kollege zu, denn dieser Aspekt von Unvollkommenheit gehört auch zu unserem geistigen Wesen, insofern dies ein endliches und begrenztes Seiendes ist. Aristoteles nannte dieses Prinzip der Begrenztheit der Wirklichkeit eines Seienden, das die Vielheit der von ihm verschiedenen und ihm ähnlichen Dinge ermöglicht, dynamis, und die Philosophen des Mittelalters sprachen von potentia, also „Befähigung oder Fähigkeit“. Der Unterschied zwischen Seienden derselben Natur, selbst falls es sich um eine geistige Natur handelt, ist die Vorbedingung ihrer Beziehung, und gründet in ihrer konstitutiven Unvollkommenheit. Im Widerspruch zu diesem Standpunkt muss gesagt werden, dass diese Beziehung für unser Sein aufgrund seines Vollkommenheitsprinzips und seiner Einheit konstitutiv ist, selbst wenn es mehrere Seiende gibt. Sie existiert aufgrund seines Aktes (im Sprachgebrauch dieser klassischen Autoren auf Griechisch energeia, oder auf Lateinisch actus), der das Prinzip ist, durch das das Seiende ist... durch das die Beziehungen sind, insofern sie, als endliche relationale Seiende, Abbild ihres Schöpfers sind. DER ERSTE PHILOSOPH Aber wenn Sie sagen, dass die glaubenschaftliche Beziehung zwischen Offenbarer und Glaubendem aufgrund der Vollkommenheit des menschlichen Bewusstseins für dieses konstitutiv ist und so die absolute Vollkommenheit Gottes darstellt, dann müssen Sie daraus schließen, dass diese Beziehung für das Wesen Gottes genauso konstitutiv ist... Die klassische Philosophie würde es niemals wagen, das zu behaupten... Für sie ist das unmöglich... DER ANDERE PHILOSOPH Zweifellos... Und genau hierin liegt der unüberbrückbare Gegensatz zwischen den „Substanzphilosophien“, die die geistige Person ideal als in ihrer einmaligen individuellen Gesamtheit vollkommen ansehen, einerseits, und der „Philosophie der Person“ andererseits, wo die geistige Person nicht nur als in sich selbst substantiell betrachtet wird, sondern auch, und das mit ein und derselben ontologischen Aufwertung, als gegenüber einem Anderen oder Anderen relational..., mit einer Vollendung, die jener der Anderen ebenbürtig und von derselben Natur ist... 228 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER DOMHERR Warum diskutieren Sie weiterhin miteinander, wenn doch Ihre philosophischen Standpunkte unvereinbar sind? ... Und uns gegenüber heißt das, dass Sie uns nichts weiter zur Wahl stellen als die eine oder andere der Ihrer beiden Vorstellungen: die erste, die klassisch und unizitär ist, und die andere, die relational ist und auf der Einheit von Vielen gründet. DER THEOLOGIEPROFESSOR Für die klassische Philosophie spricht deren Alter. Im Lauf der Geschichte hat sie ihre Eignung unter Beweis gestellt. Es ist zweifellos nicht reiner Zufall, dass man von einer „philosophia perennis“ spricht. Und zweifellos gibt es immer noch ungelöste Probleme... die aber vielleicht nicht unlösbar sind... Was jedoch die Theologen dazu zwingt, gewisse Wahrheiten des katholischen Glaubens als „Geheimnisse“ zu bezeichnen. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Dagegen hat die relationale Philosophie die Hoffnung auf ihrer Seite... Vielleicht könnte sie, wenn sie sich ganz den „ungelösten Problemen“ widmet, den ganzen Verständlichkeitswert dieser „Geheimnisse“, die unglücklicherweise als solche bezeichnet werden, erschließen? Denn sie sind in Wirklichkeit Lichtquellen und nicht dunkle Rätsel... Es ist eine immer noch anstehende Aufgabe, ihnen ihre Verständlichkeit zu entnehmen... Ich denke hier an die beiden Formen von Blindheit der Gefangenen in der Höhle des Plato: die Blindheit jener, die sich in Dunkelheit befinden, und die der anderen, die vom Licht der Sonne geblendet werden... DER ANDERE PHILOSOPH Dem Herrn Kanonikus möchte ich antworten, dass ich von einer Unvereinbarkeit im logischen Sinn des Wortes gesprochen habe. Ich hätte besser von einer Beziehung des Widerspruchs zwischen zwei ontologischen Auffassungen von der Natur der Vollkommenheit des Seins gesprochen, nämlich von der klassischen, unitären, auf ungeteilte Einheit fixierten; und der relationalen, gemäß einer geeinten Struktur von Vielen. Angesichts von zwei einander direkt widersprechenden Auffassungen kann man wenigstens sagen, dass eine von beiden wahr ist und die andere falsch. Das ist dann bereits ein DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 229 Fortschritt, oder? In diesem Sinn kann man ruhig von Hoffnung sprechen... Denn wenn man herausfindet, dass eine falsch ist, kann man daraus schließen, dass die andere wahr ist, auch wenn man die Beschaffenheit dieser Wahrheit und ihre positive Verständlichkeit immer noch nicht gut versteht. Man weiß dann aber wenigstens, in welcher Richtung man suchen muss. Aber da die beiden widersprüchlichen Behauptungen in unserem Fall zwei komplexe Systeme sind, die jeweils in ihrer Gesamtheit genommen werden müssen, reicht es für ihre Widersprüchlichkeit aus, dass sie sich in einem einzigen Punkt widersprechen, selbst wenn sie in allen anderen übereinstimmen. Wenn nun dieser Punkt, an dem sich die Geister scheiden, eine Richtschnur mit synthetischem Wert ist, die ein jedes der beiden Systeme durchzieht, dann wird sich dies zweifellos auf jeden Bereich der Philosophie auswirken. Dies soll uns aber nicht dazu bringen, die wirklich existierenden Gemeinsamkeiten zu übersehen. Ich habe bereits gesagt, dass die interpersonale oder relationale Philosophie alle Werte der klassischen beibehält. Sie schafft nur Abhilfe gegen deren logische Aporien. Diese wiederum entstanden aus einer lückenhaften Bestandaufnahme der menschlichen Erfahrung, also aus „Unzulänglichkeiten“ in der reflexiven Analyse der bewussten und freien Tätigkeit des Menschen. DER EXEGET So gesehen wäre es also möglich, eine sich aufzwingende knallharte Wahl zu umgehen und schrittweise von einer unitären und unizitär-klassischen zu einer interpersonalen Sichtweise überzugehen, indem man nach und nach die Bedeutungen der ersteren erweitert. Dieses Vorgehen, das gegen ihre „Unzulänglichkeiten“ und „Abwesenheiten“ Abhilfe schafft, wäre für den Exegeten von besonderem Interesse. Denn der Exeget befasst sich tatsächlich nicht nur mit der Wiedergabe des Sinns der Texte, sondern auch mit der Suche nach der Absicht jener, die sie geschrieben haben. Die Eingebung, die diese Autoren leitete, konnte unter dem Druck der in ihrer Umgebung üblichen Vorstellungen bei ihren Gesprächspartnern auf Widerstand stoßen... Wenn man den tieferen Sinn ihrer Eingebungen unter Einbeziehung eines Widerspruchs zu diesem Druck sucht, und unter Einbeziehung der Gesamtheit der menschlichen Erfahrung, die in ihren Schriften immer auch 230 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN enthalten ist, dann könnte man den Sinn ihrer Texte auf kontrollierte Weise bereichern, und phantasierende oder gelegenheitsbedingte Auslegungen verhindern... DER ANDERE PHILOSOPH Ganz gewiss... Diese Anwendung wäre mir nicht im Traum in den Sinn gekommen... Es ist eine eigenständige Weise, die epistemologische Methode in gewissen Fällen konkret anzuwenden. Der Sinn und Zweck dieser fünften Erkenntnismethode liegt genau darin, die menschliche Bedeutung dieser nicht-philosophischen Erkenntnisse aufzuzeigen, indem ihre Bedeutung im Lichte einer bereits vorhandenen Philosophie vertieft wird. Würden Sie also zur Auslegung Ihrer religiösen Texte und zur „schrittweisen Vertiefung“ ihrer Bedeutungen eine relationale und interpersonale Philosophie zum Anhaltspunkt nehmen? ... DER PHYSIKPROFESSOR Denken Sie, dass die relationale Philosophie auch unsere physikalischen oder biologischen Erkenntnisse bereichern könnte? DER ANDERE PHILOSOPH In der Tat denke ich das. Die „diskontinuierliche“ Auffassung von der Materie, derzufolge die Materie aus verschiedenen „Teilchen“ bestehet, die gemäß verschiedener Kräfte zu einheitlichen Strukturen zusammengefügt sind, und zwar von den inneratomaren Kräften angefangen bis hin zu den Gravitationskräften im Universum, mit einer Vielzahl von Kräften, die zwischen den Atomen, den Molekülen und den zusammengesetzten Körpern wirken: All das zeigt eine viel deutlichere Entsprechung zu einer relationalen Ontologie, als zu einer unitär-klassischen mit ihrer antiken Auffassung von der Materie als ein undifferenziertes „Kontinuum“. Ist Letztere eigentlich etwas anderes als eine „unbewusste“ Übertragung unserer abstrakten Raumvorstellung, die nach Kant eine „apriorische Form“ unserer Wahrnehmung ist, auf die Materie? Gute Physik- und Biologiekenntnisse zeigen die Bedeutung der „Unterscheidungsdimension“ und die Funktion des „Differenzierungsfaktors“ in der fortschreitenden Ausgestaltung der Materie. Dies entspricht übrigens der Verständlichkeit der „Verneinung“ in der logischen Ordnung des Denkens: „Ein DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 231 Teilchen ist nicht ein anderes“. Auf einer noch grundsätzlicheren Ebene, nämlich ohne die Verständlichkeit der Verneinung, ist das menschliche Denken nicht möglich. Wir können sogar sagen, dass die „unterscheidende Verneinung“ wesentlich zum Denken gehört, also zur Tätigkeit, mit der das Denken sich selbst gegenwärtig ist, und also zum Sein an sich des Bewusstseins in seiner Beziehung zu einem von ihm verschiedenen Bewusstsein. Im Rahmen unserer Diskussion werden wir sagen, dass der Glaubende nicht der Offenbarende ist, und der Offenbarende nicht der Glaubende. Ein richtiges Verständnis der glaubenschaftlichen Beziehung wird also ein richtiges Verständnis des Seinsstatus der unterscheidenden Verneinung voraussetzen. Kann die Philosophie ihr in ihrer Ontologie einen Platz einräumen, und welchen? Ist sie fähig, anzuerkennen, dass diese unterscheidende Verneinung weitaus grundlegender ist als diejenige, die in einer „solitären“ Auffassung von der Vollkommenheit des Seins, also gemäß der klassischen Philosophie, enthalten ist, oder auch in den Worten „Nichts“ oder „Leere“, wie man diese gemeiniglich versteht? DER DOMHERR Mein Kollege, der Exeget, lässt in dieser Sache einen schrittweisen Übergang vom Klassischen zum Relationalen vermuten... Könnten Sie, Herr Debruquel, uns über diesen Übergang von der antiken zu ihrer modernen Philosophie, falls es ihn gibt, etwas besser ins Bild setzen? Machen Sie mit uns einen kleinen Spaziergang, und nicht ein Wettrennen... Sie verstehen, was ich meine... DER ANDERE PHILOSOPH Ja, ich verstehe... aber Sie sind doch gut zu Fuß, Herr Kanonikus... Oder etwa nicht?... Dann also vorwärts! ... Man kann in einem ersten Schritt die Existenz einer Erkenntnisform, die ich also von nun an „glaubenschaftlich“ nenne, durch — unvollständige — Induktion herleiten, oder ausgehend von gewissen Aussagen der klassischen Philosophie der allgemeinen Erfahrung postulieren. Aber diese „Herleitung“ ist genau genommen kein Beweis, weil nicht alle ihre Glieder denselben transzendentalen Wert aufweisen. Sie kann uns aber psychologisch den Weg zu einer wahrhaftigen Erkenntnis der bewussten Glaubenschaftlichkeit zwischen voneinander 232 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN verschiedenen Personen öffnen. Dazu gehören die folgenden Schritte: Die Erkennenstätigkeit stellt man sich klassischerweise als universale Eigenschaft eines jeden individuellen Subjekts vor, so dass selbst unter der Annahme, dass nur ein einziges Subjekt existiert, dieses im Genuss der vollen Erkenntnis stehen würde. Selbst in einem — selbstverständlich hypothetischen — Zustand des ontologischen Alleinseins würde der Mensch über seine Erkenntnisfähigkeit verfügen und sie voll und ganz ausüben können. Und von dieser Voraussetzung ausgehend, auf die wir übrigens in unserer Diskussion heute Morgen gestoßen sind, deutet man oft, — leider schon fast gewohnheitsmäßig! — den kartesianischen Zweifel und die Behauptung des „Cogito“. Die klassische Vorstellung ist also so aufgebaut, als ob es sich um die Tätigkeit eines einzelnen Subjekts handeln würde, das nichts weiter vorfindet als die sinnlich wahrgenommenen Dinge. Diese Erkenntnis wird dann aber als objektiv universal bezeichnet, also als durch ein jedes dieser „einzelnen Subjekte“ ganzheitlich vollzogen. Die Vorstellung von Erkenntnissen, die für alle Subjekte „universal“ gültig sind, ist bereits die Behauptung einer gewissen notwendigen Beziehung zum Anderen... zumindest im „Objekt“, aber noch nicht im „Vollzug“ des Erkennens... DER ERSTE PHILOSOPH Dies ließe sich durch die Begrenztheit der menschlichen Natur und ihre daraus folgende Vervielfältigung in zahlreichen Individuen erklären. Und die Übereinstimmung zwischen den wahrnehmenden Geistern bezüglich einer gewissen Anzahl von Wahrheiten ließe sich dadurch erklären, dass ein jeder dieselbe Welt beobachtet und dass diese Welt Gesetzen gehorcht, die ein jeder beobachten kann. Wenn man dasselbe Ding sieht, ist man notwendigerweise mit dem Menschen, der neben einem steht, einverstanden... DER ANDERE PHILOSOPH Genau. Das ist die klassische Erklärung. Es ist sogar die Erklärung, die dieser Richtung der klassischen Philosophie, die man „Objektphilosophie“ nennt, zu eigen ist. Sie ist sogar sehr objektivistisch... Sie enthält einen Trugschluss und eine falsche Verallgemeinerung. Denn wer legt die Existenz der Gesetze in physikalische und andere Erscheinungen hinein, wenn nicht der DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 233 erkennende Geist selbst? Die einzelne Übereinstimmung mit einem einzelnen Mitmenschen bezüglich einer einzelnen Betrachtung eines einzelnen Objekts ist nur aufgrund der ausgeübten apriorischen Evidenz möglich, dass wir, er und ich und alle Menschen, gemäß einer gewissen Zahl von gemeinsamen Prinzipien wahrnehmen und denken. Diese Möglichkeit besteht sogar, wenn die ausgeübte apriorische Evidenz nicht reflexiv überdacht wird. Die besagten Prinzipien sind „universal“ in uns, universell konstitutiv für unser Sein. Aus dieser vordergründigen Evidenz schließen wir dann implizit, aber richtig, dass es sich mit allem, was existiert, genauso verhält, und also auch mit jedem „objektiven“ Phänomen. Zum Glück hat das von Kant und seinen Schülern durchgeführte transzendentale Überdenken der intellektuellen Tätigkeit des Subjekts an sich bereits die apriorischen Formen der Erkenntnis klargestellt. Nun muss man sich also fragen, ob diese apriorischen Formen im Sein des Bewusstseins begründet sind... und ob einige von ihnen — ganz offensichtlich nicht alle — in jenem Bestandteil des Bewusstseins begründet sind, der seine Vollkommenheit ausmacht. Wenn ja, dann ist man nahe daran, eine für das Sein des Menschen wesentliche Beziehungsbedingtheit anzuerkennen... DER ERSTE PHILOSOPH Vielen Dank für diese Erläuterungen... Genau das hatte ich erwartet... Es ist wahr, dass die Universalität unserer Vorstellungen, also all unserer Vorstellungen, sowohl der wahren als auch der falschen, und daher auch jene von der universellen Gültigkeit für alle erkennenden Geister, die sich in derselben Weise Fragen stellen, nicht auf eine mutmaßliche Beständigkeit der „Objekte“ gegründet ist. Dies spricht tatsächlich für Beziehungsbedingtheit... Ich schließe meine Klammer und lasse Sie weiterreden... DER ANDERE PHILOSOPH Ja! Sie tun gut daran, verschiedene Bedeutungen des Begriffs „universal“ zu erwähnen, wenn es um Erkenntnis geht. Aber all diesen Bedeutungen liegt die notwendige und bleibende „universalisierende“ Tätigkeit des Bewusstseins zugrunde. Dieses ist nämlich der „Hersteller“ der „Universalität“ all seiner Vorstellungen in deren Anwendung auf seine Objekte im 234 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Allgemeinen, worin die „reflexiven Objekte“ eingeschlossen sind, also unsere metaphysischen Vorstellungen. Aufgrund seiner Reflexivität ist es also der „Begründer“ des universalen Gültigkeitsanspruchs des Wissens für alle Subjekte. Unsere Vorstellungen, die seine „Inhalte“ sind, sind von ihm „gezeichnet“, wenn man das so sagen kann. Alle Inhalte unseres Bewusstseins sind „universalisiert“ und haben daher einen „universalen“ Charakter, weil unser Bewusstsein „universalisierend“ ist. Und nun gehe ich zu einem anderen Aspekt unserer bewussten Tätigkeit über, nämlich zu seiner Freiheit aus der Sicht der klassischen Philosophie. Einerseits erkennt dieses „einzelne Subjekt“, dieses solitäre „Cogito“ sich selbst mit einer philosophischen oder metaphysischen Gewissheit als freies Seiendes; andererseits zeigt die allgemeine Erfahrung ihm mit empirischer und psychologischer Gewissheit die Existenz anderer freier Subjekte. Die klassische Philosophie verfügt nicht über die Möglichkeit, die Existenz eines Anderen tatsächlich, von den Voraussetzungen der griechischen oder unitären Ontologie ausgehend, mit metaphysischer Gewissheit festzustellen. Sie ist für sie eine erwiesene objektive Tatsache, aber sie wird nicht als transzendentale Notwendigkeit des Seins erkannt. Sonst hätten wir es mit einer relationalen Philosophie zu tun. Hier kommt erneut der Mangel an Genauigkeit zu Vorschein, den unser Versuch eines Übergangs aufweist, wenn wir von den klassischen Thesen ausgehend die Existenz einer glaubenschaftlichen Erkenntnis induzieren und die Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins anerkennen wollen. Denn der Gewissheitsgrad der Schlussfolgerung einer Überlegung kann denjenigen der schwächsten unter ihren Prämissen nicht übertreffen. Und so können wir nur auf eine empirische Gewissheit der Möglichkeit, zu glauben, schließen. Und damit übertreffen wir das Zeugnis der gewöhnlichen Erfahrung mit nichts. Dennoch spricht es für diesen Versuch, dass er den „existentiellen Raum“ der glaubenschaftlichen Frage absteckt. Fahren wir also fort mit unserer „Induktion“, mit unserem Versuch eines Übergangs. Durch seine gewöhnliche Erfahrung belehrt, schreibt der klassische Philosoph allen individuellen Menschen dieselben wesentlichen Fähigkeiten zu, wie sich selbst. „Die anderen, die ihm ähnlich sind, sind auch freie Seiende“. Dies ist eine DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 235 verallgemeinerte Anwendung einer Wahrheit, die er in seiner eigenen Individualität vorfindet. Aber hat er sich jemals die reflexive und philosophische Frage danach gestellt, wie er dieses „ähnliche Individuelle“ als frei erkennen kann, als ein Seiendes, das ihm gegenüber frei handelt und sich ihm in seiner freien Handlung an ihm frei zu erkennen gibt? Oder hat er diese Frage nur als intentionale und empirische Frage gestellt? Wer sich diese Frage stellt, begibt sich auf den Weg zur Anerkennung der Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins gegenüber einem Seienden, das sich frei zu erkennen gibt. Wenn es darum geht, „den Anderen als freies Subjekt“ zu erkennen, ist der klassische Philosoph auf eine Überlegung festgelegt, die auf „Analogie“ mit seiner individuellen Erfahrung beruht. Es gibt keine Möglichkeit, den Anderen als Freien durch ein naturwissenschaftlich-experimentelles Vorgehen zu erkennen. Er wird dann also lediglich in seiner Phänomenalität erkannt, und nicht in seiner Freiheit. Und Letztere wird durch die Universalisierung jener Eigenschaften postuliert, die das Subjekt reflexiv in sich selbst vorfindet. Aber könnte der Andere, sobald seine Freiheit bejaht ist, nicht auch in der Ausübung seiner Freiheit mir gegenüber erkannt werden? Mir gegenüber, weil ich es bin, der diese aktuell ausgeübte Freiheit erkennen muss. Und aufgrund desselben Universalitätsanspruchs muss auch postuliert werden, dass der Andere genauso meine Freiheit ihm gegenüber erfahren muss. Um dem von der klassischen Philosophie anerkannten Universalitätsanspruch zu genügen, reicht es mir nicht aus, auf eine objektive Analogie zurückzugreifen, die zwischen meinen freien Handlungen an Dingen oder Personen, die mit Dingen auf dieselbe Ebene gestellt wurden, und den Handlungen eines Anderen an Dingen oder anderen Personen, die wiederum mit Dingen auf dieselbe Ebene gestellt sind, besteht. Zum Glück ist die menschliche Erfahrung weitaus reicher, als die Untersuchung der Erkenntnis durch die klassische Philosophie es vermutet! GIBT ES EINEN METAPHYSISCHEN BEWEIS FÜR DIE NOTWENDIGKEIT DER EXISTENZ DES ANDEREN? DER DOMHERR Zweifellos ist genau das der Grund, warum Max Scheler in seiner Phänomenologie von einer Intuition der Existenz des 236 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Anderen und seiner Persönlichkeit spricht... Mir scheint, dass ein gewisser Student Karol Wojtyla, heute Papst Johannes Paul II, die Werke dieses Autors schätzte... DER ANDERE PHILOSOPH Nichts ist normaler als das! Ich denke, dass dieser Papst es nie hingenommen hätte, sein Denken durch den individualistischen Rahmen der klassischen Philosophie einengen zu lassen! War er im Begriff, einen „Übergang“ zu einer relationalen Existenzvorstellung zu vollziehen? Wie ich ihn auf Ihren Wunsch hin skizzieren soll? Ich weiß es nicht. Damit dem klassischen Universalitätsanspruch im Bereich des Erkennens in seiner Anwendung auf die Person eines Anderen genügt wird, muss es ganz gewiss gegeben sein, dass dieser seine Freiheit nicht nur vor meinen Augen an irgendwelchen Dingen oder als Phänomene betrachteten Personen ausübt, sondern mir gegenüber, so dass ich mir seiner Freiheitsausübung bewusst werden kann; also dass er seine Freiheit ausübt, indem er sich so offenbart, dass ich ihn in seiner freien, auf mich bezogenen Tätigkeit erkennen kann. Und umgekehrt. Das ist die Erfahrung des Glaubens an einen Anderen. Die Erfahrung, in der ich „ihm glauben“ kann, nämlich „aktiv“ an ihn glauben, mich mit einer „glaubenschaftlichen Beziehung“ an ihn binden, mit einer Bindung, die von ihm aus eine Beziehung der Offenbarung ist, und von mir aus eine Beziehung des Glaubens. Die Offenbarung, also die Wirklichkeit einer freien Person, die sich mir in ihrer freien Zusage an mich offenbart: Das ist das „allgemeine Objekt“ meines Glaubens, das „obiectum formale intellectus fidei“, das „Formalobjekt des glaubenschaftlichen Bewusstseins“, genauso wie das Sein im Allgemeinen das Formalobjekt des „intellectus reflexionis“, also des reflexiven Bewusstseins ist. Die durch einen Anderen, insofern er ein freies Subjekt ist, an mich ergangene Offenbarung seiner Zustimmung, meiner Existenz eine größere Vollkommenheit zu verleihen, verhält sich zum „glaubenschaftlichen Glauben“ — verzeihen Sie diesen Pleonasmus — so, wie die Wirkungen der Dinge gemäß ihren natürlichen Gesetzen zur naturwissenschaftlichen Erfahrung und Erkenntnis, und auch so, wie die für das Bewusstsein in seinem Sein wesentlichen Notwendigkeiten zum Bewusstsein selbst, insofern es für sich selbst gegenwärtig ist, also zur reflexiven philosophischen Erkenntnis. DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 237 Die Vervollständigung des Fächers der uns zur Verfügung stehenden Erkenntnisweisen, die wir hier gerade unter Anerkennung der Existenz einer glaubenschaftlichen Erkenntnis vollziehen, setzt gewissermaßen voraus, dass wir auch unsere Seinsvorstellung vervollständigen. Von welcher Art ist also die bei der Anerkennung der Glaubenschaftlichkeit vorausgesetzte Ontologie? Die klassische Erkenntnisphilosophie, die die Glaubenschaft nicht kannte, war grundsätzlich „individualistisch“, und ihre Ontologie konnte „wesentlich“ auf die „vereinzelte“ Einheit der Substanz in ihrer Individualität begründet sein, und nur „nebenbei“ auf die Vielheit der in einer „akzidentellen Einheit“ bestehenden Beziehungen zwischen „Substanzen“. Man kann der Glaubenschaftlichkeit also nur dann einen Platz in der Erkenntnisordnung einräumen, wenn man eine Ontologie voraussetzt, die nicht ausschließlich „substanzbegründet“ sein darf, sondern die gleichzeitig substanzbegründet und relational sein muss, ohne dass die Relationalität des Seins seiner Substantialität „untergeordnet“ würde. Substantialität und Relationalität der mit Bewusstsein begabten Person gehören untrennbar zusammen und setzen einander mit gleichem Wert und gleicher Vollkommenheit voraus. Weder übertrifft die Substantialität des sich offenbarenden oder des glaubenden Subjekts die Relationalität beider als Offenbarender oder Glaubender an ontologischem Wert, noch umgekehrt. Eine derartige Ontologie legt also mehrere Einheitsformen als Anzeichen der Vollkommenheit des Seins fest: eine Struktureinheit für die Beziehung „Offenbarer-Glaubender“, eine Natureinheit für den Einen und den Anderen, und eine Identitätseinheit eines jeden mit sich selbst. Das Sein, also „das, was existiert“, ist eine relationale Einheit von Seienden, die mit sich selbst eins sind in der Einheit, die für jeden von gleicher Natur ist, und die gemäß ihrer gegenseitigen Beziehungen in sich strukturiert ist. Hier schließen wir also auf die Existenz einer Ontologie, die in logischem Widerspruch steht (tertium non datur) zur klassischen Ontologie, die in der Vollkommenheit des Seins ausschließlich eine einzige Form von Einheit kannte: die substantielle Identität mit sich selbst in der Natur des Selbst. Die anderen in Wirklichkeit vorkommenden Formen von Einheit sind akzidentelle Einheiten, die zur substantiellen Einheit des 238 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Subjekts hinzukommen und ihm also ontologisch unterlegen und untergeordnet sind. Wenn die Anerkennung der Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins eine relationale und interpersonale Ontologie voraussetzt, so ist auch das Umgekehrte wahr. Das heißt: Der Beweis einer derartigen Ontologie gründet nicht auf der Tatsache, dass man die Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins zugibt, und noch weniger darauf, dass man sie wie eine „Offenbarung“ oder einen Glaubensinhalt annimmt. Eine derartige Ontologie kann ausschließlich durch die philosophische Methode begründet sein, also durch eine „Reflexion“ in unserem eigenen Sein, in einer transzendentalen Suche nach den apriorischen Bedingungen der bewussten Tätigkeit. Die Glaubensfähigkeit und der Glaubensakt als Imperativ des Lebens erlangen erst im Rahmen einer derartigen philosophischen Ontologie ihre volle Bedeutung für den Menschen. Existieren heißt, in einer glaubenschaftlichen Beziehung zu existieren. Jeder offenbart dem Anderen seine Verpflichtung, ihm die Existenz zu schenken. Der heilige Thomas von Aquin betrachtete das Eigentliche des „Seinsakts“ in den „Quaestiones Disputatae de Potentia“ als das SichMitteilen gemäß dem vollen Umfang des eigenen Vermögens. Darin lag nach ihm, und ich teile seine Meinung, das Eigentliche des Seins in seiner Vollkommenheit, das Eigentliche des „InAkt-Seins“. DER DOMHERR Ich höre Ihnen aufmerksam zu und stelle fest, dass Sie ausschließlich von einer Glaubensbeziehung zwischen menschlichen Personen sprechen! Aber der Glaube an eine andere menschliche Person ist nicht dasselbe wie der Glaube an Gott. Von anderen Personen lerne ich nichts wirklich Neues. Von Gott aber sehr wohl! Die Frohe Botschaft des Evangeliums! Ich hätte erwartet, dass Sie uns aufzeigen, dass der Glaube an Gott sehr wohl diese besondere, spezifische, auch rationale, und die Philosophie und Naturwissenschaften ergänzende Erkenntnis darstellt... Aber von all dem sehe ich nichts... Und Sie haben es uns doch versprochen... DER ANDERE PHILOSOPH DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 239 Sie können auf mein Versprechen bauen... ich will es halten. Genau deswegen muss ich zuerst die Glaubenschaftlichkeit im Bereich unserer Menschlichkeit an sich begründen, und das sowohl auf der Ebene der Erkenntnis als auch auf jener der Ontologie. Wie sollte man die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott begründen, wenn Glaubenschaftlichkeit nicht auf der rein menschlichen Ebene eine Wirklichkeit ist? Danach wird man sich auf die Frage nach dem absoluten Grund einer derartigen relationalen menschlichen Wirklichkeit stellen müssen. Daraufhin werden Sie verstehen, dass Gott selbst dieser Grund ist, insofern er in sich selbst die Gemeinschaft von drei unendlichen und vollkommenen Personen ist, die „sich einander offenbaren“ und „sich einander anvertrauen“, die Einen den Anderen. Dies sage ich, um unseren Nachforschungen einen festen Anhaltspunkt zu geben. Ich kann das jetzt nicht beweisen... DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Einen derartigen Meilenstein haben Sie bereits gesetzt, als Sie sagten, dass, wenn Gott Schöpfer und Offenbarer ist, diese beiden Vollzüge seiner uns gegenüber ausgeübten Großzügigkeit in einer absoluten Großzügigkeit gründen müssen, die genauso unendlich und vollkommen ist wie Gott selbst. Diese Großzügigkeit ist das Wesen an sich der göttlichen Natur. Demnach ist Gott kein solitäres Seiendes, sonder ein familiäres Sein. In diesem Zusammenhang erhält der Begriff „Offenbarung“ eine beachtenswerte ontologische Dichte. Sich einem Anderen „offenbaren“ heißt, ihm etwas von unserem Sein weiterzugeben, ohne dass wir es verlieren würden, um ihn selbst in einer vollkommenen Unterscheidung ins Sein zu rufen... DER ANDERE PHILOSOPH Genau. Alles verhält sich tatsächlich so und alles ist einfach zu verstehen... Von einem relationalen Standpunkt aus ist alles so einfach. Aber es ist eine erworbene Einfachheit, denn es geht darum, bereits am Anfang den ganzen reflexiven Reichtum der Bewusstseinserfahrung zu erfassen. DER THEOLOGIEPROFESSOR Wenn ich richtig verstehe... dann glaubenschaftlichen Beziehung zwischen wird aus der Offenbarer und 240 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Glaubendem eine ontologische, die für die Vollkommenheit des Seins wesentlich ist... DER ANDERE PHILOSOPH Eine Beziehung der Seinsmitteilung... Ja. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Eine Beziehung, die das Herzstück der Ontologie bildet. Eine Beziehung, die dem Sein seine volle Bedeutung verleiht und die vom Sein ihre volle Wirklichkeit erhält. DER ANDERE PHILOSOPH Sehr richtig. Damit bringen Sie auf eindrückliche Weise meine Gedanken zum Ausdruck, die ich äußerte, als ich sagte, dass das Christentum eine Erkenntnisphilosophie braucht, die dem „Glaubensakt“ seinen vollen Platz einräumt, einen Platz, der ganz und gar rational ist, und dass die christliche Theologie die offenbarte Wahrheit des Evangeliums unter Bezugnahme auf eine relationale Ontologie zum Ausdruck bringen sollte, die als einzige mit der schöpferischen und offenbarenden Tätigkeit im Einklang steht, weil sie eben gerade relational ist und den Glaubensakt begründet. DER EXEGET Die Überlegungen, die Sie gerade ausgetauscht haben, können einen Exegeten nicht unberührt lassen. Ich sehe darin jetzt einen positiven Bezugspunkt für die Auslegung der Texte. Die Beziehung einer Differenzierung im Widerspruch zu den Vorstellungen der klassischen Philosophie war bereits sehr aufschlussreich. Sie konnte ermöglichen, dass man gewisse Deutungsfehler vermeidet und Lesehindernisse umgeht. Ein relationaler Blickwinkel erlaubt einen höheren Lesehorizont. Und von noch größerer Bedeutung ist er, weil er den ganzen Bereich der menschlichen Wirklichkeit abdeckt. Er ist nicht begrenzt, wie gewisse historische und literarische Kriterien es sind... die übrigens alle sehr nützlich und manchmal sogar unverzichtbar sind. DER DOMHERR Vorausgesetzt, dass diese neue Ontologie nicht nur gut begründet ist, sondern auch bei den zahlreichen Spezialisten in all diesen Forschungsgebieten gut aufgenommen wird. Ich DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 241 persönlich gestehe, dass ich einige Bedenken hätte, meine klassische und traditionelle Sichtweise aufzugeben... Und selbst wenn ich mich zu dieser neuen Ontologie bekehren wollte, so würde mir das zweifellos nicht gelingen... DER ANDERE PHILOSOPH Ihre Offenheit und Ehrlichkeit gereichen Ihnen zur Ehre, Herr Kanonikus. Andere haben dieselben Schwierigkeiten wie Sie. Sie haben davor eine irgendwie eine lähmende Angst, die sehr entmutigend wirkt... Ein derartiges Hindernis kann man nur dadurch überwinden, dass man eine klare und gut begründete Vorstellung von einer relationalen Philosophie erwirbt, und aus ihr eine feste Überzeugung schöpft, die sich von der unglaublichen, „schwammigen und starren Trägheit“ der allgemeinen Denkweise nicht überrollen lässt. Hier ist eine „Überzeugung“ nötig — bitte beachten Sie, dass ich nicht das Wort „Glaube“ gebrauche, obwohl es oft in diesem Sinn gebraucht wird..., aber an dieser Stelle eine Verwirrung in unsere Diskussion bringen würde — also eine Überzeugung, die fähig ist, die Berge an Schwammigkeit, Lauheit, Teilnahmslosigkeit und intellektueller Verkrustung abzubauen... Tatsächlich ist die intellektuelle und psychologische Voreingenommenheit der substantialistischen und auf ungeteilte Einheit fixierten Philosophien beträchtlich. Sie durchzieht in der zweifachen Gestalt des Individualismus und Kollektivismus und allen dazwischen angesiedelten Spielarten der „Kommunitarismen“ all unsere Kulturen. Bei all diesen Tatbeständen ist es das — metaphysisch falsche, aber psychologisch vorherrschende — Ideal von der ungeteilten Einheit, das entweder auf individuelle Personen angewendet wird, so dass sie dann ohne irgendeine wirklich tiefere Beziehung nebeneinandergestellt werden, oder auf Gruppen, die als starre Einheiten betrachtet werden, in denen die Personen nicht mehr über eine wirklich autonome Existenz verfügen. Diese beiden Auffassungen verhalten sich zueinander als logische Gegenteile und befinden sich in dauernder praktischer Auseinandersetzung — manchmal sogar kriegerischer Art —, und das sowohl in bürgerlichen als auch in religiösen Gesellschaften. Formal gesagt können sie nicht beide gleichzeitig wahr sein, aber sie können beide falsch sein. Und konkret gesagt sind sie beide falsch. 242 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Dagegen schließt die relationale Philosophie beide logisch aus. Zwei einander entgegengesetzten Fehlern gegenüber erweist sie sich also als der wahre Standpunkt. Sie ist weder individualistisch, noch kollektivistisch. Auf der theoretischen Ebene gewährleistet sie die Autonomie einer jeden Person und den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Sie tut das nicht, indem sie ein umgekehrt proportionales Verhältnis zwischen der individuellen Autonomie und dem sozialen Zusammenhalt ins Gleichgewicht bringt, sondern indem sie zeigt, dass es, wenn es mehr wahrhaftige persönliche — natürlich relationale — Freiheit gibt, es auch mehr Gemeinschaft gibt, und umgekehrt, wenn es mehr — selbstverständlich relational strukturierte — Einheit in der Gemeinschaft der Personen gibt, es auch mehr persönliche Autonomie und Eigenständigkeit gibt. Anders gesagt: Zwischen der individuellen Wirklichkeit der Personen und der Wirklichkeit der Gemeinschaft der Personen besteht ein direkt proportionales Verhältnis. Dies verhält sich so, weil die ontologische Einheit der Personen untereinander von glaubenschaftlicher Natur ist. Umgekehrt ist die glaubenschaftliche Beziehung eine Beziehung der seinsgebenden Seinsmitteilung. Daraus folgt, dass im Bereich des täglichen Lebens diejenige Gesellschaft gut aufgebaut ist, die auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut. Wer könnte eine solch offensichtliche Beobachtung des gesunden Menschenverstandes bestreiten... DER SOZIOLOGE Man kann diese offensichtliche Tatsache dann nicht abstreiten, wenn man sie als ein Ideal betrachtet..., aber in der Wirklichkeit, die der Soziologe beobachtet, ist man davon sehr weit entfernt... sehr, sehr weit... Indem ich Ihnen zuhörte, hatte ich den Eindruck, dass sie von der Welt, in der wir leben, abgehoben haben... Aber ich stelle fest, dass sie zu ihr zurückkehren... Das ist gut für mich... Ich kann Ihnen wenigstens ins Bewusstsein rufen, wie weit das, was wirklich existiert, von dem entfernt ist, was sie zu bewirken träumen... DER ERSTE PHILOSOPH Machen Sie sich um uns keine Sorgen, mein Herr... Alle Philosophen, sowohl die klassischen als auch die anderen, sind sich dieser Kluft zwischen dem, was grundsätzlich in sich ist DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 243 und sein soll, und dem, was konkret getan wird und die beobachtbare Wirklichkeit darstellt, bewusst. Diese Kluft ist unvermeidlich. Sie ergibt sich aus unserer Natur als endliche und begrenzte Seiende, die sich in Zeit und Raum in Entwicklung befinden... Die Bemühungen, diese Kluft zu überwinden, verleihen der Geschichte ihre Gestalt, mit ihren Fortschritten und Rückschlägen. Und noch dazu ist ihr Verlauf nicht harmonisch und kann es auch nicht sein. Auch ein harmonischer Verlauf, in dem die Kluft schrittweise überwunden wird, ist ein „Ideal“. Es wird nicht verwirklicht, denn unsere Freiheit ist eine unvollkommene Freiheit, sie ist fähig, Böses zu tun. Die Geschichte ist daher der Ort, wo das Böse zwangsläufig Wirklichkeit wird... Natürlich nicht nur das Böse! Ganz gewiss findet auch das Gute in ihr seinen Platz, aber zwangsläufig auch das Böse... das man bekämpfen muss. Das Nachdenken über Gut und Böse steht im Zentrum des Bewusstseins eines jeden Menschen. Übrigens ist es genau dieses moralische Bewusstsein in Ihnen, das Sie zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit, die sie als Soziologe beobachten, eine Kluft erkennen lässt. Das Ideal muss ein Ideal bleiben, und die beobachtete Wirklichkeit muss eine beobachtete Gegebenheit bleiben. Das eine kann nicht zum anderen werden. Das häufige Auftreten einer unwürdigen Verhaltensweise macht diese noch nicht moralisch gut. Die beobachtete Wirklichkeit kann nicht als Ideal angenommen werden, sonst kommt es zu einer Katastrophe... und das Ideal als solches darf nicht für eine verwirklichte Wirklichkeit gehalten werden. Es bleibt immer noch zu verwirklichen. Ansonsten wären wir einer Täuschung anheimgefallen. Aber darin, dass man sich ein Ideal gibt, liegt keine Täuschung. So wird man auch nicht von Enttäuschung überrascht, wenn sich das Ideal nicht vollständig verwirklichen lässt... Ein verwirklichtes Ideal lässt ein neues Ideal entstehen, welches das erste Ideal übertrifft. Dies ist wie eine Art Fortschritt unserer Fähigkeit, Ideale auszudenken. DER PSYCHOANALYTIKER Wie Sie sicherlich wissen, sind Psychosen der Schwund oder sogar Verlust der Persönlichkeit, bedingt durch schwere organische Unausgeglichenheit oder Missbildungen der Zellen oder Moleküle unseres Hormon- und Nervensystems. Neurosen hingegen sind Störungen der Persönlichkeit in den 244 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN verschiedenen Beziehungen zu anderen Personen. So, wie der Soziologe die gesellschaftlichen Gegebenheiten beobachtet, beobachtet der Psychoanalytiker die psychischen Gegebenheiten. Aber er hat zusätzlich eine heilende Funktion, wohingegen die Soziologie genau dies an die Politiker und Vertreter der Wirtschaft weiterleitet. Psychosen sind Abormalitäten des Körpers, die eine normale psychische Gegenwart des Subjekts in der Welt und anderen Personen gegenüber verhindern. Die Person ist von ihrem Körper im Stich gelassen, wie ein Behinderter oder Verstümmelter. Im Fall von Neurosen hingegen sind unsere inneren und äußeren Verhaltensweisen gestört und beeinträchtigt. Neurosen können durch Psychotherapie geheilt werden, Psychosen nicht. Die psychoanalytische Behandlung ist bei Letzteren gänzlich wirkungslos. Nehmen wir also die Existenz eines Glaubenstriebs und eines Triebs der Anhänglichkeit an Andere an. Ich gehe auch davon aus, dass die Psychoanalytiker diesen auf der Ebene des Unbewussten deuten würden, sei es aus einem eher individualistischen Blickwinkel, wie Freud dies getan hat, oder aus einem eher kollektivistischen Blickwinkel, wie Jung es vorschlägt, der ja ganz ausdrücklich von einem kollektiven Unbewussten spricht. Diese psychoanalytischen Deutungen sind daher auch, und zwar ohne sich dessen bewusst zu sein, von einem gesellschaftlich vorherrschenden kulturellen Unbewussten abhängig. Das ist es, was mir aufgegangen ist, während ich Ihren Überlegungen folgte und sie auf die Situation der Psychoanalyse anwendete. Wenn psychische Beziehungen die verschiedenen Facetten einer glaubenschaftlichen Beziehung sind, die mindestens zwei personalisierte Pole hat — auch ich greife diesen Begriff auf, obwohl er nie zu meiner Fachsprache gehört hat — also einer Beziehung, die gleichzeitig eine Offenbarungs- und Glaubensbeziehung ist, eine Beziehung der Enthüllung und der Empfänglichkeit, des Anbietens und der Antwort, der schweigend oder ausdrücklich eingegangenen gegenseitigen Verpflichtungen, dann schließe ich daraus, dass die Störungen dieser mehrpoligen Beziehung niemals einzig von der individuellen Subjektivität des Patienten bedingt sind. Sie hängen von der einen oder anderen Rolle, die er in diesen DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 245 Beziehungen spielt, ab. Ich werde über die Folgerungen, die ich aus dieser Feststellung ziehen muss, noch nachdenken... DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Erlauben Sie mir, dass ich kurz etwas anmerke, was ich Ihnen verdanke, also der Überlegung, die Sie gerade angestellt haben. DER PSYCHOANALYTIKER Ah! DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Ja. Ich nehme die Art Ihres Gedankengangs wieder auf,... nur die Art, nicht seinen Inhalt. Und ich ersetze das Wort „Persönlichkeitsstörung“ durch den Begriff „moralischer Fehler oder Sünde“. Ich spreche also von etwas ganz anderem. Und eine Persönlichkeitsstörung sollte auf keinen Fall mit einem moralischen Fehler verglichen werden, noch umgekehrt. Wenn es also keine in ihrer eigenen Natur solitäre Person gibt, und wenn die glaubenschaftliche Beziehung eine ontologische Beziehung der seinsgebenden Seinsmitteilung ist, und wenn die menschliche Freiheit sich wesentlich in dieser Beziehung verwirklicht, dabei aber unvollkommen und endlich ist, selbst in einer derartigen Beziehung, dann muss man daraus schließen, dass die Möglichkeit des Bösen und der Sünde genau im Bereich der ontologisch unvollkommenen freien glaubenschaftlichen Beziehung liegt. Das Wesen des Bösen ist also eine Selbstzerstörung des Menschen in seiner Bedingtheit durch die Offenbarungs- und Glaubensbeziehungen. Und die Möglichkeit eines „Heils“ für den Menschen liegt also auch in diesem Bereich. Damit will ich meine Anmerkung schließen. Und wie Sie, so werde auch ich über all ihre Folgen nachdenken... Ich möchte Ihnen nochmals danken, dass sie mir, ohne es zu wissen, ein Denkmodell bereitgestellt haben, das von der psychologischen Ebene auf den Bereich der Moral und Ethik übertragbar ist. DER DOMHERR Das war ein wahrer Geistesblitz!... Aber vergessen Sie etwa nicht, dass die Sünde ein Ungehorsam gegen Gott ist, wie es das dritte Kapitel des Buches Genesis erzählt? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE 246 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Und was, wenn dieser Ungehorsam nichts weiter gewesen wäre als eine Verfälschung oder eine Perversion der glaubenschaftlichen Beziehung, deren Bestehen zwischen den Menschen von Gott gewollt ist, und zwar mit einem Willen, der im Innersten seines schöpferischen Handelns eingeprägt ist? DER DOMHERR Aber Adam und Eva haben in ihrer gegenseitigen Beziehung keinen Fehler begangen, sondern beide zusammen gegen Gott! DER EXEGET Obwohl dieser Text für seine Zeit äußerst hellsichtig ist, können Sie von ihm nicht verlangen, dass er sich bereits ausdrücklich an einer interpersonalen Erkenntnisvorstellung inspiriert. Trotzdem sollte man den Mangel an Glaubensunterscheidung in der inneren Haltung des ersten Paars nicht unterschätzen... Sie schenken den Worten der Schlange mehr Glauben als denjenigen Gottes... Und wenn wir die Worte der Schlange als eine Veräußerlichung der Gedanken der Beiden verstehen, dann ist es genau die glaubenschaftliche Beziehung, die am Anfang der Menschheit ins Wanken geriet... Und wird diese Schlange in der Tradition nicht als der „Lügner aller Lügner“ angesehen? Und ist die Lüge nicht dem wahren Offenbarungswort entgegengesetzt? Und missbraucht das lügnerische Wort nicht den spontanen Glauben an den Anderen? DER DOMHERR Genau... Die Glaubenschaftlichkeit kann uns tatsächlich in vielen Bereichen neue Ansätze für das Verstehen liefern. Daher wäre es interessant, die philosophische Untersuchung all ihrer Folgen wieder aufzunehmen. Philosophia ancilla theologiae! Vielleicht muss heute eine neue Magd angestellt werden... und der aristotelischen Magd zugunsten einer zeitgemäßeren Magd gekündigt werden... DER ERSTE PHILOSOPH Ohne jedoch die guten und treuen Dienste, die sie uns erwiesen hat, zu vergessen... wie man zu sagen pflegt... DER ANDERE PHILOSOPH Nein, sie muss nicht entlassen werden... Sie hat der Theologie große Dienste erwiesen, und sie kann das weiterhin tun, aber DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 247 man sollte nicht von ihr verlangen, dass sie Aufgaben übernimmt, denen sie nicht gewachsen ist. Aber folgen wir ihr, wo... DER DOMHERR In welchen anderen Bereichen kann das Prinzip einer Relationalität Ihrer Meinung nach unsere Sichtweise verändern? DER ANDERE PHILOSOPH Zunächst sollten wir von der klassischen Philosophie die Sorge um Genauigkeit beibehalten, und folgen wir ihr darin, wenn es darum geht, gemäß einer sehr genauen Methode richtig zu denken. Diese ist vom „Kenne-dich-Selbst“ des Sokrates und Platon an schrittweise ausgearbeitet worden. Von Aristoteles wurde sie bis auf die Höhe des Seins als solchem erhoben. Und aus der Begegnung dieses Sich-seiner-selbst-Bewusstwerdens auf der allgemeinen und universalen Ebene des Seins als solchem ergab sich die „Reflexion“ im thomistischen Sinn des Begriffs, und auch das kartesianische „Cogito“. Eine weitere Verfeinerung erfuhr die Methode durch die Bemühung, die in dieser primären und unbestreitbaren Erfahrung enthaltenen Wahrheiten zu explizieren. Nach Leibnitz fand sie so ihre endgültige Gestalt in den Werken Kants. Es geht also darum, die „apriorischen Bedingungen der Möglichkeit jeglicher Tätigkeit als solcher zu suchen“. Die Anwendung dieser Methode ist in begrenzten und gut abgegrenzten Bereichen der menschlichen Tätigkeit möglich. Sie kann auch auf der Ebene angewendet werden, die all das einschließt, also auf der Ebene, wo die Universalität des Denkens jenseits aller Grenzen ausgeübt werden kann, also auf der Ebene der transzendentalen Allgemeinheit, nämlich des Seins als solchem: nicht des abstrakten Seinsbegriffs — dies wäre eine Sackgasse, in der man zu Gefangenen der klassischen Unzulänglichkeiten würde — sondern des konkreten Seins, das ich bin. Es handelt sich also um eine „transzendentale reflexive Analyse der Bewusstseins- und Freiheitstätigkeit, insofern sie unsere persönliche, universale Erfahrung darstellt, und in sich unwiderlegbar ist, da sie mit unserer eigenen Wirklichkeit identisch ist“. Wer die Wahrheiten, die uns dieses reflexive Vorgehen zeigt, leugnet, der leugnet unsere eigene Existenz. Und das kann nicht sein. Ja, jeglicher Versuch der Verneinung würde diese Wahrheiten sogar erneut vollumfänglich 248 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN heranziehen, um unseren Aussageakt zu untermauern, durch den wir törichterweise versuchen, sie zu verneinen. DER ERSTE PHILOSOPH Und von der Anwendung dieser Methode versprechen Sie sich, Wahrheiten sichtbar zu machen, die die klassischen Philosophen angeblich nicht gesehen haben, oder zumindest falsch eingeschätzt haben, aufgrund der Mangelhaftigkeit ihrer Methode! DIE NOTWENDIGKEIT DES DASEINS DES ANDEREN UND DIE GLAUBENSCHAFTLICHE ERKENNTNIS DER ANDERE PHILOSOPH Ganz genau! Man kann konstitutive Apriorien aufzeigen, die die notwendige Existenz des Anderen implizieren. Denn genau darin liegt die letzte Bedingung der Möglichkeit der Glaubenschaft. DER DOMHERR Und das haben sie getan? Haben Sie dafür auch den Beweis erbracht? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Ich persönlich habe sein grundlegendes Werk gelesen. Darin nimmt er die These seiner Dissertation über die Relationalität des Seins wieder auf. Meiner Ansicht nach ist diese These gültig. Um das abschätzen zu können, muss man den ganzen Weg persönlich nachvollziehen. Er ist steil, natürlich, aber zu einer derartigen Wahrheit kann man sich nicht ohne Mühe aufschwingen. DER ANDERE PHILOSOPH Es geht darum, nicht nur die tatsächliche Existenz des Anderen anzuerkennen — die ja niemand leugnet —, sondern reflexiv, in der eigenen persönlichen Wirklichkeit, die Spuren seiner ihm zustehenden Existenz wahrzunehmen, wenn ich das so sagen kann, und zwar besonders durch die Analyse der Intentionalität des Bewusstseins und seiner Universalisierungsfähigkeit. Es handelt sich um die Eigenschaften der individuellen bewussten Tätigkeit, die die Existenz des Anderen selbst in DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 249 seiner „methodologischen“ Abwesenheit aussagen, oder vielmehr dank dieser Abwesenheit besonderer Art. Denn tatsächlich kann ich die individuelle Wirklichkeit des Bewusstseins eines Anderen nicht „reflexiv“ analysieren. Das ist ganz und gar unmöglich. Und das ist gut so. Eine derartige Möglichkeit würde bedeuten, dass man die Wirklichkeit der Unterscheidung zwischen ihm und mir leugnet, um ihn mit mir gleichzusetzen und daher seine Existenz in Abrede zu stellen. Das wäre widersinnig. Man würde dadurch aber auch jegliche Möglichkeit einer glaubenschaftlichen Offenbarungs- und Glaubensbeziehung ausschließen. Logisch gesehen gibt es in einer intellektuellen Sichtweise der Verschmelzung zwischen mir und dem Anderen, wie diese vom klassischen Ideal der ungeteilten Einheit gefordert wird, keine Möglichkeit der Offenbarung und des Glaubens. Wenn dieses Ideal als einziges Vollkommenheitsideal angenommen wird, widersetzt es sich jeglicher relationalen Gemeinschaftseinheit. Daher kommt es übrigens, dass die klassische Einheitsphilosophie der glaubenschaftlichen Erkenntnis keinen Platz einräumen kann, wie wir auch in der Philosophiegeschichte sehen können. Es handelt sich um Anzeichen im individuellen Bewusstsein, für die eigenständige Existenz des Anderen, nicht kraft einer im individuellen menschlichen Subjekt vorhandenen Unvollkommenheit, sondern aufgrund seiner Seinsvollkommenheit. DER PHYSIKPROFESSOR Wie soll man denn die Gegenwart eines Dings in seiner Abwesenheit feststellen können? Das scheint mir unstimmig zu sein… DER ANDERE PHILOSOPH Ich weiß… Es handelt sich hier um eine reflexive Offensichtlichkeit, die man sich in keiner objektiven Form vergegenwärtigen kann. Ich weiß keinen guten Vergleich, um eine derartige Offensichtlichkeit besser verständlich zu machen. Wie sollte man die Tatsache in Bilder fassen, dass, je mehr Einheit zwischen dem jeweiligen Bewusstsein zweier Menschen besteht, es auch umso mehr Unterscheidung des einen vom anderen gibt, und dass die Kenntnis, die der eine vom anderen besitzt, die Unterscheidung des einen vom anderen bestärkt? Genauso verhält es sich mit der Liebe. Je mehr Gemeinschaft es 250 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN in der Liebe gibt, umso mehr Unterscheidung gibt es zwischen den Personen, die sich lieben. Die Liebe, die zur Verschmelzung führt, ist die Verneinung der wahrhaftigen Liebe. Gelegentlich habe ich einen Vergleich mit zwei Elektromagneten erwogen. Je höher die Zahl ihrer Windungen ist, und daher ihre Größe und verschiedene Lage im Raum, umso höher ist ihre gegenseitige Anziehungskraft… Aber dies ist ein schlechter Vergleich. Er zieht keine wirkliche Parallele zur reflexiven Offensichtlichkeit. Auf der Ebene des objektiven und empirischen Denkens sind die Begriffe „Einheit“ und „Unterschied“ eher antithetisch, so dass dort, wo eher Einheit herrscht, weniger Unterschied ist, und dort, wo vor allem ein Unterschied besteht, weniger Einheit vorhanden ist. Und auch die Sprache der Psychologie erklärt die reflexive Offensichtlichkeit keineswegs besser, denn sie schöpft ihre Vergleiche aus dem greifbaren Bereich der Dinge. Mit psychologischen Begriffen gesagt, also in einer objektivierten und beschreibenden Sprache, müsste man sagen… — Sie werden sehen, wie kompliziert, schwerfällig und ungeschickt das tönt, wo die reflexive Intuition doch einfach und dynamisch ist — dass es nicht möglich ist, sich selbst als ein „Ich“ zu denken, ohne darin mitzudenken, dass dieses „Ich“, das ich bin, von einem „Du“, das ich nicht bin, und das auch ein „Ich“ ist, gezeichnet ist, und dass dieses „Ich“ genauso von einem „Du“ gezeichnet ist, das es nicht selber ist, und das auch ich nicht bin. Ohne das Zeichen dieses von einem „Du“, das ich nicht bin, gezeichneten „Du“, wäre ich nicht das „Ich“, das ich bin. Diese Erklärung wird mit Schmunzeln und verhaltenen Lachen aufgenommen… Ich habe meine Vorkehrungen getroffen… und bin Euch zuvorgekommen… Es ist nicht möglich, nicht zu lachen über eine objektivierte Sprache, die versucht, eine reflexive Wahrheit auszudrücken… Ihr Lachen bestärkt mich in der Überzeugung, mit der ich die Erkenntnismethoden gut auseinanderhalte… Je stärker also das Zeichen des vom „Ich“ verschiedenen „Du“ im „Ich“ ist, um so mehr ist das „Ich“ es selber. Und das ist noch nicht alles… Nun muss man noch mit einbeziehen, dass dieses Zeichen des „Du“ im „Ich“ dynamisch ist. Es ist das Wollen, dass der Andere sei und dass er sich selbst sei als Wollen eines Anderen, von ihm wiederum verschiedenen, und auch von mir verschiedenen. Daraus ergibt sich für uns eine DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 251 dreigliedrige Struktur der Beziehung der seinsgebenden Seinsmitteilung. So stoßen wir hier wieder auf den Aufbau der Familie, wie sie uns der Autor des zweiten Kapitels des Buches Genesis mit viel Dichtkunst vor Augen gestellt hat, indem er uns zusätzlich darüber ins Bild setzt, dass sie Werk Gottes als sein Abbild ist… Ein erstaunliches und außergewöhnliches Eintauchen in die Tiefen der authentischen menschlichen Erfahrung… Nicht wahr? Aber die philosophische Methode ist um Einiges langsamer. Sie hält die einzelnen Schritte ihres Voranschreitens klar auseinander. Bis jetzt haben wir nur das erkundet, was gewissermaßen ihren Ausgangspunkt darstellt. Wie Aristoteles, so sollten jetzt auch wir an den letzten Grund aller Dinge, nämlich an Gott, denken. Aber das Bild, das sich die Philosophen von Gott machen, ist ein Abbild ihres Ausgangspunkts. Dafür wird das Gottesbild den angenommenen Ausgangspunkt bestärken. Es wird je nach seiner Genauigkeit oder Falschheit alle anderen Fragen der menschlichen Existenz erhellen oder verschleiern… DER DOMHERR Welches Gottesbild entspricht also Ihrem Ausgangspunkt? WENN DIE EXISTENZ DES ANDEREN NOTWENDIG IST, KANN GOTT NICHT ALS EIN WESEN GEDACHT WERDEN, DAS ALLEIN IST. DER ANDERE PHILOSOPH Da mein Ausgangspunkt darin besteht, das persönliche Subjekt in Beziehung der Seinsmitteilung zu denken, die bewusst und frei ist, und sich anderen, ähnlichen Subjekten gegenüber vollzieht, kann ich Gott nur als pluripersonales Wesen denken. Und das aus zwei Gründen. Erstens wegen der Parallele zur interpersonalen Wirklichkeit des Menschen, und zweitens aufgrund des Schöpfungsaktes selbst. Das göttliche Absolute, das der „urbildhafte“ Ursprung unseres kommunikativen und relationalen Seins ist, muss in der Tat in sich selbst als ein Absolutum der „seinsgebenden Seinsmitteilung“ gedacht werden, einer vollkommenen Mitteilung in Fülle, die jenseits aller Unvollkommenheit steht, jenseits aller Ausweitung seiner Relationalität in die Vielfachheit, wie sie bei der Menschheit von Generation zu 252 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Generation der Fall ist, und jenseits von allem Vergehen der Zeit. Die Anerkennung Gottes als Schöpfer, als fähig, das Sein so weiterzugeben, dass seine Schöpfung als von ihm verschieden existiert, setzt voraus, dass dieses Vermögen, ins Sein zu rufen, in Gott vollkommen ist. Diese Schöpfungskraft, die in Gott ist, kann nicht nur eine einfache Möglichkeit sein, denn Gott ist reine Tätigkeit. Außerdem kann die Ausübung dieser Kraft nicht von der Schöpfung abhängen, das heißt, es kann nicht sein, dass sie sich, um seinsgebend zu sein, endlichen Seienden gegenüber zur Ausübung bringen muss. Daher muss diese Kraft, ins Sein zu rufen, die wir denken, wenn wir Gott als Schöpfer denken, in Gott selbst vollkommen zur Ausübung kommen, und „Gott“ muss die in Akt befindliche Vollkommenheit dieser Seinsmitteilungskraft sein. Aristoteles hatte bereits verstanden, dass es in Gott keinen Raum gibt für irgendeine „Potentialität“ und für einen in seinem Sein selbst stattfindenden Übergang zu einer größeren Vollkommenheit. Er sagte, dass Gott „reiner Akt“ ist, „reine Energie“. Dieser Ausdruck wurde zu Recht von den christlichen Theologen übernommen. Die Unzulänglichkeit des Standpunktes des Aristoteles liegt darin, dass er diese „Tätigkeit“ als „individuelle Einsamkeit“ dachte. Wenn ich als Philosoph „Gott“ denke, dann denke ich: „Diese transzendente Wirklichkeit, die in absoluter Vollkommenheit als interpersonale Seinsmitteilung zwischen Mehreren existiert“. Er ist der „Eine, der Andere und der Dritte in Beziehung“. Zu meinen, dass ein in der totalen Einsamkeit der Einzigkeit in seiner Natur existierendes Seiendes andere Seiende ins Sein rufen könnte, ist ein ontologischer Widerspruch, eine ontologische Unmöglichkeit. Ein derartiges menschliches Denken ist nichts weiter als ein psychischer Anthropomorphismus, in dem der Widerspruch nicht mehr wahrnehmbar ist, und durch den wir Gott die Befähigung eines menschlichen Individuums zur empirischen Herstellung von materiellen Gegenständen in unendlicher, eingebildeter Steigerung zuschreiben. DER DOMHERR So, wie Sie die klassische Philosophie in der Erforschung unserer anfänglichen Seinserfahrung zu vervollständigen DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 253 meinen, so meinen Sie auch, das Gottesbild Schlussfolgerung vervollständigen zu können. ihrer DER ANDERE PHILOSOPH Ja, so kann man das sagen! DER DOMHERR Und denken Sie, weil Sie eine Art „Übergang“ von einem unitären und unizitären Denken zu einem relationalen Denken annehmen, auch, dass es eine Art Übergang von der Vorstellung von einem solitären Gott, wie jenem des Aristoteles, zu einem als Personengemeinschaft gedachten Gott gibt? DER ANDERE PHILOSOPH Ganz gewiss. Zunächst denke ich, dass die Vorstellung von Gott oder einer göttlichen Transzendenz immer „monotheistischer“ Art war. Der Polytheismus ist in der Tat nichts anderes als ein „hierarchisch gegliederter Monotheismus“. Die dazwischengeschalteten Gottheiten tun nichts weiter, als die „Erhabenheit“ und Höhe des „Letzten“ zu unterstreichen, der auch der „Erste“ ist. Sie sind der „Hofstaat“ des „Höchsten“, das Heer des „Herrschers über Himmel und Erde“. Da diese Gottheiten den Menschen näherstehen, wurden sie auch hingebungsvoller in vielfältigen Kulten verehrt. Die Religionsgeschichte zeigt uns das zu Genüge. Wegen der — relativen — Geschlossenheit der sozialen Gemeinschaften und dem begrenzten Horizont der kollektiven Denkweise dieser Gruppen bewegte sich diese Transzendenz zwangsläufig innerhalb des Rahmens des Weltbilds ihrer Kultur. Es war ein „nationaler, hierarchisch gegliederter Monotheismus“. Der „polytheistische Hofstaat“ spiegelte die Gesellschaft wieder, und diese Wiederspiegelung war wiederum ein kulturelles Element der Gesellschaft. Der Übergang zu einem klareren Monotheismus vollzog sich nicht etwa durch einen Fortschritt in der Vorstellung von dem, was dieser „Höchste“, dieser „Allmächtige“ in sich selbst sein könnte, sondern durch eine veränderte oder deutlichere Vorstellung vom Seinsstatus seines „polytheistischen Hofstaats“. Hatte dieses Heer von Gottheiten „göttliches Blut“ in den Adern? Wenn man das gedacht hatte, so hat man nach und nach umgedacht. Diese Gottheiten waren nicht von derselben Natur wie der All-Mächtige. Und wenn sich die Frage 254 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN erst jetzt stellte, beantwortete man sie verneinend. Von da an wurden alle Mittlerwesen zwischen dem Höchsten und den Menschen als „Werke“ des All-Mächtigen betrachtet. Sie hatten nicht „sein Blut in den Adern“, waren nicht von seiner Natur. Sie gehörten „zu seinen Werken“ und nicht „zu seiner Familie“. Er, der „Höchste“, war „ohne Familie“. Das Gottesbild war „entsexualisiert“, aber keineswegs „entobjektiviert“. Es war so etwas wie die Vorstellung von einem „Superobjekt“. Da diese Entwicklung in nationalen Gemeinschaften stattfand, wirkte sich die „Abstufung“ zwischen dem „Höchsten“ und seinem in seiner ontologischen Würde „zurückgestuften“ Hofstaat in Rivalitäten mit den benachbarten Gemeinschaften aus. Jede Gruppe sagte: „Unser Gott“ — so oder so benannt — ist der wahre All-Mächtige. Den beten wir an. Ihr, unsere Feinde, seid lediglich die Diener seiner „Werke“. Ihr vertauscht seine eigenen Werke mit dem „Höchsten“, wenn es nicht ganz einfach eure eigenen Werke sind, die „Bilder“, die ihr euch von ihm macht. Daher irrt ihr euch. Es sind falsche Götter. Wir werden über euch siegen, weil wir uns auf die Seite des AllMächtigen schlagen. Ihr werdet besiegt werden, weil ihr nicht zu ihm haltet.“ In ihrem Anfang ist die monotheistische Vorstellung also an den Willen eines Volkes zur Macht über ein anderes Volk gebunden, an den Willen, zu unterwerfen, oder zumindest unabhängig zu sein. In dieser Situation wurde der politischreligiöse Wille des nationalen Monotheismus durch die logische „Tyrannei“ der Idee einer „alles andere ausschließenden“, unizitären Einheit bestärkt. DER DOMHERR Aber das Verschwinden des Polytheismus, oder, wie Sie sagen, des „hierarchisch gegliederten Monotheismus“ müsste doch einen Einfluss haben auf die Art und Weise, wie man sich Gott vorstellt! DER ANDERE PHILOSOPH Um sich eine Struktur zu geben, griff der „hierarchisch gegliederte und polytheistische Monotheismus“ häufig auf Familien- und Generationenbeziehungen zurück, und zwar sowohl auf wirklich existierende als auch auf rein imaginäre. Der Übergang zu einem klareren Monotheismus verlangte daher deren völlige Aufgabe. Und welche Art von Beziehungen blieb DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 255 dann übrig, um die Beziehung des All-Mächtigen zu den Menschen symbolisch zum Ausdruck zu bringen? Die Frage stelle ich an Sie. Was meinen Sie? ... DER PSYCHOANALYTIKER Da bleiben noch die Beziehungen zu Objekten... DER ANDERE PHILOSOPH Ja, es bleibt wirklich keine andere übrig... Oder aber man müsste mit einer philosophischen Symbolsprache operieren... Was noch weitaus schwieriger ist... eine Anstrengung, an die die Religionen nicht gewöhnt sind... Der erste Schritt dieser Entwicklung hin zum Monotheismus bestand in der Behauptung der Existenz eines Demiurgen, der die ungeordnete Materie ordnet. Das ist die so weit wie möglich überhöhte Stellung des menschlichen Handwerkers. Der zweite Schritt besteht darin, in Betracht zu ziehen, dass Gott nicht ein ihm „objektiv“ gegebenes Substrat braucht, um irgendetwas zu machen. Beim „Erschaffen“ ist er von allen äußeren Dingen unabhängig. Er erschafft ex nihilo. Aber im Vergleich zur Vorstellung vom Demiurgen hat sich unsere „Vorstellung“ vom „handelnden göttlichen Subjekt“ um nichts verändert. Auch dieses ist ein „Individuum“, ein Seiendes, das in seiner „ungeteilten Einheit“ gedacht wird, einzig und „ohne seinesgleichen“, „ohne Gefährten“. Man stellt es sich also anhand eines „objektiven und empirischen“ Begriffs vor, als das „Erste in einer Reihe, aber ohne nachfolgendes Glied“. Wenn wir so sprechen, dann tun wir das, ohne uns die Frage zu stellen nach der ontologischen Vereinbarkeit seiner — gedachten — Stellung als allein-seiendes Subjekt mit der „Fähigkeit, etwas ins Sein zu rufen, ohne dazu irgendetwas zu brauchen“, die wir ihm ja zugestehen. Die Fähigkeit, zu erschaffen, ist ja rational ganz sicher schon mit dem „ex nihilo“ eingestanden. Aber diese Fähigkeit Gottes wird noch nicht als „wesentlich“ zu seinem Sein gehörend gedacht. Sie ist nicht in unser Denken über das Sein Gottes eingefügt. Sie wird lediglich festgestellt; in Abwesenheit der Dinge „zwischen den Zeilen gelesen“: „ex nihilo“. Ein Mensch, der sich als „Töpfer“ betätigt, hat in sich selbst nichts, was der Gestalt eines „Topfes“ gleichen würde. Zwischen ihm und dem Topf gibt es keinerlei „persönliche“ Beziehung. Mit der familiären Beziehung zwischen „Vater“ und 256 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN „Sohn“ verhält es sich anders. Auf Letztere werde ich später noch zurückkommen. Und in Klammern gesagt: Im muslimischen Denken fehlt sie übrigens immer noch. Im Koran wird Gott nie „Vater“ genannt. Im Mensch, der „Vater“ ist, gibt es etwas, was dem „Sohn“ entspricht. Letzterer ist nicht „ein Werk seiner Hände“, aber sein „Blut“. Zwischen beiden besteht eine Identität der Natur, die mit der Unterscheidung der Personen vereinbar ist. Das Bild vom Töpfer lässt sich mit der Vorstellung von der personellen Einzigkeit des Handwerkers vereinen, selbst wenn der Handwerker mehrere Lehrlinge hätte. Aber das Bild vom Vater in seinem väterlichen Werk lässt sich nicht mit der Vorstellung von seiner personalen Unizität vereinen. Wie auch immer die künstlerische Vollendung sein möge, für die man den Töpfer lobt: Sie ändert nichts an der Menschheit des Töpfers. Dagegen vollendet der Sohn die Menschheit des Vaters. Ein Vater kann nicht allein existieren. Der Töpfergott ist der große Alleinstehende der Welten. DER DOMHERR Warum kann die Vorstellung von Einzigkeit, wenn sie sich mit dem Bild vom Töpfer vereinbaren lässt, nicht auch auf Gott angewandt werden? Es gibt nur einen Gott. Gott ist einzigartig. Der Grund dafür ist, dass es nicht mehrere unendliche Seiende geben kann. DER ANDERE PHILOSOPH Ein allein-seiendes, vollkommenes Unendliches. Das heißt aber nicht, ein individuelles Unendliches. Es gibt nur einen Gott. Ganz gewiss. Aber Gott ist nicht allein. Gott ist einzigartig. Ganz gewiss. Aber Gott ist nicht solitär. DER DOMHERR Das sind Wortspielereien... DER ANDERE PHILOSOPH Das ist nicht meine Art, Herr Kanonikus!... Vielmehr sind Sie es, die verschiedene Bedeutungen ein und desselben Wortes verwechseln, je nach dem, ob das Wort „einzigartig“ für das Sein Gottes in sich selbst, oder für Gott in seiner Beziehung zu den Menschen und der Welt gebraucht wird. DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 257 Aber zunächst wollen wir fragen, was die Vorstellung von Unizität oder Einzigkeit genau bedeutet. Und was ist das eigentliche Anwendungsgebiet dieser Vorstellung? Die Vorstellung der Unizität gehört eigentlich ins mathematische Denken. Sie impliziert die Verneinung eines potentiell Unbestimmten, ohne dadurch eine „transzendentale logische Positivität“ zu gewinnen. Daher kann sie nicht als interne Eigenschaft des „göttlichen Wesens“ angenommen werden. Das wäre wiederum ein Anthropomorphismus. Sie kann von Gott ausschließlich in seiner Beziehung zur Schöpfung ausgesagt werden. Deswegen besteht das dritte Moment unserer Vorstellung von einem in Beziehung zu uns einzigartigen Gott darin, ihn so, wie wir es tun, als die in mehreren Personen verwirklichte Vollkommenheit dieses „Vermögens, ins Sein zu rufen“ zu betrachten. Wir haben gesagt, warum. Weil dieses Vermögen, ins Sein zu rufen, das Gott uns durch seine Schöpfung zeigt, also durch unsere Erschaffung und die Erschaffung der Welt, nicht über eine absolute Vollkommenheit verfügt, da ja ihr Endprodukt, nämlich die Welt und die Menschheit, unvollkommen ist. Wenn dieses Vermögen göttlich ist, muss es in Gott selbst vollkommen sein. Und das wiederum impliziert eine seinsgebende Seinsmitteilung zwischen mehreren vollkommenen Personen, die untereinander durch diese Seinsmitteilung vereint sind. Und durch den Schöpfungsakt widerspiegelt sich diese interpersonale göttliche Vollkommenheit in der Seinsmitteilung und Lebensweitergabe zwischen menschlichen Personen. DER THEOLOGIEPROFESSOR Aber um Gott zu sein, hatte Gott es nicht nötig, zu erschaffen. Er hat freiwillig erschaffen. Er konnte es tun oder es auch nicht tun. Weil die Schöpfung hypothetisch ist, kann man nicht aus einer Hypothese auf eine Notwendigkeit in Gott schließen. Wenn Gott nichts erschaffen hätte, könnte man nicht auf eine Seinsmitteilung zwischen mehreren Personen in Gott schließen. DER ANDERE PHILOSOPH Verzeihen Sie, aber mir ist nicht ganz klar, ob Sie damit eine Binsenwahrheit zum Ausdruck bringen, oder ob Sie fragen, ob die Dreieinigkeit in Gott von der „Ökonomie“ abhängig ist, also vom rationalen Durchstrukturieren des Heils der Menschheit, 258 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN und folglich von der Fleischwerdung Gottes: eben von der „ökonomischen“ Trinität, oder ob die ökonomische Trinität mit dem fleischgewordenen Wort von der ontologischen Trinität des göttlichen Wesens abhängig ist. Diese Frage war ein Streitpunkt zwischen zwei großen Theologen: Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar. Und gleichzeitig stellen Sie die Frage nach der Freiheit Gottes. Ich werde versuchen, Ihnen auf alle drei Punkte der Frage zu antworten, im Rahmen meiner Kompetenz. Zunächst will ich die Binsenwahrheit ausklammern. Sie haben gesagt: „Wenn Gott nichts erschaffen hätte, dann könnten wir nicht auf eine interpersonale Gemeinschaft in Gott schließen“. Das ist die Offensichtlichkeit selbst: Wenn keine Schöpfung, dann kein Mensch, und also keine philosophischen Schlussfolgerungen, also... kein Seminar am heutigen Tag... Das ist eine rein formale Offensichtlichkeit, die jeglichen Wirklichkeitswertes entbehrt. Aber vielleicht meinten Sie ja die folgende Frage: „Wenn Gott nichts erschaffen hätte, dann hätte das Zugegensein der Trinität in der Geschichte des Heils der Menschheit unter der Gestalt „Gott Vater, Gott Sohn, und Gott Heiliger Geist“ keinen Bestand. Auch das ist eine Binsenwahrheit. Aber die Frage kann neu gestellt werden. Wäre Gott in seiner Abwesenheit von der Schöpfungsgeschichte immer noch dreieinig? Anders gesagt: Ist die Schöpfung der Weg, wie Gott sich als Dreieinigkeit von Personen zur Erfüllung bringt? Braucht Gott eine Welt und eine Menschheit, um in ihr Fleisch anzunehmen und seinen Sohn zu zeugen, wie er das von aller Ewigkeit her vorhersieht, und mit ihm seinen Geist zu übermitteln, und auf diese Weise der „in Dreieinigkeit vollendete Gott“ zu sein? Das wäre also die Frage. Bevor ich darauf zu antworten versuche, werde ich mich fragen, ob sie einen „Sinn“ hat, ob sie als echte Frage tatsächlich möglich ist, ob es sich also nicht um eine rein terminologische Unklarheit handelt. Man könnte der Frage Nachdruck verleihen, indem man ihr jene des Thomas von Aquin anfügt: „Wäre Gott auch dann Fleisch geworden, wenn der Mensch nicht gesündigt hätte?“ Diese Frage des Thomas ist von daher verständlich, dass man in der Theologie oft sagt, dass Gott Fleisch geworden ist, um durch sein Opfer am Kreuz den Menschen vor seiner Sünde und der aus ihr folgenden Verdammnis zu retten. Thomas von Aquin hat sich von einer derartig „opferbasierten“ Inkarnationsvorstellung gelöst. Denn DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 259 tatsächlich antwortet er auf diese Frage — ich zitiere den lateinischen Ausdruck, der in seiner Kürze äußerst viel aussagt — „Ja, Gott wäre Fleisch geworden, selbst ohne die Sünde des Menschen, propter Dei bonitatem communicandam“. Wörtlich könnte man das übersetzen als „aufgrund der ‚mitgeteiltwerden-müssenden’ Gutheit Gottes“. Das Verbaladjektiv „communicandam“ bezeichnet eine Verpflichtung, oder sogar auch eine Notwendigkeit. Die passivische Bedeutung dieses Verbaladjektivs kann kein anderes Handlungssubjekt dieser Mitteilung bezeichnen als Gott selbst. Der passivische grammatikalische Sinn nimmt also pronominalen Charakter an. Man kann daher übersetzen: „aufgrund der Gutheit Gottes, die sich mitteilen muss“, oder „aufgrund dessen, dass Gott, der die Gutheit selbst ist, nicht anders kann, als sich mitzuteilen“. Wenn man trotzdem weiterhin sagt, dass das Ziel der Fleischwerdung das Heil durch das Kreuzesopfer ist, dann muss man auch sagen, dass Gott, um sich als dreieiniger Gott zu vollenden, darauf angewiesen war, dass der Mensch etwas Böses tat. Und hier tut sich ein Abgrund voll Absurditäten auf... Dem berühmten Satz des Augustinus, „glücklich die Schuld Adams, die uns einen derartigen Erlöser gebracht hat“ kann man also nicht zustimmen. Es ist ein Ausruf der Bewunderung angesichts der Inkarnation, der völlig „unangebracht“ ist, sobald man darüber nachdenkt. Aber belassen wir ihn als das, was er ist: die in Worte gefasste Sprachlosigkeit vor dem Kind in der Krippe... Und nun komme ich auf Ihren Einwand zurück. Gehen wir von der Hypothese einer ökonomischen Trinität aus. Wenn Gott, um Dreieinigkeit zu werden, auf die Schöpfung angewiesen ist, dann können Sie nicht mehr sagen, dass er die Wahl hatte, zu erschaffen oder nicht zu erschaffen. Es ist dann eine Notwendigkeit, sogar eine Notwendigkeit, durch die er von einer außerhalb seiner selbst stehenden Wirklichkeit abhängig wird. Anders gesagt: Die Freiheit Gottes wäre nicht mehr eine vollkommene Freiheit. Und dieser Gott wäre dann nicht mehr der Gott, der Gott ist. Daher ist es weitaus vorzuziehen, zu sagen, dass die Dreieinigkeit der Personen in Gott eine Dreieinigkeit ist, die für das göttliche Wesen wesentlich ist: eine ontologische Trinität. Gott wäre nicht Gott, wenn er nicht Dreieinigkeit von Personen wäre. Zu klären bleiben dann wohlverstanden immer noch die 260 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Beziehungen zwischen dieser in ihrer Göttlichkeit betrachteten Dreieinigkeit und dem Werk dieser Dreieinigkeit in der Geschichte und außerhalb der Geschichte, zum Heil der Menschheit, und das alles unter Beobachtung der Tatsache, dass die Menschheit in ihrer geschöpflichen Stellung von der Möglichkeit, das Böse zu tun, betroffen ist. Dazu würde ich sagen, dass... DER MODERATOR In diesem Augenblick, mein Herr, muss diese Frage nicht unbedingt angeschnitten werden. Das Problem des Bösen ist zu vielseitig. Klammern wir es für den Augenblick aus. Sie wissen, dass dieses Vorgehen eine methodologische Notwendigkeit ist. Man kann die Krankheit eines Organs nur dann erforschen, wenn man vorher seinen guten Gesundheitszustand kennt... DER ANDERE PHILOSOPH Genau... Jedoch würde ich gerne ein paar Bemerkungen einstreuen zu der Freiheit, die mein Gesprächspartner Gott zugesteht. Die Vollkommenheit der Freiheit besteht nicht darin, dass man wählen kann. Diese Möglichkeit ist vielmehr die Gestalt einer unvollkommenen Freiheit, nämlich jener des Menschen. Aber für den Menschen selbst ist sie an seine Unvollkommenheit gebunden, und nicht an seine Vollkommenheit. Denn tatsächlich wird die Mehrdeutigkeit der Wahl überboten von der Freiheit des ethischen Anspruchs, der nicht irgendeiner Wahl anheimgestellt sein kann, und daher ausschließlich im moralischen Fehler „missachtet“ werden kann, eben weil die menschliche Freiheit unvollkommen ist. Daher ist es nicht angebracht, zu sagen, dass Gott „die Wahl hat“, zu erschaffen oder nicht zu erschaffen. Dadurch würde man seine schöpferische Tätigkeit, durch die wir ja gerade erkennen, dass er transzendent ist, von einer Freiheitsform abhängig machen, die ausschließlich dem endlichen Seienden aufgrund seiner Endlichkeit zu eigen ist: von der Wahlfreiheit. Wenn ich wählen muss, dann bin ich von den außerhalb meiner selbst liegenden Wahlmöglichkeiten abhängig. Bei Gott ist das nicht der Fall. Was aber den Menschen anbelangt: Wenn offensichtlich ist, dass seine Freiheit innerhalb des Rahmens von vielfältigen und hierarchisch angeordneten Entscheidungen zur Ausübung gelangt, dann übersteigt die Ausrichtung, die er seiner Entscheidung verleiht, dann die Vielfalt der DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 261 Wahlmöglichkeiten, wenn sie mit ethischem Anspruch die „Treue“ seiner Tat zu seinem Seins konkretisiert. Gott ist in absoluter Weise frei, weil seine Tätigkeit ausschließlich darin besteht, Gott zu sein. Die Freiheit eines Seienden besteht darin, in seiner wesentlichen Beziehungsbedingtheit durch sich selbst sich selbst zu sein. Wenn man sagt, dass Gott dies oder das „wählt“, also sich entscheidet, dies zu tun oder es nicht zu tun, also in diesem Fall zu erschaffen, tut man nichts anderes, als einer neuen Gestalt des psychologischen Anthropomorphismus anheimzufallen, und mit Begriffen, die zu einer ontologischen Unmöglichkeit führen müssen, von Gott zu reden. DER THEOLOGIEPROFESSOR Für den Menschen ist es aber äußerst schwierig, die Freiheit anders zu verstehen als unter der Gestalt einer Wahl. Er spricht also ganz spontan genauso von Gott. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Zweifellos. Aber es ist nötig, dass der Mensch sich dieser Schwierigkeit bewusst wird... dass er aufmerksam ist und seine spontane Sprache korrigiert. Was der Mensch spontan denkt, und was seiner menschlichen Psyche und seinen menschlichen Taten entspricht, ist nicht notwendigerweise ohne Anpassung auf Gott übertragbar... DER DOMHERR Aber die ganze Bibel spricht doch von Entscheidungen Gottes. Muss man also alles verbessern? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE In der Bibel muss nichts berichtigt werden... Was aber ganz sicher korrigiert werden muss, ist die Brille, durch die wir sie lesen und verstehen. Wenn man denkt, dass man alles korrigieren muss, bleibt man immer noch hinter der schlechten Lesebrille, also auf der Ebene einer „objektivierten“ Leseweise, die sich an einer empirischen Denkweise orientiert, egal, ob sie die Bibel nun mit dem Mantel der Geschichtswissenschaft oder jenem der religiösen Dogmatik verdeckt. Die Bibel enthält eine ganze Reihe von Bausteinen, die ganz sicher von vielfältigen Wissenschaften zum Untersuchungsobjekt gemacht werden können. Das ist unbestreitbar. Und diese Untersuchungen 262 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN müssen durchgeführt und in unserer Leseweise berücksichtigt werden. Aber die Bibel ist auch und vor allem ein — vielleicht von vielen bevorzugtes — Zeugnis von der Art und Weise, wie Menschen das schöpferische Handeln Gottes an ihnen wahrnehmen, in Erinnerung bewahren, verstehen und dessen Verständnis verändern und ununterbrochen neu auslegen, wenn sie sich instinktiv und manchmal sogar unbewusst auf die Ebene dieses glaubenden Bewusstseins stellen, dessen Beschaffenheit und Wirkweise wir gerade rational, und vielleicht zum ersten Mal, zu verstehen suchen, wenn ich das so sagen kann. Bei der Entwicklung des biblischen Gedankenguts kommt das menschliche glaubenschaftliche Bewusstsein nach und nach zum Durchbruch. Es entsteht, entwickelt sich, irrt, findet seine richtige Ausrichtung wieder, bleibt stehen, beginnt neu und hört nicht auf, vorwärtstastend Fortschritte zu machen, später auch methodisch, wie auch wir es jetzt gerade zu tun versuchen. Wir schließen uns also dieser fortschreitenden Bewegung des glaubenschaftlichen Bewusstseins an. Wir haben die ganze Zukunft vor uns... Werden wir uns dessen bewusst... Versuchen wir, „wahrhaftig zu glauben“, mit einem klaren Bewusstsein der richtigen Art, zu „glauben“, und der Wahrheit dessen, was wir glauben... nachdem wir die Echtheit des Offenbarers festgestellt haben. DER ERSTE PHILOSOPH Womit gesagt ist, dass die fortschreitend verfeinerte Entwicklung des Glaubensbewusstseins und die Weiterentwicklung der monotheistischen Idee aus derselben Quelle schöpfen...? DER ANDERE PHILOSOPH Ganz genau das ist es, lieber Kollege... DER DOMHERR In welcher Weise entwickelt sich die monotheistische Idee, unter Anbetracht des glaubenschaftlichen Bewusstseins, wie Sie sagen, weiterhin fort? DER ANDERE PHILOSOPH Auch das glaubenschaftliche Bewusstsein und die relationale Seinsauffassung stecken unter einer Decke. Durch das DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 263 Zusammendenken beider waren wir auch gezwungen, die Begriffe „Einheit“ und „Einzigkeit“ mit mehr Genauigkeit zu gebrauchen. Je nach „ontologischem Ort“, an dem sie zum Einsatz gelangen, ändern sie ihre Bedeutung. Nur durch die rationale Vorstellung von der Einzigkeit Gottes in der Einzigkeit einer Seinsmitteilung unter mehreren Personen wird die absolute Transzendenz Gottes konsequent bejaht. Diese Transzendenz, so sagte ich, wurde zunächst durch die zwischen Gott und die Menschheit geschalteten mittleren Gottheiten bejaht, wenn auch auf unangebrachte Weise. Diese Gottheiten bedeuteten einen „Abstand“, indem sie einen Zwischenraum ausfüllten. Und die Engel, die Botschafter zwischen Gott und den Menschen sind, spielen in den monotheistischen Religionen heute noch diese ursprüngliche Rolle. In einer späteren Phase bejaht die Vorstellung von der Erschaffung „ex nihilo“ diese Transzendenz wiederum, und zwar gegenüber der Existenz eines „ersten ungeformten Objekts“, das dazu bestimmt war, vom Demiurgen durchgestaltet zu werden. Diese Vorstellung lässt sich am Beispiel von einem Wort zeigen, das die Wirklichkeit, die es bedeutet, auch bewirkt: „Gott sprach ‚Licht’ und das Licht wurde“. Dieses Wort dreht tatsächlich die Beziehung des Objekts, das sich unseren Sinnen aufdrängt und dann benannt und womöglich noch gebraucht wird, um. Bis zum heutigen Tag, und wahrscheinlich auch in Zukunft, können die Menschen für das schöpferische Handeln Gottes keine bessere Veranschaulichung beibringen als jene des Wortes, das das, was es benennt, ins Sein ruft. Aber könnte man in der Bejahung der Unabhängigkeit Gottes von der Welt nicht noch einen Schritt weiter gehen? Nichts ist leichter, als zu sprechen oder nicht zu sprechen. Um zu erschaffen, braucht Gott nichts weiter zu tun als zu « sprechen », auf seine Art natürlich, aber er könnte sehr wohl auch nicht « sprechen »; er könnte sehr wohl nicht erschaffen. Die Entscheidung, zu erschaffen oder nicht zu erschaffen, hängt von nichts und niemandem anderem ab als von ihm. Könnte man sich eine höhere Transzendenz als diese vorstellen? Es ist jene seines guten Willens... So überlegt das klassische Denken... Hier befinden wir uns auf der äußerten Höhe der Behauptungen der göttlichen Transzendenz, die vom objektiven und psychologischen Denken des Menschen vorgeschlagen 264 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN werden können. Bleiben die Religionen an dieser Grenze stehen?... Was meinen Sie? DER DOMHERR Sie wollen eine Antwort! Also gut! Dass die Religionen die Transzendenz Gottes behaupten... DER ANDERE PHILOSOPH Gewiss! Aber wie? Die religiösen Aussageweisen der Transzendenz Gottes drücken sich nur demgemäß aus, wie sie sich die Welt und den Menschen vorstellen, indem sie ihm die inneren Haltungen der Unterwerfung, Erniedrigung, Schuldgefühle oder sogar der tiefsten Ängste, also der Nichtigkeit gegenüber Gott zuteilen. Wenn Gott es wollte, würde ich aus dem Sein verschwinden und zu Nichts werden. Wir sehen das im Koran. Die Feinde Gottes werden damit bedroht, zu Nichts gemacht zu werden... Durch die Absicht, die Transzendenz Gottes dadurch zu behaupten, dass man die absolute „Nichtigkeit“ seiner Schöpfung behauptet, überträgt man zwangsläufig die menschlichen Umrisse unserer an die Vergänglichkeit der Ereignisse gebundenen Freiheit auf Gott. Außerdem stellt man sich die Freiheit Gottes oft als eine uneingeschränkte Wahl vor. „Gott kann irgendetwas ins Sein rufen, oder überhaupt nichts“, stellt man sich vor... Und hier befinden wir uns in einer Sackgasse. Die Transzendenz Gottes wird mit den Unvollkommenheiten der menschlichen Freiheit versehen, wie wir bereits gesagt haben. Als man sich die Transzendenz noch anhand von objektiven Bildern der „Distanz“ und der „absoluten Macht“ über die Dinge, und der alles bestimmenden „imperativischen“ Worte vorstellte, gab es diesen Widerspruch nicht. Aber sobald sich das „reflexive Denken“ in die Diskussion einmischte, kam er klar zum Vorschein. Es versteht sich, dass die für die Religion Verantwortlichen, die ja auf ihre objektiven Vorstellungen festgefahren sind, für Philosophen nur wenig übrig haben... Im Christentum scheint die Transzendenz Gottes vordergründig wegen des Dreifaltigkeitsdogmas noch schwieriger zu begründen, und vor allem, wenn erklärt werden soll, dass Gott eine Dreieinigkeit von Personen ist, denkt man sich eine Lösung aus, die Gott sozusagen zwingt, den Umweg DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 265 über die Schöpfung zu nehmen, um sich als Dreieinigkeit zu vollenden. Zudem wünschen sich viele Christen, dass dieses Dogma in Vergessenheit geraten möge... Aber so geht es auch nicht! Denn im richtigen Verständnis dieses Dogmas liegt der Schlüssel zu einer wahrhaftigen und höheren Bejahung der göttlichen Transzendenz, und zugleich auch die Grundlegung unseres Glaubens an Gott und an seine Offenbarung. DER PHYSIKPROFESSOR In dieser Sache möchte ich Ihnen meine Verlegenheit mitteilen... Eine Verlegenheit, die jene meiner erwachsenen Kinder wiedergibt. Zunächst sage ich Ihnen, was sie vom Unterricht, den sie erhalten, verstehen. Ich sage nicht, dass man es ihnen so beibringt, aber dass sie es in den Seelsorgeeinrichtungen der Fakultäten, in Bibelkreisen oder in theologischen Cafés (wo sie übrigens viel Spaß haben), in Predigten, in Zeitungsartikeln und sogar durch liturgische Formeln mitkriegen. Für sie ist Gott-Vater der Gott des Alten Testaments. Er ist der Schöpfer. Gott-Sohn ist der Gott des Neuen Testaments. Gott hat sich des Menschen Jesus bemächtigt, der daher seit seiner übernatürlichen Geburt sein Sohn ist, um ihn in den Tod zu führen. Gelegentlich wird sein Tod als Löseopfer für unsere Sünden dargestellt, gelegentlich auch als Zeugnis für die Güte dieses Gottes, der ihn ergriffen hat. Man weiß das nicht so genau... Und Gott, der Heilige Geist, ist immer noch derselbe Gott, der die Kirche führt und erleuchtet. Theoretisch sagt man, dass er alle Menschen, natürlich auch die Frauen, erleuchtet..., aber ganz offensichtlich erleuchtet er vor allem den Klerus und seine Hierarchie... Kurz gesagt ist die Dreieinigkeit für sie ein und dieselbe Person, Gott, in drei aufeinander folgenden Rollen oder Funktionen, die dann irgendwie eine nach der anderen bleibenden Charakter annehmen. Gott hatte diese Funktionen in seiner großen Weisheit immer schon vorherbestimmt. Gott ist also gleichzeitig Schöpfer, dann Erlöser und schließlich der, der die Menschheit in seiner Liebe sammelt. Das ist also das, was meine Kinder mitkriegen... Darin finden sie eine Art Leitfaden, um sich in der Welt zurechtzufinden. Sie sind nicht allzu kritisch, ... mit Ausnahme meines ältesten Sohns, der das alles ein bisschen „blöde“ findet. Die Rolle Gottes in der Schöpfung mag ja noch angehen, aber seine Rolle 266 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN als Erlöser und Sammler... da ist er skeptisch... „Wenn das nicht völlig danebenliegt... dann ist da noch viel dran zu arbeiten...“ sagt er. Mir persönlich scheint das eher eine Art Geschichtsphilosophie aus theologischer Sicht zu sein, als die wirkliche Wahrheit einer Offenbarung. Meine Kinder fassen den ganzen Gedankengang eher als eine Art „christlichen Marxismus“ auf, wohingegen der Marxismus für sie so etwas ist wie eine Messiaserwartung ohne Gott. Der „Umbruch“ mit oder ohne Gott? Das eine oder das andere bezeugen? Sich für das eine oder für das andere einsetzen, in „Demos“ oder in religiösen Prozessionen und Kulthandlungen... Das ist es! DER MODERATOR Wer möchte auf dieses Zeugnis eingehen? Muss man in dieser Vereinfachung des christlichen Dogmas einen von gewissen Klerikern unternommenen Versuch sehen, „das Dogma unter den Teppich zu kehren“? Führen ihre Bemühungen um „Dialog“ mit dem Judentum und Islam nicht dahin, dieses grundlegende Dogma und jenes der Inkarnation zu beseitigen? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Wenn das so wäre, wäre es ein echter theologischer Rückschritt... Aber ich bin nicht dieser Meinung. Es ist vielmehr die Folge einer heute in der Kirche verbreiteten intellektuellen Faulheit, oder auch des Fehlens einer echten theologischen Forschung, wegen der Angst der konservativen Strömungen... Neuerungen in diesem Bereich laufen immer Gefahr, die theoretischen Grundlagen der Verwaltung der Kirche zu untergraben. Diese ist wiederum, ob man will oder nicht, auf ein Gesellschaftsmodell gegründet, das sich nach den Grundsätzen der klassischen Philosophie ausrichtet und dem Ideal der ungeteilten Einheit gehorcht, woher ja auch ihre hierarchische Gliederung mit einer « einzigen » Person an der Spitze kommt... Ein Kirchenbild, das mit einer « relationalen » Gliederung der Gewalten die Dreifaltigkeit bezeugt, kommt nicht von heute auf morgen. Wenn man die Sache dagegen vom Zeugnis des Paulus ausgehend betrachtet, stand die Urkirche unter der Leitung eines Dreierkollegiums. Paulus sagt, dass er den «Säulen der Kirche » begegnet sei: Jakobus, dem jüngeren Bruder Jesu und Vertreter seiner Familienzugehörigkeit, Petrus, dem Haupt der Zwölf und DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 267 endzeitlichem Vertreter der zwölf Stämme Israels, und Johannes, dem persönlichen Freund und vertrautem Gesprächspartner Jesu, der auch aufgrund seiner priesterlichen Bindung an den Tempel Vertreter der « Göttlichkeit » Jesu ist. Die politische und religiöse Geschichte hat davon nichts weiter übriggelassen als die « apostolische » Struktur, die in ihrem Aufbau dem unitären Schema des Römischen Reichs folgt, mit seinen Regionalverwaltern und dem Kaiser an der Spitze. DER ANDERE PHILOSOPH Trotzdem wäre es wichtig, dass die christliche Religion dahin gelangt, die göttliche Transzendenz Gottes klar und stimmig zu bejahen, auch wenn sie in ihr die Möglichkeit des Schöpfungsund Heilswerkes Gottes sieht. WELCHER MONOTHEISMUS? EIN GOTT, DER EIN INDIVIDUUM IST, ODER EIN INTERPERSONALER MONOTHEISMUS? DER DOMHERR Wie? Ich würde jetzt gerne noch den Rest der Antwort auf meine Frage bezüglich der Weiterentwicklung des Monotheismus hören. DER ANDERE PHILOSOPH Ich bin dazu gerne bereit,... aber Sie sehen selbst, dass die Weiterentwicklung der monotheistischen Idee von einem Schöpfergott viele damit zusammenhängende Fragen aufwirft... Die monotheistische Idee von einem Nicht-Schöpfergott, wie etwa bei Aristoteles, wirft nicht so viele Fragen auf, aber andere, nämlich bezüglich der Vorstellung vom Menschen und der Welt. Diese Schwierigkeiten würden uns dann notwendigerweise wieder auf jene anbetreffs eines Schöpfergottes zurückführen. Wir müssen unsere Überlegung also bis zum Ende durchziehen... DER DOMHERR Also los! DER ANDERE PHILOSOPH Man muss also sagen, dass Gott, um die Liebe, Güte, Gemeinschaft, Gabe, Lebensschwung, Treue und Großzügigkeit 268 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN zu sein, in sich selbst von der „Hypothese“ eines Schöpfungsaktes unabhängig ist, dass er also nicht dazu angehalten ist, die „Wahl“ zu treffen, ob er endliche Seiende erschafft oder nicht. Außerdem ist er, um der dreieinige Gott zu sein, nicht auf einen Umweg durch das Werden der Geschichte angewiesen, wie das etwa Hegel dachte, der das Sein und das Werden des Seins in einer letzten „spekulativen Einheit“ zusammenfügen wollte. Diese Einheit ist relational-ontologischer Art. Gott ist in sich selbst die Kraft und der Akt, vom Unendlichen bis zum Unendlichen und vom Unendlichen zum Endlichen ins Sein zu rufen. Er ist in unendlicher Vollkommenheit Seinsmitteilung in sich selbst. Als Seinsmitteilung in unendlicher Vollkommenheit ist Gott also auch absolut frei, jenseits aller Mehrdeutigkeit einer Wahl, einzig kraft seiner Treue, mit der er sich selbst treu ist, zu erschaffen, ohne dazu verpflichtet zu sein, irgendeine Wahl zu treffen, die eine Begrenztheit in ihn hineinbringen würde. Gott ist also ein absolut freier Schöpfer, weil er Dreieinigkeit der Liebe, der Güte, der Seinsmitteilung, des Geschenks des Lebens ist. Er ist Schöpfer, weil er in sich selbst in einer lebendigen Beziehungseinheit existiert: der Eine, der Andere, und der Dritte. Ich hoffe, Herr Kanonikus, dass ich auf Ihre Frage geantwortet und gezeigt habe, dass die Anerkennung der Transzendenz Gottes nicht darin besteht, das Reden über ihn dadurch abzulehnen, dass man sich weigert, Fragen über ihn zu stellen oder behauptet, dass er der Ganz-Andere sei, über den man nichts sagen kann... Genau darin besteht nämlich das Verhalten des Knechts, der von seinem Herrn ein „Talent“ empfängt und es vergräbt... Das sind innere Haltungen der intellektuellen Faulheit und des Mangels an Mut... Dadurch, dass wir die Beziehungsbedingtheit Gottes bejahen, anerkennen wir auch, wie zutiefst unmöglich es uns ist, irgendeine Erfahrung davon zu erlangen, oder irgendeine andere Erkenntnis davon zu besitzen als jene unserer Glaubenschaftlichkeit zwischen menschlichen Personen und mit Gott. DER DOMHERR Vielen Dank. Ich werde das alles nochmals mit großem Interesse überdenken... DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 269 DER THEOLOGIEPROFESSOR Ich meine, Sie haben ganz nebenbei gesagt, das Geheimnis der Dreieinigkeit sei auch die Grundlage des Glaubens. Was meinen Sie damit? Wollen Sie damit sagen, dass dieses Dogma das Herzstück des katholischen Glaubens ist? Wenn man das Trinitäts- und das Inkarnationsdogma aus der katholischen Lehre entfernen würde, also anders gesagt, die Gottheit Jesu, dann gäbe es keinen christlichen Glauben mehr. Es gäbe im äußerten Fall eine Spielart des Judentums, eine Art Judentum für die Heiden, ein in seinen Anforderungen herabgesetztes Judentum mit weniger anspruchsvollen Normen, wie nicht wenige Juden das meinen, die gegenüber den Christen, mit denen sie sich im Dialog befinden, oft sehr wohlwollend sind. Was sagen Sie dazu? DER ANDERE PHILOSOPH Ihre Frage enthält mehrere Fragen. Ich werde zuerst auf jene eingehen, auf die ich lieber nicht antworten würde, weil meine Antwort für die Betroffenen keine Bedeutung hätte. Sie sind Theologieprofessor, also ein gewissermaßen der katholischen Kirche verpflichteter Professor. Als solcher können Sie als Berater verschiedener Kommissionen tätig sein, die sich mit den offiziellen Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und den entsprechenden Autoritäten des Judentums beschäftigen. Es obliegt ihren Mitgliedern, auf die Fragen zu antworten, die sie sich stellen. Ich persönlich bin Philosoph und glaube an Gott, so wie ich seine Offenbarung in Jesus verstehe, dank des Zeugnisses, das ich in der katholischen Kirche antreffe, und auch in anderen Kirchen und genauso außerhalb der Kirchen. Dieses Zeugnis deute ich im Licht der Philosophie, um deren möglichst rationale Ausarbeitung ich mich bemühe. Das konnten Sie bereits feststellen... Aber ich bin mit nichts an irgendeine religiöse Autorität gebunden. Wenn mein Verständnis des Glaubens mit der Glaubenslehre dieser oder jener Gruppe übereinstimmt, umso besser. Dann gibt es keine Spannungen... Ich würde mich sogar in „Glaubensgemeinschaft“ fühlen. Aber nicht diese Übereinstimmung bestärkt mich in meinem Glauben, und genauso wenig verunsichern mich Gegensätzlichkeiten... Ich glaube also an Jesus, der als Jude geboren wurde, der der jüdischen Kultur angehörte, der das Judentum auf die damals übliche Weise praktizierte, der als Jude gestorben ist. Die 270 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Zeugnisse, die ihn betreffen, stammen im Wesentlichen von Juden, wurden dann aber von Nichtjuden weitergegeben, die hier und da nichtjüdische Spuren hinterlassen haben, die ins spannungsgeladene Gebiet der menschlichen Emotionen abglitten. Diese Zeugnisse wurden auch in einer von ihrer Entstehungskultur verschiedenen Kultur gelesen und verstanden, nämlich in der griechischen, wovon wir bereits gesprochen haben, während sie aus den offiziellen und öffentlichen Lesungen der Juden mit Ablehnung entfernt worden sind. Aber diesen Zeugnissen zufolge, die unabhängig von den bestehenden Spannungen von der einen Seite angenommen werden, und von der anderen abgelehnt, — was für die Bedeutung dieser Zeugnisse durchaus eine Rolle spielt — war dieser Jude nicht nur ein Mensch. Und genauso wenig bedeutungslos ist es, dass die Tatsache, dass er nicht nur ein Mensch war, in Bezug auf seine jüdische Menschlichkeit zutage trat. Und nun antworte ich auf Ihre übrigen Fragen. Gäbe es ohne die Trinität und die Inkarnation keinen christlichen Glauben? Das scheint mir offensichtlich. Es ist das Wesentliche. Der ganze Rest der Lehre erhält ihren Sinn erst im Bezug auf diese beiden zentralen Aussagen, und wäre ohne sie nichts weiter als Geschmackssache oder eine Anzahl von zur Wahl stehenden Meinungen... oder Mitgliedschaften bei dieser oder jener Gruppe... Wir würden uns nicht mehr im Bereich des echten Glaubens, der Glaubenschaft als solcher, befinden, sondern im Bereich der sozialen Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppierung. Kurz gesagt, im Bereich der gesellschaftlichen Christentümer, falls dieser Ausdruck noch verständlich ist... Wenn ich aber sage, dass die Trinität die Grundlage unseres Glaubens ist, bleibe ich nicht auf der Ebene der Glaubenslehre stehen. In meiner Eigenschaft als rational Glaubender begebe ich mich in die ontologische Ebene der Glaubenschaftlichkeit. Der dreieinige Gott ist die unerlässliche Voraussetzung zur Begründung der Wirklichkeit der menschlichen glaubenschaftlichen Beziehungen, sowohl für die Begründung der Existenz eines Offenbarers, als auch jener des menschlichen Glaubenden. Wenn ich am Anfang unserer Zusammenkünfte auf dem Vorrang der reflexiven Analyse eines Glaubensbewusstseins bestanden habe, um die Gültigkeit einer Offenbarungsrede einzuschätzen und nicht auf Scheinoffenbarungen DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 271 hereinzufallen, dann habe ich das deshalb getan, weil wir uns im Bereich der Erkenntnis bewegten. Jetzt aber sprechen wir ontologisch. Es geht nunmehr darum, zu verstehen, was dieses glaubenschaftliche Bewusstsein im Sein begründet. Wir bewegen uns im Bereich der Ontologie. Den Übergang von einer Analyse des Erkennens zu einer Analyse im Bereich des Seins haben wir vollzogen, als wir uns nach der Wirklichkeit fragten, die während der Weiterentwicklung des Monotheismus unserem Gottesbild entsprechen könnte. Und zweifellos haben wir denselben Übergang jedes Mal in Kürze auch dann vollzogen, wenn wir sagten, dass die Struktur der Erkenntnisordnung auf die Struktur der Seinsordnung gegründet sein muss. DER MODERATOR Könnten Sie also, um auf die Frage eines für die Ausbildung des Klerus Zuständigen vollständig zu antworten, das Wesentliche Ihrer Vorstellung von der Trinität, insofern sie die Grundlage der natürlichen Glaubensfähigkeit des Menschen ist, zusammenfassen? DER ANDERE PHILOSOPH In der Tat ist es die Vorstellung und Bejahung einer interpersonalen Beziehungsbedingtheit in Gott, die uns verstehen lässt, was der Offenbarungs- und Glaubensakt sind. In ihrer Wirklichkeit sind sie mit dem Schöpfungsakt identisch, und letzterer ist wiederum nur deshalb möglich, weil Gott in sich selbst seinsgebende Seinsmitteilung ist. DER MODERATOR Darf ich Sie bitten, ihre These etwas mehr zu erklären... EIN INTERPERSONALER MONOTHEISMUS ZUM VERSTÄNDNIS DER MÖGLICHKEIT DER SCHÖPFUNG UND DER OFFENBARUNG DER ANDERE PHILOSOPH Indem er in der materiellen Welt bewusstseinsbegabte Seiende erschafft, zeigt Gott nach außen hin, dass er in sich selbst Seinsmitteilung ist. Er « offenbart sich »..., auf einer zweifachen beziehungsbedingten Ebene: a) er offenbart dem, den er erschafft, was er in sich selbst ist, und zwar in dem Akt, 272 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN in dem er ihn erschafft, und b) gleichzeitig offenbart er, was er für denjenigen ist, den er erschafft. Er zeigt sich also nicht Seienden, die vorher schon existieren. Sonst wäre seine Selbstdarstellung von ihnen abhängig. Er ist nicht ein offenbarender Demiurg. Letztere Phantasievorstellung ist nichts weiter als die Projektion der menschlichen Stellung dessen, der sagt: „Dir sage ich, dass...“. Da Gott „ex nihilo“ erschafft, zeigt er sich „ad nihilum“. Das bedeutet, dass er sich ausschließlich seinem Werk zeigt und nur in seinem Werk, und „nichts anderem“, und in nichts anderem, genauso, wie er „nichts anderes“ für sein Werk braucht. Es handelt sich also um eine im geschaffenen Sein immanente Offenbarung, die dieses gemäß seiner „Bewusstseinsbegabtheit“ zu einem „Glaubenschaftlich-Sein“ macht. Indem sich der Mensch bewusst ist, in seiner menschlichen Wirklichkeit das zu sein, was Gott von sich selbst, insofern er Gott ist, zeigt, und zwar für den Menschen, insofern er Mensch ist, empfängt er sich selbst, und zugleich diese Offenbarung, die er selbst ist. Er ist also als „Glaubender“ in seinem Sein begründet. Von einem Gott erschaffen zu sein, der nicht ein „Gott-Künstler“ ist, sondern ein in „familiärer“ Beziehungsbedingtheit seiender Gott, heißt nichts anderes, als in glaubenschaftlicher Seinsverfasstheit erschaffen zu sein. Umgekehrt erkennen wir dann, wenn wir unsere wesentliche Glaubenschaftlichkeit erkennen, auch die Tatsache, dass wir von einem dreieinig personalen Gott geschaffen sind. Wir haben es so mit einem absolut transzendenten Werk zu tun. Die natürliche „Glaubenschaftlichkeit“, die für das menschliche Bewusstsein wesentlich ist, und nicht ein angeblich hinzugefügtes „Geschenk“ ist, ist die tätige Bejahung der absoluten Transzendenz Gottes in seiner absoluten Nähe zum Menschen. DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler Da Ihre Analyse philosophisch ist, wenn sie auch in einem religiösen Zusammenhang steht, wäre sie also für jeden Menschen gültig, ganz unabhängig von der Zustimmung zu einer besonderen Religion, wie etwa zum Christentum. Sie bewegen sich also auf der Ebene dessen, was man als die natürliche Religion bezeichnen könnte. DER ANDERE PHILOSOPH DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 273 Dem könnte ich zustimmen. Aber ich fürchte, dies könnte zu Missverständnissen führen. Von einer „natürlichen Religion“ zu sprechen heißt, dass man sich auf der Ebene der Geschichte und der Kultur bewegt, also in einem Bereich von objektiven Erscheinungen. Was ist eine „natürliche Religion“ für die Historiker und Religionssoziologen? Die Religiosität? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie sie bei den primitiven Religionen suchen... Ich bewege mich nicht auf der Ebene der Religionsforschung, und auch nicht auf jener der Theologie einer bestimmten Religion, etwa des Christentums. Ich bewege mich auf der Ebene der reflexiven Analyse des menschlichen Bewusstseins als solchem, in seiner glaubenschaftlichen Dimension. Dass der Mensch sich, insofern er glaubenschaftlich ist, zum Ausdruck bringt, sich entwickelt, Fortschritte macht und Rückschläge erleidet, und dadurch vorankommt, dass er den „Religionen“ eine Gestalt verleiht, ist wahr. Sie wissen, dass der Mensch, insofern er natürlich und wesentlich Philosoph ist, sich genauso in philosophischen Werken und Strömungen zum Ausdruck bringt und darin er selbst wird. Für das reflexive Denken sind die philosophischen Schulen das, was die Religionen für das glaubenschaftliche Bewusstsein sind. DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: Aber ich kann der Meinung sein, dass dieser oder jener Philosoph die ersten und grundlegenden Wirklichkeiten der menschlichen Existenz besser und wahrheitsgemäßer ausdrückt. DER ANDERE PHILOSOPH Richtig! Dann sind Sie mehr als ein Historiker. In der Berührung mit dem, was Sie studieren, werden Sie Philosoph... DER MODERATOR Gut! Sie sagen, dass Sie Philosoph des glaubenschaftlichen Bewusstseins sind, und Glaubender. Gut! Wenn Sie nun auch ein bisschen Theologiegeschichtler oder Religionsgeschichtler werden würden, im umgekehrten Sinne wie ich: welche Religion wäre Ihnen zufolge diejenige, die die Wirklichkeit des glaubenschaftlichen Bewusstseins, wie Sie sie auffassen, am besten zum Ausdruck bringt, oder ihr wenigstens am nächsten kommt? Anders gesagt: In welcher Religion würden Sie die am 274 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN ehesten gelungene Umsetzung, wenn ich das so sagen kann, Ihrer philosophischen Analyse sehen? DER ANDERE PHILOSOPH Damit stellen Sie mir eine Frage, die etwas... Wie soll ich das sagen? DER MODERATOR Etwas indiskret? DER ANDERE PHILOSOPH Das nicht gerade... etwas persönlich... sagen wir,... als ob Sie mich fragen würden, ob ich meine Frau liebe... Ich würde Ihnen antworten: „Natürlich, ich liebe sie“. Die eheliche Liebe ist eine Beziehung der hervorragendsten Glaubenschaftlichkeit der menschlichen Existenz, sie ist Abbild der ewigen Glaubenschaftlichkeit, die Gott selbst ist. Ich antworte also auf Ihre Frage... Auf der Ebene der Analyse der natürlichen und universalen Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins, und auf diese Ebene will ich mich beschränken, ist es das Judentum, das die beste geschichtliche Verwirklichung dieses Bewusstseins darstellt. Es war und ist immer noch die beste Verwirklichung. Das ist also meine Antwort. DER MODERATOR Gut! Vielen Dank! Darüber diskutiert man nicht. Genauso wenig wie darüber, ob Sie Ihre Frau lieben... DER ANDERE PHILOSOPH Ja, aber ich bin mit meiner Analyse der Glaubenschaftlichkeit noch gar nicht fertig! Ich muss ihnen auch sagen, dass meine Frau und ich fünf Kinder haben, die wiederum Kinder haben... Und so haben auch Gott und das jüdische Volk, die ja einander lieben, eine Nachkommenschaft... Es handelt sich um Jesus. Und da er ein Werk Gottes ist, ist er auch Offenbarung Gottes, und ich glaube an diese Offenbarung... DER ERSTE PHILOSOPH fragt mit Verwunderung... Und Sie verfügen auch über eine philosophische Analyse dieser Offenbarung? DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 275 DER ANDERE PHILOSOPH Eine philosophische Analyse, die es mir ermöglichen würde, an Jesus, diesen Menschen, der vor zweitausend Jahren gelebt hat, zu glauben? Nein. Das habe ich nicht... Es kann keine geben. Der Philosoph kann aus den wesentlichen Notwendigkeiten seines Seins auf kein einziges geschichtliches Ereignis schließen. Aber er kann unter diesen Notwendigkeiten ein Verlangen ausmachen, das sein ganzes Sein durchzieht... ein bleibendes Verlangen, das auch im Tiefsten eines jeden Menschen angelegt ist... ein Verlangen, das ein fragendes Warten auf Gott ist... ein Verlangen, das durch die Unzulänglichkeiten seines glaubenschaftlichen Elans und durch die Möglichkeit des Bösen, das sich in diesen hineinmogelt, abgestumpft ist... ja, der Philosoph kann ein derartiges Verlangen ausfindig machen... DER PSYCHOANALYTIKER Ein Verlangen nach was? DIE FORDERUNG NACH EINER VOLLKOMMENEN ERFÜLLUNG DER MORALISCHEN PFLICHT, ODER DAS MESSIANISCHE VERLANGEN, VOM BÖSEN BEFREIT ZU WERDEN DER ANDERE PHILOSOPH Ein Verlangen danach, ohne Fehler, Rückschläge, Sadismus, Masochismus, Verrat, Verraten-werden, und ohne gegenseitiges Zerstören in unserer glaubenschaftlichen Beziehung zum Anderen und zu Gott zu leben. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Sie wollen also sagen, in einer Gemeinschaft zu leben, die aus vollkommenen, vom Bösen befreiten Beziehungen besteht? DER ANDERE PHILOSOPH Genau. Ein Verlangen, vom Bösen befreit zu werden... vom Bösen, das in unser endliches Sein eingeschrieben ist. Ein Übel, das wir anderen zufügen und durch sie erleiden. Ein Übel, das wir nicht und absolut nicht unmöglich machen können, selbst wenn wir gut handeln, selbst wenn wir alles tun, was wir können... Verstehen Sie die Wörter „fähig, möglich und unmöglich“ bitte in ihrer vollen reflexiven philosophischen 276 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Tragweite, und nicht nur gemäß ihrer allgemeinüblichen psychologischen Bedeutung. Und dennoch verstehen wir, dass in der glaubenschaftlichen Beziehung der Schöpfung der Pol der glaubenschaftlichen Vollkommenheit bei Gott liegt, und der Pol der Unvollkommenheit auf unserer Seite. Und außerdem, weil ja die glaubenschaftliche Beziehung gewissermaßen die größtmögliche Gleichheit der „AnVerglaubenschaftlichten“ verlangt, also der „in einen glaubenschaftlichen ontologischen Bund Getretenen“, befragen wir Gott über diese Ungleichheit, die das Böse, das in seine Schöpfung eingeschrieben ist, in uns hineinlegt. Natürlich werfen wir Gott überhaupt nichts Böses vor... Wir sind es, die das Böse tun... Aber die Möglichkeit, das Böse zu tun, „uns Böses zu tun“, gehört sehr wohl zu seiner Schöpfung... Kann Gott sein Werk des Sich-selbst-Schenkens in diesem Stadium noch vorzeitig beenden? … DER DOMHERR Aber das ist unsere Freiheit... Gott hat uns als freie Menschen erschaffen... Wir können wählen, ob wir das Gute tun oder das Böse... Gott nimmt unsere Freiheit ernst... DER ANDERE PHILOSOPH Ah... Mit diesem Einwand hatte ich nicht mehr gerechnet... Aber er kommt doch nochmals... Und es ist immer noch derselbe psychologische Fehlschluss bezüglich der Freiheit, bezüglich der Freiheit des Menschen, und schlimmer noch, bezüglich der Freiheit Gottes... Verzeihen Sie, Herr Kanonikus, aber die Männer der Kirche entmutigen uns Philosophen manchmal... DER DOMHERR Es gibt auch andere Philosophen, die Ihnen widersprechen und Sie entmutigen... DER ANDERE PHILOSOPH Gut! Beruhigen wir uns... Ihre letzter Einwand ist berechtigt, sehr berechtigt... zu meiner Entmutigung sind alle klassischen Philosophen da... also jene, deren Geist vom tyrannischen Ideal der ungeteilten Einheit beherrscht ist... Aber kommen wir zu unserem Thema zurück. DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 277 Was die Freiheit anbelangt... Der Mensch findet seine Erfüllung als freies Subjekt, wenn es ihm die objektiven Wahlmöglichkeiten erlauben: manchmal mehr, manchmal weniger. Zwischen Gut und Böse gibt es lediglich dem Wortlaut nach eine Wahl, aber nicht eine wirkliche Alternative, denn das Böse „steht nicht zur Wahl“. Der Mensch unterliegt der Pflicht, das Gute zu tun, der freien inneren Notwendigkeit, sich gut zu tun. Descartes pflegte derweil zu sagen, dass es umso mehr Freiheit gibt, je mehr das ganze Sein mit Elan, ohne das geringste Zögern, darauf hinstrebt, das Gute zu tun. Die Freiheit ist vollkommen, wenn die Unmöglichkeit, das Böse zu tun, gegeben ist. Das trifft im Fall Gottes zu. Die geschaffene Endlichkeit des Menschen bringt diese Unvollkommenheit der Freiheit mit sich, eben die Möglichkeit, das Böse zu tun, trotz des Antriebs der ethischen Verpflichtung, uns gemäß unserer wesentlichen Beziehungen zu vollenden. Und dennoch existiert diese Möglichkeit, das Böse zu tun, ausschließlich in Abhängigkeit vom glaubenschaftlichen ethischen Antrieb, und ist diesem untergeordnet. Der glaubenschaftliche ethische Antrieb, eine Forderung der Liebe, existiert an sich, wenn man das so sagen kann; die Möglichkeit des Bösen hingegen existiert nicht an sich. Sie ist nichts weiter als die „Unvollkommenheit“ des glaubenschaftlichen ethischen Antriebs in der gegenwärtigen Schöpfung. DIE KRANKENSCHWESTER Aber angesichts der Gegenwart dieses Bösen darf der Mensch nicht aufgeben, nicht einmal jetzt, nicht einmal dann, wenn es sich um ein « natürliches » Übel handelt, wie etwa um eine Krankheit... DER ANDERE PHILOSOPH Es ist also folgerichtig und natürlich, dass in der Menschheit ein Verlangen danach aufkommt, vom Bösen befreit zu werden, von falschen Entscheidungen befreit zu werden, von der Möglichkeit, das Böse zu wählen... von dieser in unsere Stellung als Geschöpfe eingeschriebenen Fähigkeit, sich selbst Böses zuzufügen... Die Erfüllung dieses Verlangens durch uns selbst ist aber radikal unmöglich, nicht wegen unseres bösen Willens, sondern wegen des radikalen Unvermögens unseres guten Willens in unserem gegenwärtigen ontologischen Zustand als Geschöpfe in dieser Welt. Es ist also ganz natürlich, dass wir 278 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN uns gemäß der Funktionsweise unseres glaubenschaftlichen Bewusstseins an Gott wenden. Daher das Verlangen nach Heil für alle, das Verlangen, dass Gott der Retter der ganzen Menschheit sei... Das ist mehr als ein psychisches Verlangen nach Glück, als ein gesellschaftliches Streben nach Frieden. Es ist ein ontologisches Verlangen, das, indem es diesen anderen bruchstückhaften und begrenzten Sehnsüchten Nachdruck verleiht, sie bei weitem übersteigt. DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: Ich stelle Ihnen meine Frage erneut. Welche Kultur lässt Ihrer Meinung nach dieses Verlangen nach vollständiger Befreiung vom Bösen unter verschiedenen Gestalten, bis hin sogar zur Vernichtung der Möglichkeit selbst, es zu tun, am besten zur Geltung kommen? DER ANDERE PHILOSOPH Sie können meine Antwort erraten, denn es ist dieselbe wie vor wenigen Augenblicken. Es ist das Verlangen nach dem Messias, das im Umfeld des religiösen jüdischen Glaubens entstanden ist. Die Ausdrucksweise dieses Verlangens ist jüdisch, sie ist in Zeit und Raum eingefügt, aber die Natur dieses Verlangens ist einfach nur menschlich, universal menschlich, sogar in den Kulturen, wo es nicht zur Geltung kommt, oder wo es vielmehr noch nicht zur Geltung gekommen ist, wo es aber im Herzen eines jeden Menschen eingeschrieben ist. Sogar bei Aristoteles findet man eine Spur davon, der ja seine Ethik auf das Verlangen nach Glück begründet: « Jeder Mensch verlangt danach, glücklich zu sein ». DER ERSTE PHILOSOPH Und wie sehen Sie als Philosoph die Erfüllung dieses Verlangens? Sie haben gesagt, dass sie nicht durch den Menschen geschehen kann. Sie kann also ausschließlich von Gott vollbracht werden. Verfügen Sie als Philosoph über Informationen über die Handlungsweise Gottes? Ich wüsste gerne... FÜR EINE OFFENBARUNG ZUGUNSTEN SEINER SCHÖPFUNG HANDELT GOTT IM ANSCHLUSS AN DIE ART, WIE ER SICH BEIM ERSCHAFFEN OFFENBART DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 279 DER ANDERE PHILOSOPH Ich verfüge über dieselben Informationen wie Sie, geschätzter Kollege... Sie sind rational und stehen Ihnen zur Verfügung. Ich bringe Ihnen nichts bei, was Sie nicht selbst herausfinden könnten. Es sind die Informationen, die Gott mir gibt..., die Gott Ihnen in seinem offenbarenden Schöpfungswerk gibt. Ich habe versucht, zu zeigen, dass die erste Offenbarung Gottes für den Menschen in der Wirklichkeit des Menschen selbst besteht, insofern er sich als von Gott geschaffen erkennt, von Gott, der sich frei auf diese Weise für den Menschen und für sein Glück einsetzt. Gott offenbart sich in der Wirklichkeit des Menschen. Der Mensch ist nicht ein « Gefäß », das mit der Offenbarung gefüllt wird; er ist diese Offenbarung, das ist seine Identität. Die Information, die ich daraus gewinne, ist einfach. « Gott offenbart sich ausschließlich durch die Identifikation seiner Offenbarung mit der Wirklichkeit einer Person». Wenn Gott auf das Verlangen des Menschen nach einem Messias antwortet, dann kann er das nur gemäß der göttlichen Handlungsweise, die ihm zu eigen ist: durch die persönliche Wirklichkeit eines Menschen. Sein Handeln kann keine Rede und auch kein Sprechakt sein. Es kann nichts anderes sein als die Wirklichkeit einer Person und deren Leben. Diese sagt daraufhin, indem sie sich ihrer personalen Wirklichkeit bewusst ist, was diese Offenbarung, die sie selber ist, gemäß den räumlich-zeitlichen Umständen der menschlichen Existenz ist. Die innere Ordnung und Gliederung einer transzendenten Offenbarung fügt sich also lückenlos der Struktur der Schöpfung-Offenbarung an. Alles Übrige ist psychische Einbildung, deren Stückchen Wahrheit darin besteht, dass sie einen unbeholfenen Versuch darstellt, im Verlauf der Geschichte unsere ontologische Stellung als Geschöpfe zum Ausdruck zu bringen. Es ist ein ungeschickter Versuch, der dann zu Irrtum und Lüge wird, wenn er im wörtlichen Sinn für unsere ontologische Stellung gehalten wird. Ja, im Reich der Blinden sind die Einäugigen König... DER ERSTE PHILOSOPH Zweifellos,... aber wenn der Mensch sich seines Verlangens nach einem Rettergott bewusst wird, lebt er nicht mehr im ersten Augenblick seiner Erschaffung, wenn ich das so sagen kann. Obwohl die Schöpfung Gottes bleibend ist, hat sie den Augenblick der « Fertigstellung » des Menschen bereits hinter 280 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN sich. Wie könnte Gott einem Menschen, den er nicht mehr in der Existenz « einrichten » muss, antworten, ohne ihm gegenüber irgendetwas in seinem Schöpfungsakt oder in seiner Beziehung zu ihm zu verändern? DER ANDERE PHILOSOPH Ich denke, jetzt stellen Sie die richtige Frage! Der Klarheit halber sollten wir jetzt von einer « transzendenten Offenbarung » sprechen. Sie vollzieht sich durch Seinsmitteilung, immer noch durch die « Immanenz eines göttlichen Werkes », — natürlich im aktivischen Sinn des Wortes, wie bei der Schöpfung —, aber diesmal durch persönliche an Gott gemessene Seinsmitteilung an einen mit Bewusstsein begabten, ganz und gar in menschlicher, erschaffener Glaubenschaftlichkeit konstituierten Menschen. DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: Und diese philosophische Schlussfolgerung hat in der Geschichte das konkrete Gesicht Jesu! Ein Gesicht, das Sie wohlverstanden nicht « schlussfolgern » können. Aber von Ihrer Schlussfolgerung aus verstehen Sie dieses Gesicht... Ist es so? DER ANDERE PHILOSOPH Genau. Aber um Missverständnisse zu vermeiden, lege ich Wert darauf, zu erwähnen, dass ich, um es so zu sagen, auf der psycho-geschichtlichen Ebene der Entwicklung meiner philosophischen Forschungen zuerst vom Katechismus und der Unterweisung der katholischen Kirche bezüglich der Person Jesu intellektuell genährt wurde. Und gerade indem ich über diese Unterweisung nachdachte, und über die Holzwege, auf denen ich mich mit ihr befand, habe ich die Frage nach Jesus von Grund auf wieder aufgerollt. Man sollte daher nicht meinen, man könnte in der jüdischen Kultur vor Jesus und zur Zeit Jesu die Formen einer theoretischen Untersuchung finden wie jener, die ich als Philosoph unter Anwendung der transzendentalen und kantianischen reflexiven Methode durchführe, nach zwanzig Jahrhunderten der christlichen Selbstforschung und dreißig Jahrhunderten der jüdischen Selbstforschung. Aber durch meine philosophische Überlegung kann ich erkennen, dass es sehr wohl ein derartiges Verlangen nach einem Messias war, das, wenn ich das so sagen kann, in der DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 281 « glaubenschaftlichen » Kultur des jüdischen Volkes aufkeimte und Blüten trieb, auf dem sehr bewegten Nährboden seines gesellschaftlichen und politischen Lebens. Ich denke auch, dass eine derartige Überlegung notwendig ist, um dieses tiefe Verlangen und seine Beschaffenheit zu verstehen, und dass ein Historiker, der diesen roten Faden nicht findet, an der tiefsten Wirklichkeit des Volkes Israel vorbeischaut. Dieses Verlangen kam wiederum im jüdischen Umfeld Jesu seiner reinen Wesenheit am nächsten, denn in diesem Menschen Jesus hat Gott seine Antwort gegeben, eine Antwort, die sich an seine Schöpfung anschließt, an eine Schöpfung, deren Verständlichkeit sich in der philosophischen Überlegung auftut. DER EXEGET Sie wären also der Meinung, dass das Christentum die geschichtliche Gestalt der Offenbarung ist, als Antwort auf ein universales Verlangen nach einem Messias? DER ANDERE PHILOSOPH Ihre Frage bringt mich nicht wenig in Verlegenheit... Ich kann nicht auf sie antworten, da ich sie so nicht annehmen kann... DER EXEGET Verzeihen Sie... Aber warum? DER ANDERE PHILOSOPH Ich bin in Verlegenheit, aber keineswegs überrascht... Sie sind überrascht, aber nicht in Verlegenheit... Aber reden wir offen... denn wir beide sind der Person Jesu sehr, sehr verbunden. Jesus war ein Jude. Er ist niemals Christ gewesen, obwohl er am Ursprung des Christentums steht. In der Geschichte und als Antwort auf ein Verlangen nach einem Messias hat Gott sich nicht in einem Christen, sondern in einem Juden als Retter offenbart. Der Grund dafür ist ganz einfach. Dieses Verlangen hatte im Judentum seine konkrete « notwendige und ausreichende » Form gefunden, so dass seine Antwort auf dieses Verlangen gehört werden konnte. Ich sage nicht « vollkommene » Form. Denn Gott erwartet nicht, dass wir irgendetwas Vollkommenes tun. Hat nicht er selbst dieses Verlangen in seine Schöpfung, beziehungsweise in seine erste in unserem Sein immanente Offenbarung, hineingelegt? 282 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Man könnte sich sogar vorstellen — aber das ist lediglich menschliche Psychologie —, dass er es eiliger hatte, uns zu antworten, als wir uns eilten, die richtige Frage zu finden, mit der wir unser Verlangen nach der Befreiung von allem Bösen an ihn herantragen könnten... Seine Absicht, die Antwort zu verwirklichen, ist so fest, dass er sie in die Tat umsetzt, noch bevor wir die Frage richtig gestellt haben. Er gibt sich mit unbeholfenen Fragen zufrieden... Wie ein Professor, der mittels einer aktiven Pädagogik versucht, seine Studenten dahin zu bringen, in seinem Fachgebiet gute Fragen zu stellen, um ihnen dann die richtige Antwort zu geben. Er ist dann aber manchmal gezwungen, sich mit annähernd richtigen, aber unverzichtbaren Fragen zufriedenzugeben, und derweil schon zur Darlegung der Antwort überzugehen. Die Antwort Gottes wurde von den Juden tatsächlich gehört. Nicht von allen Juden. Die meisten von ihnen bilden ihre Identität im Glauben an den Schöpfer, also in einem Glauben, der im Verlangen nach einem Messias gipfelt. Sie bezeugen also weiterhin diese notwendige und ausreichende Bedingung für die Aufnahme des Rettergottes und seines Heils in einer glaubenschaftlichen Beziehung. Dieses Zeugnis ist wichtig, da es uns trotz eigenen Unzulänglichkeiten vor den irrigen Auslegungen des Heils Gottes warnt. Im Anschluss an diese Juden, die die Offenbarung des Heils Gottes erkannt haben, bezeugen auch Nicht-Juden, und zwar in beachtenswerter Anzahl, die Offenbarung dieses in der Person Jesu vollbrachten Heils. Um objektiv zu sprechen, muss man von der « evangelischen Offenbarung », und nicht von der christlichen Offenbarung, sprechen. Man kann von einem « christlichen Glauben » an die evangelische Offenbarung sprechen. DER EXEGET Da im Werk Gottes zwischen der menschlichen Glaubenschaftlichkeit in ihrer geschichtlichen jüdischen Gestalt und der Person Jesu am Ursprung des Christentums eine derartige Einheit besteht, wie erklären Sie das Auseinanderbrechen von Judentum und Christentum, das in der Ordnung der menschlichen und geschichtlichen Bewusstwerdung des Werkes Gottes stattgefunden hat? DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 283 DER ANDERE PHILOSOPH Die Aufnahme dieser transzendenten Offenbarung durch Menschen krankt an derselben Unvollkommenheit wie die Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung. Auch sie muss also von dieser Unvollkommenheit befreit werden, und sie wird tatsächlich befreit sein, in der Weise, wie Gott die Verwirklichung der Befreiung von allem Bösen in der Person Jesu offenbart. Während des Wartens bleibt gegenwärtig die ethische Forderung, dass wir die Wahrheit des Gottes, « der sich offenbart », suchen. Für den Christen bestärkt die Offenbarung des Heils in einer rechtfertigenden Auferstehung diese Forderung. Theoretisch sind dazu zwei Fragen zu stellen. Aber es obliegt nicht mir, sie zu stellen, insofern sie existentielle Fragen der Glaubenschaftlichkeit sind. Die Juden haben eine von ihnen zu stellen, die Christen die andere. Aber sie weisen in dieselbe Richtung, weil sich die transzendente Offenbarung Gottes im jüdischen Bewusstsein von seiner immanenten Offenbarung vollzogen hat. Die Christen haben zu fragen: « Verstehen wir die Offenbarung Gottes in Jesus richtig, in Übereinstimmung mit dem jüdischen Glauben und seinem Verlangen nach einem Messias, durch die seine Offenbarung erwartet und aufgenommen wurde? » Diese Offenbarung des Heils Gottes ist mit der Person Jesu identisch. Denn in der Tat ist ein offenbarendes « Wort » Gottes eine persönliche Wirklichkeit, eine Person in ihrer Wirklichkeit, genauso, wie eine immanente Offenbarung Gottes mit der menschlichen Wirklichkeit identisch ist. Die Juden haben zu fragen: « Ist unser Verständnis der Offenbarung Gottes in unserer gegenwärtigen Existenz wirklich richtig, und wird unser Verlangen nach einem Messias auch heute noch gut genug verstanden? Vielleicht durch einige von uns, die in Jesus eine Antwort angenommen haben, die ihrer Ansicht nach vom ewigen Gott stammt, und die wir gewissenhaft überprüfen müssen? » DER EXEGET Tatsächlich habe ich meine letzte Frage schlecht gestellt, denn im Wesentlichen bin ich mit Ihnen einverstanden, unter anderem auch mit den vorausgegangenen methodologischen Ansatzpunkten... Ich habe es Ihnen gesagt. Ich hätte meine 284 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Frage folgendermaßen formulieren sollen: « Ist das Christentum die geschichtliche Gestalt des menschlichen Verständnisses der durch das Zeugnis der Evangelien bekannten Offenbarung Gottes in Jesus? » DER ANDERE PHILOSOPH Hier werde ich ganz sicher bejahend antworten. Aber da das Christentum ein menschliches Verständnis ist, kann sich unser christliches Verständnis verbessern... Mögen unsere Diskussionen zu diesem Forstschritt einen Beitrag leisten... DER EXEGET Welche philosophischen Überlegungen zu dieser evangelischen Offenbarung stellen Sie an, die unserer Textkritik eine Richtung weisen und es uns so möglicherweise erlauben würden, die Zeugnisse des Neuen Testaments besser zu verstehen? DER ANDERE PHILOSOPH Meine Antwort wird Philosophie und Theologie etwas vermischen. Ich hoffe, dass Sie sich trotzdem darin werden wiedererkennen können... Ich nehme diejenigen meiner Ideen wieder auf, die den letzten Wortmeldungen vorausgegangen sind... Es ist nämlich in der Tat wichtig, zu verstehen, dass eine « Offenbarung » Gottes immer eine « Wirklichkeit » und nicht eine « Rede » ist, selbst wenn der Mensch den Sinn dieser Wirklichkeit durch eine « Rede » übersetzt, und dann dazu neigt, sie Gott zuzuschreiben. Dies « als Fundamentalist » zu tun und zu denken ist ein reiner und einfacher Irrtum. Die Schöpfung wäre dann nicht mehr ein « Offenbarungsakt » Gottes, wenn Gott nur die nicht mit Erkenntnis und Bewusstsein begabten materiellen Dinge erschaffen würde. Sie wären nicht mehr als ein ach so schwacher « Widerschein » Gottes. Aber für wen? Sie hätte keine Bedeutung. Es ist so, als ob man Folgendes denken würde, indem man von dem, der denkt, abstrahiert: « die erste Wirklichkeit vor dem Big Bang hat, indem sie explodiert ist, das Universum erschaffen ». Einer derartigen Behauptung einen ontologischen Wert beizumessen läuft darauf hinaus, dass man das experimentelle wissenschaftliche Vorgehen, das verlangt, dass der Wissenschaftler nicht mit dem Phänomen, das er studiert, in Wechselwirkung tritt, in irrationaler Weise verallgemeinert. DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 285 Nun ist es aber der Mensch, der die Wissenschaft von der wahrnehmbaren Wirklichkeit betreibt... Und diese ist nicht die ganze Wirklichkeit. Auf der Ebene des Seins im Allgemeinen, auf dem sich die Philosophie bewegt, muss der Mensch gegenwärtig sein und ist es, damit die materielle Welt das Loblied der Herrlichkeit Gottes sein kann... Die Schöpfung ist insofern „Offenbarung“ Gottes, als er Seiende erschafft, die „sein Ebenbild“ sind, die sich ihres Seins bewusst sind und die auch fähig sind, ihr Sein als „geschaffenes Sein“, als „empfangenes Sein“ und als „Sich-selbst-geschenktSein“ zu verstehen. Im Sein derartiger Seiender also „zeigt sich Gott und macht sich sichtbar, also dem Bewusstsein gegenwärtig“, im Bewusstsein, das der Mensch von seinem Sein als „erschaffenem“ Sein erlangt. Der (von Gott her betrachtete) „Offenbarungs-Schöpfungsakt“ verleiht dem Menschen eben gerade eine glaubenschaftliche Existenz. Der Mensch verfügt seinerseits über das Bewusstsein, dass die Handlung Gottes „Schöpfung-Offenbarung“ ist. Achten Sie bitte darauf, dass ich die Begriffe „Offenbarung“ und „Schöpfung“ dann umgekehrt anordne, wenn ich vom Menschen aus betrachtet spreche. Gott ruft den Menschen nicht als ein „Ding“ ins Sein, das einfach nur „da“ ist, einfach in der Stellung eines Objekts hergestellt wurde, das zwar die Spuren seines Urhebers (die vestigia Dei) in sich trägt, aber niemandem etwas über den Schöpfer sagt. Ein Tier läuft über weichen Boden. Es hinterlässt eine Spur, die nichts weiter ist als eine Veränderung der Bodenoberfläche. Sie ist keine bedeutsame „Spur“, außer für den Fallensteller und Jäger. Der Jäger kennt die Bedeutung der „Spur“, die auch er auf dem Boden hinterlässt... Gott hat den Menschen erschaffen. Er hat ihn „in Beziehung zu Anderen in der Welt seiner selbst bewusst seiend“ gemacht. Er hat ihn also als Subjekt gemacht, das fähig ist, sich als mit Anderen in der Welt „erschaffen“ zu erkennen, als in seiner eigenen Menschheit „sich selbst gegeben“. Der Mensch erkennt so sich selbst als das Ziel „in persona“, als das Ziel eines absoluten und absolut freien Einsatzes, den ein Anderer, absolut Transzendenter geleistet hat, damit dieser Mensch mit Anderen existieren kann. Kurz gesagt: Gott erschafft den Menschen als fähig, die zweifache glaubenschaftliche Dimension seines Seins „reflexiv“ zu erkennen: die Glaubenschaftlichkeit gegenüber 286 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Anderen, die „Ihm ähnlich sind“, und jene der Anderen Ihm gegenüber. Dieses reflexive Erkennen unser glaubenschaftlichen Interpersonalität bewirkt eine Zustimmung — unter der ethischen Forderung nach Übereinstimmung mit unserem Sein — zu dieser göttlichen Offenbarung, die unsere eigene menschliche Wirklichkeit ist. Die göttliche Handlung, die unser Sein erschafft und das Sein des Schöpfers offenbart, gibt uns eben dadurch den Seinsstatus eines bewusstseinsbegabten, als „Glaubender“ erschaffenen Seins. So ist der Mensch der bewusst Empfangende dieser den absoluten „Offenbarer“ offenbarenden Seinsmitteilung. Indem ich mich als in dieser Weise erschaffen erkenne, glaube ich „an Gott“, weil ich dann verstehe, dass Gott der „Gott für mich“ sein will, dass er sein Sein darauf ausgerichtet haben will, dass wir „alle“ in seinsvollkommener Beziehung seien. „Gott, Du willst, dass wir seien wie Du, weil Du aus Deinem ganzen Sein nur Glück hervorbringen kannst“. Wir existieren nicht aufgrund einer göttlichen Wahl, sondern aufgrund der absolut freien inneren Notwendigkeit, kraft derer Gott Gott ist und in sich selbst die Vollkommenheit der Seinsmitteilung ist. Die Schöpfung ist nicht ein Gegenstand der göttlichen Offenbarung, wobei „Offenbarung“ hier im psychologischen Sinn zu verstehen wäre, also als eine Information, die den Menschen über den Zustand der Dinge der Welt gegeben wird, und sie ist auch nicht so etwas eine Eingebung, wo der Dichter, der zu Recht angesichts der Schönheit der Natur voll Bewunderung ist, behauptet, dass die Himmel die Herrlichkeit Gottes besingen, und sie ist auch nicht so etwas wie die Verbreitung eines himmlischen Geheimnisses. Für den bewusstseinsbegabten Menschen ist die geschaffene Wirklichkeit des Menschen die „Offenbarung“ Gottes in seinem Sein. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, zu erkennen, und zwar wenn möglich reflexiv und ganz und gar rational, dass sein interpersonales Sein (ich mit Anderen) mit der „SchöpfungOffenbarung“ Gottes identisch ist. Diese Fähigkeit, — sage ich — die für ihn zusammenhängt mit der Möglichkeit, unter der ethischen Verpflichtung der Freiheit seinem Mit-Anderen-Sein zuzustimmen, gemäß der ihm eigenen Relationalität mit dem Schöpfer-Offenbarer, fällt in eins mit der spezifisch DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 287 „theologalen“ „Glaubenschaftlichkeit“ des menschlichen Bewusstseins. Weil der Mensch sich seiner selbst in seinem geschaffenen Sein bewusst ist, ist er als „glaubensfähig“ geschaffen, und in ethischer Treue gegenüber seinem Sein bindet er sich in tatsächlichen Verhaltensweisen des Glaubens, die nach und nach verbessert werden und im Lauf der Geschichte ihrem einleuchtenden Ideal näher kommen. Die Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins muss als Schlussfolgerung eines richtig vollzogenen Bewusstwerdens unserer ontologischen Abhängigkeit vom göttlichen Absoluten entdeckt werden. Dieses Bewusstwerden ist gewissermaßen das Zeichen, dass die „göttliche Ursächlichkeit“ nicht mehr von der Kosmologie her verstanden wird, sondern personenbezogen, durch ein reflexives Denken. Wenn die göttliche Offenbarung die geschaffene, persönliche Wirklichkeit des Menschen ist, und nicht eine „Rede“, dann ist es nicht möglich, ausschließlich an einige „Offenbarungsreden“ zu glauben. Glaube wird dann immer Glaube an einen Offenbarer- und Schöpfergott sein, in einer Beziehung der Glaubenschaftlichkeit, die reflexiv verstanden und nach außen hin in religiösen Verhaltensweisen psychisch gezeigt wird. DER THEOLOGIEPROFESSOR Entspricht diese Glaubensform, deren ontologischen Aufbau Sie nochmals erklären, dem, was wir in den biblischen Erzählungen und im Glauben des Volkes des Alten Testaments feststellen können? DER ANDERE PHILOSOPH Ganz genau. Der Glaube des alttestamentlichen Menschen ist aber für ein „Mehr an Offenbarung“ offen, weil die Schöpfung „unvollendet“ ist. Gott weiß, dass er mit der Erschaffung des Menschen in der Geschichte sein Werk noch nicht vollendet hat. Die gesamte in der Zeit vergangene, gegenwärtige und zukünftige Geschichte bedarf einer jenseits der Geschichte liegenden Zukunft, damit das einzige Seinsmitteilungswerk Gottes verwirklicht werde. Tatsächlich hat der Mensch in dieser Geschichte seine tiefste, an der Wurzel seiner Freiheit liegende ontologische Endlichkeit in der Möglichkeit des Fehlers und in seiner tatsächlichen Sünde gesehen, und er sieht sie und wird sie immer sehen, wobei er 288 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN sich als „durch den Schöpferakt dazu verpflichtet und bestimmt“ sieht, in einer vollkommenen Großzügigkeit gegenüber anderen und in vollständig verwirklichter glaubenschaftlicher Annahme jener Großzügigkeit Gottes zu existieren, die im Wirken des Schöpfers sichtbar geworden ist. Der Mensch — allerdings nicht unbedingt alle Menschen mit derselben Einsicht — strebt also nach einer Art neuer Schöpfung, einer Schöpfung, die einen höheren Vollkommenheitsgrad aufweist und in der dieses Ideal jenseits von der gegenwärtigen Schöpfung erfüllt sein soll, und die ihn gerade dadurch vom Vermögen, nochmals zu sündigen, befreien wird. Dieses « Mehr » an Offenbarung ist die Offenbarung Gottes durch die Fleischwerdung des « göttlichen Wortes », der zweiten Person der Dreieinigkeit, in Jesus. Diesmal findet die « Offenbarung » durch Gott persönlich statt, Offenbarung des letzten und die ganze Geschichte durchziehenden Ziels des anfänglichen und bleibenden Schöpfungsaktes in der Zeit. Des letzten Ziels, das der Mensch unter der Gestalt eines Strebens wahrnahm, dessen Erfolg erforderlich war, aber außerhalb seiner Reichweite lag. DER DOMHERR « Außerhalb seiner Reichweite »? Was soll das heißen? DER ANDERE PHILOSOPH Dass der Mensch zunächst unfähig ist, dazu die Initiative zu ergreifen und sich tatsächlich von dieser Möglichkeit, das Böse zu tun, zu befreien, selbst wenn er das größtmögliche Gute tut, zu dem er fähig ist... Durch eine klare Untersuchung wird dies offensichtlich. « Außerhalb seiner Reichweite » bedeutet auch, dass der Mensch die Erfahrung einer derartigen Befreiung nicht im Lauf dieser Geschichte machen kann... Gott selbst kann uns nicht in dieser Geschichte von dieser Möglichkeit des Bösen befreien. Ansonsten hätte er es bereits getan... Und hätte eine Menschheit erschaffen, die ohne das Vorhandensein dieser Möglichkeit des Bösen in ihr existiert... Träumen wir nicht von etwas in sich Widersprüchlichem... von einem « quadratischen Kreis »,... von einer Menschheit, die sich in der Welt und in der Zeit entwickelt, ohne dass es in ihr die Möglichkeit gäbe, das Böse zu tun... DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 289 Aber das Streben nach der Befreiung von der Möglichkeit, das Böse zu tun, setzt notwendigerweise eine jenseits der Zeit gelegene Verwirklichung voraus, weil diese Befreiung die « Zukunft » der ganzen zeitlichen und geschichtlichen Menschheit ist. Insofern dieses Streben im Menschen notwendigerweise an die Verpflichtung, das Gute zu tun, und an die ethische Pflicht, dem Guten immer näher zu kommen, gebunden ist, ist es eine « Wirklichkeit im Menschen ». Als « Wirklichkeit im Menschen » offenbart es den Willen Gottes, dass es Erfolg habe. Die Welt und der Mensch sind übrigens von Gott einzig im Hinblick auf eine Vollkommenheit des Seins in die gegenwärtige unvollkommene Existenz geworfen worden, nämlich im Hinblick auf eine Seinsmitteilung seinerseits, die so großzügig wie nur möglich ausfallen wird. Sie kommt einer wahrhaftigen « Vergöttlichung » gleich, die uns eben dadurch, jenseits unseres Todes, von der in unserer gegenwärtigen Schöpfung gegebenen Fähigkeit, das Böse zu tun, befreit, so wie es die « Auferstehung » des Menschen Jesus bezeugt. Die Auferstehung Jesu ist das Wahrwerden der transzendenten Offenbarung Gottes an die Menschen. Die transzendente Offenbarung unserer befreiten und vergöttlichten Existenz ist nicht ein « Programm », und auch nicht ein vorgezeichneter Ablauf, und auch nicht eine « virtuelle » Projektion dessen, was uns erwartet, und auch nicht eine « Vision » dessen, was wir in dieser neuen Existenz sein werden. Sie ist eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit eines « vergöttlichten Menschen ». Sie ist die Wirklichkeit einer Vergöttlichung eines Menschen, der geboren wurde, gelebt hat, sich seiner Bestimmung bewusst wurde, der gestorben ist und der wirklich in diese « Vergöttlichung » eingetreten ist, in das « Wesentliche dieser Offenbarung », kraft des göttlichen Wirkens in ihm, kraft einer persönlichen Gegenwart Gottes in ihm. Jede Offenbarung Gottes an die Menschen besteht in einer Wirklichkeit. Daher ist auch die Offenbarung unserer befreienden Vergöttlichung eine Wirklichkeit: jene der Auferstehung eines Menschen — nicht einer « Auffassung » von der Auferstehung — die die « Zu-kunft » der Menschheit sichtbar macht. Sie ist eine « Offenbarung », weil diese « Zukunft » in ihm vollendet ist. Ausschließlich daher ist er für uns « Offenbarung Gottes ». 290 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Durch diese transzendente Offenbarung vervollständigt Gott das, was er in der ersten Zeit seiner seinsgebenden Großzügigkeit, also in der Zeit der Schöpfung, von sich offenbaren will. In der Person Jesu zeigt er also in seiner Schöpfung das, was jenseits seiner Schöpfung liegt, nämlich die « vergöttlichende Auferstehung », auf die hin er begonnen hat, den Menschen mit der Fähigkeit, das Böse zu tun, und der messianischen Erwartung, davon befreit zu werden, zu erschaffen. Diese Vergöttlichung, Werk Gottes — nicht eine Vergöttlichung und menschliche Erhebung « zur Ehre der Altäre », was nichts weiter wäre als Schein — ist nur jenseits des Todes wirklich, aber wir können uns ihrer genauso sicher sein wie unserer eigenen gegenwärtigen Existenz. Sie ist die zweite Zeit seiner das Sein außerhalb seiner selbst mitteilenden Tätigkeit. Sie ist vollkommen in der trinitarischen Seinsmitteilung begründet, die er in sich selbst ist. Sie ist eine Teilhabe an seinen trinitarischen Beziehungen, und zwar nicht nur « nach Seinem Bild », nicht nur « nach dem Bild » seiner trinitarischen Beziehungen. Weil die Schöpfung der Menschheit durch Gott nach dem Bild seiner trinitarischen Beziehungen ist, und daher die ethische Verpflichtung zum Guten einschließt, also die Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen, die Liebe zu wollen und richtige glaubenschaftliche Beziehungen einzugehen, und gleichzeitig auch deshalb, weil sie die Möglichkeit, das Böse zu tun, in sich trägt, ist zur Befreiung von dieser Möglichkeit eine Seinsmitteilung seitens Gottes nötig, die die Existenz « als Abbild » überbietet... Sie setzt also eine « Eingliederung », gewissermaßen eine Inthronisierung in die trinitarischen Beziehungen an sich voraus. Es ist also ganz natürlich, dass Gott in der Offenbarung unserer Vergöttlichung in der Person Jesu kraft seiner personalen trinitarischen Beziehungen wirkt, und nicht nur aufgrund seiner trinitarischen Struktur, also « als Abbild » seiner selbst. In Jesus ist die Offenbarung-Schöpfung Gottes vollendet, und zwar in der Weise der Immanenz, wie für den in seiner Befindlichkeit des geschaffenen, begrenzten Seins seienden Menschen. Als Immanenz in der Person Jesu vollendet, ist sie für uns eine transzendentale Offenbarung, deren immanente Verwirklichung in Gott noch aussteht, nämlich durch unsere Auferstehung nach unserem Tod. Das ist auch die wahre DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS 291 Bedeutung des Wortes „Offenbarung“. Wir müssen diesen Begriff von der empirischen Vorstellung befreien, die ihm als Bedeutung gegeben wird. Der göttliche Offenbarer setzt sich also immer für die Entfaltung dessen, oder vielmehr derer ein, deren Glauben er anregt, indem er sie notwendigerweise als „glaubenschaftliche Seiende“ geschaffen hat. Auch kann das glaubenschaftliche Bewusstsein eine Offenbarung nicht anders authentisch begreifen als auf seine personale und beziehungsbedingte Entfaltung hin ausgerichtet, sowie auch auf jene aller Menschen, ohne Ausnahme. Das „Heil“ Gottes, also das Geschenk des „vollkommenen Lebens in der Liebe“, muss alle Menschen erreichen und erreicht sie; nicht einer wird davon ausgeschlossen sein, und nicht einer wird sich davon ausschließen... Die Sprache der Psychologie passt hier genau zu dieser philosophischen Analyse. Man „vertraut“ dem, der uns Gutes will; man „misstraut“ dem, der uns bedroht. Drohungen fallen dem glaubenschaftlichen Bewusstsein „in den Rücken“, denn sie sind die Verneinung einer Seinsmitteilung. Zwischen Eheleuten und von den Eltern zu den Kindern bestehen Verhaltensweisen der Offenbarung, und zwischen Eheleuten und von den Kindern zu ihren Eltern bestehen Verhaltensweisen des Glaubens und Vertrauens. Dies alles sind Formen der Glaubenschaftlichkeit, die nun erforscht werden müssten, denn sie sind die Struktur des göttlichen Handelns der Offenbarung-Schöpfung. Ontologisch gesehen veredelt die theologale Glaubenschaftlichkeit die familiäre Glaubenschaftlichkeit, während epistemologisch gesehen die familiäre interpersonale Glaubenschaftlichkeit uns die theologale Glaubenschaftlichkeit verständlich macht. Diese beiden glaubenschaftlichen Dimensionen verweisen uns gemeinsam auf die ewigen Beziehungen der Glaubenschaftlichkeit, die zwischen den göttlichen Personen bestehen, also auf die ewige Seinsmitteilung, die Gott selbst ist. DER MODERATOR Lieber Kollege, erlauben Sie mir, dass sich Sie hier unterbreche. DER ANDERE PHILOSOPH Sie unterbrechen mich keineswegs. Ich meine, ich habe auf die mir gestellten Fragen geantwortet... 292 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER MODERATOR Das ist wahr... Aber ich habe doch den Eindruck, dass sie gerade einen neuen Ausblick eröffnet haben... auf andere Fragen. Das wird uns bei unserer nächsten Zusammenkunft beschäftigen... Die Sitzung ist beendet... Ich wünsche allen einen schönen Abend... Bis morgen! SECHSTE BEGEGNUNG BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT Am nächsten Morgen... DER MODERATOR Guten Morgen... Zu Beginn dieser sechsten Zusammenkunft eine kleine Anekdote... Gestern Abend habe ich mich im Restaurant mit einigen befreundeten Archäologen getroffen. Sie unterhielten sich natürlich über die den antiken Religionen eigenen Symbole. Um seine Deutung zu untermauern, berief sich der eine von ihnen auf mich: « Mir scheint, dass es in Ihrer Werkstätte einen Psychoanalytiker gibt, der Vorkämpfer für die Idee der Existenz eines « Glaubenstriebs » sein soll. Wenn er recht hat, könnte die Existenz eines derartigen Triebs die Auswirkung gewisser Symbole auf die menschliche Psyche erklären, sowie auch das Vorhandensein dieser Symbole in verschiedenen Religionen, die ganz offensichtlich keine geschichtliche Verbindung zueinander haben. » Ich war angenehm überrascht, zu sehen, dass die Ideen unseres Psychoanalytikers bereits außerhalb unserer Gruppe die Runde gemacht haben. « Der von Ihnen geprägte Begriff erregt Aufmerksamkeit, wie Sie sehen! » DER PSYCHOANALYTIKER Offen gesagt, das liegt nicht an mir... Es wäre schön, wenn all unsere Untersuchungen zum Nachdenken anregen würden... Darüber würde ich mich noch mehr freuen. 294 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DIE ANWÄLTIN Die mit mir befreundete Historikerin und ich selbst wären froh, wenn auch der gegenseitige Glaube von Eheleuten behandelt werden könnte. Wir haben hier bereits mehrmals darauf angespielt... Gestern Abend haben wir unter uns ebenfalls darüber diskutiert. Was ist dieser Glaube genau? Von Berufs wegen haben wir beide vor allem mit Vertrauensmissbrauch und Verrat in diesem Bereich zu tun... Wäre unser Glaubenstrieb dann nicht wirkungslos? Und wenn er auf der menschlichen Ebene wirkungslos wäre, wie könnte er dann noch helfen, den religiösen Glauben zu verstehen? Welchen Platz in unseren Überlegungen sollten wir all dem Scheitern im Eheleben einräumen? DER MODERATOR Diese Fragestellungen erweitern das Spektrum unserer Untersuchungen... Wer möchte auf diese Fragen eingehen? DER ERSTE PHILOSOPH Erlauben Sie bitte, meine Dame, dass ich die Begriffe etwas genauer fasse! Sie haben von « religiösem Glauben » gesprochen. Wollten Sie damit sagen « Glaube an Gott », oder wollten Sie den Begriff « religiöser Glaube » absichtlich beibehalten? Es gibt nämlich tatsächlich zwei sehr unterschiedliche Arten von Fragestellungen. Die Untersuchung der Beziehungen zwischen den Gott zugewandten « religiösen Glaubensrichtungen » und den diesen Überzeugungen eigenen ehelichen Einrichtungen, hängt von der Geschichte, der Soziologie, dem Recht und den anderen « beobachtenden » Wissenschaften, wie etwa der Psychologie ab... Wenn Sie hingegen die Frage nach dem « Glauben an Gott » stellen, wie wir ihn bereits in seinem Wesen zu definieren versucht haben, und nach den Beziehungen des ehelichen Glaubens, nach dessen Wesen wir ebenfalls suchen müssen, dann stellen Sie damit eine philosophische, reflexive Frage. DIE RELIGIONEN UND IHRE AUFFASSUNG VOM PAAR MANN-FRAU DIE HISTORIKERIN Beide Arten von Fragen sind interessant. Wir verwechseln sie nicht. Wir sind uns auch bewusst, dass man, um über die Beziehungen zwischen den religiösen Überzeugungen und ihren BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 295 jeweiligen Vorstellungen von der Ehe zu urteilen, über Bezugspunkte verfügen muss. In Ermangelung von unbezweifelbaren philosophischen Bezugspunkten, oder um nicht Partei zu ergreifen,... geben wir uns oft mit einfachen Vergleichen zwischen den verschiedenen religiösen Gesellschaften und ihren Regeln für das Eheleben zufrieden. Wenn wir an diesem Seminar teilnehmen, dann genau deshalb, um unsere Bezugspunkte klarer zu sehen und einzuordnen... DIE ANWÄLTIN Wir können übrigens feststellen, dass sich niemand mit mehr Eifer in die Beziehungen zwischen Mann und Frau einmischt, als die religiösen Oberhäupter; obwohl ihre Aufgabe theoretisch doch darin bestehen würde, sich um die Beziehungen der Menschen zum Göttlichen zu kümmern. Warum verhalten sie sich so? Verpflichtet ihre Gottesvorstellung sie, zu entscheiden, was die Beziehungen zwischen Mann und Frau sein sollten? DER PHYSIKPROFESSOR Ich meinerseits denke, dass zwischen Gottesvorstellung und der Vorstellung vom menschlichen Ehepaar und seiner Familie ein Zusammenhang besteht. Es ist daher ganz normal, dass die Religionen diese Beziehungen, zumindest die wesentlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau, im Einklang mit der Vorstellung bestimmen, die sie sich von Gott machen. Das bringt mich nicht aus der Fassung. Auch Frauen haben eine Beziehung zum Göttlichen... Dieselbe wie Männer? Ich weiß es nicht... Also muss es auch eine Verbindung zwischen dem Ehepaar und der Gottesvorstellung geben... Ich meine jedoch, in Ihrer Frage eine Regung der Entrüstung und des Aufbegehrens festzustellen. Wodurch meine kleine Überlegung sehr unzulänglich wird... DIE ANWÄLTIN Genau... Und Sie gießen noch Öl ins Feuer, wenn Sie sich fragen, ob die Rolle der Frauen dieselbe ist wie jene der Männer! Hier sieht man wieder einmal, dass die Religionen den Frauen nicht dieselbe Stellung zugestehen wie den Männern... Gehört diese Diskriminierung wesentlich zum religiösen Glauben, oder ist sie nur ein Überbleibsel aus primitiven Gesellschaften? 296 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER PHYSIKPROFESSOR Ich würde Ihre Entrüstung teilen — die ich ungewollt vertieft habe — und zwar nicht über das Vorhandensein eines Zusammenhangs zwischen der Vorstellung vom Ehepaar und der Gottesvorstellung, sondern über die Art und Weise, wie man diesen Zusammenhang auffasst. Vielleicht haben die monotheistischen Religionen hier eine falsche Vorstellung. Dies würde die Diskriminierungen, über die Sie sich empören, erklären... Aber daraus folgen mehrere Fragen. Mir scheint, zunächst müsste man das Ehepaar selbst ins Auge fassen, und sich davon unabhängig von jeder Bezugnahme auf religiöse Inhalte eine Vorstellung zu geben. DER MODERATOR Das wäre dann also eine philosophische Vorstellung vom Ehepaar? DER PHYSIKPROFESSOR Genau... Dann kann man seine psychologische Seite, seine ethische Seite und auch die eigentliche Beschaffenheit seiner Wirklichkeit ins Auge fassen... DER ERSTE PHILOSOPH Sie meinen: seine ontologische Dimension oder Verfasstheit? DER PHYSIKPROFESSOR Ja... Ist das Ehepaar eine einfache Vereinigung oder mehr als das? Kann die Ehe eine vorläufige, mehr oder weniger dauerhafte Einheit bleiben, oder muss sie zu einer endgültigen Selbstverpflichtung werden? Dringt sie ins Innerste der Persönlichkeit eines jeden ein oder bleibt sie in einem weiter außen liegenden Bereich stehen? Baut sich die Persönlichkeit « in der Ehe » auf, oder ist die Ehe nur « der Rahmen » für das Individuum? Dann, nachdem so eine bestimmte Vorstellung von der Ehe ausgearbeitet sein wird, werden wir sie zur Gottesvorstellung in Bezug setzen, zuerst zu bestimmten philosophischen Gottesvorstellungen, dann zu den religiösen Vorstellungen, die diese oder jene Gesellschaft von der Ehe und von Gott hat. BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 297 Um in der physikalischen Forschung Fortschritte zu erzielen, schreibt man Versuchsprotokolle. Und in ähnlicher Weise sollten wir hier ein Protokoll führen. DIE ANWÄLTIN In diesem Punkt bin ich mit Ihnen einverstanden... Genau deshalb habe ich darum gebeten, dass wir uns heute die Frage stellen, was « Glaube » in der Ehe sein könnte und ob dieser Glaube mit dem Glauben an Gott irgendetwas zu tun hat. DER MODERATOR Ich sehe, dass wir hier heikle Frage anschneiden... Um sie in Angriff zu nehmen, wurde sogar vorgeschlagen, dass wir ein Protokoll erstellen und führen. Mir scheint das eine gute Idee zu sein. DER ERSTE PHILOSOPH Mit oder ohne Protokoll... — aber ich bin dafür...— müssen wir bei der Wortwahl genau sein. Die reflexiven Fragen nach dem Wesen der Dinge sind eine Sache, und jene nach der festgestellten, vorhandenen Wirklichkeit derselben Dinge eine andere. Zweifellos muss unser Verständnis vom Idealzustand dieser Dinge so beschaffen sein, dass es uns erlaubt, auch die an diesen Dingen im Vergleich zu ihrer idealen Wesenheit beobachteten Fehlschläge zu verstehen. Hier haben wir das ganze Problem des Irrtums und des Bösen in der Welt, vor allem, wenn es um die Taten der Menschen geht. Eine Sache ist das Idealverständnis der ehelichen Liebe, und eine andere Sache ist das konkrete Leben der Ehepaare, die versuchen, sich diesem Ideal anzunähern. Und damit man versuchen kann, sich diesem Ideal anzunähern, muss es außerdem fehlerfrei gedacht werden. Man wird es niemals fertigbringen, ein in sich widersinniges Ideal zu verwirklichen. Das gilt übrigens genauso für die Umsetzung eines Ideals des Glaubens an Gott in den geschichtlichen, religiösen Formen dieses Glaubens. Um ein « Ideal » fehlerfrei zu denken, muss man es gleichzeitig als wirklich machbar und als fähig, auch unvollkommen zu sein, also schlecht umgesetzt zu sein, denken. DER ANDERE PHILOSOPH 298 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Ich schließe mich der Anmerkung meines Kollegen voll und ganz an. Das Ideal einer menschlichen Verhaltensweise zu denken heißt, sie gemäß all jenen bezeichnenden Eigenschaften zu bedenken, die sie braucht, um das zu sein, was sie von ihrem « Wesen » her ist. Das Fehlen einer dieser bezeichnenden Eigenschaften, wo dies möglich ist, zieht das Verschwinden dieser Verhaltensweise nach sich. Nehmen wir als Beispiel die Verhaltensweise des « Dialogs ». Sie verlangt die Gegenwart von mindestens zwei Personen. Ich kann nicht mit mir selbst allein einen Dialog führen. Jeder versteht, dass das Stilmittel « Dialog mit sich selbst » nichts weiter ist als eine literarische Ausdrucksweise, und dass ich in einem « Selbstgespräch » mindestens zwei verschiedene Rollen spiele... Es können die Rollen sein von demjenigen, der die Fragen stellt, und dem, der darauf antwortet, oder die Rollen von demjenigen, der seine Behauptung erklärt, und dem, der ihr widerspricht, usw. Aber es gibt bezeichnende Eigenschaften unserer menschlichen Verhaltensweisen, die so grundlegend sind, dass man sie nicht wegdenken kann. Ihre Gegebenheit ist für jegliche menschliche Existenz absolut notwendig. Man kann sie nur dadurch in Worten oder Gedanken leugnen, dass man sie im Sprech- oder Denkakt selbst anwendet, in demselben Augenblick, wo man spricht oder denkt. Gegen sie zu handeln ist wiederum nichts anderes als sie auf die Art der Lüge, des Verrats oder des Verbrechens anzuerkennen. Wie etwa, wenn ich sage « ich sage nichts »; wenn ich denke « ich denke nicht »; wenn ich urteile « ich urteile nicht »; wenn ich als wahr hinstelle, « dass es keine Wahrheit gibt »; wenn ich « die Existenz der Verneinung » verneine oder wenn ich behaupte, dass ich sie nicht verstehe; wenn ich die « Beziehung des Widerspruchs » als Widerspruch ablehne; wenn ich für all meine Vorstellungen « ihre Eignung, auf die von ihnen bezeichneten Gegenstände universal anwendbar zu sein » allgemein ablehne; wenn ich « nicht wollen » will; wenn ich wähle « nicht zu wählen »; wenn ich es mir zur Lebensregel mache, « dass es keine Regel gibt »; usw. DER MODERATOR Diese Art von Argumenten wurde gewissermaßen schon von Aristoteles entdeckt. Er nannte sie « elegchos ». Wir könnten das als « Ablehnung wegen Widersinnigkeit » übersetzen. Das Wort kommt vom Verb « élegchô », was so viel heißt wie BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 299 « jemandem beschämt machen », « von einem Fehler, einem Irrtum überzeugen ». Es ist ein Argument, das der Philosoph in Streitgesprächen gegen einen unglaubwürdigen Gegner benutzt, oder gegenüber einem eher naiven und etwas anmaßenden Gegner, der negative Teilwahrheiten unzulässigerweise verallgemeinert. Weil es wahr ist, dass es sichere Irrtümer gibt, hat man noch lange nicht das Recht, zu sagen, dass « alles Irrtum ist », und dass es keine Wahrheit gibt. Das wäre eine unzulässige Verallgemeinerung. Durch ihren angeblich absoluten Wert bringt sie ihren Urheber in « ausgeübten » Widerspruch zu sich selbst und lässt ihn « in der Ausübung » das behaupten, was er mit Worten ablehnt oder woran er durch seine Taten Verrat übt. Diese Art von an sich unumstößlichen Argumenten hat derweil den Nachteil, dass sie denjenigen verärgert, der die « Wahrheit, die er ja dennoch in sich trägt », wie Sokrates zu sagen pflegte, nicht sehen will, und zwar nicht als ein « vergessenes Wissen », an das er sich erinnern soll, sondern in seiner eigenen freien und bewusstseinsbegabten menschlichen Wirklichkeit. Das « reflexive » Feststellen eines ontologischen Merkmals, das wesentlich zu uns gehört, ist ein Vorgehen, das der Widerlegung durch Widersinnigkeit vorzuziehen ist. Eine Erziehung zur « Reflexion » braucht Zeit und Geduld. Das Gelingen dieser Pädagogik ist eine besondere Belohnung. DER ANDERE PHILOSOPH Dem Wunsch nach methodischer Genauigkeit und klarer Wortwahl möchte ich noch eine zweite Bemerkung anfügen, die das von unserem Physiker vorgeschlagene Protokoll anbelangt. Wenn wir dieses Protokoll führen — und es gibt keinen Grund, es nicht zu führen — werden wir den Blickwinkel, unter dem wir die Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins behandeln, vollständig ändern. In unseren vorausgegangenen Zusammenkünften bewegte sich unsere Diskussion innerhalb eines um religiöse Überzeugungen kreisenden Rahmens. Um theologische Probleme zu klären, haben wir je nach Bedarf aus den jeweiligen philosophischen « Vorräten » Begriffe und Überlegungen hervorgeholt. Diese Zusammenkunft hingegen wurde durch eine aufgebrachte Frage eröffnet. Sie wendet sich gegen die religiösen Überzeugungen, die Frauen betreffen. Wir sollten sie nicht auf die leichte Schulter nehmen. 300 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Ihre Einsprache, meine Dame, passt bestens zu Ihrem Beruf, und hat darüber hinaus die Zustimmung der hier anwesenden Damen gefunden... DER MODERATOR Wir haben die Frage nicht auf die leichte Schulter genommen... Genau aus diesem Grund hat unser Physiker dann vorgeschlagen, die religiösen Überzeugungen auszuklammern. Er schlägt vor, dass wir die Analyse der Glaubensbeziehungen in der Ehe « unabhängig von jeder Bezugnahme auf religiöse Inhalte» durchführen. Genau mit diesen Worten hat er sich ausgedrückt... Auch ich möchte mein Einverständnis mit ihm unterstreichen. DER ANDERE PHILOSOPH Das heißt, dass wir uns jetzt in entgegengesetzter Richtung fortbewegen... Wir werden von einer ausschließlich philosophischen Analyse ausgehen, um danach auf die theologischen Fragen zurückzukommen. Zweifellos werden wir sie dann kritischer unter die Lupe nehmen. DER THEOLOGIEPROFESSOR, in scherzendem Tonfall: Dann wünschen wir Ihnen also « gute Fahrt » und haben nun weiter nichts zu tun, als darauf zu warten, dass Ihr auf die Theologie zurückkommt... DER ERSTE PHILOSOPH, im gleichen Tonfall: Die Fähigkeit zur Philosophie fehlt den Theologen keineswegs... Machen Sie sich also mit uns auf den Weg... IST DAS KARTESIANISCHE COGITO EIN HINREICHENDER AUSGANGSPUNKT, UM ZU EINER GANZHEITLICHEN PHILOSOPHISCHEN WAHRHEIT VORZUDRINGEN? DER MODERATOR, Philosophiegeschichtler: Richtig! Wovon gehen Sie aus? Das ist jetzt die Frage... Descartes, « dieser französische Reiter, der so schnell davongaloppiert ist », wie Péguy sagte, bedient sich des « Zweifels ». Die Möglichkeit, zu zweifeln, ist für ihn ein Werkzeug der Erprobung, und zwar nicht unserer erworbenen Kenntnisse, sondern unserer « Erkenntnisweisen », um durch ein Ausschließungsverfahren diejenige Erkenntnisform ausfindig zu BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 301 machen, die uns zu einer absolut unbezweifelbaren Wahrheit vordringen lassen wird. Er erwähnt, dass er den Wert der naturwissenschaftlichen Erkenntnis in Zweifel ziehen kann. Er schiebt sie daher beiseite... Er treibt es so weit, dass er sogar die mathematische Erkenntnis anzweifelt. Auch sie schiebt er also beiseite... als ob es sich um falsche Erkenntnisse handeln würde. Es liegt eine unglaubliche intellektuelle Askese darin, dass man sich in dieser Weise den Geist von einer Einschränkung und Beschränkung auf die naturwissenschaftlichen und logischmathematischen menschlichen Erkenntnisweisen freimacht. DER PHYSIKPROFESSOR Und wohin führt ihn das? DER MODERATOR Dazu, dass er die reflexive Erkenntnisart entdeckt, also die eigentlich philosophische Erkenntnisweise, die es ihm erlaubt, zu unbezweifelbaren, absolut notwendigen Wahrheiten vorzudringen. Der Text aus dem vierten Teil des Discours de la Méthode ist glasklar: « Aber gleich danach wurde ich darauf aufmerksam, dass, während ich in dieser Weise denken wollte, dass alles falsch ist, es doch notwendig war, dass ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich bemerkte, dass diese Wahrheit: Ich denke, also bin ich, dermaßen unumstößlich und sicher war, dass selbst die aller ausgetüfteltsten Annahmen der Skeptiker sie nicht erschüttern können, urteilte ich, dass ich sie ohne jegliches Zögern als das erste Prinzip der Philosophie, die ich suchte, annehmen konnte.» (1) Für Descartes ist der unbezweifelbare Ausgangspunkt der Philosophie die Behauptung des « ich bin », also die Anerkennung der bewusstseinsbegabten und freien individuellen Person. Descartes wird daraus schrittweise seine ganze Philosophie herleiten. DIE KRANKENSCHWESTER einer Abteilung für Palliativmedizin Ich gebe ja gerne zu, dass die Wahrheit « ich bin » eine unbezweifelbare Wahrheit ist, aber ich sehe nicht, wie sie irgendjemanden in einer Abteilung eines Krankenhauses, oder auch eine Familienmutter in ihrem Haushalt, motivieren könnte. DER MODERATOR 302 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Es stimmt, dass man gegen das « Ich denke, also bin ich » des Descartes oft einwendete, es sei ein mit sich selbst alleinseiendes Subjekt. Seine erste ontologische Beziehung wäre die zu Gott. Und dieser wiederum würde ihm dann die Erkenntnis der Welt und der anderen Menschen gewährleisten. Das ist der Schwachpunkt der kartesianischen Philosophie. Ich gebe es zu. Denselben Vorwurf kann man auch Malebranche machen. Und wir kennen auch den Ausspruch Bossuets, « ich allein und mein Gott ». DER ERSTE PHILOSOPH Und doch war das Vorgehen des Descartes richtig. Der intellektuelle Weg, den er zurückgelegt hat, ist einwandfrei. Aber leider ist er wenige Schritte vor dem Ziel stehengeblieben. Oder, besser gesagt, nachdem er das Ziel gerade erreicht hatte, konnte er es nicht vollständig explizieren. Schauen wir uns das im Text an. Wir alle kennen ihn auswendig, da wir uns so oft mit ihm beschäftigt haben... In dem Augenblick, wo Descartes denken will, dass alles falsch ist, bemerkt er die Notwendigkeit seines Denkens und seiner Existenz. Es ist tatsächlich nötig, dass er, der es denkt, etwas ist. Im Text sehen wir, dass das direkte Objekt, das das Verb « denken » ergänzt, langsam verschwindet. Zunächst ist es ein untergeordneter Aussagesatz: « dass alles falsch ist ». Danach wird es zu einem einfachen Pronomen: « es », und verschwindet ganz und gar in der Formel « ich denke, also bin ich ». DER MODERATOR Und wie erklären Sie, dass Descartes so völlig aus den Augen verliert, dass sein Denken immer ein Objekt hat, wie das Brentano und Husserl aufzeigen? DER ERSTE PHILOSOPH Ich schlage vor, dass wir die Erklärung in den ersten Worten dieses Satzes suchen: „Aber gleich danach wurde ich darauf aufmerksam, dass... “ Gleich danach! Hier haben wir die Tragödie... Danach! Das ist zu spät... Um die ersten Notwendigkeiten, d. h. die ersten notwendigen Grundeigenschaften unseres Seins durch Überlegung zu erfassen, muss man sich in den Denkakt selbst hineinversetzen, und nicht in die „Erinnerung“ an ihn, sei sie auch noch so frisch. Sobald die Erinnerung dazwischentritt, gleiten wir in die BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 303 Selbstbetrachtung ab. Und so befinden wir uns dann in der Psychologie; und nicht mehr in der Philosophie. Platon war auf dieses Problem aufmerksam geworden, obwohl er es nicht hat lösen können. Er spricht von „Wiedererinnerung“. Das war nicht die Erinnerung an irgendetwas Vergangenes, an ein Ereignis, das fortan aufhört, zu existieren, sondern das Wiedererwachen im Geist von etwas, das in uns bleibt. DER ZWEITE PHILOSOPH Ich schließe mich Ihnen voll und ganz an, geschätzter Kollege. Die philosophische Methode, die wir als reflexiv bezeichnen, besteht tatsächlich darin, dass man die wesentlichen Notwendigkeiten des Aktes des Bewusstseins und der Freiheit während dieses Aktes wahrnimmt, und nicht in einer flüchtigen Erleuchtung, sondern im Bleiben dieser Tätigkeit. Wie unser Gruppenleiter sehr gut aufgezeigt hat, ist es tatsächlich nötig, dass man, wie Descartes es tut, nicht eingegrenzt bleibt, weder auf den objektiven Bereich unseres Denkens, den wir « die Welt » nennen könnten, noch auf den logisch-mathematischen Bereich, in dem wir unsere Erkenntnis dieser Welt « formalisieren ». Vielmehr müssen wir daraufhin den Bewusstseinsakt, « die Welt sinnlich wahrnehmbar zu denken », und auch den Bewusstseinsakt, « die Welt formal zu denken », und alle anderen Bewusstseinsakte, in ihrer dauerhaften Ausübung direkt angehen. DER ERSTE PHILOSOPH Im Anschluss an Franz Brentano, aber auch an andere Philosophen, sogar vor Descartes, müssen wir uns also sehr wohl bewusst sein, dass wir, wenn wir denken, immer an irgendetwas denken. Thomas von Aquin nannte dieses Prinzip « Intentionalität ». Dieser Begriff bringt die auf etwas hin ausgerichtete Bewegung des Bewusstseins gut zum Ausdruck. « Jedes Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas », sagte Franz Brentano. Oder? DER ZWEITE PHILOSOPH Ich persönlich ziehe die lateinische Formulierung Husserls vor: « Cogito cogitatum », die ich, um die Parallele zu Descartes zu vervollständigen, ergänzen würde mit einem « ergo sum cum cogitato ». 304 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER ERSTE PHILOSOPH Das ist eine mögliche Vorliebe... denn in jedem Fall sind die beiden Formulierungen gleichwertig... DER ZWEITE PHILOSOPH Verzeihen sie... Die beiden Formulierungen sind nicht gleichwertig... und die von Husserl, mit meiner Ergänzung, ist ganz offensichtlich vorzuziehen. « Cogito cogitatum, ergo sum cum cogitato existente in re. » DER ERSTE PHILOSOPH Ich sehe den Grund dazu nicht... Würde ihn aber gerne erfahren... DER ZWEITE PHILOSOPH Verzeihen Sie mir nochmals... Aber ich merke, dass sich unsere Wege bereits hier scheiden werden. Sie werden bei einer substanzialistischen und individualistischen klassischen Analyse bleiben, während ich bereits beginnen werde, die Relationalität eines persönlichen Bewusstseins hervorzuheben. DER ERSTE PHILOSOPH Das kann sein... DER ZWEITE PHILOSOPH Sie werden mir nun erwidern, dass das Bewusstsein, das ja immer « Bewusstsein von irgendetwas ist », um sich selbst zu bejahen auf sich selbst zurückkommt, nachdem es diese andere Sache bejaht hat. Und Sie werden sich des lateinischen Lehrsatzes « reditio completa ad seipsum » bedienen, also der Lehre von der « vollständigen Rückkehr des Bewusstseins zu sich selbst », nachdem es sich zuerst dem Objekt zugewendet hat. Selbstverständlich kann man die Reflexion als ein Auf-sichselbst-Zurückkommen des Bewusstseins auffassen. Der Begriff stimmt damit semantisch überein. Aber in diesem Fall bewirkt dieser « Umweg » über das ausgesagte Objekt, dass wir wiederum zu spät kommen; zu spät, um die Bewusstseinsaktivität in ihrer Unmittelbarkeit in sich selbst festzustellen, und dann ihren ganzen Reichtum auszufalten. BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 305 Sie haben den vom kartesianischen Cogito eingeschlagenen Umweg sehr umsichtig beschrieben. Hier liegt die Schwachstelle! Es impliziert eine Diskontinuität, gewissermaßen eine Zeitverschiebung, zwischen dem Augenblick der Aufhebung unseres auf die Objekte unserer naturwissenschaftlichen und logisch-mathematischen Erkenntnisse bezogenen Urteilens und dem Augenblick des Erfassens des « ich denke, ich bin ». Sie haben daraus sehr richtig geschlossen, dass Descartes sich die Erkenntnis des Objekts des « Ich denke » entgehen ließ, in diesem Fall das Ergebnis all seines In-Zweifel-Ziehens, also « dass alles falsch war ». Aber bereits in eben diesem Moment wäre es nötig gewesen, darauf aufmerksam zu machen, dass sich die Zweifel nur auf das beziehen, was wir von diesen Objekten aussagen, worin wir irren können, nicht aber auf die Existenz einer « objektiven » Erkenntnisform, also einer Bewusstseinsaktivität, die sich auf « Objekte » bezieht, auf Wirklichkeiten, die vom erkennenden Subjekt unterschieden sind und die es in ihrer Existenz erkennt und anerkennt. Das ist also der Grund, warum ich Husserls Formulierung « Cogito cogitatum » vorziehe, die allerdings ergänzt werden muss: « ergo sum cum cogitato existente in re ». In demselben Augenblick, wo ich mein Urteil über all mein objektives und formales Wissen aufhebe, werde ich mir meiner selbst und meiner Existenz bewusst, wobei ich zugleich gerade dabei bin, Erkenntnisformen anzuwenden, nämlich die objektive und die formale, in denen ich auf Gründe zum Zweifeln stoßen kann, und in denen ich ermächtigt bin, mein Urteil aufzuheben, während ich doch in diesem reflexiven Bewusstwerden, zu dem ich ausschließlich dadurch gelangen konnte, weil ich die Kraft hatte, nicht in diesen objektiven Erkenntnisformen eingeschlossen zu bleiben, in keiner Weise zweifeln kann. Ich bewege mich also notwendigerweise im Innersten einer Wahrheit, die ich mit einem Gefühl der absoluten Sicherheit aussprechen kann. Die unmittelbare Erkenntnis des Bewusstseins, das meines ist, und meiner Existenz schließt sowohl meine Intentionalität als auch die Existenz einer in ihrem Blickfeld liegenden « objektiven » Welt, die auf sie zugeschnitten ist und die das ihr « angemessene Objekt » enthalten muss, in ein und dieselbe Wirklichkeitsaussage ein. Ich kann all mein objektives und formales Wissen anzweifeln, aber nicht die Wirklichkeit der formalen und objektiven 306 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Intentionalität meines Bewusstseins, denn diese Intentionalität wird intuitiv erfasst, in ein und demselben reflexiven Akt, durch den das Bewusstsein sich selbst wahrnimmt. DER ERSTE PHILOSOPH Geben Sie zu, dass es nicht einfach ist, eine Wirklichkeit, die Sie mit kilometerlangen Sätzen beschreiben, auf einmal aufzufassen... Einige Teilnehmer lächeln wohlwollend... DER ZWEITE PHILOSOPH Das gebe ich gerne zu... Aber die vorausgegangenen Beiträge haben mich gezwungen, auf den Problemkreis rund um Descartes einzugehen... Übrigens war es gar nicht schlecht, Descartes als Bezugspunkt zu nehmen... Wenn Sie jedoch lieber von jeglicher kulturellen Bezugnahme absehen wollen, um die grundlegende und unzerlegbare reflexive Intuition zu beschreiben, die wir alle ununterbrochen im Leben umsetzen, dann reicht es eigentlich, zu sagen... oder vielmehr reicht es, dass ein jeder sagen könnte: « Ich bin, und ich bin mir meiner selbst bewusst als in mir selbst notwendigerweise das Bewusstsein tragend vom Anderen, das von mir unterschieden ist, und mit mir in Existenzbeziehung steht ». DIE ANWÄLTIN Ah, das kann man bereits viel besser verstehen... DER ERSTE PHILOSOPH Und warum verschmähen Sie den Ausspruch Brentanos: „Alles Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas“? DER ANDERE PHILOSOPH Erlauben Sie mir auch, diesen Ausspruch zu verbessern, indem ich ihn umgekehrt formuliere. „Alles Bewusstsein von etwas ist Bewusstsein seiner selbst“. Im Bezug auf das kartesianische Cogito ist diese Verbesserung die Umkehrung der durch Husserl beigebrachten Verbesserung. Gemeinsam mit Husserl vervollständigen wir die Aussage des Cogito auf derselben ontologischen Ebene durch die Behauptung seiner Beziehung zu einer „existierenden objektiven Wirklichkeit“. Indem wir die Formulierung Brentanos umdrehen, ergänzen wir BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 307 die bewusste Bejahung einer „phänomenalen“ objektiven Wirklichkeit, — daher der Name dieser philosophischen Richtung: die Phänomenologie —, durch die auf derselben ontologischen Ebene liegende Aussage des Bewusstseins seiner selbst, oder des Selbstbewusstseins. Es muss nämlich um jeden Preis vermieden werden, dass das Selbstbewusstsein ausschließlich als eine Art zweites „Phänomen“ wahrgenommen wird, das sich dem Bewusstsein von den objektiven Wirklichkeiten anschließt. Wenn die „Re-flexion“ des Bewusstseins in sich selbst nichts weiter wäre als die Rückkehr zu sich selbst,... also nichts weiter wäre als die „reditio ad seipsum“ einer intentionalen Bewusstseinsbewegung, die zunächst auf das phänomenale Objekt zusteuert, und dann von diesem Objekt zum bewussten Subjekt zurückkehrt, dann hätten wir auf diesem Weg die konstitutive Beziehung des bewussten Subjekts zu etwas anderem verloren. Das Subjekt würde erneut als eine in sich selbst eingeriegelte Individualität wahrgenommen, genauso wie das Objekt, das der in sich geschlossene Zielpunkt der Intentionalität des Bewusstseins ist. Wir hätten dann also nichts weiter als eine „objektivierte“ Erkenntnis unserer bewussten Subjektivität. Wir würden uns so erkennen, wie wir ein „Objekt“ erkennen. Das wäre „objektivistische“ und nicht mehr „reflexive“ Erkenntnis. In diesem Fall hätten wir sogar den ganzen Nutzen der kartesianischen Askese des Zweifels verloren, die darin bestand, uns zu « ent-begrenzen », unser « Eingeschlossen-Sein » in der intentionalen objektiven Erkenntnis aufzuheben. Trotz all unserer naturwissenschaftlichen Erkenntnis des Universums und des Menschen würden wir, im Vergleich zu einem richtigen Verständnis unseres eigenen Wesens, in einem bedauernswerten Halbschatten verbleiben, wie angekettete Gefangene in einer Höhle, nach dem Höhlengleichnis des Platon. DER ERSTE PHILOSOPH Wenn ich Sie recht verstehe..., möchten Sie, dass die Beziehungsbedingtheit des Bewusstseins « am Anfang » des Lebens des Geistes erkannt werde, in unserer grundlegendsten Seinsintuition, und daher, folglich, als « das erste Prinzip » der Philosophie, die Sie uns näher bringen wollen... DER ANDERE PHILOSOPH 308 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Genau. Dieses Kompliment nehme ich an. Nicht für mich, aber für die Wahrheit der beziehungsbedingten Selbstintuition, die jeder von sich selbst hat. DIE HISTORIKERIN Wir sind überzeugt... Wir leben nicht in einer Welt aus « nebeneinandergestellten Einsamkeiten »... Der Beweis ist erbracht... DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Ich bin Ihrer Diskussion mit großem Interesse gefolgt. Ich denke, die Ontologie der reinen, starren Einheit ist überholt... Für die Theologie ist das äußerst wichtig... Dennoch frage ich mich immer noch, ob diese intentionale Relationalität des Bewusstseins, die Sie vorschlagen, wirklich eine interpersonale Relationalität ist. Wie soll man im individuellen Subjekt diese interpersonale Dimension aufzeigen? Die objektive Offensichtlichkeit der Gegenwart der Anderen, um mich herum, seit meiner Geburt, ja sogar von meiner Empfängnis an bis zu meinem Tod, kann nicht geleugnet werden... Aber ist sie mehr als eine unbestreitbare Tatsache? Ist sie mehr als eine biologische Notwendigkeit, wie das Atmen und die Nahrungsaufnahme? Und kommt diese biologische Notwendigkeit der Generationen und der Gesamtheit der familiären Beziehungen von außen zur geistigen Natur der Personen hinzu? Ist sie, wie einige deutsche idealistische Philosophen zu sagen pflegten, eine « List der Natur », um die Individuen zu vermehren,... eine Art Waffeleisen? Oder muss man das Gegenteil annehmen, nämlich dass die Struktur der Reproduktion eine bestimmte körperliche Ausdrucksweise einer noch grundlegenderen geistigen Struktur im menschlichen Sein ist? Sie wissen auch, dass gemäß der klassischen Theologie, und das im Anschluss an den Platonismus und Aristotelismus, die Eltern die « körperliche Materie » ihrer Kinder bereitstellen, während Gott unmittelbar die individuellen Seelen erschafft. Was soll man davon halten? Diese Sichtweise hat den Vorteil, dass sie das heikle Verständnis einer Erschaffung einer geistig relationalen Menschheit durch Gott umgeht! Aber wie dem auch sei: Dürfen die Schwierigkeiten beim Verständnis einer derartigen Hypothese uns davon abhalten, sie zu formulieren und zu versuchen, sie verständlich zu machen? BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 309 DER MODERATOR Wohin werden uns Ihre Fragen noch führen? Sollten wir dieses Kapitel nicht lieber schließen? DER PSYCHOANALYTIKER Indem ich Ihnen zuhörte, fragte ich mich, ob ich jetzt nicht eine Sexualität der Geister ins Auge fassen müsste,... außerhalb der Körper? Entschuldigen Sie, dass ich diese noch „ungeschliffene“ Frage so, wie sie ist, in den Raum stelle! Aber all das ist wie... DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Ich war auf viele intellektuelle Schwierigkeiten gefasst, aber nun stelle ich fest, dass wir auch emotionale Schwierigkeiten stoßen!... Ja... DER ERSTE PHILOSOPH Ich denke, wir sollten in dieser Sache eine der Regeln der Methode des Descartes anwenden, nämlich jede Schwierigkeit in so viele Teile zerlegen, wie nötig ist, um sie zu lösen... Was halten Sie davon? DER ANDERE PHILOSOPH Ich denke tatsächlich, dass in erster Linie gezeigt werden müsste, dass eine interpersonale Dimension zur Intentionalität des Bewusstseins gehört. DIE INTERPERSONALE DIMENSION DER INTENTIONALITÄT DES BEWUSSTSEINS DER MODERATOR Und wie gedenken Sie vorzugehen? DER ANDERE PHILOSOPH Indem wir auf unsere reflexive Selbstintuition zurückkommen und sie weiter ausführen. Ich sehe keinen anderen möglichen Weg. Uns unserer selbst in Beziehung zu Anderem bewusst, verstehen wir also, jeder für sich, dass wir mit uns selbst « eins » sind, und dass wir nicht das sind, zu dem wir in Beziehung stehen. 310 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Reden wir schlicht und einfach: An diesem Tisch sitzend, bin ich mir bewusst, dass ich nicht dieser Tisch bin, und dass ich nicht « Sie » bin, die Sie mir zuhören. So erfasse ich intuitiv die « Verneinung ». Ich bin ich und ich bin nicht du; und du bist du und nicht ich. Die Verneinung ist ins Innerste des Seins eingeschrieben, insofern sie die Unterscheidung zwischen den Seienden ist. Mein Verständnis der Verneinung ist nicht jenes des « NichtSeins ». Das Wort « Nichts » ist nichts weiter als ein Wort und hat keine Bedeutung. Sagten Sie mir nicht, dass Sie nicht verstehen, was ich da sage, denn dadurch würden Sie implizit sagen, dass Ihr Denken nicht meines ist, oder umgekehrt, und dass Sie Ihren Einwand verstehen. Sagen Sie mir nicht, dass Sie Ihren Einwand nicht verstehen, denn dann bin ich nicht mehr angehalten, Ihnen zu antworten... Eine Weigerung und Verneinung, die Sie dann ganz gewiss verstehen würden!!! DIE ANWÄLTIN Was für eine Dialektik! Verneinungen wie ein Wasserfall!... DER ANDERE PHILOSOPH Genau! « wie ein Wasserfall »... Durch diesen bildhaften Vergleich haben Sie gerade den « verallgemeinernden » Charakter unseres intentionalen Bewusstseins, von dem wir auch eine unmittelbare reflexive Erkenntnis besitzen, dargelegt. All das, was wir denken, ist wie ein « unbegrenzt fließender Wasserfall »... DIE ANWÄLTIN Was wollen Sie damit sagen? DER ANDERE PHILOSOPH Und noch etwas sehr Einfaches,... aber es zu erklären, ist alles andere als einfach. Schaut mal her! Alles, was Sie denken, ist immer auf « universale » Weise gedacht. All unsere Begriffe sind « Universalien », wie die Philosophen sagen. Das bedeutet, dass sie mit derselben Bedeutung unbegrenzt Objekte bezeichnen können, die sich voneinander unterscheiden. Begriffe werden in Worten ausgedrückt, ohne mit ihnen in eins zu fallen. Sprechen wir ganz einfach! Wenn ich « Baum » sage und « Baum » denke, dann bin ich mir bewusst, dass der Begriff BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 311 « Baum », den ich denke, für diesen Baum hier gilt, und für jenen Baum dort, und auch für noch einen anderen Baum da hinten, und so weiter, unbegrenzt. Dasselbe trifft für alle anderen Begriffe genauso zu wie für den Begriff « Baum »... Wie Sie sehen, habe ich den Begriff « Begriff » in universalisierter Weise gebraucht. Der Begriff « Begriff » ist ein universaler Begriff. DIE ANWÄLTIN Aber da haben wir so etwas wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt!... DER ANDERE PHILOSOPH Ganz genau. Es ist das Bild vom Zirkel. Und dieses Bild vom Zirkel oder von der Kugel wurde seit der Morgenröte der griechischen Philosophie von Parmenides gebraucht, um die Einheit des Wirklichen mit sich selbst aufzuzeigen. Hegel hat das wieder aufgenommen. Er pflegte zu sagen, dass das philosophische Denken ein Kreis aus Kreisen ist. Damit wollte er sagen, dass es die Dichte des Wirklichen durch ein spiralförmiges Vorantasten erschließt. DIE ANWÄLTIN Aber wenn ich etwas denke, das nur in einem einzigen Exemplar existiert, wie zum Beispiel « der Mond », dann stimmt das alles nicht mehr. Ich kann diesen Begriff nicht unbegrenzt anwenden... DER ANDERE PHILOSOPH Richtig! Dann geht es sogar noch besser... Denn wenn ich « Mond » denke, dann denke ich diesen Begriff als unbeschränkt anwendbar auf alle möglichen gedachten Monde... Aber aus der Erfahrung weiß ich, dass es nur einen einzigen Mond gibt, dass es also nicht mehrere davon gibt, dass es nicht zwei davon gibt, dass er einzigartig ist. Um zu sagen, dass er einzigartig ist, muss ich zunächst denken, dass es mehrere davon geben könnte, und dann diese unbegrenzt gedachte Möglichkeit « verneinen ». Ausschließlich dadurch, dass ich einen « universalen » Begriff besitze und anschließend eine « Verneinung » gebrauche, um jegliche Vielheit der Anwendungen des Begriffs auszuschließen, bin ich fähig, zu sagen, dass der Mond « einzigartig » ist. 312 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Wir sollten nebenbei auch bemerken, dass die Anwendungen eines Begriffs, was auch immer für ein Begriff das sein mag, immer begrenzt sein werden, obwohl der Begriff als solcher unbegrenzt anwendbar ist. Ein Verständnis von Einmaligkeit kann ich also nur unter der Voraussetzung haben, dass ich vorher, in einer noch grundlegenderen Bewusstseinserfahrung, die Intuition meiner Einheit habe, die Intuition meiner Unterscheidung von einer anderen Einheit und von einer Vielheit von Einheiten, von denen eine jede nicht eine der anderen ist. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Für das Bewusstsein ist es also offensichtlich unmöglich, nur in sich selbst Bewusstsein nur seiner selbst zu sein. Seine Beziehungsbedingtheit zu leugnen käme dem gleich, dass man sich der « Verneinung » bedient, deren Verständnis mir in der gelebten Intuition dieser Beziehungsbedingtheit selbst gegeben ist. Man würde sie also anwenden, während man sie leugnet. Wo dies nun klargestellt ist, sehe ich, dass es eine Möglichkeit gibt, zu behaupten, dass der Andere, der Mitmensch, existiert, aber es ist bis jetzt nichts weiter als eine Möglichkeit. Die Notwendigkeit, seine Existenz zu behaupten, sehe ich noch nicht. DER ANDERE PHILOSOPH Wir stehen kurz vor dem Ziel. Aber einige Schuppen müssen uns noch von den Augen fallen... Die Universalität ist für all unsere Begriffe dieselbe, für alle, ganz und gar alle, was auch immer ihr « Allgemeinheitsgrad » sein möge, vom speziellsten bis hin zum allgemeinsten, wie der Begriff « Sein ». Reden wir nochmals ganz einfach... Der Begriff « Katze » ist ein Gattungsbegriff. Die Begriffe « Hauskatze, Tiger, Löwe, Panther, Jaguar, usw.... » sind Artbegriffe. Miteinander verglichen sind diese Begriffe wiederum mehr oder weniger umfassend, da ihr Anwendungsbereich mehr oder weniger umfangreich ist... Die Allgemeinheit eines Begriffs ist eine veränderliche Eigenschaft. Alle Arten der naturwissenschaftlichen Einteilungen, also geologische, botanische, zoologische, usw., zeigen das zu Genüge... Die umfangreichsten aller Begriffe nennt man « transzendental », weil sie alle klassenbildenden Unterschiede einschließen... Das BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 313 sind zum Beispiel die Begriffe: « Sein, Ding, Einheit, Wahrheit, usw.... ». Die Universalität unserer Begriffe selbst verändert sich nicht. Sie ist für all unsere Begriffe dieselbe. Das bedeutet, dass diese Eigenschaft nicht von dem, was wir erkennen, abhängt, sondern von unserer Bewusstseinsaktivität selbst. Unser Denken ist das, was « universalisierend » ist. Es universalisiert alles, was es begreift, und prägt so all unseren « Begriffen » sein Siegel auf. Wir können nicht wählen, ob es « universalisierend » sein soll oder nicht. Es ist es. Diese Eigenschaft zwingt sich uns in der Ausübung an sich unseres Bewusstseins als relationaler Gegenwart zu sich selbst auf. Wir sollten hier beachten, dass wir hiermit nichts herleiten, und keine Erfahrungswerte sammeln, sondern dass wir lediglich die Bewusstseinsaktivität so beschreiben, wie sie sich uns reflexiv auferlegt, in der aller grundlegendsten Weise. Wie sollen wir unsere Beschreibung zu Ende führen, um jetzt der Ganzheitlichkeit unserer Bewusstseinsaktivität in seiner dreifachen reflexiven, intentionalen und universalisierenden Ausdehnung Rechnung zu tragen? Insofern es universalisierend ist, lässt uns unser Bewusstsein einsehen, dass unsere Intentionalität gleichermaßen menschlich ist, da sie von derselben Natur ist, egal, ob wir sie in ihrem Ursprung und ihrem Zielpunkt, oder in der weiteren Offenheit ihres Zielpunktes betrachten. In ihrem Ursprung: der Mensch, der ich bin, als « Seiendes ». Und in ihrem Zielpunkt: also in einem anderen « Seienden », das genauso menschlich ist. Der Andere, zu dem ich « du » sage. Und noch dazu ist diese Intentionalität von Person zu Person in der menschlichen Natur offen für andere mögliche menschliche Personen. Gehen wir nun mit Kant noch einen kleinen Schritt weiter, und stellen wir die Frage: « Unter welcher Voraussetzung hat unser Bewusstsein dieses Vermögen, alles, dessen es sich bewusst ist, zu universalisieren, und an allererster Stelle seine eigene personale Natur zu universalisieren...? Drängt sich diese Frage nicht auf? Unsere Bewusstseinsaktivität könnte nicht universalisierend sein, wenn die Wirklichkeit des Menschen nicht eine relationale Struktur zwischen mehreren Personen wäre, und wenn unsere Intentionalität nicht in ihrem Sein ganz und gar menschlich wäre. Unsere Intentionalität ist also in ihrem Sein interpersonal. Sie ist Beziehungsbedingtheit zwischen menschlichen Personen. 314 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Meine bewusste Existenz setzt durch ihren ontologischen Aufbau die notwendige Existenz eines Anderen voraus, also eine Beziehung zum anderen Mensch, der sich von mir unterscheidet, und die für weitere menschliche, von uns unterschiedene Andere, offen ist. DER MODERATOR Klar! Um dahin zu kommen, mussten wir das kartesianische Cogito durch das phänomenologische Cogitatum ergänzen, und daraufhin beide in der relationalen Universalität des Geistes umgestalten. Die Methode ist von Kant entliehen und auf die Ebene des Seins angewandt, statt nur auf die abstrakten Kategorien des Denkens. DER ANDERE PHILOSOPH Ein kleiner zusätzlicher Hinweis, der uns zeigt, wie nötig es ist, der universalisierenden Dynamik des Bewusstseins Rechnung zu tragen, ist, dass sie die Bedingung der Möglichkeit der Mathematiken und der Logik ist. Indem ich die Intuition meiner personalen Einheit setze, setze ich die formale Einheit: die « 1 ». Und ich setze sie in universalisierter Weise: « eine unendliche Anzahl von 1 von derselben Art wie die erste 1, und sie sind alle voneinander unterschieden ». Indem ich die Struktur meiner Intentionalität setze, setze ich die Operation « +1 », und ich setze diese Operation in universalisierter Weise. Das wiederum erlaubt mir, Zahlen zu bilden: Ich setze « 1+1= », und ich nehme diese Gruppe in der Einheit wahr, die ihr als « Summe » von 2 zukommt. Da diese Operation notwendigerweise universalisiert gedacht wird, kann ich sie für jede Zahl erneut durchführen « 1+1+1... ». So kann ich die Reihe der sogenannten « ganzen » positiven Zahlen bilden, und von dort ausgehend die ganze Mathematik. Da mein Bewusstsein universalisierend ist, setze ich tatsächlich, dass jede « Operation » möglich ist. Ich erkläre also, dass die Umkehrung der Addition, nämlich die Subtraktion, immer möglich ist. Ich kann immer subtrahieren, selbst wenn es keine positiven Zahlen mehr gibt... So bilde ich die « negativen ganzen Zahlen ». Und genauso verfahre ich für die anderen Operationen und die anderen Zahlengruppen. Tatsächlich betrachte ich in der Mathematik, aber auch in der Logik, nichts weiter als die reine Anwendbarkeit meiner universalisierenden Aktivität, und abstrahiere von den Grenzen jeglicher empirischen Anwendung. BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 315 In diesem Sinn könnte man also sagen, dass der letzte oder tiefste Grund meiner Fähigkeit, Mathematik zu betreiben, in der ontologischen Struktur meines zum Anderen in Beziehung stehenden Bewusstseins liegt. « Ich betreibe Mathematik, also ist der Andere ». Dies ist nicht eine Schlussfolgerung, sondern die im Bereich des Wirklichen als solchem gemachte Behauptung eines Aufbruchs und einer Ankunft. Wenn ich in Paris in einen Eurostar « Paris-London » steige, kann ich sagen: « ich steige in Paris ein, daher werde ich in London ankommen ». Ich sage das, weil ich die Strecke und die Fahrpläne der Eurostars, so, wie sie sind, kenne. Wenn ich meiner Fähigkeit, Mathematik zu betreiben, auf den Grund gehen will, dann würde ich von Bedingungen zu Bedingungen aufsteigen bis hin zur Struktur meines Bewusstseins, die mir am Ende meines Nachforschens zeigen wird, dass ich notwendigerweise in Beziehung zu anderen Personen existiere. DER MODERATOR, in scherzhaftem Tonfall: Und wer würde nach all dem noch wagen zu behaupten, dass die Mathematiken eine entmenschlichende Wissenschaft sind, und von « kalter Berechnung» sprechen? DIE HISTORIKERIN Könnten Sie sich nochmals « ganz einfach » ausdrücken, wie Sie sagen, um mir zu helfen, zu verstehen, dass ich mir beim Denken vorstellen muss, dass ich mich in der Gegenwart von irgendjemandem befinde? DER ANDERE PHILOSOPH Es ist eine sehr gute Idee, innerlich mit der Idee, sich in der Gegenwart eines Anderen zu befinden, zu leben; vorausgesetzt, dass die Gefühle, die Sie dazu anregen, edle Gefühle der Anerkennung und der Zuneigung sind, und nicht des Misstrauens, des Neides oder des Hasses. Auf der psychologischen Ebene kann unsere Vorstellung von der Existenz des Anderen mehrdeutig sein. Wenn Sie in natürlicher Weise, also ohne vorgefasste Vorstellung, auf Ihre Selbstintuition zurückkommen, dann stellen Sie nicht nur fest, dass Sie existieren, sondern dass Sie existieren wollen, und dass Sie mit Ihrem Sein einverstanden sind, dass Sie immer besser sich selbst sein wollen. Aber da Ihr persönliches Sein in seiner 316 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Ganzheit notwendigerweise in Beziehung zu etwas anderem steht, stellen Sie nicht nur fest, dass dieses andere Etwas existiert, sondern Sie wollen auch, dass es existiert, und Sie sind mit seinem Sein einverstanden, Sie wollen, dass es immer besser es selbst sei. Außerdem verfügen Sie auch über das Bewusstsein, ein « menschliches Bewusstsein » zu sein, und Sie leben diese « menschliche Natur », deren Sie sich in sich selbst bewusst sind, notwendigerweise als eine Natur aus, die auch jene einer von Ihnen unterschiedenen Wirklichkeit sein kann. Ihr Bewusstsein ist tatsächlich eine Aktivität, die all das, dessen es sich bewusst ist, « universalisiert ». So ist es Ihnen unmöglich, ihre eigene « menschliche Natur » als eine ausschließlich Ihrer Person gehörende Natur zu denken. Wenn es sie für Sie gibt, wie für mich und für alle... (Sie sehen, bin ich dabei, meine gegenwärtige Überlegung zu universalisieren) dann deshalb, weil das Sein Ihres persönlichen Bewusstseins tatsächlich und wirklich in notwendiger Beziehung zu anderen persönlichen menschlichen Seienden steht. Und schließlich geben Sie sich nicht damit zufrieden, diese notwendige Beziehung zu einem Anderen, zu anderen Personen, die genauso menschlich sind wie Sie, festzustellen, sondern Sie sind damit einverstanden, Sie wollen sie, Sie wollen, dass diese andere Person sich selbst sei, ganz und gar sich selbst, von Ihnen unterschieden. Den Anderen nicht ganz und gar für ihn selbst zu wollen, würde bedeuten, dass man sich selbst zerstört. Sobald man zu diesem reflexiven Verständnis seiner selbst gelangt, liegt das unmittelbar auf der Hand. Die interpersonale Beziehung zur anderen Person besteht niemals darin, dass man den Anderen mit dem Selbst identifiziert, noch das Selbst mit dem Anderen, und auch nicht im Verschmelzen in ein Gemisch, oder in Eingliederung durch Unterordnung oder hierarchische Gliederung in eine Gesamtheit. Die interpersonale relative Verneinung (zwischen « du » und « ich ») ist tatsächlich ins Sein eingeschrieben, und ihr kommt dieselbe Vollkommenheit zu wie der Identität des Ich mit sich für eine jede der in notwendiger Beziehung stehenden unterschiedenen Personen. Darf ich das in einfachen Worten zusammenfassen? Mehrere Stimmen *Ja,... Selbstverständlich,... Aber gewiss... BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 317 DER ANDERE PHILOSOPH Aber in einer komplexen Verknüpfung,... Verknüpfung, die je länger je komplexer wird? in einer DER MODERATOR Lassen Sie uns wenigstens Zeit, zu folgen... DER ANDERE PHILOSOPH « Cogito ». Ergo, ich bin ich, du bist du, ich bin nicht du, du bist nicht ich. Und weil ich ich bin, will ich, dass du du bist, und dass du nicht ich bist. Weil ich so vollkommen wie möglich mich selbst sein will, will ich, dass auch du so vollkommen wie möglich dich selbst bist, und dass du so vollkommen wie möglich nicht mich bist. Und weil ich so vollkommen wie möglich dadurch mich selbst sein will, indem ich will, dass du ganz und gar dich selbst seiest, will ich, dass du ganz und gar dich selbst seiest, indem du einen Anderen willst, der von dir vollkommen unterschieden ist, und der nicht ich bin, da ich will, dass du dich selbst seiest in vollkommener Unterscheidung von mir, indem du dadurch dich selbst sein willst, dass du einen von dir unterschiedenen Anderen willst. Bitte sehr! Alles ist gesagt. DER PSYCHOANALYTIKER All das scheint sehr konkret zu sein... Man hört: Ich, dann Du, dann nochmals Ich und nochmals Du... Das sind Ausdrücke, die jeder versteht... Aber das Ganze scheint mir noch sehr abstrakt zu sein... Um sein Cogito zu behaupten, stellte sich Descartes vor, dass er keinen Körper hätte... Stellen auch Sie Ihr Denken in denselben gedanklichen Zusammenhang? DER ANDERE PHILOSOPH Keineswegs! An meiner Körperlichkeit kann ich genauso wenig zweifeln wie an meiner Existenz. Mein Körper ist der Ausdruck an sich meiner Identität mit mir selbst und meiner Intentionalität anderen gegenüber, mit denen ich mich gemeinsam in der Welt der Dinge befinde. Der Körper verhält sich zu unserer interpersonalen menschlichen Wirklichkeit so, wie unsere Worte zu unserem dialogischen Denken. Ohne unsere Unterredungen würden wir keine Gedanken austauschen. Aber unsere Gedanken sind mehr als das Hervorbringen von Tönen durch die Stimme. Die Laute unserer Stimmen bringen 318 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN nicht unsere Gedanken hervor. Mein Körper bringt nicht meine Person hervor, aber meine Person ist nicht ohne den Körper. Mein Körper ist jedoch nicht einfach ein Instrument meines Bewusstseins, und genauso wenig dessen Umkleidung oder Behausung. Wenn ich als geistige, bewusstseinsbegabte und freie Personen nicht mein Körper bin, so bin ich doch körperlich. Zögern wir also nicht, zu sagen, dass unser Bewusstsein körperlich ist, ohne dass es deswegen die Dinglichkeit unseres Körpers ist. Vom Bewusstsein verlassen ist diese Dinglichkeit nichts weiter als eine Leiche, die dann nicht mehr dazu taugt, in der materiellen Welt Ausdruck dieses Bewusstseins zu sein. Wir könnten auch sagen, dass unsere Körper die « Ausdrucksweisen » unserer Geister sind, also unserer geistigen Persönlichkeiten, und dass wir unsere Persönlichkeiten in unseren Körpern sehen, so, wie wir in den von uns hervorgebrachten Lauten unsere Gedanken hören, und wie wir in unseren Gebärden die Bewegungen unserer freien Willen sozusagen berühren und fühlen. Die Gesamtheit unseres Körpers ist dieses Zum-Ausdruck-Bringen. Jeder menschliche Körper ist ganz und gar von unserer bewussten und freien Geistigkeit durchdrungen, ohne dass sie von ihm als untergeordnet oder angegliedert abhängen würde, und ohne dass sie sich seiner entledigen könnte, denn aus einem ihr auferlegten inneren Antrieb muss sie sich in ihm zum Ausdruck bringen. DER PSYCHOANALYTIKER Lässt sich all das, was Sie über die menschliche Geistigkeit und den Körper sagen, auch auf die Sexualität anwenden? DER ANDERE PHILOSOPH Aber das liegt doch auf der Hand! Die Sexualität wird ausschließlich in einer individualistischen und solipsistischen philosophischen Sichtweise unbeachtet gelassen, die einen unfähig macht, den Sinn und die Rolle der Sexualität zu verstehen. Aber da sie sich trotz allem aufdrängt, betrachtet die klassische Philosophie sie, wenn nicht als Fremdkörper, dann doch wenigstens als ein drückendes Überbleibsel aus unserer Verwandtschaft mit den Tieren... Sie wird als Gegensatz zur Geistigkeit der Person aufgefasst. Wie sollte man auch eine körperliche Funktion, deren Beziehung zu einer anderen Person als Partner nur allzu BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 319 offensichtlich ist, in eine Sichtweise der Selbstgenügsamkeit integrieren? DER PSYCHOANALYTIKER Dann kann ich also alles, was Sie über die interpersonale Beziehungsbedingtheit des Bewusstseins mehrerer Personen sagen, auf den Bereich der Sexualität übertragen? DER ANDERE PHILOSOPH Das kann man nicht nur, das muss man... DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Wenn ich recht verstehe,... drehen Sie wiederum die klassische Sichtweise um, die besagte, dass Sexualität in den biologischen Bereich gehört, den wir mit den Tieren gemeinsam haben, und dass das Bewusstsein daher durch sie « von außen » beeinflusst wird. Sie hingegen sagen, dass sich das geistige Bewusstsein in einer sexualisierten Körperlichkeit zum Ausdruck bringt, weil es ontologisch relational ist und insofern es geistig ist, und dass es daher eine « innere » geistige Notwendigkeit gibt, dass das biologische Leben sexuell sei, damit sich die menschliche interpersonale Beziehung darin ausdrücken, zeigen und ausfalten kann, also kurz gesagt, sich selbst darin verwirklichen kann. Das würde für mich als Theologen jetzt bedeuten, dass Gott durch das Auftauchen der Sexualität in der Evolution die Welt im Hinblick auf die Erschaffung des Menschen eingerichtet hat. DER ANDERE PHILOSOPH Das ist eine logische Folgerung daraus. DER PSYCHOANALYTIKER Die Beziehung « Mann-Frau » ist also eine hervorragende Form der interpersonalen Intentionalität? DER ANDERE PHILOSOPH Das scheint mir, sowohl ausgehend von philosophischer Überlegung, als auch psychologisch gesehen, eine offensichtliche Erfahrungstatsache zu sein. Darin liegt übrigens auch der Grund, warum einen das Scheitern in diesem Gebiet dermaßen in Mitleidenschaft zieht, und die Psychoanalyse also eine heilende Funktion hat. Damit sie diese Funktion gut ausübt, 320 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN ist es nötig, dass sie von der menschlichen Sexualität ein so genaues Bild hat wie nur möglich. Erlauben Sie mir, zu wünschen, dass die Psychoanalytiker nicht nur eine klinische, sondern ebenso eine gute philosophische Ausbildung hätten. DIE ETHISCHEN ANWENDUNGEN DER INTERPERSONALITÄT DES SEINS GEMÄSS DER FAMILIÄREN DREIHEIT: VATER-MUTTER-KIND DER PSYCHOANALYTIKER Ich nehme Ihre Bemerkung zur Kenntnis. DER ANDERE PHILOSOPH Allerdings ist die Sexualität im eigentlichen Sinne nicht die Gesamtheit unserer Körperlichkeit. Sie ist eine Funktion unter anderen Funktionen unseres Körpers, auch wenn Sie ihn ganz und gar durchzieht. Der Mann ist ganz und gar Mann, und die Frau ganz und gar Frau. Wenn wir die Gesamtheit der menschlichen interpersonalen Beziehung ins Auge fassen wollen, dann müssen wir die Beziehung « Mann-Frau » auch unter dem Gesichtspunkt « Ehemann-Ehefrau » betrachten, insofern sie eine elterliche Beziehung « Vater und Mutter Kind » impliziert. Die familiären Beziehungen sind der angemessene Ausdruck der menschlichen Beziehungsbedingtheit als geistiger Beziehungsbedingtheit. DER ERSTE PHILOSOPH Ich verstehe, dass die relationale Philosophie begrifflich das Gegenteil der klassischen Philosophie ist. Aber ist sie dermaßen erfolgreicher darin, uns dazu zu bringen, unsere Beziehungen zu Anderen authentisch zu leben? Begrifflich lässt sie uns vielleicht verstehen, dass der Andere notwendigerweise existieren muss, und dass unsere familiären Beziehungen eine für die klassische Überlieferung ungeahnte Würde aufweisen, aber sie gibt uns nicht mehr « Erfahrung » des Anderen. Durch sie begegnen wir dem Anderen in seiner Person nicht mehr als durch die klassische Philosophie. Für unser alltägliches Leben ist sie also nicht wirksamer. Unsere Teilnehmerin aus einer Abteilung für Palliativmedizin hat gesagt, dass sie aus dem Cogito kaum inneren Antrieb für ihren hingebungsvollen Dienst schöpfen kann. Fühlt sie sich nun, nachdem sie unserer Diskussion gefolgt ist, ermutigt? BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 321 DIE KRANKENSCHWESTER Wenn diese Kreuzfahrt beendet sein wird und ich meinen Patienten wieder begegnen werde... Ich werde sicher nicht alle wieder vorfinden, einige werden bereits gestorben sein... Der Herr wird sie bei sich aufgenommen haben..., wird sich in meinem Dienst nichts geändert haben... Und doch meine ich, im Laufe unserer Unterhaltungen etwas Neues verstanden zu haben... Es ist, dass... DER MODERATOR Fahren Sie ruhig fort... Zögern Sie nicht... DIE KRANKENSCHWESTER ... dass die Schmerzen des Körpers auch etwas vom Leiden der Geister und der Herzen zum Ausdruck bringen. Und dass die Gemeinschaft im Leiden auch zur Gemeinschaft in der Existenz gehört. Sie zeigt uns eine Unzulänglichkeit dieser Existenz, der unser Verlangen nach Glück nicht als definitiv zustimmen kann... Wenn es in meiner persönlichen Existenz eine dermaßen starke Forderung gibt, dass der Andere existiert, dann ist diese Forderung denen gegenüber, die wir gekannt und geliebt haben, umso wahrer... Unsere Existenz, die weiterhin besteht, auch wenn die Verwandten gestorben sind, kann also nicht ertragen, dass sie nicht mehr existieren. Ansonsten könnte ich nicht mehr sagen: « Ich existiere, also bist du, also sind sie ». Und unser Leiden besteht darin, nicht mehr zu ihrer vollen Entfaltung beitragen zu können, obwohl wir es müssen... obwohl diese Verpflichtung nie vergeht... denn, wie Sie gesagt haben, « wollen wir, indem wir unserer Existenz zustimmen, dass die anderen so vollkommen wie möglich sich selbst seien »... So irgendetwas haben Sie gesagt... DER MODERATOR Kant hat darauf aufmerksam gemacht, dass die moralische Pflicht und deren Ausübung absolut notwendig sind. Wenn sie nun in unserer gegenwärtigen Existenz nicht voll erfüllt werden kann, dann muss dies in einer Existenz nach dem Tod stattfinden. Und Gott, der laut Kant ihr Urheber ist, wacht darüber, dass diese Erfüllung voll und ganz stattfindet. Wenn es eine moralische Pflicht gibt, zu wollen, dass der Andere in sich selbst existiert, und wenn sie den Gedankengang 322 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Kants gelten lassen, dann können Sie annehmen, dass die vom Leiden in unsere Existenz hineingebrachte geistige Qual der moralischen Forderung nach geteiltem Glück weichen muss. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Genau das ist die eine Seite des Heils der Menschheit. Das in der Person Jesu verkündete Heil ist kein individuelles Heil, sondern auch ein beziehungsbedingtes Heil. Wir werden nicht « individuell » gerettet, genauso wenig, wie wir « individuell » erschaffen sind. Nicht durch zu uns hinzugefügte und unnötige Verbindungen, sondern durch eine uns wesentliche Beziehungsbedingtheit sind wir in Beziehung zueinander geschaffen. Wir können sagen « ich bin gerettet, daher bist auch du gerettet ». Kein Mensch kann gerettet werden, ohne dass alle gerettet werden. Hier haben wir auch eine neue Auffassung vom Heil, die uns die relationale Philosophie besser verständlich macht. Vielleicht werden wir auf dieses Thema noch zurückkommen! Aber durch die Verallgemeinerung dieser durch Reflexion errungenen Wahrheit können wir bereits jetzt sagen, indem wir sie auf Jesus anwenden: « Er ist auferstanden, also sind auch wir auferstanden ». Was nicht heißt, dass diese ontologische Wahrheit bereits für und in unserer eigenen Zeitlichkeit erfüllt ist. Dafür müssen wir auf unseren Tod warten, wie das auch für ihn der Fall war. DER ANDERE PHILOSOPH Danke, dass Sie mir eine neue Anwendung gezeigt haben,... die ja sehr zentral ist,... für unseren einer relationalen Ontologie folgenden Glauben, den wir nun gemeinsam haben. Außerdem wollte ich meinem Kollegen auf die Frage nach dem « Umsetzen im Leben » einer relationalen Philosophie antworten. Sie sagen, dass die relationale Philosophie mir nicht die Erfahrung des Anderen in seiner Person gibt... Das ist wahr. Sie gibt sie mir nicht, weil sie es nicht kann, und sie kann es nicht, weil sie es nicht darf. Die philosophische Re-flexion in meiner persönlichen Wirklichkeit zeigt mir, dass mein Sein für diese notwendige Begegnung vorgeformt, vorbestimmt, in sich selbst dazu strukturiert ist, aber sie kann diese Begegnung nicht verwirklichen, ohne sich selbst zu verneinen. Sie zeigt mir im Gegenteil, dass die Begegnung mit dem Anderen eine absolute Eigenständigkeit aufweist. BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 323 Diese Begegnung trägt einen Namen, auf den wir bereits gestoßen sind: die Glaubenschaftlichkeit. Die Selbstoffenbarung an den Anderen, damit der Andere er selbst sei, und die glaubenschaftliche Aufnahme dieser Offenbarung, der Glaube an den Anderen, der sich für meine Existenz und ihre volle Entfaltung einsetzt. Die philosophische Re-flexion kann mir tatsächlich sagen, was die menschliche Liebe ihrem Wesen nach ist. Sie kann dieses « ich liebe dich », das einen sich frei einsetzenden Gatten offenbart, in keiner Weise hervorbringen. Und umgekehrt: Wie viele « ich liebe dich » werden ehrlich ausgesprochen, ohne dass eine wahrhaftige Erkenntnis des zu verwirklichenden Ideals dahinter steht, und daher ohne dass sie aus der moralischen Kraft, die ein richtiges Ideal im alltäglichen Leben schenken kann, Nutzen ziehen können!... DIE HISTORIKERIN Sie haben mehrmals einen Vergleich gezogen zwischen dem Glauben an den Ehepartner und den Glauben an Gott. Auch jetzt erwähnen Sie wieder die Erfahrungen des Ehelebens, um die Hoffnungen darzulegen, die wir einer relationalen Philosophie entgegenbringen können. Aber Sie haben uns noch nicht gesagt, wie Sie den Glauben zwischen einem Mann und einer Frau, die sich lieben, auffassen würden. DER ANDERE PHILOSOPH Genau. Verzeihen Sie mir... Ein kleiner Schritt zurück... ganz kurz. Die „Glaubenschaftlichkeit“ ist also diese Bewusstseins- und Erkenntnisform, die einer relationalen ontologischen Struktur der Seinsmitteilung entspricht. Unsere menschliche Glaubenschaftlichkeit lässt sich anhand ihrer unterschiedlichen Grade an Tiefgang einteilen: gesellschaftliche Glaubenschaftlichkeit, Glaubenschaftlichkeit unter Freunden, und die tiefsten Glaubenschaftlichkeiten, nämlich die eheliche und kindliche. Man könnte eine ganze Phänomenologie sowohl ihrer authentischen Verwirklichungen wie auch ihrer Scheinverwirklichungen und Perversionen ausarbeiten. Phänomenologen und Romanschreiber bemühen sich darum, aber in Unkenntnis des Seinsstatus der Glaubenschaftlichkeit. Durch den gesellschaftlichen Glauben vertraue ich jenen, die sich freiwillig einsetzen, um mir in den Dingen dieser Welt 324 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN vielfältige Dienste zu erweisen: also was Dinge, Wissen oder Handlungen anbelangt. Diese bleiben als solche außerhalb der glaubenschaftlichen Beziehung selbst. In dieser Weise « glaube » ich dem Polizisten, der mir in einer Stadt, die ich kaum kenne, meinen Weg erklärt. Im Glauben unter Freunden pflegen wir eine gegenseitige persönliche Beziehung, im Hinblick auf ein gemeinsam zu vollbringendes Werk, das allerdings wiederum außerhalb unserer selbst bleibt, wie sehr auch immer wir uns dafür einsetzen. In der ehelichen Glaubenschaftlichkeit haben Offenbarung und Glaube die Wirklichkeit an sich unserer Personen in ihrer Gesamtheit zum Gegenstand, worin also auch die bereits genannten Aspekte des gesellschaftlichen und freundschaftlichen Glaubens eingeschlossen sind. Für das liebende Subjekt heißt « sich ehelich zu offenbaren », in seinem ganzen Sein existieren zu wollen als der, der sich ganz in die glaubenschaftliche Beziehung hineingibt, und sich in unbedingter Freiheit für den Anderen will, damit der Andere kraft des einzigen Grundes, dass er « ist », « sei ». « Ehelich glauben » heißt, dass man die Wahrheit anerkennt, die der Andere für mich ins Sein ruft, und zwar nicht in Objekten, sondern in seiner eigenen Person. Die Wahrheit, die sich dem ehelichen Glauben anbietet, ist nicht mehr nur ein « dies oder das für dich », sondern die Wahrheit des Seins des Anderen, insofern er in unbedingt freier Weise seine Existenz zu einer Existenz für mich macht, damit auch ich absolut für einen von ihm unterschiedenen Anderen sei, also für einen « Dritten » im Bezug auf mich und auf ihn, und damit dieser Dritte sei. Diese Wahrheit der ehelichen Bindung ist weder empirischer, noch naturwissenschaftlicher, noch formaler, noch philosophischer Art. Dennoch ist eine anspruchsvolle philosophische Überlegung notwendig, um ihre Natur zu verstehen. Zudem wendet die Verwirklichung einer derartigen Bindung eine Unmenge von objektiven Erkenntnissen und Fähigkeiten an, die aus einer großen Vielfalt von Gebieten: — psychologischem, ökonomischem, juristischem, biologischem, physikalischem, praktischem und ästhetischem Wissen — geschöpft werden. Nicht durch reflexive Analyse nehme ich die Offenbarung eines „ich liebe dich“ an, sondern allein durch den Glauben an eine authentisch freie Initiative des Anderen. Und die Echtheit der Liebe kann man nicht anhand der mehr oder weniger BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 325 gelungenen Anwendung von äußeren Mitteln (Geld, Lebensqualität, Schönheit, Gesundheit) beurteilen, oder anhand des Gebrauchs von eher persönlichen Begabungen (Know-How und verschiedene Begabungen), oder anhand des Zusammenspiels der Temperamente und Charaktere, sondern allein durch den Glauben an den Anderen, der sich frei für mich will, mir das sagt, und davon selbst in den Achtlosigkeiten, die man einander zufügt, nicht ablässt. Der echte „eheliche Glaube“ an eine echte eheliche Offenbarung verlangt also keine „Beweise“, keine objektiven — und daher außerhalb der Freiheit der Ehepartner stehenden — Zeichen, die die Wahrheit der Worte bezeugen würden. Das zu verlangen, würde heißen, dass man den „ehelichen Glauben“ verunmöglicht, und die Begegnung zwischen Mann und Frau auf eine Interessengemeinschaft beschränkt, die sexuellen Interessen darin eingeschlossen; oder auf eine Freundschaft im Hinblick auf ein Werk: Haushalt, gegenseitige gefühlsmäßige, wirtschaftliche und berufliche Unterstützung, Zusammenarbeit in der Erziehung des Nachwuchses. All das ist ... kann und muss in der ehelichen Glaubenschaftlichkeit eingeschlossen sein, aber es macht nicht ihr Wesen aus. Diese tieferliegende Wirklichkeit muss entdeckt werden. Die eheliche Liebe besteht nicht im „ich liebe dich“, weil du dies oder das hast... was mir Vorteile bringen kann... (das wäre die Ebene des gesellschaftlichen Glaubens), und auch nicht, weil du dies oder das mit mir tun kannst,... Tätigkeiten, die uns sehr wohl weiterbringen können (das wäre die Ebene des freundschaftlichen Glaubens). Die eheliche Liebe ist auch nicht — obwohl das schon besser wäre — ein « ich liebe dich », weil « du es bist », der liebenswürdig ist und mir gefällt und mich an sich zieht (klassische Sichtweise), sondern ein « ich liebe dich », weil « ich bin ». Und an dich glaube ich, weil ich von dir mit Sicherheit weiß, dass ich geliebt bin, weil « Du bist », damit wir ehelich seien, damit Es kindlich sei, unser Kind. DIE KRANKENSCHWESTER Kann man eine derartige Intuition der Liebe haben? Vielleicht im Idealfall,... aber sie ist so unscheinbar,... so selten... Sie ist die Ausnahme! DER DOMHERR 326 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN « Ich liebe dich, weil ich bin », « Du liebst mich, weil du bist »! Indem ich Ihnen zuhöre, habe ich den Eindruck, dass Sie ein bisschen « Gott » spielen wollen. Nur Gott kann wahrhaftig sagen: « Ich mache dies, weil ich bin ». Mir scheint das sehr anmaßend und wenig realistisch,... und daher entmutigend... DER ANDERE PHILOSOPH Verzeihen Sie mir, Herr Kanonikus, aber Ihr Einwand ist es, der entmutigend ist... In der klassischen Philosophie wird die Liebe als unwiderstehliche Anziehung gesehen, die von außen kommt, um eine Leere im Menschen auszufüllen oder ein Bedürfnis zu stillen. Es ist das zu liebende Objekt, das von mir Besitz ergreift... Und ich werde von einem Wahn getrieben..., von einer Verrücktheit... Die romantische Literatur sieht darin den Verlust meiner Freiheit... All das sind Szenen für das Theater, vielleicht auch wirkliche Tragödien, aber es sind philosophische Irrtümer und Fehlschläge der Existenz. Rufen wir uns nochmals in Erinnerung, dass die relationale Philosophie die klassischen Vorstellungen umkrempelt. Zu sagen „ich liebe dich, weil ich bin“, heißt noch lange nicht, dass man sich für Gott hält. Es heißt, zu behaupten, dass die Liebe nicht von der nicht notwendig gegebenen, vorübergehenden, vielleicht sogar illusorischen Gegenwart eines „Objekts“ abhängt, mag es sich dabei auch um eine „Person“ handeln. Es heißt nur, anzuerkennen, dass der Grund der Liebe mit der Wirklichkeit der Person identisch ist. Es gibt kein „Ich“, das sich seiner selbst bewusst ist und nicht gleichzeitig ein aus innerem Antrieb kommendes Wollen ist, dass der Andere, das Du, in sich selbst existiere, als Anderer, für sich selbst geliebt. DER DOMHERR Klassischerweise sagt man, dass die wahre Liebe darin besteht, vom in sich vollkommen zu-liebenden Seienden angezogen zu sein, und dass dieses Seiende Gott ist. Durch die Liebe zu endlichen Seienden nähern wir uns Gott an. DER ANDERE PHILOSOPH Das ist tatsächlich sehr klassisch... Sie hoffen, durch diese Behauptung die Unvollkommenheit jener Liebe überwinden zu können, mit der man mangelhaften Wesen anhängt, wie Dingen oder anderen Personen. Und die Theoretiker, die diese Vorstellung vertreten, fügen hinzu, dass die von uns geliebten BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 327 unvollkommenen Seienden nichts weiter sind als Mittel oder Vermittlungen unserer Liebe zu Gott. Der verheiratete Mann, der Gott nicht « unmittelbar » lieben kann, liebt ihn durch seine Frau... Wir kennen die zweideutige Formulierung: « die anderen aus Liebe zu Gott lieben ». Das läuft darauf hinaus, zu sagen, dass man sie nicht um ihrer selbst willen liebt. Das würde wiederum implizieren, dass Gott die Menschen nicht um ihrer selbst willen liebt, sondern um seiner selbst willen, für die reine Freude an seinem eigenen Sein. Die Formulierung des Aristoteles könnte man dann — nicht ohne eine gewisse Unstimmigkeit — folgendermaßen ergänzen: « Gott ist das Denken seines Denkens und all seiner Gedanken für sich, und der Wille seines Willens und all seines Wollens für sich. » Es ist sehr wohl schwierig, in diesem individuellen Verlangen nach Verschmelzung mit einem äußerst attraktiven Göttlichen, oder danach, durch ihn mit ihm verschmolzen zu werden, noch zu erkennen, dass wir Abbild Gottes sind. Wenn Gott aber im Gegenteil die auf seine Schöpfung zugehende Initiative der Liebe ist, weil er zunächst in sich selbst zwischen Mehreren die Initiative der Liebe ist, dann bedeutet das zumindest, dass er uns, wenn er uns nach seinem Bild erschafft, auch in Initiative der Liebe zum Anderen erschafft. Zu behaupten: « Ich liebe dich, weil ich bin », impliziert eine weitaus anspruchsvollere Auffassung von der ehelichen Liebe als jene, die man durch die Formulierung « Ich liebe dich, weil du du bist » erfasst. Ein Ehevertrag, der auf der Ebene einer gesellschaftlichen und freundschaftlichen Glaubenschaftlichkeit bindet, also eine Ehe aus Interessengemeinschaft oder rein psychologischer Ergänzung, der diese Ebenen nicht übersteigt, ist nicht spontan dauerhaft. Er ist vielmehr vergänglicher Art. Wenn er aber aufgrund der Gegenwart des anderen abgeschlossen wird und aufgrund des Bleibens dieser Gegenwart durch ein « ich liebe dich, weil du es bist », dann gehört er in den Bereich der Treue bis zum Tod. Die Regel lautet: « Ich werde dir treu sein bis zu deinem Tod ». Allerdings ist die Erfahrung der Liebe dann fähig, sich dadurch zu vertiefen, dass sie die Existenz des Anderen auch jenseits seines Todes will. Die Erfahrung und die gelebte Re-flexion können uns so dem wahrhaftigen Wesen der menschlichen Liebe näher bringen: « Ich liebe dich, du bist es, den ich liebe, weil ich es bin ». 328 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Ihre Maxime lautet: « Ich werde dir treu sein — glaubenschaftlich liebend — bis zu meinem Tod und darüber hinaus, denn unsere Liebe ist ein relationales Abbild Gottes selbst, und als solche ein Werk von ewigem Wert ». Dieses moralische Ideal übersteigt die juristische, ihrem Wesen nach auf die gegenwärtige Existenz beschränkte Ordnung. Es unterliegt also keiner Rechtsprechung. Es hängt allein von der Pflicht ab, die die bewusstseinsbegabten menschlichen Freiheiten sich aufzuerlegen fähig sind, indem sie ihrer wesentlichen Interpersonalität zustimmen. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Damit Ihre Kritik nicht einseitig bleibt, muss auch gesagt werden, dass viele Christen sich heute wirklich mehr vom Evangelium und dem Beispiel Christi leiten lassen, als von theologischen Standpunkten, die dem klassischen philosophischen Individualismus hörig sind. In der Person Jesu zeigt der dreieinige Gott konkret — und das ist nicht nur eine reflexive Schlussfolgerung — dass er die Menschen um ihrer selbst willen liebt, jetzt schon, in ihrem Leben, und das für ihr im tiefsten Sinn des Wortes verstandenes « Heil », also für ihre Vollendung in ihrer Auferstehung, in einem vollkommenen, all ihre menschlichen Beziehungen umfassenden Glück, und zusammen mit Gott. DIE KRANKENSCHWESTER einer Abteilung für Palliativmedizin Wenn die menschliche Liebe so erhaben von Gott reden kann: Warum erklärt man das den jungen Paaren nicht zuerst, und begleitet sie dann besser in ihrer Existenz? Am Ende des Lebens kann diese Hoffnung auf die Ewigkeit eines geteilten Glücks auch für die älteren Paare ein großer Trost sein, scheint mir. DER ANDERE PHILOSOPH Sie haben recht... Man darf nicht müde werden, zu sagen, dass die Menschheit sich in ihren tiefsten geistigen Beziehungen im ehelichen Glauben und in der familiären Liebe verwirklicht. Von da aus verwirklicht sie sich als Werk der Ewigkeit: Ewig sind die Personen, und ewig die Gegenseitigkeit des Glaubens und der Seins- und Lebensmitteilung, die die Vollendung des Glaubens ist. Wenn Beziehungen als wahrhaftige Schöpfungen der menschlichen Freiheit geformt wurden, dann sind sie unauslöschlich ins Sein eingeprägt. BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 329 Der eheliche Glaube steht also in ganz natürlicher Verbindung zum menschlichen theologischen Glauben und zum dementsprechenden Gottesbild. Wie die Beziehung des Mannes zur Frau in einer gegebenen menschlichen Kultur aufgefasst wird, so wird folglich die Beziehung Gottes zur Menschheit aufgefasst, und ebenfalls die Beziehung Gottes zu sich selbst, wenn ich das so über Gott sagen kann... In Abhängigkeit von der in einer Kultur angenommenen Ontologie des Ehepaares und der Familie wird das kulturelle Gottesbild die Vorstellung von einer genauso glaubenschaftlichen Beziehungsbedingtheit in Gott selbst zulassen oder ausschließen. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Sie können die Anordnung Ihrer Vergleiche auch umkehren: wie die Vorstellung von der Familie, so das Gottesbild. Aber auch: wie das Gottesbild, so die Vorstellung vom Ehepaar und der Familie. Sie haben tatsächlich, in Ihrer Eigenschaft als Philosoph, die einer Erkenntnisweise eigene Reihenfolge genommen. Wenn man ins ontologische Gebiet überwechselt, kehrt sich die Anordnung des Vergleichs um. Das ist die Reihenfolge, der die Theologen häufig folgen, die sich auf eine Offenbarung des Geheimnisses Gottes berufen. DER ANDERE PHILOSOPH Das trifft zu. Wenn eine Theologie also stufenweise zu diesen « ersten Offensichtlichkeiten » niedersteigt, die die Philosophie als ihren festen und gesicherten Ausgangspunkt betrachtet, dann sehe ich darin ein sicheres Zeichen für die Echtheit der von dieser Theologie vorausgesetzten Offenbarung. DER THEOLOGIEPROFESSOR Wo sehen Sie die Gelenkstelle zwischen dem absteigenden Vorgehen der Theologie und dem aufsteigenden Vorgehen der Philosophie? Zwischen beiden muss es so etwas wie einen Wendepunkt geben. Anders gesagt: Es muss gegeben sein, dass man nach dem Aufstieg auf demselben Weg absteigen kann. Diese Möglichkeit fehlt bei Aristoteles. Er zeigt uns eine gewisse Art des « Aufsteigens », dank seines Beweises der Existenz Gottes als eines « Ersten unbewegten Bewegers ». Aber wenn man einmal auf dem Gipfel angelangt ist, wird man ebenfalls von Unbeweglichkeit befallen. Man kann nicht mehr « absteigen », also ausgehend von dem, was dieser « Beweger » 330 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN ist, die Wirklichkeit der Welt und der Menschheit, zu der man gehört, verstehen. Ohne die Behauptung dieses unbeweglichen Bewegers wäre das Werden des Menschen und der Welt sinnlos, und ihre Möglichkeit wäre erklärender Gründe beraubt. Aber nach dieser Behauptung sind Welt und Mensch nicht verständlicher als vorher. Die aristotelische Gottesbehauptung hilft dem Menschen nicht, sich selbst besser zu verstehen, als er sich verstehen würde, wenn er Gott nicht kennen würde. DER ANDERE PHILOSOPH Ich schließe mich Ihrer Frage und Ihrer Beurteilung an. Die klassischen Gottesbeweise der griechisch-aristotelischen Tradition sind nicht falsch. Aus der Bedingtheit der Welt auf ein unbedingtes Seiendes zu schließen; aus ihrer Kontingenz auf ein notwendiges Seiendes; aus ihrer Veränderlichkeit auf ein unveränderliches Seiendes; aus den Abstufungen des endlichen Seins auf eine Stufe der unendlichen Wirklichkeit; all das sind erfolgreiche intellektuelle Vorgänge. Es ist tatsächlich nicht möglich, dass das, was existiert, ausschließlich relativ, kontingent, veränderlich oder endlich ist. Ausschließlich Relatives zu denken, als relativ zu Relativem..., nur Kontingentes, aus Kontingenz kontingent..., nur Veränderung der Veränderung, usw..., läuft darauf hinaus, dass man etwas Unmögliches, etwas, das aus Nichts besteht, also Nichts denkt. Wenn man sich die Frage nach der Möglichkeit des Daseins der Dinge stellt, dann muss man, um nicht in Sinnlosigkeit zu verfallen, Gott bejahen. Natürlich steht es jedem frei, sich diese Fragen gar nicht zu stellen. Die Leugnung der Existenz Gottes läuft dann darauf hinaus, dass man zugibt, dass man sich von der letzten Frage nach der Welt und unserer Existenz abwendet. Die Schwäche dieser Beweise liegt in ihrem „Formalismus“. Sie sind „entpersönlicht“. Es ist so, als ob Eltern sich ihren Kindern gegenüber für alle Beziehungen zu ihnen damit zufriedengeben würden, sie einfach nur zu „zählen“. 1+1+1+1+1: 5. Sie sind da! Das ist nicht falsch, aber sehr, sehr wenig... Gottesbeweise müssen durch unsere Wirklichkeitserfahrung angereichert werden, durch unser Bewusstsein, mit Anderen in der Welt zu sein. Das Sein und Existieren als Person findet in meiner Beziehung zu den Anderen statt, kennen und erkannt werden, wollen und gewollt werden. Sein heißt, das Sein weiterzugeben, ins Sein zu rufen und ins Sein gerufen worden BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 331 sein. Die Bedingtheit, Kontingenz, Entwicklungsbedürftigkeit und Endlichkeit dieser interpersonalen Erfahrung der Seinsmitteilung verweist mich auf eine Fülle der Wirklichkeit in vollkommener Seinsmitteilung in sich selbst. Folglich kann es zwischen unserer endlichen interpersonalen menschlichen Wirklichkeit und der Unendlichkeit einer genauso interpersonalen transzendenten Wirklichkeit keine anderen Beziehungen geben als interpersonale Beziehungen der Existenzgebung. Diese ist die göttliche Großzügigkeit des Geschenks des Seins, des Seins mit all seinen relationalen Facetten und Eigenschaften: die räumlich-zeitliche Schöpfung, die offenbarende Inkarnation, und die von allen Unvollkommenheiten und allen Formen des Bösen befreiende Neuschöpfung jenseits des Todes. DER THEOLOGIEPROFESSOR Der Wendepunkt zwischen dem philosophischen Aufstieg zu Gott und dem Herabsteigen einer Offenbarung Gottes zu den Menschen liegt also in der Schöpfungsvorstellung. Er fehlt bei Aristoteles tatsächlich. Aber hat die Philosophie ihn im christlichen Umfeld nicht durch die Prinzipien der Wirkursächlichkeit und Zielursächlichkeit eingeführt? DER ANDERE PHILOSOPH Zweifellos liegt darin ein gewisser Fortschritt... Aber man verbleibt in einem Universum des „kosmologischen“ Denkens, das die Schöpfungstätigkeit mit jener eines Handwerkers vergleicht... Nun sagt uns aber die berufliche Tätigkeit des Handwerkers nichts über seine geistige Persönlichkeit. Von einer als Herstellung von Gegenständen verstandenen Schöpfung, zu einer als interpersonale Beziehung der Lebensweitergabe, und daher als immanente Selbstoffenbarung an Andere verstandenen Schöpfung, ist noch ein weiter Weg zurückzulegen... DER THEOLOGIEPROFESSOR Und Sie sind der Ansicht, dass dieser Fortschritt durch eine Philosophie und Ontologie der interpersonalen Beziehungen ermöglicht wird? DER SCHÖPFUNGSAKT ALS OFFENBARUNGSAKT DES SCHÖPFERS VERSTANDEN 332 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER ANDERE PHILOSOPH Ich lasse Sie selbst über diese Möglichkeit urteilen... Aber was mich anbelangt, und mir selbst gegenüber, bin ich davon überzeugt. Erlauben Sie mir nun, den Schöpfungsakt in absteigender Dialektik zu erläutern. Der interpersonale göttliche Schöpfungsakt ist in einer Seinsmitteilung zwischen Mehreren in Gott selbst begründet, und zwar im philosophischen Sinn, das heißt, er findet in dieser Seinsmitteilung die Bedingungen seiner Möglichkeit. Symmetrisch zu seinem Ursprung verwirklicht er sich in seinem Handlungsziel in Seienden, die gemäß ihrem eigenen Vollkommenheitsaspekt « als Abbild » Gottes genauso Seinsmitteilung sind. Das sind die menschlichen Seienden in der Struktur des Familienlebens: Ehemann-Vater; Ehefrau-Mutter; Söhne und Töchter. Diese Familienstruktur « verallgemeinert sich » in der gesamten Menschheit. Daher sind die Struktur der Familie und ihre internen Beziehungen der Vollkommenheitsaspekt der Beziehungen zwischen Menschen, und die Grundlage einer allumfassenden Brüderlichkeit. Genauso gut kann man sagen, dass die « allgemeinen Werte » des Menschen ihrem Wesen nach intersinguläre Beziehungen sind, und nicht „gleichförmige“, auf den gleichen Nenner gebrachte Eigenschaften. Die „allgemeinen Werte“ sind die interpersonalen Vollkommenheitsaspekte, die « universalisiert » sind, und nicht abstrakte „Verallgemeinerungen“ von guten Eigenschaften unserer Handlungen. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Die konkreten Formen der menschlichen Glaubenschaftlichkeit können also als Vergleichsgrundlage dienen, um unser reflexives Schöpfungsverständnis, insofern die Schöpfung die erste „Offenbarung Gottes“ in unserer geschöpflichen Wirklichkeit darstellt, „auszudrücken“. Diese — methodisch erarbeitete, oder ungeschickt intuitive — reflexive Auffassung bringt also in uns dem Schöpfer gegenüber ein Glaubensverhalten hervor. Der „theologische Glaube“ greift also auf die Zeichenwelt der sozialen Glaubenschaftlichkeit, wie etwa „König, Hoheit, Königreich“ zurück — Symbole der schwachen Glaubenschaftlichkeit —, oder auf die Zeichenwelt der starken BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 333 Glaubenschaftlichkeit, in Analogie zum ehelichen und kindlichen Glauben. Gott wird « Vater » genannt. Die religiöse Sprache, und insbesondere jene der Bibel, der Thora und der Evangelien, greift sehr gezielt auf diesen Vorrat an Analogien zurück. DER ANDERE PHILOSOPH Bitte beachten Sie nebenbei, dass die Sprache auf die Beziehungen der starken Glaubenschaftlichkeit zurückgreift, um den Symbolen der schwachen Glaubenschaftlichkeit mehr Gewicht zu verleihen. Vom « König » sagt man, dass er der « Vater » seines Volkes ist... Das ist nur ein Beispiel für das Phänomen der „Universalisierung“ der ehelichen und familiären Glaubenschaftlichkeit... DER ANDERE PHILOSOPH Sie haben gesagt, dass diese Auffassung von der Schöpfung als in unserer menschlichen Wirklichkeit immanente Offenbarung falsch verstanden werden kann. Wenn man sie nun zusätzlich noch durch die Psychologie der familiären Beziehungen hindurch zum Ausdruck bringt, besteht eine beachtliche Gefahr, dass man einem Anthropomorphismus anheimfällt. Bei den kosmologischen Gottesbeweisen besteht diese Gefahr nicht. Mir scheint daher, dass man den Gebrauch von aus dem Bereich der Familie entnommenen Symbolen durch aus dem Bereich der Dinge entnommene Symbole „temperieren“ sollte. Dinge sind weniger nahe bei Gott, wenn ich das so sagen kann, als Menschen. Daher läuft man dabei weniger Gefahr, Gott Eigenschaften zuzuschreiben, die ausschließlich Geschöpfen zukommen. DER ANDERE PHILOSOPH Diese Gefahr besteht tatsächlich dann, wenn die Symbole aus dem familiären Bereich psychologisch verstanden, und anhand einer klassischen Ontologie der Einheit gedeutet werden; also zum Beispiel, wenn die Beziehung « Ehemann-Ehefrau » anhand von den hierarchisch gegliederten Schemen der „Unterordnung“ verstanden wird; oder anhand von einem platonisierenden Dualismus: „Körper-Geist“, als ob die Unterschiede ausschließlich körperlicher Art wären, und ihre gleichförmige, natürliche Identität geistiger Art wäre. Da man 334 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN sehr häufig auf solche Deutungen stößt, muss man vorsichtig sein. Und zwar wegen des Mangels an Bildung bei gewissen Zuhörern. Wenn die Vergleiche aber relational-reflexiv verstanden werden, dann besteht keinerlei Gefahr des Anthropomorphismus. Es ist übrigens äußerst schwierig, sich reine Beziehungen irgendwie vor Augen zu führen und sich daraus « eingebildete Formen » des Göttlichen zu machen, die dann „Götterbilder“ wären. Dagegen muss man sich sehr wohl bewusst werden, dass die der Natur entnommenen Symbole die Gefahr in sich bergen, die relationale und interpersonale Dimension des menschlichen Seins und des Seins Gottes zu verundeutlichen oder ganz zu verbergen. Die dinglichen Vergleiche müssen also „entschlüsselt“ werden; man muss hinter ihrer Dinghaftigkeit die Zeichen einer geistigen Relationalität entdecken. Ich denke gerade an die Symbole „Brot, Wasser, Weinstock“ in den Evangelien. Hier bringe ich einen Gedanken auf, dem man auf den Grund gehen sollte... Und nun würde ich gerne noch eine zweite Bemerkung zu den Vorteilen und Nachteilen der aus der Natur entnommenen Symbole im Vergleich zu den aus der menschlichen Existenz, besonders aus der Familie, entnommenen Symbolen einstreuen. Die Symbole der Natur sind eher statisch: der Fels, das Wasser, das Feuer, das Licht, der Wind... Nun entfalten sich die Beziehungen des Menschen mit Gott aber in der Geschichte. Sie sind Bewegung und Entwicklung. Auch die menschlichen Beziehungen sind geschichtlich. Die Glaubenschaftlichkeitsbeziehungen zwischen menschlichen Personen stimmen also tiefer mit den an Gott gerichteten Glaubenschaftlichkeitsbeziehungen überein. DER EXEGET Diese historische Dimension ist besonders für den Exegeten von Interesse, da er sich bemüht, die Texte einer „Heilsgeschichte“ zu verstehen. Die Schöpfertätigkeit Gottes, die Sie mir beharrlich als interpersonale Bewegung der Seinsmitteilung erklären, geschieht in der Zeit. Sie kann also auf zwei Arten ins Auge gefasst werden: einerseits ausgehend von ihrer in Text gelebten Gegenwart hin zu ihrer Quelle, ihrem übrigens immer gegenwärtigen Ursprung hin; und andererseits im Hinblick auf ihr Ziel, indem man ihre Gegenwart als notwendige Offenheit für ihre Zukunft betrachtet, als ein BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 335 Gegenwärtigsein, das noch nicht voll und ganz das ist, was es von seiner zukünftigen Bestimmung her ist. Diese beiden Bewegungen lassen sich nicht voneinander trennen, aber man kann gelegentlich mehr die eine, zum Ursprung hin gerichtete, oder die andere, auf das Ziel gerichtete, betonen. Das, was wir bis anhin über die Erschaffung der Menschheit durch Gott, seine Offenbarung und den Glauben an diesen sich selbst in seiner schöpferischen Tätigkeit offenbarenden Gott gesagt haben, würde ich gerne in diese zweifache historische Perspektive hineinstellen. In der jüdischen Religion können wir ein auf den Ursprung ausgerichtetes glaubenschaftliches Bewusstsein beobachten. Der jüdische Glaube wendet sich dem Schöpfergott nicht nur in seinem Handeln am Anfang der Zeit, sondern am Ursprung der Gegenwärtigkeit der Zeit, in dem Augenblick, wo der Text entsteht, zu. Dieser Glaube an Gott glaubt an Gott, insofern er der „Urheber der Geschichte“ ist. Da einerseits unsere vorausgegangenen Diskussionen uns davor bewahren, in kontingenten Gegebenheiten das Göttliche zu sehen, und es andererseits völlig klar ist, dass unsere konkrete menschliche Wirklichkeit das Wort Gottes ist, würde ich jetzt sagen, dass Gott „sich im geschichtlichen Sein des Menschen offenbart“, und nicht in den „Umtrieben“ der Geschichte. Ereignisse erhalten für den Glaubenden nur im Bezug auf unsere Auffassung von der Schöpfung Gottes in der Geschichte einen Sinn. Diese Sinngebungen sind zunächst unreflektiert und sehr empirisch, und werden dann schrittweise kritisch umgeformt. Ich bin der Ansicht, dass ich mich von nun an in dieser Weise ausdrücken muss, wenn ich, im Anschluss an unsere Diskussionen, nicht mehr bei den psychologischen Formen unserer Glaubensüberzeugungen stehenbleiben werde, sondern wenn ich dem Glaubensleben eine ontologische Dichte der „Glaubenschaftlichkeit“ zugestehe. In Zukunft werde ich die Heilsgeschichte als die Ausbreitung einer glaubenschaftlichen Ontologie verstehen, trotz all ihrer in unserer Endlichkeit liegenden inneren Spannungen, und nicht mehr als eine für gültig erklärte und verabsolutierte « Erzählung ». Tatsächlich kann man nur ausgehend von unserer notwendigen glaubenschaftlichen Beschaffenheit auch das verstehen, was an den Religionen kontingent ist. 336 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER MODERATOR Eine Teilnehmerin unserer Zusammenkunft möchte das Wort ergreifen... Ich meine, es ist Ihr erster Beitrag... Würden Sie sich bitte kurz vorstellen? DAS BIBLISCHE BEWUSSTSEIN, DASS GOTT IN DER SCHÖPFUNG DEM EHEPAAR NACHWUCHS VERSPRICHT DIE DAME, die sich zum ersten Mal zu Wort gemeldet hat: Also,... Ich bin Gynäkologin. Mein Mann Kardiologe. Wir beide sind unserer jüdischen Religion sehr verbunden. Ich bin nicht gewohnt, auf die Art zu denken, wie Sie das tun. Unser bevorzugtes Vorgehen ist der Vergleich von Vorstellungen oder das Suchen nach bildhaften Vergleichen. Auch Bedeutungsinhalte, die gelegentlich sehr weit voneinander entfernt sein können, vergleichen wir durch Rückgriff auf die Begriffe, wenn sich bei der Addition der Zahlwerte ihrer Buchstaben derselbe numerische Wert ergibt. Indem ich Ihnen von den ersten Begegnungen an zuhörte, ist mir aufgegangen, dass hier einige Vergleiche zu ziehen sind. Seit dem Beitrag ihres Kenners der Schrift wird mir das je länger je klarer. Sie vergleichen den Glauben an Gott mit dem Glauben an den Ehepartner. Nun ist der Glaube zwischen Ehepartnern aber gerade ein Glaube an das Versprechen, das jeder dem anderen gemacht hat, ihm eine Nachkommenschaft zu schenken. So ist Abrahams Glaube an Gott eben gerade ein Glaube an das Versprechen, mit dem der ewige Gott ihm eine Nachkommenschaft zugesichert hat. Im Buch Genesis, Kapitel 15, Vers 6, lesen wir: « Und Abraham glaubte, oder hatte Glauben an Gott, und Gott rechnete es ihm als Gerechtigkeit an, oder als Rechtfertigung », oder, laut der Übersetzung der jüdischen Gemeinde, « er rechnete es ihm als Verdienst an ». Unsere Rabbiner und Kenner der Schrift diskutieren viel über die richtige Übersetzung dieses Verses. Und ich weiß, dass die ersten religiösen Oberhäupter des Christentums, nämlich Paulus von Tarsus und Jakobus von Jerusalem, dies ebenfalls taten. Natürlich maße ich mir nicht an, mich in all diese Debatten einzumischen. Ich stelle lediglich fest, dass der unter dem Hochzeitsbaldachin besiegelte Glaube zwischen einem Mann und einer Frau, und der unter dem Zelt besiegelte Glaube Abrahams an Gott, jeweils die Geburt eines Kindes zum Gegenstand haben. Und ich denke, für die Christen verhält es BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 337 sich mit der Geburt Jesu genauso. Kann denn der Glaube irgendetwas anderes zum Gegenstand haben als Geburten! Ich vergleiche auch die Geburten mit der Geschichte und daher die Geschichte mit dem Glauben. Auf Hebräisch bedeutet ein und dasselbe Wort « toledot » sowohl « Geschlechterfolge », als auch « Geschichte ». Kann die Geschichte etwas anderes sein als eine Entwicklung der Glaubens- und Geburtsbeziehungen? Sind nicht die Glaubensbeziehungen durch eine Geburtenfolge hindurch die Bewegkraft der Geschichte? Wenn ich als Ärztin einer Frau Geburtshilfe leiste, dann sage ich mir, dass ich an der Neugeburt des Bundes Gottes mit der Menschheit teilhabe, oder, bescheidener ausgedrückt, dazu Hilfestellung leiste. Trotz der Spannung, die in der biblischen Erzählung durch die Unfruchtbarkeit Saras bis ins fortgeschrittene Alter zustande kommt, hat Abrahams Glaube an Gott nicht die unglaubhafte Geburt eines Sohnes zum Gegenstand, sondern die Geburt selbst in ihrem ganz normalen Verlauf. Die Schwierigkeiten bei der Geburt Isaaks sind nichts weiter als ein Zeichen der Schwierigkeiten, von denen die gesamte Geschichte des Volkes Israel gezeichnet ist, dessen Existenz in ihrem menschlichen Bestandteil seit seinem Beginn Schwierigkeiten unterworfen ist. Das beste Unterpfand für Geburten ist in den Ehepaaren der gegenseitige Glaube der Ehepartner, trotz gelegentlicher körperlicher Fehlbildungen. Das beste Unterpfand für die Fruchtbarkeit des Bundes Gottes mit Israel — für Israel und durch Israel für die ganze Menschheit— ist der Glaube an Gott. In diesem Eheschluss Gottes mit meinem Volk ist nicht Gott es, der einen Fehltritt begehen könnte. Er ist immer der « Treue », in dem Sinn, wie Sie das Wort erklärt haben: « derjenige, der dauerhaft an den anderen glaubt ». Der Glaube des Menschen ist es, der vergänglich ist. Durch den beharrlichen Hinweis darauf, dass Sara Fruchtbarkeitsprobleme hatte, zeigt der Text, dass Abrahams Glaube ein fester Glaube war. Und wenn die Geburt normal ist, so sollte der Glaube genauso fest sein... Leider läuft der Glaube an Gott genau dann Gefahr, schwächlich zu werden oder nicht mehr fähig zu sein, das Geschenk des Bundes anzuerkennen, wenn die Geburten normal sein können und es sind. Gott bedauert dann dieses Verbleichen des Glaubens, weil seine Großzügigkeit für den Menschen dann zweckentfremdet, abgeblockt, totgeschwiegen und erdrückt wird. Er kann den Menschen dann nicht mehr für ihr Vertrauen in sein 338 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Versprechen Anerkennung zollen, wie Abraham, und sie für die Richtigkeit ihrer Antwort, für ihr « tsedaka », beglückwünschen. Da mein Mann und ich unsere Gedanken in der französischen Übersetzung dieses Verses nicht wirklich wiedererkennen, umschreiben wir ihn folgendermaßen: « Abraham nahm von ganzem Herzen das Versprechen Gottes als Wahrheit an, und Gott beglückwünschte ihn für sein gerechtes Verhalten ». DER MODERATOR Ich danke Ihnen für ihr Zeugnis... Wie die anderen weiblichen Teilnehmer, so bringen auch Sie in dieser Woche den Reichtum ihrer konkreten Lebenserfahrung in unsere Debatten ein. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Auch Ihnen danke ich für Ihr Zeugnis. Ich denke, dass ich aufgrund dieses Zeugnisses nun weniger Schwierigkeiten haben werde, zu sagen, dass die Hebräer und nun auch die Juden ihre persönliche Existenz, und auch die des in allen Ländern verteilten ganzen Volkes, in Abhängigkeit von einer göttlichen Initiative verstehen. Gott geht mit ihnen einen Bund ein. Sie bringen daher in den Kategorien des wesentlich dialogischen glaubenschaftlichen Bewusstseins ihre gegenwärtige Stellung als bewusstseinsbegabte und geschichtliche Geschöpfe zum Ausdruck. In diesem Sinn ist die jüdische religiöse Erfahrung für uns immer noch gültig. Insofern sie unsere Beziehung zu Gott von ihrem Ursprung, also der ersten Schöpfung her versteht, hat sie bleibenden Wert. « Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde »... Gott sagte: « es werde Licht, und das Licht wurde »... Gott sagte: « Lasst uns Menschen machen als unser Abbild »... Gott sprach zu Abraham: « geh, für dich... », also im Hinblick auf deine Erfüllung... Das ist die Schöpfung, die weitergeht. Die Juden lesen diesen Text. Der Text besagt, dass Gott spricht... und beschreibt dieses Wort. Der Text, der dieses Wort ausdrückt, ist also nicht Wort Gottes... Wenn ein Text sagt: „In der Mitte des Gartens steht ein Baum...“, dann ist der Text nicht dieser Baum. Wenn der Text diesen Baum beschreibt, dann ist der Text nicht der beschriebene Baum. Der Text, der also nicht Wort Gottes ist, ist das Verständnis, das der Mensch von diesem BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 339 Wort hat, genauso, wie die Beschreibung des Baumes die Wahrnehmung des Baumes durch den Menschen ist... Das an das jüdische Volk gerichtete Wort Gottes ist in seiner objektiven Wirklichkeit nicht eine Ansammlung von Wörtern, sondern seine eigene, nicht nur „allgemeine“, sondern „geschichtliche“ menschliche Wirklichkeit, insofern es sich in persönlicher Beziehung zu Gott sieht. Und diese als Abbild Gottes verstandene menschliche Wirklichkeit wird dann von Juden, anonymen Schriftstellern, Propheten... in „Texten“ und durch diese Texte ausgedrückt, in Gedankengängen, in relationalen Situationen des universalen, menschlichen, glaubenschaftlichen Bewusstseins. Daher stammt der nicht „sakrale“, sondern „heilige“ Charakter des Textes der Thora. Dieser Text versucht, die Heiligkeit des „Gottes, der sich offenbart“, auszusagen, positiv in dem auszusagen, was im Menschen heilig ist, und negativ auszusagen durch das, was im Menschen Sünde ist. Gott „spricht“ in diesem Sinn die Heiligkeit des Menschen und die Sünde des Menschen in Bezug auf seine eigene göttliche Heiligkeit (Lv. 19, 2f.) aus. DER ANDERE PHILOSOPH Ich finde Ihre Analyse beachtenswert, und auch die schönen Schlussfolgerungen, die Sie als Theologe aus dem Text ziehen können, wenn dieser nicht buchstäblich als « ausgesprochenes Wort » Gottes verstanden wird, sondern als menschliches Verständnis dieses Wortes, das der Mensch selbst ist, der in seiner Wirklichkeit unendlich reicher ist als der geschriebene Text. Das ermöglicht uns, es ununterbrochen neu auszulegen, indem wir durch es hindurch den Horizont der Wirklichkeit des schöpferischen und offenbarenden Wortes Gottes erforschen, nämlich den Menschen in seiner geschichtlichen Existenz. Die jüdischen Kommentatoren sind in solchen Neuauslegungen besonders bewandert. Allerdings haben nicht alle Auslegungen denselben Wert, denn sie nähern sich nicht alle mit derselben Richtigkeit der menschlichen Wirklichkeit, in der Gott sich selbst offenbart. Aber genauso ist es wahr, dass man umso eher auf Fortschritte in der Wahrheit hoffen kann, je mehr Versuche man dazu unternimmt. Dagegen gibt es nichts Schlimmeres, als nur über eine einzige Leseweise des Textes zu verfügen, und obendrein 340 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN noch über die schlechteste, nämlich, dass man den Text buchstäblich in einem unmittelbar empirischen Sinn versteht. Es ist nämlich ganz offensichtlich, dass Gott nicht im psychologischen Sinn « spricht ». Das zu denken, wäre nichts anderes als religiöser Empirismus, eine Form von primärem Anthropomorphismus. Denn es ist ganz offensichtlich, dass Sprechen, so, wie der Mensch in seinen vielfältigen Sprachen spricht, eine bezeichnende Eigenschaft eines geistigen Lebewesens ist, das aber auch körperlich ist. Nun ist Gott aber ganz und gar nicht-körperlich. Er spricht also nicht; er hält keine Reden, diktiert uns nichts, atmet nicht, lässt uns keinen Text erzählen, weder unmittelbar, noch durch einen « objektiven » Mittler — etwa durch einen Engel — oder was auch immer es sein mag. Wenn wir sagen, dass „Gott spricht“, dann müssen wir das so verstehen, dass er „in Vollkommenheit spricht“, und nicht mit der Beschränktheit und Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache. Denn was ist ein an den Andern gerichtetes Wort für uns? Es ist ein Akt, durch den wir irgendetwas für den Anderen ins Sein rufen wollen. Es kann sich um eine einfache Mitteilung handeln, aber auch um weitaus mehr, wie etwa, wenn wir ihm sagen, dass wir ihn lieben. In diesem Fall ist unser Wort wirkkräftig. Aber menschlich gesehen ist es so wenig wirkkräftig, dass Taten folgen müssen, um es zu erfüllen! Gott spricht „mit Vollkommenheit“, in einer in Fülle wirkkräftigen Weise. Sein Wort ist „schöpferisch“. Das „Wort Gottes“ kann also nichts anderes sein als „eine Wirklichkeit“, und nicht eine „Sprache“. Es gehört dem Sein an, nicht nur insofern, als es ein wirkliches Wort ist, sondern insofern seine Wortwirklichkeit „ein Seiendes“ ist. Das Wort, das Gott an den Menschen richtet, ist also nichts anderes als die Wirklichkeit an sich des Menschen, die dem Menschen gegebene Wirklichkeit, für den Menschen selbst, der sich seiner als ihm geschenkt bewusst wird. Der Mensch ist daher sich selbst geschenkt als sich-bewusst-werdend, dass er die Wirklichkeit dieses göttlichen Wortes ist, und dass es Gott ist, der sich in diesem Wort selbst dem Menschen offenbart. Im innersten meiner menschlichen Natur, und nicht in einem Wachtraum oder religiösen Wahn, kann ich mir sagen: „Ich bin die Wirklichkeit des Wortes, das Gott an mich richtet, und ich bin die Wirklichkeit dieses Wortes nicht als solitärer Mensch, sondern notwendigerweise mit Anderen, in der Geschichte. Und BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 341 das, weil das Wort Gottes mir in einem reflexiven Gedankengang sagt, dass es nicht gut ist, dass ich allein sei, und bewirkt, dass ich in meinem Sein der Wille sei, dass ein von mir verschiedener Anderer sei. Wir sind uns dessen in einer reflexiven Analyse bewusst geworden. Meine Selbstverwirklichung ist also unsere Verwirklichung zu Mehreren. In diesem Sinn ist unsere Zukunft göttliche Verheißung. Und die göttliche Verheißung sichert uns unsere Zukunft zu. Und unsere Zukunft, das ist unsere Nachkommenschaft, eine Geburt. Indem er uns erschafft, verspricht Gott sie uns, und indem er sie verspricht, macht er uns fähig, aufgrund seiner Großzügigkeit an ihn zu glauben. Diese Wahrheit nehmen wir auf, indem wir unserer interpersonalen menschlichen Natur zustimmen. Und Gott lobt uns für die Richtigkeit unseres Glaubens an ihn. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Da sein Bewusstsein « universalisierend » ist, kann der Mensch die in seiner persönlichen Menschennatur vorgefundenen Wahrheiten auch auf andere übertragen. Ein anonymer biblischer Autor kann Gott und den Menschen als Gesprächspartner auftreten lassen. Dieses Gespräch ist nicht psychologisch. Es ist die psychologische Übertragung einer universalen, interpersonalen, ontologischen Beziehung. Der biblische Autor schreibt: « Gott versprach Abraham... », und der Text erzählt uns eine Geschichte, die dazu passt und dem Urvater zugeschrieben wird... DER DOMHERR Wollen Sie damit sagen, dass die Geschichte Abrahams ein sich gleichbleibendes Urmotiv, eine ganz und gar erfundene Geschichte ohne historischen Wert ist? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Das habe ich niemals gesagt! Lesen Sie den Text der Bibel etwa, als ob es sich um eine von einem großen Reporter verfasste Schilderung handeln würde? Was unzweifelhaft geschichtlich ist, ist der Text. Und der Text offenbart uns zunächst die Persönlichkeit seines Autors oder seiner Autoren, und dann ihr kulturelles Umfeld, und zuletzt die universale menschliche Seele. 342 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Dass die in der Bibel geschilderten Ereignisse nicht so, wie sie erzählt werden, geschehen sind, ist nicht besonders wichtig. Das Wichtige ist der Text, der bezeugt, dass Menschen ihre Existenz in einer derartigen Weise und mit so viel Tiefgang überdacht haben, dass sie diese Texte geschrieben haben. Der Wert der Gestalt Abrahams ist nicht ereignisgebunden, sondern glaubenschaftlich und ontologisch. Unzählige Menschen haben sich in ihm wiedererkannt und erkennen sich auch heute noch in ihm wieder, und alle, indem sie mehr oder weniger gelungenermaßen und zutreffend ihr eigenes religiöses Gesicht auf ihn übertragen. Man kann sogar sagen, dass die Wahrheit oder Falschheit, die Erhabenheit oder Mittelmäßigkeit der Gestalt Abrahams vom Gottesbild, das man sich macht, abhängt. Das Paar GottAbraham oder Abraham-Gott ist der Spiegel unserer theologischen, glaubenschaftlichen Beziehungsbedingtheit, und des Bewusstseins, das wir davon haben. Der Text sagt uns also: „Gott versprach Abraham eine Nachkommenschaft...“. Dieses Versprechen war die Vollendung Abrahams selbst. Abraham hat an dieses Versprechen geglaubt. Er stimmte in sich selbst seiner Menschennatur zu, in der Gott sich offenbarte. Er hatte Glauben an Gott. Gott urteilte, dass sein Verhalten gerecht war. Nicht nur Abraham, sondern Abraham und Sara... Und Israel wurde… Gott sagte: „Licht“, und das Licht wurde. Gott sah, dass das Licht gut war. Es wurde Abend, es wurde Morgen. Der erste Tag. [...] Gott sprach: „Lasst uns Menschen machen... Er erschuf sie als Mann und Frau mit dem Versprechen einer Nachkommenschaft... Gott sah, dass es sehr gut war. Der sechste Tag.“ Für den siebten Tag umschreibe ich den Text der Schriftgelehrten, der nach dem babylonischen Exil geschrieben wurde. Ich mache mir die Mehrdeutigkeit ihres Textes zunutze, um ihre Gedanken noch zu übersteigen... „Am siebten Tag hörte Gott auf, zu arbeiten... um zu arbeiten...“ Lassen wir Gott also sagen: „Hören wir heute auf, allein zu arbeiten... um mit dem Menschlichen zu arbeiten und der Geschichte eine Geburt zu verleihen, und so das Werk unserer Großzügigkeit später, jenseits der Geschichte, zu vollenden“. BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 343 Und Gott spricht weiter: „Machen wir einen Mann und eine Frau, die verstehen, dass wir „die Einzigartigen, die alles geben“ sind. Auf dass sie jetzt verstehen mögen, dass sie von Anfang an unser Abbild sind, und dass wir, um dieses Abbild in unserer Ähnlichkeit zu vollenden, ihnen von Anfang an versprochen haben, dass sie sich gegenseitig eine Nachkommenschaft geben, und dass wir dieses Versprechen von Anfang an mit ihnen eingelöst haben. Auf dass sie jetzt verstehen mögen, dass wir deswegen gesagt haben, dass es sehr gut sei, weil wir sie in unserer Großzügigkeit großzügig erschaffen haben, als Abbild unserer selbst in unserer ewigen Großzügigkeit. Und Abraham und Sara, die dem Ruf, ihre Vollendung zu verstehen, gefolgt sind, indem sie in ihrer Nachkommenschaft die Großzügigkeit Gottes angenommen haben, stehen im Verlauf des siebten Tages. Und Gott sagt ihnen, dass dieser Glaube an seine Großzügigkeit das Gerechteste war, was sie nur hätten tun können. So kam nach dem sechsten Tag der siebte Tag... Und es ist immer noch der siebte Tag... DER ANDERE PHILOSOPH Und was ist mit dem achten Tag? In der Tat haben Sie uns gesagt, dass die Geschichte in einer verglaubenschaftlichten Darstellung wie in der Schrift auch das Wort Gottes ist. DER ERSTE PHILOSOPH Aber die Geschichte enthält viele Tragödien und Verbrechen... Sind auch sie Worte Gottes? Werden Sie Hegel folgen, der im Werden der Geschichte die Verwirklichung des absoluten Geistes sieht? Das wäre dann allerdings dramatisch... DER ANDERE PHILOSOPH Mitnichten, da ich Gott nicht mit seinem Werk gleichsetze. Das Bezeichnende des Handelns Gottes besteht darin, dass er sein Werk wirklich von sich selbst unterscheidet. Und dies wiederum kann er genau deshalb tun, weil jede wahrhaftige Seinsmitteilung die „Trennung“, also die achtungsvolle „Verneinung“ des in sich selbst begründeten Anderen voraussetzt. 344 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Die Schöpfung ist wirklich von Gott unterschieden; sie ist nicht eine Emanation Gottes oder seine Entfaltung in der Zeit; denn Gott ist wirklich in sich selbst zu Mehreren. Der Eine ist nicht der Andere, und auch nicht der Dritte in Gott. Die Unterscheidung zwischen ihnen ist vollkommen, genauso, wie ihre unauflösliche, gegenseitige Einheit vollkommen ist. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Mit traditionellen theologischen Begriffen kann man also sagen, dass die Schöpfung und der Mensch deshalb nicht Gott sind, und in keiner Weise Gott werden können, weil Gott Dreieinigkeit ist, und weil in der Dreieinigkeit der Vater auf keine Weise der Sohn ist, noch der Sohn und der Vater der Heilige Geist. Die Vollkommenheit der Unterscheidung zwischen den göttlichen Personen ist daher die Grundlage und Gewährleistung der Unterscheidung zwischen Gott und dem Menschen, wie hoch auch immer die Würde sein möge, zu der Gott den Menschen ruft, um ihn von allem Bösen zu befreien und sich ihm im vollen Ausmaß seines göttlichen Vermögens mitzuteilen. DER ANDERE PHILOSOPH Genau. Mit einer relationalen Ontologie ist jede Möglichkeit irgendeines Pantheismus ausgeschlossen. Dies ist bei einer klassischen Ontologie, die die ungeteilte Einheit als transzendentale Seinsvollkommenheit annimmt, nicht der Fall, ja, die Philosophie Spinozas neigt nur allzu deutlich dazu. Aber kommen wir auf die Ebene der menschlichen Wirklichkeit der Geschichte zurück. Aufgrund der Tatsache, dass seine Beziehungsbedingtheit unvollkommen und universalisiert ist, ist der Mensch ein geschichtliches Seiendes, dessen Sein sich so weit erstreckt wie die Zeit. Als solcher ist er in seiner geschichtlichen Wirklichkeit das „Wort“, das Gott an ihn richtet. Der Mensch hört das „Wort Gottes“ also dann, wenn er sich in menschlichen Worten sagt, was er in Wahrheit ist. Aber wenn er sich bezüglich der Wahrheit seiner Existenz irrt, verdunkelt er das Wort Gottes. Und die Beschaffenheit unserer konstitutiven Glaubenschaftlichkeit nur teilweise oder sogar falsch zu verstehen, heißt, taub zu sein für dieses Wort, oder sogar an ihm BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 345 Verrat zu üben. Verstehen wir das, bitte, ohne Psychologismus und ohne psychische Phantasiegebilde! Und weil das „Wort Gottes“ auch immer von der menschlichen religiösen Art, wie wir es auffassen und ausdrücken, geformt wird, sollen wir es niemandem aufzwingen durch Gewalt, Verfolgung, Verwünschungen, Glücksversprechungen, List oder Verführung, und auch nicht durch sogenannte „Ehrenverbrechen“ an dem, der meint, Gott in einer anderen Religion, in der er nicht erzogen wurde, besser zu verstehen. Es reicht, das Wort durch den Verstand für den Verstand und durch das Herz für das Herz darzulegen. DER EXEGET Sie haben mich gefragt: „Und wann ist dann der achte Tag?“ DER ANDERE PHILOSOPH Ja, da das „Wort Gottes“ sich in der Geschichte erfüllt, in der Er sich offenbart, indem er uns erschafft... DER EXEGET Ich denke, er folgt nicht auf den Siebten, sondern er ist gleichzeitig mit ihm... so paradox das auch sein mag... Tatsächlich kann die Geschichte durch die glaubenschaftliche Ausrichtung in zweifacher Weise als Heilsgeschichte gelebt werden: erstens, wenn sie von ihrem Ursprung her verstanden ist; und zweitens, wenn sie ausgehend von ihrer Gegenwart auf ihr Ziel hin, also auf ihre mehr oder weniger letzte Bestimmung hin, verstanden wird... Ich komme auf meine Darstellung zurück... vor den letzten Wortmeldungen... Im Anschluss an die Predigttätigkeit Jesu stellen wir ein glaubenschaftliches Bewusstsein von der in der Offenbarung ihrer absoluten Zukunft verstandenen gegenwärtigen Schöpfung fest. Es handelt sich tatsächlich nicht mehr um ein von einer zeitlichen Zukunft ausgehendes Verständnis der Gegenwart, anhand von einem Plan derselben familiären „Abstammung“ wie alle menschlichen Pläne, die die ursprüngliche Schöpfung vollenden. Es handelt sich um eine Zukunft des geschichtlichen Menschen als solchem, also der gesamten vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Menschheit, der gesamten menschlichen Geschichte, jenseits der Geschichte an sich, also 346 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN um eine transzendente Zukunft, die von Gott selbst als Erfüllung seines gegenwärtigen und eigenständigen Einsatzes als Schöpfer offenbart ist. DER PHYSIKPROFESSOR Warum ist eine derartige Erfüllung nötig? DER EXEGET Diese Frage überlasse ich den Philosophieprofessoren und Dogmatikern. Aber Ihre realistische und nicht mehr wörtliche Auffassung von dem, was Offenbarung ist, mache ich mir zu eigen. Verzeihen Sie, dass ich sie (sie ] die Frage) ins Aus kicke... Andere würden sie wieder einwerfen... Daran zweifele ich nicht! Diese transzendente Offenbarung vollzog sich auf der Grundlage der ontologischen Offenbarungsprinzipien, die auch den Geist der Thora ausmachen. In ihr haben Hebräer und Juden für sich und die Welt ihr in Bundesschluss erschaffenes „menschliches Sein“ ausgesagt, und es anschließend bewusst durch die Texte des Exodus hindurch gelebt. Indem sie ihre Existenz und Geschichte verstanden, verstanden sie die Offenbarung, die Gott an sie ergehen ließ. Und darüber schrieben sie den Text. Eine transzendente Offenbarung Gottes kann also nichts anderes sein als eine lebendige Wirklichkeit, wie etwa die Offenbarung Gottes in unserer gegenwärtigen menschlichen Beschaffenheit. Sie ist also nicht ein „Text“, sonder ein Mensch, der tatsächlich und in Fülle „Wort Gottes“ ist, also ganz und gar und gesamthaft von der göttlichen Wirklichkeit erfasst, und nicht mehr nur ein Geschöpf ist. Diese transzendente Offenbarung, die das, was sie offenbart, auch bewirkt, ist, genauso wie die ursprüngliche schöpferische Offenbarung, eine menschlich gegenwärtige, göttliche Person, die gemäß allen menschlichen Umständen in unserer Geschichte gegenwärtig ist. Dieser von einer Person Gottes erfasste Mensch „sagt“ uns — und daher ist er „Wort für uns“ — in seiner Beziehung zur Menschheit sein göttliches Sein, indem er es schrittweise auf menschlich-reflexive Weise entdeckt. Und für unsere Menschheit wird die Offenbarung Gottes in ihm durch das sichtbar, was sich in ihm vollzieht. Und weil diese Offenbarung wirkkräftig ist, ist das, was sich in seiner Menschheit vollzieht, auch die zukünftige Wirklichkeit unserer Menschheit. Daher ist sein „eigenes Jenseits-der-Geschichte“, das er gelebt hat, auch BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 347 unser Jenseits. Anders gesagt: Die Offenbarung Gottes in der Auferstehung Jesu impliziert die Verwirklichung unserer eigenen universalen Auferstehung. Diese gewissermaßen spontan von allen Christen in der ganzen Überlieferung der Kirche „geglaubte“ Wahrheit steht also in vollkommenem Einklang mit der Wirklichkeit der Offenbarung, die das jüdische Volk empfangen hat, indem es seine eigene Existenz glaubenschaftlich verstand, selbst wenn zwischen den beiden Religionen lehrmäßige Unstimmigkeiten bestehen. DER ANDERE PHILOSOPH In unserer Auffassung von der Geschichte als „Wort Gottes“ stimmen wir überein. Vom Gesichtspunkt der relationalen Ontologie aus, der eine vereinheitlichte Sichtweise der Geschichte unterstützt, muss hinzugefügt werden, dass die in ihrer Menschheit die „Offenbarung Gottes für die Menschen“ vollziehende göttliche Person in irgendeiner Weise ewig die „persönliche Offenbarung Gottes in Gott“ sein muss, also die in Gott in Göttlichkeit durch den Ersten gesetzte Andere Person, mit der gemeinsam er einem Dritten eine ewige Geburt schenken will. Nochmals stoßen wir auf die Trinität als Grundlage unserer Existenz und Geschichte, sowie auch unserer Auferstehung jenseits der Geschichte. Der vom Ersten unterschiedene Andere ist Wort für den Dritten. Der In-seinerMenschheit-Andere ist Wort für den „Dritten“, und die Menschen sind dieser Dritte. Aufgrund dieser relationalen Strukturen lässt sich die „vergöttlichte“ Existenz, die Gott durch seine persönliche Gegenwart in einem „geborenen, gestorbenen und auferstandenen“ Mann transzendent offenbart, und die eben dadurch die von seiner Großzügigkeit für alle Menschen vorherbestimmte transhistorische Zukunft ist, auch mit dem Gebären eines Dritten vergleichen. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Vorausgesetzt, dass Gott nicht in einer aus Worten bestehenden Sprache, sondern durch Wirklichkeiten spricht, muss er das, was die Wirklichkeit jedes Menschen jenseits seiner gegenwärtigen Geschichte ist, in der Wirklichkeit eines Menschen offenbaren, der jenseits seines Todes das Leben in Fülle hat. Er muss es aus absolut freiem inneren Antrieb, und er kann es auch, weil er in sich selbst das unbegrenzte Vermögen 348 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN der Weitergabe jenes Lebens ist, das durch nichts bedroht werden kann. Was der Mensch, wie Abraham in den alten Tagen seiner Ehe, als Herausforderung an das Unmögliche erhoffen kann, ist derweil die Regel der glaubenschaftlichen Beziehung. Weil Gott Dreieinigkeit ist, ist er fähig, sie zu erfüllen. Das anzuerkennen ist die gerechte Lebensweise. Auch hier kann Abraham als Urbild unseres Verhaltens angesehen werden. „Er vergewisserte sich seiner Zukunft in Gott, und Gott bestärkte ihn in seinem gerechten Verhalten“. Ich danke Ihnen, meine Dame, für diese Übersetzung. Sara, deren Mütterlichkeit abgestorben war, wird Mutter sein. Der Mensch, dessen gegenwärtige Geschichte tot ist, wird leben. Jeder christliche Glaubende anerkennt, dass Gott im Menschen Jesus dieses jenseits aller Geschichte stehende Jenseits sichtbar gemacht hat. Es ist die „Auferstehung“. Darin liegt das Wesentliche der Offenbarung Gottes in Jesus. Nicht das „Christentum“ ist offenbart. Es ist der Zeuge dieser Offenbarung, und zwar aufgrund der Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung, deren erste Zeugen die Hebräer und Juden sind. Die Hebräer und dann auch die Juden sind sich dessen bewusst geworden und machen es weiterhin den Nationen verständlich. Im Anschluss an sie obliegt es auch allen Menschen, darin eingeschlossen den Christen, dies zu vertiefen. GESCHICHTLICHE UND RELATIONAL-ONTOLOGISCHE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN JUDENTUM UND CHRISTENTUM DIE GYNÄKOLOGIN, Angehörige des jüdischen Glaubens: Ich sehe die positiven Absichten, die sie für das Judentum hegen. Dazu haben Sie meine volle Zustimmung. Etwas irritiert bin ich allerdings durch die... ich würde sagen, „abstrakte“, aber irgendwie unzeitliche Art, mit der Sie die Rolle Israels verstehen, obwohl Sie doch dauernd von Geschichte und vom geschichtlichen Menschen sprechen. Es ist so, als ob Sie, die einen und die anderen, die Dinge in ihrem Sein im „Ratschluss“ Gottes sehen würden... Das ist ein bisschen zu hoch... im Vergleich zur Erde... Für uns ist die Erinnerung an die Geschichte wichtiger als Spekulationen über ihren Sinn. Auch verstehen wir die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum in erster Linie einfach geschichtlich, und nicht theologisch und BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 349 philosophisch. Und auf dieser Ebene waren die Beziehungen äußerst gespannt und konfliktgeladen, um nicht mehr zu sagen... Zweifellos befinden sich die Beziehungen zwischen unseren beiden Gemeinschaften, der Kirche und der Synagoge, heute in einem begrüßenswerten Wandel, hin zu mehr gegenseitigem Verständnis. Die Historiker vereinfachen die Gründe der anfänglichen Trennung nicht mehr so sehr wie in der Vergangenheit. Sie versuchen, die kulturelle Vielfalt des Zeitalters des Römischen Reiches besser mit einzubeziehen. Dennoch bleibt es wahr, dass die jüdischen und christlichen Standpunkte auf der Ebene der geschichtlichen Analyse der Vorstellungen und Lehrgebäude schwer zu vereinen sind, oder sogar unvereinbar sind. Mir scheint also, dass die Verbesserung unserer Beziehungen darin besteht, dass ein jeder sich entschieden hat, diese lehrmäßigen Unvereinbarkeiten nicht mehr in ein feindseliges religiöses Gefühlsleben zu übersetzen... Man nimmt es hin, dass ein jeder die Wahrheit seiner eigenen Überlieferung beibehält und lebt, und lässt sich dabei möglicherweise vom anderen über diesen oder jenen Punkt unseres gemeinsamen Erbes aufklären. DIE HISTORIKERIN Die historischen Untersuchungen der letzten fünfzig Jahre bringen uns dazu, zu verstehen, dass die nachträgliche Übertragung einer klaren Dualität von Judentum und Christentum den Umständen ihrer Entstehung nicht gerecht wird. Das biblische Judentum, also jenes gegen Ende des Zweiten Tempels, am Anfang des Römischen Reiches, war sehr vielfältig. Die religiösen Bewegungen wahren zahlreich: Sadduzäer, Pharisäer, die Schule von Schammai oder die Schule des Hillel, die Essener, und in der wichtigen jüdischen Gemeinde Ägyptens die Therapeuten, und die hellenisierenden Juden und die an ihre Volksgruppe gebundenen Juden. Außerdem gab es die endzeitliche Literatur und die Hassidim, also die zahlreichen Kreise von „Frommen“, darunter den Kreis des „Jesus von Nazareth“. Sie alle gehörten zu einer einzigen großen Familie, nämlich jener des „biblischen Judentums“. Die oft äußerst wichtigen Unterschiede waren derweil kein Anlass zu Trennung oder einem Auseinanderbrechen. Viele dieser Bewegungen verschwanden nach dem Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht im Jahr 66 und der tragischen Zerstörung des Tempels im Jahr 71. Dieser ersten Katastrophe 350 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN folgten zwei weitere: die Zerstörung Jerusalems im Jahr 135, nach und im Anschluss an einen letzten Aufstand, und dann die Zerstörung der jüdischen Gemeinde Ägyptens. Zwei Bewegungen haben diese Wirren überlebt: die der Pharisäer, vor allem jene der Überlieferung des Hillel, und die der frommen Schüler Jesu. Alle beide machten in dieser Zeit auch eine tiefgreifende Veränderung durch, jede auf ihre Art. Daraus ergaben sich schließlich das rabbinische Judentum und das Christentum. Ihre Trennung lässt sich durch zwei Gruppen von Gründen erklären, die man nicht voneinander trennen darf: ihre jeweils eigene Spiritualität und die geschichtlichen Umstände. Was wäre beim Fehlen eines dieser beiden Gründe geworden? Ohne diese dramatischen geschichtlichen Hintergründe wären ihre jeweils eigenen Spiritualitäten, obwohl sie sehr unterschiedlich sind, unter einem Dach geblieben, nämlich dem „des Hauses Israel“, mit zwei Hauptwohnungen. Könnte man rein „hypothetisch“ sagen, dass es ein „umfassendes und offenes biblisches Judentum“ gegeben hätte, innerhalb dessen sich nach und nach wahrscheinlich zwei Hauptrichtungen abgezeichnet hätten: nämlich eine hillelitisch-pharisäische und eine nazoräisch-messianische? Da die Anhängerschaft des biblischen Judentums bereits mehr als zehn Prozent der Bevölkerung des Römischen Reichs ausmachte, kann man durchaus der Ansicht sein, dass es durch seinen nazoräisch-messianischen Ableger nicht etwa zu wachsen aufgehört hätte. Daraus wiederum hätten sich vielfältige lehrmäßige Annäherungen ergeben. Aber... es kamen Wirren und das Verschwinden des biblischen Judentums. Allerdings war es nicht ein Verschwinden mit Stumpf und Stiel,... sondern vielmehr eine Umgestaltung... Wenn die Verkündigung Jesu nicht neue Elemente zur Lehre hinzugefügt hätte, dann wäre das Christentum sicherlich nicht entstanden. Denn nicht die Wirren oder der Untergang des biblischen Judentums haben es entstehen lassen und die Jünger hervorgebracht, die seine Lehre dann verbreiteten. Welche anderen Bewegungen des biblischen Judentums hätten durch eine Umwandlung ihrer selbst auf die Wirren folgen können? Hätte das rabbinische Judentum die Sache des biblischen Judentums selber aus dem Schiffbruch retten können, die vom Christentum bewahrt wurde, weil das Christentum sich bereits in der heidnischen Welt festgesetzt hatte? Diese heidnische Welt BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 351 hatte den Tempel von Jerusalem in Schutt und Asche gelegt, und wollte nicht, dass er neu beginnt. Welche Möglichkeit zur Wiederherstellung des biblischen Judentums hätte er gehabt, wenn er nur sich selbst überlassen gewesen und nur von seinem Anteil am Erbe genährt worden wäre? War das Christentum trotz seiner Rivalität und später Feindseligkeit gegen das rabbinische Judentum nicht auch sein objektiver Verbündeter für die Bewahrung der Überlieferung des biblischen Judentums? Und das Christentum? Wäre es sich selbst wirklich treu geblieben, wenn es nicht das rabbinische Judentum an seiner Seite hätte? All das sind zweifellos hypothetische Fragen! Aber sie können der historischen Forschung den Weg zu einem besseren gegenseitigen Verständnis weisen. DER EXEGET Als Jüdin haben Sie, meine Dame, gesagt, dass für Sie die Erinnerung an die Geschichte wichtiger ist als das Spekulieren über ihren Sinn... Ich kann mit Ihnen einverstanden sein. Ich schätze es sehr, dass das zeitgenössische rabbinische Judentum hierin eine bezeichnende Eigenschaft des biblischen Judentums bewahrt. Von einem anderen Gesichtspunkt ausgehend habe ich gesagt, dass der Glaube des Judentums dem Ursprung zugewandt ist, dem schöpferischen Handeln Gottes, und dem, was es als sein Handeln in der Geschichte verstand. Es geht hier sehr wohl um einen Erinnerungsvollzug... Dagegen richtet sich das Christentum aufgrund der Lehre Jesu und dessen, was an seiner Person nach seinem Tod geschehen ist, eher auf die Zukunft aus, und sogar auf die Zukunft der in ihrer Gesamtheit betrachteten Geschichte. Diese Eigenschaft des christlichen Glaubens begünstigt tatsächlich das „Spekulieren über den Sinn der Geschichte“. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Genügt nun aber die Erinnerung, um uns die geschichtliche Existenz des Menschen verstehen zu lassen? Ist die Erinnerung an die Geschichte Israels, selbst an ihre wichtigsten Ereignisse, wie jene am Sinai und die Inbesitznahme des Landes Kanaan, oder seine Rückkehr aus Babylon, ausreichend, um uns den Weg des Glaubens Israels verstehen zu lassen, der ja doch aus der Art und Weise, wie Israel diese Ereignisse versteht und im Gedächtnis behält, herausgelesen werden kann? Ich denke, dass 352 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN im Glauben der Menschen Israels eine Tiefe liegt, die durch diese Ereignisse niemals hätte hervorgebracht werden können, sondern die ihnen im Gegenteil ihren Sinn verliehen hat. Dasselbe gilt auch für die Person Jesu, einen ganz und gar jüdischen Menschen, der aber nicht zum rabbinischen Judentum gehörte, da er ein Jahrhundert vorher lebte. Seine Lehre konnte er ausschließlich auf der Grundlage dieses besonderen biblischen Glaubens verkünden. Und die in seiner Person geschehene Wirklichkeit, nämlich seine Auferstehung, — für die in der Ereignisgeschichte lediglich die Zeugen jener, denen sie offenbart wurde, in Erscheinung treten, weil sie in ihrer Wirklichkeit außerhalb der gegenwärtigen Geschichte liegt — kann ausschließlich durch den Vergleich zu der Art und Weise, wie Israel das auch außerhalb der Ereignisgeschichte stehende Handeln Gottes auffasst und versteht, aufgefasst und verstanden werden. Auch denke ich, und das möchte ich allen Historikern sagen, dass es zum Verständnis der Spiritualität und des Glaubens Israels und der Person Jesu nicht ausreicht, einzig die beobachtbaren menschlichen Faktoren in Betracht zu ziehen. Die Geschichtswissenschaft allein — so unverzichtbar sie ist — reicht nicht aus, um die ganze Spannweite der durch göttliches Handeln in Israel, in der Person Jesu, des Juden, geschehenen Wirklichkeit zu verstehen, deren Gedächtnis das Christentum bewahrt. Um zu verstehen, dass rabbinisches Judentum und Christentum einander im Tiefsten ergänzen, was jedoch keine Gleichsetzung bedeutet, ist philosophische und theologische Überlegung unabdingbar. Die Historiker sind in ihrer Eigenschaft als Menschen dazu fähig, aber sie dürfen es nicht unter dem Vorwand der methodologischen Einschränkung unterlassen. Diese gegenseitige Ergänzung muss zweifellos noch theologisch entdeckt und kulturell in Tatsachen ausgedrückt werden. Diese beiden Religionen geben zu, dass sie aus einem gemeinsamen Erbe schöpfen: aus der reichen und vielfältigen Überlieferung des biblischen Judentums. In diesem hat sich ein menschliches Bewusstwerden der Schöpfung als Offenbarung Gottes vollzogen. Das rabbinische Judentum legt weiterhin davon Zeugnis ab. Dieses glaubenschaftliche Bewusstsein des biblischen Judentums war für Gott die geschichtlich notwendige und zureichende Bedingung, um sich persönlich als Schöpfer unserer jenseits der Geschichte liegenden Vollendung zu BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 353 offenbaren, genauso, wie er der Schöpfer unserer Entwicklung in der Geschichte ist. Dazu hat er einen Israeliten mit seiner Gegenwart ergriffen: Jesus. Das Christentum legt weiterhin davon Zeugnis ab. Die beiden Zeugnisse verweisen auf ein und dasselbe Werk Gottes für die Menschheit, welches eben gerade gewährleistet, dass die beiden sich ergänzen. Ist diese tiefste Ebene der menschlichen geschichtlichen Wirklichkeit für die Geschichtswissenschaft, die sich auf das Beobachtbare beschränkt, erfassbar? Ich bin der Ansicht, dass das Geschichtsverständnis sich für ein reflexives Existenzverständnis öffnen sollte. DER ANDERE PHILOSOPH Die Fragen, die der Historiker sich nicht innerhalb seiner methodologischen Grenzen stellen kann, sondern deren Formulierung er wünschenswerterweise von metaphysisch denkenden Philosophen und Theologen, die sich der wesentlichen Glaubenschaftlichkeit des menschlichen Bewusstseins bewusst sind, übernehmen sollte, sind folgende: Erstens: Ist der Wirklichkeitshorizont des schöpferischen Handelns Gottes auf die gegenwärtige geschichtliche Existenz beschränkt, oder setzt er sein eigenes Überstiegen-Werden voraus, und warum? Zweitens: Ist das glaubenschaftliche Bewusstsein, das die Menschen in Israel von dieser Schöpfung im Rahmen des biblischen Judentums gewonnen haben, die Bedingung... — und um von Kant einen Fachbegriff auszuleihen, den ich nun auf paradoxe Weise anwenden werde — also die historische Bedingung a priori einer Offenbarung ihres eigenen Überstiegen-Werdens in einem von der gegenwärtigen Schöpfung jenseitigen Jenseits, und wie? Wenn die Antworten bejahend sind, dann wird es jenseits der Wirren um die Zerstörung des Tempels und der Tragödie der lang andauernden Trennung von rabbinischem Judentum und Christentum möglich werden, den Familiengeist und seine brüderliche Einmütigkeit zu suchen, die so schnell verlorengegangen sind,… wie die ursprüngliche Unschuld des ersten Ehepaares. Aber das Böse ist in dieser Schöpfung unvermeidlich, aufgrund der Unvollkommenheit der menschlichen Freiheit. Denn der Mensch ist in der Tat von Gott als fähig, zu sündigen, geschaffen, und er sündigt auch wirklich. Und könnte auch die Offenbarung eines Überschreitens der Geschichte, in dem diese 354 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Möglichkeit des Bösen beseitigt sein wird, angenommen werden, ohne wiederum vom Bösen beeinträchtigt zu werden? Ohne das Böse! Das ist unmöglich. Trägt Jesus nicht die Last der Sünde? Eine Formulierung, die man mit Verstand auffassen muss,... wohlgemerkt... Die Annahme der Offenbarung unserer Befreiung wird selber erst in der Verwirklichung dieser Offenbarung jenseits des Todes ganz und gar vom Bösen befreit werden. Aber die immer noch andauernde, unüberwindliche Gegenwart des Bösen befreit uns keineswegs von der Verantwortung, nach dem Guten zu streben. Ganz im Gegenteil: In diesem Fall verpflichtet sie uns, ein besseres gegenseitiges Verständnis des rabbinischen Judentums und des Christentums zu suchen, nicht nur aus einem allgemeinen Prinzip heraus, sondern insofern sie sich für ein ganzheitliches Verständnis des Werkes Gottes und eines wahrhaftigen Glaubens an ihn gegenseitig ergänzen. Ohne angesichts der kulturellen Unvereinbarkeiten wirklichkeitsfremd zu werden, sollten wir bedenken, dass diese Verpflichtung auch die anderen Formen von Religion einschließt. DER DOMHERR Warum bringen Sie nebst sehr verlockenden Ideen auch immer abschreckende ins Spiel? Ich verstehe diese Vorgehensweise nicht! DER ANDERE PHILOSOPH Um die verlockenden durch den Gegensatz besser ins Licht zu rücken... Nehmen Sie daran keinen Anstoß... DER DOMHERR Im Ernst!... Warum sagen Sie, dass das Böse unvermeidbar ist? Es war eine Wahl des Menschen. Zu sagen, dass der Mensch sich nicht enthalten konnte, das Böse zu tun, kommt dem gleich, dass man Gott dafür verantwortlich macht. Das ist untragbar... DER ANDERE PHILOSOPH Ich kann diese Verantwortlichkeit Gottes sehr gut ertragen... Nach der Sintflut bereut Gott, dass er die Menschheit hat untergehen lassen... Nachdem er Adam ganz allein erschaffen hatte, findet er, dass es nicht gut ist, dass er allein sei... Ist das, was er gemacht hat, BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 355 also nicht gut?... Natürlich ist es nicht gut, weil auch Gott selbst in seiner Gottheit nicht einsam lebt... Und Gott lässt einen tiefen Schlaf über Adam fallen... Er nähert sich ihm und lässt Eva aus ihm hervorkommen... die ihn aufweckt... Und genauso höre ich ihn sagen, nachdem er den Menschen unvollkommen und zur Sünde fähig erschaffen hat — nicht ich sage das, sondern Gott ist es, der spricht, und ich tue nichts weiter, als zu hören… in mir —: „Es ist nicht gut, dass die Menschen fähig bleiben, das Böse zu tun... Natürlich ist es nicht gut, dass sie Sünder bleiben und in ihren Sünden sterben, denn wir selbst, wir Drei unter uns, sind ausschließlich unendliche Liebe füreinander... In einem endgültigen Schlaf werde ich mich ihnen nähern und sie bis zu mir erhöhen, damit meine Heiligkeit sie ganz und gar durchdringt, und so werde ich sie von dieser hassenswerten Fähigkeit, sich gegenseitig zu zerstören, befreien... Und dann werde ich es nicht zu bereuen haben, sie vollkommen nach unserem Abbild geschaffen zu haben. Übrigens ist das immer noch das, was ich von Anfang an gedacht habe, noch bevor wir alle drei uns an die Arbeit gegeben haben, ein jeder auf seinem Platz...“ DER DOMHERR Sie ahmen Ihre Klassiker gut nach... DER ANDERE PHILOSOPH Ich lasse mich von ihnen immer noch sehr stark inspirieren... Sie sehen also, dass die Erschaffung des unvollkommen freien Menschen die Möglichkeit, zu sündigen, impliziert. Gott kann kein vollkommenes Seiendes erschaffen. Er allein ist vollkommen. Der Mensch, den er erschafft, ist notwendigerweise zum Guten vorherbestimmt, aber er ist ein Sünder. Und dennoch kann Gott aufgrund seiner unendlichen Vollkommenheit nicht zulassen, dass das Vorhandensein dieser Fähigkeit, das Böse zu tun, endgültig sei. Er schuldet es sich, sich dem Menschen in Fülle seinsgebend mitzuteilen, weil der Mensch sich bewusst ist, dass er von Gott in seinem Sein mit der moralischen Pflicht, sich vollkommen zu verwirklichen, geschaffen wurde. Einige sind sich dessen tatsächlich bewusst. Die anderen könnten es sein... Es handelt sich also um eine neuartige Seinsmitteilung, so dass wir von unserer Fähigkeit, das Böse zu tun, befreit sein werden. Das ist ausschließlich in einer von allen 356 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Unvollkommenheiten der gegenwärtigen Welt befreiten Existenz möglich. Diese „zweite Schöpfung“ richtet sich an ein bewusstseinsbegabtes Seiendes, das sie notwendigerweise ersehnt und sich ihrer bewusst wird. Diejenigen Seienden, die von Natur aus sich nicht ihrer selbst und daher auch nicht Gottes bewusst sein können, und die daher nicht an ihn „glauben“ können, sind davon nicht betroffen. Dagegen erwartet der glaubenschaftliche innere Elan vom Anderen alles, was er ihm aufgrund seiner Initiative als Offenbarer und Mitteiler offenbaren kann. Der glaubenschaftlich Glaubende beruft sich also auf keinerlei Verdienst seinerseits, um als Gegenleistung eine „Belohnung“ zu erhalten, also etwas, das ihn für das „entschädigt“, was er geopfert hat, und wofür er als Ausgleich einen Vorteil erhofft. Der glaubenschaftlich Glaubende glaubt — also er weiß mit Gewissheit, weil er in seinem geschaffenen Sein die Offenbarung dessen, was Gott war, erkannt hat — dass er von Gott alles erhoffen kann, nicht weil sein Glaube ein „Verdienst wäre — das wäre ja dann nicht mehr glaubenschaftlich —, sondern weil Gott „Gott“ ist, also in sich selbst dreieinige Seinsmitteilung. In Glaubenschaftlichkeit kann ich sagen: „Ich erhoffe von Gott all das, was ich erhoffen kann“. Das darf allerdings nicht psychologisch auf die gegenwärtige Zeit bezogen werden, sondern auf die Dauer Gottes. Gott kann also seinen Einsatz für alle Menschen in einem Menschen in Fülle sichtbar machen. Diese Fülle des Geschenks ist durch ihn bemessen, weil er Gott ist, aufgrund seiner unendlichen Vollkommenheit, und nicht weil er es sich gedanklich als Plan oder Vorhaben zurechtlegt, was man sich dann auch anders vorstellen könnte. Dieser in seinem „göttlichen Sein“ gründende Einsatz für die Vollkommenheit des Menschen ist daher notwendig, und zwar vom ersten Augenblick der Schöpfung an. Sein Plan mit den Menschen ist von Anfang an unteilbar. Für Gott handelt es sich um die Fülle der Mitteilung seines göttlichen Seins an seine Geschöpfe, die sich seiner bewusst sind und ihm daher ihren „Glauben“ schenken. Und dies kann er nur dadurch tun, indem er „persönlich“, also durch eine seiner Personen, in einem Mann gegenwärtig ist: durch die göttliche Person, deren Persönlichkeit darin besteht, „göttlich als sich schenkend empfangen zu sein“, um zu den Menschen von ihrem „im Überfluss zu empfangenden Sein“ BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 357 „sprechen“ zu können. Das ist die Inkarnation. Diese Inkarnation ist auch die Offenbarung der Fülle der Seinsmitteilung für die ganze Menschheit. Auch ist das trinitarische Seinsmitteilungswerk in einem Mann kundgetan, gemäß der Art und Weise Gottes, der in seinen eigenen interpersonalen Beziehungen die Menschen an dieser trinitarischen Wesensmitteilung teilhaben lassen kann, nämlich in der „Form“ einer Geburt in die Vergöttlichung, in den Stand der „Drei“, als gemeinsame Nachkommenschaft des „Ersten“ und des „Anderen“, durch seine Inkarnation und sein in Auferstehung vollendetes Leben. Hier drücke ich mit ontologischen Begriffen das aus, was Formulierungen wie „Jesus geboren aus dem Geist,... Jesus geleitet vom Geist,... Jesus auferweckt vom Geist“ offenbaren. Bitte beachten Sie eine letzte Parallele zur ontologischen relationalen Glaubenschaftlichkeitsstruktur, nämlich zur Struktur der „Offenbarung“ und des „Glaubens“, oder ganz einfach zur interpersonalen Struktur der seins- und lebensmitteilenden Liebe. Gott ist trinitarische Struktur des Ersten zum Anderen, der so das Sein aus dem Sein des Ersten ist, dass sie zusammen zum Dritten hin sind, der von beiden kommt. Mit den Worten der Evangelien gesagt: Der Vater zum Wort, das sein Gezeugter ist, indem er zusammen zum Geist ist, der vom Vater und vom Wort gezeugt oder „gehaucht“ ist. Als ihr Abbild erschafft Gott den Menschen in dreigliedriger Struktur: der Mann zur Frau. Der Mann hat nicht die absolute Initiative, die Frau ins Sein zu rufen, da er nicht Gott ist. Es ist Gott, der sie selbst aus dem Mann „herauszieht“, indem er dafür sorgt, dass der Mann als Geschöpf in seinem ganzen geschaffenen Sein „zur Frau hin“ ist. Der Mann „erkennt“ die Frau als „Fleisch von seinem Fleisch“. Gott vertraut ihnen daraufhin die Initiative an, gemeinsam auf das Kind zuzugehen, das ihr gemeinsam Gezeugtes ist. In der Schöpfungsordnung kann diese Struktur nicht in vollkommener Verwirklichung funktionieren, wie die trinitarische göttliche Struktur es tut. Sie ist „universalisiert“. In der Nachkommenschaft des Mannes und seiner Frau bildet sich ein neuer Ausgangspunkt einer Seinsund Lebensmitteilungsinitiative heraus. Das Kind wird ein Junge oder Mädchen, ein zukünftiger Mann oder eine zukünftige Frau. Und so weiter... Wir befinden uns in einer notwendigerweise 358 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN unvollkommenen und kontingenten, unbegrenzt für dieselben Möglichkeiten offenen „Schöpfung“. Das glaubende Ehepaar, wie Abraham und Sara, weiß, dass ihre Zeugungsinitiative selbst in Beziehung steht zur göttlichen Initiative, die mit ihnen das Kind erschafft. Das menschliche Ehepaar hat also in Bezug auf Gottes väterliche Initiative gewissermaßen eine eheliche und mütterliche Funktion. Und das auf universalisierte Weise... „Gott versprach Abraham und Sara eine Nachkommenschaft, so zahlreich wie die Sterne des Himmels“. In der Ordnung unserer „Vergöttlichung“ oder unserer Erhebung in die Transzendenz, und also jenseits der gegenwärtigen Schöpfung, inkarniert sich die trinitarische Struktur Gottes in der trinitarischen Struktur der Menschheit. Das ewige Wort nimmt in einem menschlichen Ehepaar Fleisch und Menschheit an: Joseph und Maria, ein von Abraham und Sara abstammendes glaubendes Ehepaar. Ihr vom Wort in Besitz genommenes Kind ist Jesus. Der Vater verhält sich so zu seinem Wort, damit das Wort zu den Menschen geht, wie es zum Geist geht, den es mit dem Vater „zeugt“. Indem der Vater sein Wort in Menschheit aus einem menschlichen Ehepaar gestaltet, und indem das Wort menschliche Natur annimmt, gehen sie gemeinsam auf die Menschen zu, um sie im Geist, der die ganze Menschheit aufnimmt, zu „zeugen“. Unsere von allem Bösen und aller Unvollkommenheit befreiende „Vergöttlichung“, die den absoluten Willen Gottes verwirklicht, sich in Fülle den Menschen mitzuteilen, ist ein „Werk des Zeugens-Gebärens“, durch den inkarnierenden Vater und das inkarnierte Wort und die „Geburt“ einer Menschheit im Geist, die als eigenen Anteil die Fülle Gottes erhält. Aber eine Analogie enthält immer auch einen radikalen Unterschied. Da die dreigliedrige Struktur der menschlichen Familie universalisiert ist, und aufgrund ihrer anfänglichen Unvollkommenheit in der gegenwärtigen Schöpfung unbegrenzt für andere mögliche Familien offen ist, ist die Struktur unserer „Vergöttlichung“ einzigartig und von einer vollendeten „Aktualität“, denn es gibt nicht mehrere Inkarnationen, und auch nicht mehrere Auferstehungen, sondern nur eine, für eine einzige Erhebung der ganzen Menschen im Geist. In unserer Vergöttlichung wird jegliche Kontingenz, sowie auch jede unbegrenzte und unerfüllbare Offenheit in der reinen Aktualität BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 359 der göttlichen Großzügigkeit überwunden. Anderenfalls würden wir uns dann erneut in einer begrenzten und unvollkommenen Welt befinden. Unsere Freiheit wäre dann noch genauso mangelhaft und immer noch dem Bösen unterworfen. Aber die Auferstehung Jesu ist einzig und endgültig. Unsere Befreiung vom Bösen ebenfalls. Die in Fülle verwirklichte Großzügigkeit Gottes genauso. DER MODERATOR Falls wir heute Mittag nicht auf das Essen verzichten wollen, müssten wir jetzt zu einem Ende kommen. Ich denke nicht, dass die kräftigen intellektuellen und geistigen Speisen dieses Morgens uns die anderen ersetzen... Ganz im Gegenteil, zweifellos... Würden Sie also, um zu schließen, das Wesentliche nochmals kurz in Erinnerung rufen... in zwei Minuten... DER ANDERE PHILOSOPH In zwei Minuten? Na gut. Ich könnte es in zwei Redeweisen tun... Die eine ist reflexiv, die andere glaubenschaftlich. In der ersten spreche ich „von Gott“. In der zweiten „zu Gott“. Gut! Ich werde Philosoph bleiben und „von Gott“ sprechen. Ich werde es einem jeden überlassen, „zu Gott“ zu sprechen, anhand von dem, was er von ihm verstanden haben wird. Die hervorragendste glaubenschaftliche Sprache ist das Gebet. Indem er den Menschen als bewusstseinsbegabtes Seiendes erschuf, und als in seinem Sein bewusst, dass sein Sein ihm mitgeteilt ist, macht Gott ihn auch fähig, sich seiner persönlichen göttlichen Initiative auf ihn hin bewusst zu werden, und fähig, sein Bewusstsein von dieser Beziehung glaubenschaftlich auszudrücken. Der Mensch entdeckt sich „im Bund“ mit Gott. Indem Gott also in dieser Weise durch seinen Schöpfungsakt mit dem Menschen, den er geschaffen hat, einen „Bund“ eingegangen ist, hat er sich ihm gegenüber Selbst verpflichtet, die in seiner Schöpfung begonnene Seinsmitteilung zur Vollendung zu führen. Es ist also eine Verpflichtung zur vollkommenen Seinsmitteilung, eine Verpflichtung zur „Vergöttlichung“ des Menschen, der ganzen Menschheit. Zu einer „Vergöttlichung“, die gemäß der trinitarischen Struktur seiner interpersonalen Mitteilungsbeziehungen stattfindet, also 360 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN durch den Vater und das inkarnierte Wort und in der Herrlichkeit im Geist. Wie nun die Seinsmitteilung die Grundlage der Ethik und ihrer Forderung nach Liebe ist, so stellt die vollkommene Seinsmitteilung seitens Gottes den Menschen in eine allumfassende ethische Vollkommenheit, jenseits der Unvollkommenheiten dieser Welt und all des zu erleidenden Bösen und selbst der Möglichkeit, selbst noch Böses tun zu können. Die Verwirklichung der theologischen Glaubenschaftlichkeit in ihrer jüdischen und in ihrer christlichen Form, können beim Zeugnis für die Gesamtheit des Werkes Gottes für den Menschen nicht ohne einander sein. Die eine kann die andere nicht ersetzen, noch sich an ihre Stelle setzen, noch sie in sich aufnehmen, noch sie ausschließen. Judentum und Christentum befinden sich auch gewissermaßen „in einem Bund“ miteinander. In der Geschichte ist der jüdische Glaube für die evangelische Offenbarung „offen“, aber er führt nicht durch innere menschliche Notwendigkeit dort hin. Das menschliche messianische Verlangen wirkt auf Gott nicht „zwingend“. Aber „ex parte Dei“ ist die Vergöttlichung notwendig vorausgesetzt, und daher ist auch ihre Offenbarung in der Schöpfung seit ihrem Beginn in Gottes „Plan“ als solchem enthalten. Aber im jüdischen menschlichen glaubenschaftlichen Bewusstsein von der Schöpfung gibt es keine notwendige Implikation der evangelischen Offenbarung. Wenn es irgendeine innere Notwendigkeit gäbe, vom einen zum anderen überzugehen, dann gäbe es keine besondere „transzendente Offenbarung“ Gottes in Jesus. Wir würden uns dann ganz einfach in der Ordnung einer schöpfungsimmanenten Offenbarung befinden. Aber die Wirklichkeit des menschlichen Glaubens in seiner jüdischen Ausformung ist sehr wohl die „apriorische geschichtliche Bedingung“ dieser Offenbarung. „Als die Zeiten vollendet waren...“, lesen wir. Während aber das Judentum in der Geschichte keineswegs des Christentums bedarf, um zu sein, was es ist; bedarf das Christentum des Judentums als Bedingung der Verständlichkeit der Offenbarung Gottes in Jesus, aufgrund der Tatsache, dass die offenbarende Inkarnation die Schöpfung nicht nur als „erste Gegebenheit in der Wirklichkeit“ voraussetzt, sondern insofern und wie sie von den Hebräern und Juden glaubenschaftlich verstanden wird. Das jüdische, thoragemäße Leben ist die BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 361 geschichtliche Bedingung der Möglichkeit der Existenz der transzendenten Offenbarung Gottes in Jesus. Der göttliche Schöpfungsakt, in dem Gott sich universal offenbart, impliziert die durch Gott zu geschehende universale Vergöttlichung der ganzen Menschheit, und deren geschichtliche Offenbarung in einem Mann, eine Offenbarung, die daher notwendigerweise in der Zeit begrenzt ist, aber uneingeschränkt Erkenntnis gibt. Der Christ anerkennt, dass dieser Mann Jesus war, und schenkt ihm seinen Glauben, weil diese „universale Vergöttlichung“ in ihm bereits persönlich sichtbar geworden ist. Auf dieser Grundlage ist es möglich, die Beziehungen des „Bundes“ zwischen Judentum und Christentum so aufzufassen, dass sie, in ihrer notwendigen Unterscheidung voneinander, die Einheit des Werkes Gottes bezeugen, und zwar in seinen beiden Bestandteilen, der Schöpfung und der Vergöttlichung. DIE ANWÄLTIN ergreift energisch das Wort... Sie sagen dauernd, dass eine transzendente Offenbarung in einem „Mann“ gebraucht wird. Und warum nicht in einer „Frau“? ... DER MODERATOR Drei Minuten... Sie sind fast im zeitlichen Rahmen geblieben... Aber hier haben wir nun eine unerwartete Frage... DIE ANWÄLTIN Für Sie unerwartet,... entschuldigen Sie,... aber ich versuche schon länger, sie anzubringen... Gewähren Sie uns beiden bitte noch drei Minuten... Indem sie sich an den anderen Philosophen wendet... Wenn in ihrem Vergleich zwischen Familie und Trinität die Frau das Bild des ewigen Wortes ist, hätte das Wort sich dann nicht eher in einer Frau, und nicht in einem Mann, inkarnieren sollen? DER DOMHERR Ah! Eine irreführende Frage... DER ANDERE PHILOSOPH 362 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Keineswegs irreführend,... wenn man die Wirklichkeitsebenen, auf denen die trinitarische Analogie angewendet wird, mit einbezieht... Ihre Frage, meine Dame, ist sehr berechtigt. In der Schöpfungsordnung ist der Mann, Gatte und Vater, das Vergleichsstück zu Gott, dem Ersten, dem Vater. Die Frau, Gattin und Mutter, ist das Vergleichsstück zu Gott, dem Zweiten, dem Wort. Und das (männliche oder weibliche) menschliche Wesen, das die Stellung der Kindschaft innehat, ist das Abbild des Heiligen Geistes, des Dritten Gottes. In der Ordnung der transzendenten Offenbarung an die Menschheit befindet sich die ganze Trinität in der ersten oder väterlichen Stellung, und die glaubenschaftlich glaubende Menschheit in der zweiten oder mütterlichen Stellung. In Israel erlangt sie eine in den Augen Gottes hinreichende Reife in dieser Glaubenschaftlichkeit, und in Israel ganz besonders das Ehepaar Joseph und Maria. Und in diesem Ehepaar, natürlich Maria. Jesus, die Menschheit des Wortes, hat darin die Stellung des Dritten ausgelebt, aus dem Geist geboren und Sohn des Ehepaars. DIE ANWÄLTIN Richtig! Und warum ist das Wort als Junge inkarniert und nicht als Mädchen? DER ANDERE PHILOSOPH Auch zu Recht! Weil Jesus in seiner männlichen Menschheit derjenige ist, der in seiner Person den handelnden dreieinigen Gott offenbart. Er bringt die „väterliche“ Rolle zum Ausdruck, in erster Initiative, in dieser Geschichte, insofern er der Offenbarer ist, der sich an die Menschheit richtet. Die Menschheit ihrerseits befindet sich einerseits in der „mütterlichen“ Stellung in erfüllter Alterität, und zwar im biblischen Israel und bei den Eltern Jesu. Andererseits befindet sie sich auch in der „kindlichen“ Stellung, um in der Kirche den biblischen Glauben an die Schöpfung und die evangelische Offenbarung unserer von aller Unvollkommenheit befreienden Vergöttlichung in Fülle zu empfangen. Aber Jesus behält im Werk des dreieinigen Gottes für die Menschheit, dass er als Mann offenbart, indem er es als inkarniertes Wort zur Vollendung führt, in Einigkeit mit dem BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT 363 Vater seine „mütterliche“ Stellung als Rechtfertiger des Menschen im Geist bei. vergöttlichender DER SOZIOLOGE Außerdem wäre es für Gott eine schlechte Entscheidung gewesen, sich in einem Mädchen zu inkarnieren, da es Frauen in Israel damals nicht erlaubt war, öffentlich die heiligen Texte zu kommentieren. DER ANDERE PHILOSOPH Verzeihen Sie, lieber Kollege, aber ich denke nicht, dass Gott sich menschlichen Gepflogenheiten anpassen würde, die zumindest sehr fragwürdig sind,... und sicherlich jeglicher ontologischer Grundlage entbehren... Christus hat gesellschaftliche Gegebenheiten, die zum Ideal der Schöpfung im Widerspruch stehen, wie etwa jene der „gesellschaftlichen Unterordnung der Frau“, zunächst nicht in sein Offenbarungswerk integriert, auch wenn er ihnen in seinem Leben begegnet ist. DER MODERATOR Gut! So verbleiben wir... Ich schließe die Diskussion. Ich wünsche allen einen guten Appetit, und wir sehen uns morgen wieder. Nutzen Sie den freien Nachmittag richtig aus! --------------1)…„Alsbald aber fiel mir auf, dass, während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, dass diese Wahrheit „ich denke, also bin ich“ so fest und sicher ist, dass die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, dass ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne.“ Übers. Lüder Gäbe. Hamburg: Meiner Verlag 1990. SIEBTE BEGEGNUNG INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS DER MODERATOR Die heutige Zusammenkunft soll dem Austausch über unsere gestrigen Unterhaltungen gewidmet sein. So werden wir gewisse Einzelheiten klarer erläutern, oder bereits angesprochene Themen unter einem anderen Gesichtspunkt wieder aufnehmen. Damit übergebe ich Ihnen das Wort. IN WELCHEM SINN IST GOTT DER URHEBER DER IN DER BIBEL DARGESTELLTEN GESCHICHTE? DIE HISTORIKERIN Ich möchte zwei Fragen stellen. Ein Theologe hat von Gott als dem „Urheber der Geschichte“ gesprochen... Und beiläufig haben Sie, als Philosoph... ganz philosophisch..., den Historikern einige Ratschläge gegeben... Die erste Frage: Ich persönlich bin in historischen Dokumenten noch nie auf Spuren Gottes gestoßen. Meinen Sie die göttliche Vorsehung, die den Verlauf der Geschichte hintenherum gestalten würde? Zweite Frage: Sie haben den jüdischen Glauben analysiert. Waren sich die Hebräer und Juden bewusst, in der Weise an Gott zu glauben, wie Sie es darstellen? Welche geschichtlichen Fakten haben wir, um diesen Punkt zu belegen? DER ANDERE PHILOSOPH Aus der Art und Weise, wie Sie Ihre erste Frage stellen, scheint mir hervorzugehen, dass Sie die Vorstellung von einem „eingreifenden“ Gott ablehnen. In diesem Punkt gehe ich mit 366 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Ihnen eins. Gott greift in keiner Weise in den Verlauf unserer Geschichte ein, um ihre natürlichen und menschlichen Ursachen zu verändern. Aus dem einfachen Grund, dass er nicht « in der Geschichte » existiert, ist er kein geschichtlicher Handelnder. Gott steht « außerhalb » der Geschichte, eben deshalb, weil er der Schöpfer des Menschen ist, der ein geschichtliches Seiendes ist. Weil der Mensch, oder besser gesagt, die Menschen, in der Zeit existieren, sind sie in ihr für ihre Geschichte verantwortlich, auf Gedeih und Verderb. Obwohl Gott nicht auf die Art eines außergewöhnlichen oder übermenschlichen Menschen in die Geschichte eingreift und in ihr große Taten vollbringt, so steht er doch nicht « außerhalb » der Geschichte, wie etwa ein Mensch, der aus vollkommener Untätigkeit in ihr keinerlei Rolle spielt und die Ereignisse so geschehen lässt, als ob es ihn nicht gäbe. Daher gibt es in der Geschichte keinerlei objektive Spuren Gottes. Sie haben vollkommen recht. Aber da Gott der transzendente Schöpfer des Menschen als geschichtlichem Seienden ist, können Sie außerdem sagen, dass Gott in der Geschichte „überall handelt“, und aus diesem Grund nicht hier mehr handelt als dort. Gott ist der Urheber der gesamten Geschichte, weil er der Schöpfer des Menschen ist, der wiederum der Urheber der Vorgänge ist, die sich in ihr ereignen. Wenn Gott also in der Geschichte « aktiv » ist, dann als Schöpfer und in der Weise seiner schöpferischen Kraft. Und selbst unter der Hypothese, dass Gott in die menschliche Geschichte « eingreifen » müsste, würde dieses Eingreifen immer noch in einer Art und Weise geschehen, die seiner Schöpferkraft entspricht, und in vollkommenem Einklang mit ihm selbst. DER PHYSIKPROFESSOR Sie glauben also nicht an „Wunder“, die nichts anderes sind als Gott zugeschriebene Ereignisse? DER ANDERE PHILOSOPH Vom Gesichtspunkt der experimentellen Wissenschaft gesehen gibt es keinerlei Grund, von Wundern zu sprechen, weder in der Natur, noch im Menschen. Alles, was geschieht, geschieht anhand von Gesetzen. Das heißt nicht, dass es keine „überraschenden“ Tatsachen gibt, deren Gesetzmäßigkeiten wir nicht kennen. Die universale Existenz von Gesetzen ist nichts anders als der methodologische Grundsatz des Determinismus. INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 367 Aber das heißt nicht, dass es ein Gesetz gibt, welches festlegt, dass dies sich so ereignen muss, wie es sich gewöhnlich ereignet. Als Schöpfer gewährleistet Gott irgendwie, dass sich alles gemäß der Natur der Dinge ereignet, der wichtigen und unwichtigen, in Bezug auf sich selbst und in ihrer Beziehung zur Gesamtheit des Universums. Gott handelt nicht so in der Geschichte, dass er die Natur der Dinge dabei verändern würde, weder in ihnen selbst, noch in der Komplexität ihrer Beziehungen. Nochmals: Gott greift nicht ein, indem er „Wunder wirkt“, also wie ein Mensch, ein außergewöhnlicher Übermensch, der über besondere Fähigkeiten verfügt... Aber es gibt Menschen, die an Gott glauben und die ihrer Glaubensweise folgend bestimmte einzelne, ungewöhnliche Ereignisse, die sich vom gewöhnlichen Lauf der Dinge abheben, als von Gott gewirkte Wunder verstehen. An Wunder zu glauben ist also gewissermaßen eine Art, an Gott zu glauben und zu verstehen, dass Gott in der Geschichte mit uns ist. Und dass Gott in der Geschichte mit uns ist, stimmt, denn er ist unser transzendenter Schöpfer. Und das ist es, was am „bewundernswertesten“ und wirklich „wunder-bar“ ist. Sich Gott als jemanden vorzustellen, der gelegentlich den natürlichen Gang der Dinge belässt, und gelegentlich eingreift und ihn verändert, ist eine Vorstellung, die von einer bestimmten menschlichen Glaubenspsychologie abhängt, für die man eine besondere hermeneutische Methode braucht. Aber ich denke, dazu benötigen wir ein besseres und vor allem erweitertes Verständnis der Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins in ihrer Wechselwirkung mit unserer Intentionalität, also mit unserer Art, in der Welt zu sein. DER DOMHERR Aber gibt es nun Wunder oder nicht? DER ANDERE PHILOSOPH Das hängt von der Bewusstseinshaltung ab, die der Mensch einnimmt. Der von Ihnen eingenommenen religiösen Bewusstseinshaltung zufolge gibt es Wunder, während es für den Mathematiker oder Physiker keine gibt. Aber für den Philosophen ist nicht das die eigentliche Frage, da es nicht darum geht, anzunehmen, dass es eine Art „übernatürliche Physik und Chemie“ gibt, die von Gott vorbereitet und für 368 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN bestimmte Situationen bereitgehalten wird. Die sachgemäß gestellte Frage lautet, ob diejenigen, die an Wunder glauben, mit sich selbst wahrhaftig im Einklang stehen. In welchem Maß tun sie das? Sie stehen mit sich selbst im Einklang, insofern sie ihren Glauben an Gott ausdrücken, und dadurch zugeben, dass Gott in der Geschichte wohlwollend an ihnen handelt. In diesem Fall könnten sie in ihrem Glauben Forstschritte erzielen, indem sie Gott nicht nur für das, was für sie eine außergewöhnliche Wohltat war, be-wundern, sondern für alle Augenblicke ihres Lebens und jenes der anderen Menschen; für alle Augenblicke, die alle genauso wunderbare Geschenke Gottes sind. Vor einem festlich gedeckten Tisch können Kinder sagen: „Mutti hat uns einen guten Kuchen gebacken, heute hat sie uns lieb!“ oder auch: „Mutti hat uns heute einen guten Kuchen gebacken, sie hat uns sehr lieb!“ Wählen Sie! Sie haben die schönere Antwort der Kinder sicherlich schon ausgemacht, obwohl Sie bedachten, dass dieser Kuchen nach demselben Rezept gebacken wurde, das auch von anderen Feinbäckern benutzt wird! Aber diejenigen, die aus der Geschichte Wunder Gottes herauslesen, hören dann auf, sich wahrheitsgetreu zu sich selbst und zu Gott zu verhalten, wenn sie in einer Art und Weise von Wundern sprechen, dass man sich fragt, warum Gott nicht zugunsten von Anderen ebenso handelt, vor allem dann, wenn diese sich im Elend und in extremen Notlagen befinden. Spricht Gott und zeigt er seine Güte nur an heiligen Orten, und bleibt in Konzentrationslagern, wenn Kinder gefoltert werden, schweigsam und gefühllos? Zu glauben, Gott handle hier oder dort mit mehr Güte als anderswo, kommt dem gleich, zu behaupten, er spreche nicht und handle anderswo nicht mit derselben Güte. Ein derartiges Wunderverständnis führt zu einer berechtigten, weil logischen, Anklage gegen Gott. Gott wäre ganz einfach ungerecht und parteiergreifend. Wäre er dann noch Gott? Diejenigen, die in dieser Weise glauben, verhalten sich also unwahrheitsgetreu zu sich selbst und zu Gott. Einen authentischen Glauben an Gott und seine allumfassende Liebe kann man nicht auf außergewöhnliche kontingente Ereignisse begründen, genauso wenig, wie man eine Liebe, mit der man ununterbrochen geliebt wird, gültig erkennen kann, wenn man ausschließlich für ihre außergewöhnlichen, für uns überraschenden Zeichen empfänglich ist, und für die anderen INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 369 nicht. Und außerdem: Wie könnte man diese Liebe als allumfassend erkennen, wenn man sie nur aufgrund von Wohltaten bekennt, die im Einzelfall für uns bestimmt sind? Unmöglichkeit oder Widerspruch. Wie könnten die Kinder an die alle einschließende Liebe ihrer Eltern glauben, wenn diese ihre Zuneigung ungleich verteilen und die einen bevorzugen, die anderen übergehen? Wenn wir die Verkündigung unseres Glaubens an Gott auf „Wunder“ oder wunderbare Ereignisse begründen, kann das, anstatt dem Glauben an Gott zu einem besseren Ansehen zu verhelfen, Anstoß erregen und ihn in Verruf bringen. Die ungleiche Verteilung des Glücks und Unglücks im irdischen Dasein darf in ihrer Singularität und Individualität nicht so mit Gott in Beziehung gebracht werden, als ob es sich um seinen auf den jeweiligen Fall bezogenen, ausdrücklichen und endgültigen Willen handeln würde. DER DOMHERR Aber wenn es um Ereignisse geht, die alle Menschen angehen, wie etwa der Bund Gottes mit Abraham, Gottes Erscheinung vor Moses, seine Inkarnation in Jesus? DER ANDERE PHILOSOPH Sie könnten sogar sagen, dass sich diese Ereignisse jedes Jahr wiederholen... An Pessach, Ostern, zieht das hebräische Volk von damals, das jüdische Volk von heute, aus Ägypten aus und empfängt an Schawuot, an Pfingsten, die Tafeln des Gesetzes; und jedes Jahr an Weihnachten kommt Jesus wieder zur Welt... Die liturgische Sprache bringt auf symbolische, aber sehr verdichtete Weise eine Wahrheit zum Ausdruck, die uns alle im Tiefsten angeht, und die wir zu verstehen suchen. Aber wir können nicht einfach so behaupten, dass ein Ereignis als Ereignis durch den ganzen Lauf der Zeit hindurch andauert, Vergangenheit und Zukunft eingeschlossen. Dagegen geht das, was von Menschen in diesen Ereignissen in besonderer Weise gelebt worden ist, alle an. Das ist richtig. Aber in welchem Sinn? In dem Sinn, dass darin ein wesentlicher und universaler menschlicher Wert in einer geschichtlich gelungenen Weise Gestalt angenommen hat, die Erinnerung verdient... Und auch dann, wenn sich die Einzigkeit einer Beziehung (die einzige Offenbarungs- und Seinsmitteilungsbeziehung) Gottes und einer einzigen, ganzen Menschheit 370 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN gemäß einer einzigen Möglichkeit in einer einzigen menschlichen Person verwirklicht. Ich bin der Ansicht, dass sich diese von mir bereits erwähnte, für Gott bestehende Notwendigkeit, sich in Fülle persönlich mitzuteilen, in Jesus erfüllt hat. Aber das ist eine ganz andere Frage als jene nach dem ereignishaften Eingreifen Gottes in die Geschichte!... Darüber haben wir gestern nachgedacht. Um vollständig auf Ihre erste Frage zu antworten, meine Dame, würde ich sagen, dass Gott nicht eine Vorsehung ist, die so über den Verlauf der Geschichte wacht, wie ein Dirigent, der eine Symphonie oder eine Oper dirigiert. Vielmehr handelt er in der Geschichte, indem er jedes Ding erschafft und ihm ermöglicht, nach seiner jeweiligen Natur zu handeln. Das trifft auch auf den Menschen zu, und auf seine Taten, die die Geschichte bilden. Gott handelt zum Beispiel für die Gerechtigkeit, indem er ein Gerechtigkeitsideal, das sein eigenes Abbild ist, in den Menschen, den er ununterbrochen erschafft, hineingelegt hat,... oder vielmehr hineinlegt; nicht aber dadurch, dass er die Güter und Übel dieser Welt verteilt. Die Menschen können sich, wie die Hebräer am Sinai, dieses Gesetzes bewusstwerden und in Gott seinen Urheber sehen. Aber dieses von Gott ins Herz des Menschen gelegte ethische Ideal kann vom Menschen verraten werden, so dass er für seinen Bruder zur Bestie wird. Aber dennoch schweigt Gott nicht. Das drückende Gewicht der menschlichen Bosheit darf nicht als ein drückendes Gewicht des Schweigens Gottes empfunden werden. In unserer Welt besteht das Wort Gottes, das Handeln Gottes, im Wort des Menschen, im Handeln des Menschen in seiner Wirklichkeit an sich, wenn der Mensch in Übereinstimmung mit seinem geschaffenen Sein und dessen Erfordernissen handelt. Wo eine Bosheit des Menschen vorliegt, kann man sicherlich nicht sagen, dass Gott „spricht“. Er spricht nicht darin. Der gedemütigte und gefolterte Mensch, der Opfer des Bösen ist, wird niemals hören, wie Gott „unmittelbar“ zu ihm spricht und etwas für seine Befreiung tut. Gott wartet, Gott will für ihn dadurch sprechen, dass Menschen gemäß der Echtheit des Herzens und der Gesinnung, in der Gott sie erschaffen hat, dem Opfer gegenüber handeln und zu ihm sprechen. Gott wartet sogar auf eine noch tiefere Weise auf „die Stunde“ seines Sprechens und Handelns. Es ist der Augenblick, in dem Bosheit und sogar Güte für einen Menschen keinerlei Wirkung mehr haben, nämlich wenn er in den Tod eintritt, wo alle INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 371 menschlichen Wirklichkeiten, insofern sie Worte Gottes sind, der alleinigen göttlichen Tätigkeit weichen, wo der Mensch also, anders gesagt, dermaßen unter dem alleinigen Einfluss dieser göttlichen Tätigkeit steht, dass er an diesem Wort Gottes, das er nun vollkommen geworden ist, keinen Verrat mehr üben kann, weil er dann von allem Bösen befreit ist. Eine bestimmte Art und Weise, aufgrund der von den Religionen in Erinnerung gehaltenen Wunder an Gott zu glauben, steht in logisch kontradiktorischem Gegensatz zur Allgemeinheit und Unendlichkeit seiner Güte. Ich sage „logisch“, da ich sehr wohl überzeugt bin, dass sie in Wirklichkeit eine implizite Anerkennung letzterer ist, wenn auch auf ungeschickte Weise: „Wenn Gott schon dieses Wunder für mich, für unser Volk, für unsere Kirche oder Gemeinschaft vollbringt..., was wird er dann nicht noch weiterhin tun und für die ganze Welt!“ Diese Argumentationsweise setzt die unendliche Güte Gottes a priori voraus, ungefähr als Obersatz eines Vertrauenssyllogismus, und wendet diesen Obersatz auf einen bestimmten Fall an, der gerade Be-Wunderung hervorruft, um darin als Schlussfolgerung ein Handeln Gottes zu erkennen. Aber der Mensch, der diesen apriorischen Obersatz eines Vertrauenssyllogismus nicht anerkennt, sieht darin zu Recht ein irreführendes Postulat, einen Trugschluss. Zudem macht die Situation des Elends, die die seine ist, daraus einen „Aufstand“. Gegen Gott? Nein. Gegen eine menschliche Argumentationsweise, die methodologisch falsch von Gott spricht. Die unechten Formen des Glaubens an Gott fördern den Zweifel, den Aufstand oder den Atheismus. Der „Vertrauenssophismus“ lässt sich seiner Methode nach mit der „Schlussfolgerung der Fatalisten“, von der Leibniz sprach, vergleichen. In beiden Fällen haben wir es mit einer „objektivistischen“ und nicht „reflexiven“ Deutung des Handelns Gottes an der Welt zu tun. Der Glaube an Gott entartet, wenn er sich mit den Begriffen eines objektiven empirischen Bewusstseins zum Ausdruck bringt. Und er strebt seine Unverfälschtheit an, wenn er versucht, sich als wesentlicher Grundvollzug des Bewusstseins zu verstehen. In der Geschichte ist aber diese „objektivistische Entartung“ des Glaubens gewissermaßen eine notwendige Übergangsform der Glaubenschaftlichkeit, die sich selbst zu entdecken sucht. Genau wie die Philosophie, so hat sich auch die Glaubenschaftlichkeit zunächst in Denkschemen und Gedankengängen zum Ausdruck 372 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN gebracht, die dem objektiven Wissen um die Dinge und ihrem objektiven Gebrauch angemessen sind. Was nun Ihre zweite Frage anbelangt, meine Dame: Darf ich Sie bitten, sie nochmals zu formulieren? DIE HISTORIKERIN Waren sich die Hebräer und später die Juden der Beschaffenheit ihres Glaubens an Gott, so, wie Sie ihn darstellen, bewusst? Gibt es historische Zeugnisse, die Ihre These untermauern? DER ANDERE PHILOSOPH Ich denke nicht, dass sich Texte finden lassen, die dieselben Begriffe gebrauchen wie ich. Ich kann meine Thesen auch nicht durch wörtliche Zitate der jüdischen Bibel verteidigen. Ich habe übrigens noch nie versucht, dies zu tun, da ich nicht die Arbeit eines Historikers erledige, und auch nicht jene des christlichen Exegeten oder des rabbinischen Kommentators. Ganz im Gegenteil stütze ich mich auf ihre Arbeiten, um den jüdischen Glauben „in seiner Ausübung“ zu beobachten, wenn ich das so sagen kann, und um daraufhin sein „Wesen“ zu denken, um seine Wirklichkeit und Ursprünglichkeit in der tiefsten Tiefe der universalen menschlichen Wirklichkeit zu verstehen. Erlauben Sie mir einen Vergleich. Die Ilias ist kein Logiktraktat. Das heißt aber nicht, dass Homer nicht argumentiert. Es ist daher möglich, seine Denkweise zu untersuchen, ohne ein einziges Zitat zu finden, das die angestellte Untersuchung explizit bestätigt. Indem man die Ilias in solcher Weise untersucht, dringt man sehr wohl auch ins Innerste des menschlichen Denkens vor. DER PSYCHOANALYTIKER Wissen Sie, was Sie tun, wenn Sie so vom Judentum reden? Ich sage es ihnen: Sie betreiben eine Art Psychoanalyse. Freud suchte nach dem verborgenen Sinn dessen, was den expliziten Inhalt der Träume ausmachte. Sie suchen die verborgenen Spannkräfte der menschlichen Seele, die sich in den expliziten Formulierungen der biblischen Glaubensüberzeugungen zu verwirklichen suchen. DIE GYNÄKOLOGIN INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 373 Ich als Jüdin fühle mich angesichts dieser „Psychoanalyse“ bloßgestellt und nehme sie also mit gemischten Gefühlen auf, etwas betreten, aber auch mit Stolz, da die jüdische Seele trotz allem „schön“ ist. Und wegen dem, was „schön“ ist, soll man nicht rot werden. DER PSYCHOANALYTIKER Ich stimme Ihnen zu, meine Dame, und sogar in doppelter Hinsicht. Zunächst, weil Sie sich positiv in unseren Meinungsaustausch einbringen, und dann auch, weil Sie mir Anlass geben, eine im Volk weitverbreitete Vorstellung von Psychoanalyse ein wenig zu berichtigen. Nur allzu oft setzt man Psychoanalyse nämlich mit einer „psychoanalytischen Therapie“ gleich. Der Arzt ist per definitionem derjenige, der die Kranken heilt. Krankheiten sind nie schön oder gut. Was schön und gut ist, ist die Gesundheit. Das gilt auch für die Psychoanalyse. Aber das, was schön und gut ist, ist das psychische Leben. Nun sollte man dieses psychische Leben aber nicht auf das Gefühls- und Liebesleben zurückführen, und dieses wiederum auf die rein biologische Sexualität reduzieren. Die Sexualität in die Gesamtheit des Gefühlslebens einzuordnen, und dieses wiederum in die Gesamtheit des geistigen Lebens: Das ist Schönheit. Daher ist der Versuch, aus der Gesamtheit des geistigen Lebens heraus zu verstehen, was Glaube ist, sehr interessant. Meiner Meinung nach enthält das Unbewusste weitaus mehr Edles, als man gewöhnlich darin sieht. Der auf Psychoanalyse spezialisierte Arzt ist zwar verpflichtet, die Krankheiten dieses Unbewussten zu diagnostizieren, um sie zu heilen. Aber das, worauf seine Therapie dann ausgerichtet ist, ist die Gesundheit dieses Unbewussten und also ein gewisser Großmut der Seele... Die Gruppe verharrt einen Augenblick lang in Schweigen... DER MODERATOR Wer möchte nun das Wort ergreifen? Im Anschluss an unsere gestrigen Unterhaltungen möge ein jeder seine Fragen aufs Tapet bringen... Zwei melden sich... Gut! Dann los... GIBT MAN DEM « HANDELN DES GLAUBENS » DADURCH EINE GRUNDLAGE, DASS MAN BEHAUPTET, SEIN BESTEHE DARIN, „DAS SEIN ZU GEBEN“? 374 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER ERSTE PHILOSOPH Mit Ihrem Begriff vom Sein als Seinsmitteilung oder Vermögen, ins Sein zu rufen, scheinen Sie mir Behauptungen der Phänomenologie wieder aufzunehmen. Heidegger behauptet nämlich, dass Sein Mitsein ist. Und auch Gabriel Marcel. Und der gute alte Aristoteles war bereits der Ansicht, dass der Mensch, wenn er allein wäre, entweder ein Scheusal oder Gott wäre. Wie soll man also die dem „existierenden Seienden“ (ens) eigene Qualität des „Mitseins“ verstehen, und das dem „esse“ eigene „coesse“? DER THEOLOGIEPROFESSOR Wo bringen Sie in ihrem Seinsbegriff, mag er nun neu sein oder nur erneuert, den Glauben unter? Gestern hatte ich den Eindruck, dass wir den Glauben überall sahen. Was ist der genaue „ontologische Ort“ des Glaubens, wenn ich das so sagen kann? Oder, anders gesagt: In welche Bereiche des Seins streckt der Glaube seine Wurzeln aus? Laut der Überlieferung der drei monotheistischen Religionen ist Abraham der erste Glaubende und Vater aller Glaubenden. Woher ist ihm der Glaube zugekommen? Gab es vor Abraham keine Glaubenden? DIE ANWÄLTIN Auch ich würde gerne etwas sagen... Von Berufs wegen begegne ich natürlich Glaubenden, aber auch vielen Nichtglaubenden, oder Personen, die der Religion gegenüber gleichgültig sind. Viele Kollegen und Richter haben vom Recht außerdem eine rein positivistische Auffassung, in dem Sinn, dass sie jegliche Bezugnahme auf ein göttliches, in die Herzen eingeschriebenes Gesetz, wie Antigone es nannte, ausschließen, oder auch ein Gesetz, das der unmittelbare Ausdruck des Wortes Gottes wäre, wie jenes der Bibel. Oder? Kann das Anerkennen der glaubenschaftlichen Dimension des Bewusstseins auf unsere Vorstellung von Moral und Recht einen Einfluss haben? Meine Frage geht vielleicht über den religiösen oder philosophischen Rahmen des Glaubens hinaus. Ich weiß es nicht. Ich überlasse es Ihnen, dafür zu sorgen, dass wir im Rahmen unseres Seminars verbleiben. DER MODERATOR INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 375 Hier haben wir es mit Fragen zu tun, die an den Vertreter der interpersonalen Philosophie gerichtet sind! Es ist an Ihnen, Herr Debruquel, zu antworten... DER ANDERE PHILOSOPH Ich werde mein Bestes geben, um auf diese drei Fragen zu antworten. Nehmen wir die erste. Gestern habe ich sie angeschnitten... vielleicht etwas oberflächlich... Ich muss sie also „fachlicher“ beantworten... mit etwas Latein,... da man mir die Frage auf Latein stellt... Zunächst skizziere ich den klassischen Standpunkt. Bitte ermahnen Sie mich, wenn ich zu weit abschweife... Mit Heidegger haben Sie die moderne Phänomenologie erwähnt, aber Sie haben seine Idee, dass wir nicht alleine, sondern mit Anderen auf der Welt sind, auch mit Aristoteles in Verbindung gebracht. Das ist scharfsinnig. Die phänomenologische Feststellung, dass „jedes menschliche Bewusstsein immer gleichzeitig Bewusstsein seiner selbst und anderer Dinge ist“, scheint mir der so weit wie möglich gefasste, unumgängliche Ausgangspunkt jeglicher philosophischen Überlegung zu sein. Gestern suchten wir dieser Anforderung ebenfalls zu entsprechen. Aber das ist erst der Ausgangspunkt. Eine zweifache Frage drängt sich dazu auf. Sind diese Beziehung des Bewusstseins zu etwas Anderem, von ihm verschiedenen, und seine klare und aktive Selbstgegenwart zwei Eigenschaften, die jeweils mit demselben Recht zur Bildung des Seins des Bewusstseins gehören? Oder gibt es einen Vorrang und/oder eine größere Würde des einen im Vergleich zum anderen? Es geht tatsächlich nicht nur darum, festzustellen, dass die Gegenwart des Bewusstseins zu sich selbst, also seine Reflexivität, immer an seine Intentionalität zu anderen Dingen hin gebunden ist und umgekehrt, sondern auch darum, die Beschaffenheit dieser Verbindung in der ungeteilten Einheit des Bewusstseins wahrzunehmen. Denn das Bewusstsein seiner selbst ist in der Tat das Bewusstsein, selbst als Bewusstsein von etwas Anderem, von einem selbst Verschiedenem, zu sein. Mir scheint, dass die traditionellen Richtungen der klassischen Philosophie dem Bewusstsein, insofern es „sich selbst gegenwärtig ist“, in jeweils unterschiedlicher Weise den Vorrang geben. Darin würde seine „substantielle“ Seite bestehen, das Zeichen seines Verbleibens in der Existenz und 376 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN seiner Transzendenz gegenüber dem Verlauf der Zeit, also kurz gesagt, sein in Akt befindliches Sein selbst und seine Einheit mit sich selbst. Dagegen setzt die Tatsache, dass es Bewusstsein-vonanderen-Dingen ist, in ihren Augen nicht dieselbe Wirklichkeitsart, nicht nur deshalb, weil die „intentionale“ Einheit in sich selbst eine Unterscheidung enthält, sondern weil sie eben aufgrund dieser unauslöschlichen Unterscheidung weniger vollkommen ist als die strikte Identitätseinheit des Bewusstseins mit sich selbst, die ohne Unterscheidung ist. Die Intentionalität des Bewusstseins würde sich also im Bereich der „Akzidentien“ der Substanz entwickeln, die wie ihre Vervollständigungen sind, und zweifellos notwendig sind, aber von ihr abhängen, um den Status der Existenz „zu erreichen“. Die intentionale Bewusstseinstätigkeit scheint ebenfalls nicht über dieselbe Seinsaktualität zu verfügen, da dieses „andere Etwas“ ununterbrochen veränderlich ist, wohingegen das Bewusstsein etwas Bleibendes ist. Das Bleiben seiner Intentionalität gegenüber den wechselnden Objekten scheint also dem Bleiben des Bewusstseins im Bleiben seiner Gegenwart zu sich selbst nicht an Würde gleichkommen zu können. Eine Deutung der Reflexivität des Bewusstseins als eine „Rückkehr“ des intentionalen Bewusstseins zu sich selbst läuft auf dasselbe heraus, nämlich auf eine ontologische Unterscheidung zwischen dem Bewusstsein als für sich existierendem Seiendem (esse per et in se) und seinen intentionalen Akten, in denen es sich selbst mittels der Verschiedenheit seiner „Objekte“ berührt, und die ausschließlich in ihm und den betroffenen Objekten Wirklichkeit aufweisen (esse ab et in alio). Die Frage nach der Verbindung zwischen der „Reflexivität“ des Bewusstseins und seiner „Intentionalität“ stellt sich nach und nach auch bezüglich der daraus folgenden Aussage „esse est coesse“. Behauptet diese Aus-Faltung des esse im coesse lediglich die empirische Feststellung der „tatsächlichen“ Existenz der (aus der Natur und der Gesellschaft bestehenden) Welt für das Bewusstsein? Oder anerkennt diese Aus-Faltung eine „notwendige Verbindung“ zwischen der Existenz des Bewusstseins und der Existenz dieser Welt; eine Verbindung, die für das Wesen an sich des Bewusstseins grundlegend ist? Und ist diese Verbindung schließlich einförmig gleichförmig, oder müssen INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 377 anhand ihres Bezugs zu den Dingen und zu den Anderen — den Mitmenschen — grundsätzlich verschiedene Arten dieser Verbindung unterschieden werden? DER ERSTE PHILOSOPH Sie heben besonders die von der klassischen Philosophie gestellten Fragen hervor, die tatsächlich ernsthafte Fragen sind. DER ANDERE PHILOSOPH Skizzieren wir also eine Antwort. Der Mensch ist ein „Seiendes in der Welt“. Daran haben die Philosophen niemals gezweifelt. Nicht einmal Descartes auf der härtesten Etappe seiner Pilgerfahrt des Zweifels! Bringt er nicht in seiner Ersten Meditation das Misstrauen zur Sprache, dass man jenem gegenüber haben sollte, der uns bereits in die Irre geführt hat, um an seinen Sinnen zu zweifeln? Aber Descartes liefert uns das Beispiel eines Philosophen, der durch den Gebrauch seiner abgestuften Zweifelsfähigkeit versucht, die Beschaffenheit und den Notwendigkeitsgrad seiner intentionalen Verbindung mit der Welt einzuschätzen. Diese ist zweifellos durch einen Zweifel anfechtbar. Ihre Notwendigkeit ist also nicht absolut. Der Mensch ist auch ein „Seiendes mit Anderen“. Die Verbindung des Ich „mit“ Anderem muss ebenfalls zum Gegenstand eines Versuchs der philosophischen Begutachtung gemacht werden. Hierin wird sich die von Kant begründete transzendentale Fragestellung als erfolgreicher erweisen als die Unterscheidung durch Zweifel. Ist die Beziehung zum Anderen im Sein des Menschen mit jener, die er zu den Dingen unterhält, „homogen“, oder ist sie in seinem Sein grundlegender und von tieferer Notwendigkeit als seine Beziehung zur Welt? Bezeugt die Beziehung zum Anderen eine größere Vollkommenheit des Seins des Bewusstseins als seine Beziehung zu den Dingen? Und schließlich: Ist das „Sich-selbst-Sein“ und „Mit-demAnderen-Sein“ lediglich eine Eigenschaft des menschlichen Seins, insofern es deswegen menschlich ist, weil es in einer materiellen Welt existiert, die zulässt, dass es „vervielfältigt“ ist; oder ist das „coesse“ des „esse“ des Menschen eine Eigenschaft des „Sich-selbst-Seins“ insofern es Sein ist, also eine transzendentale Eigenschaft im scholastischen, in der Theologie 378 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN wohlbekannten Sinn: eine Eigenschaft des Seins als solchem, genauso wie seine Einheit, seine Wahrheit und seine Gutheit? Zweifellos lebt der Mensch diese transzendentale, zum Anderen hin seiende Beziehungsbedingtheit gemäß seinem Zugegensein in der Welt, allerdings ohne dass ihr Sein durch sein Zugegensein in der Welt hervorgebracht würde. Genauso verhält es sich mit seinem Bewusstsein seiner selbst. In der Welt ist das Bewusstsein immer auch „Gegenwart zu sich selbst“, ohne aber von der Welt als Bewusstsein konstituiert zu werden. Muss man, wenn man sich mit größter Genauigkeit ausdrücken will, nur sagen „esse homo ist esse cum hominibus“, oder auch „ens in quantum humanum ist ens cum entibus humanis“; oder ist es uns im Gegenteil endlich erlaubt, nach 25 Jahrhunderten der Philosophie, zu sagen: „Esse seipsum qua esse in actu seipsum ist coesse in actu seipsum cum aliis ipsis in actu essendi“? Wenn es uns erlaubt ist, nicht nur zu sagen „in humanitate, esse est coesse“, sondern auch „in actu essendi, esse est coesse“, oder auch „als Seiendes sich selbst zu sein heißt, sich selbst mit Anderen von einem selbst unterschiedenen „Ichs“ zu sein“, dann ist eine derartige Aussage analog auch auf Gott anwendbar, aber selbstverständlich erst, nachdem wir seine Existenz auf richtige Weise ausgesagt haben. Unsere Behauptung der Existenz Gottes wird allerdings dadurch stimmiger, dass man im Vornherein in der eigenen Bewusstseinstätigkeit versteht, dass „Sein“ im wahrsten Sinn des Wortes darin besteht, „ins Sein zu rufen“, „Sein zu geben“ oder „Sein zu tun“, und nicht in einem sehr verarmten Sinn des Wortes im „Dorthin-gesetzt-Sein“, als Objekt für unser intentionales Bewusstsein. „Quod cadit primo in intellectu est ens...“ Das bedeutet auch, dass unsere Beziehung zu den Anderen, in denen wir nun dieselbe Natur erkennen wie in uns, nicht einzig aufgrund der Begrenztheit unseres geschaffenen Seins ermöglicht ist, also aufgrund der Begrenztheit, die in uns einen „Mangel“ und ein Bedürfnis begründen würde, von diesem Anderen ergänzt zu werden. Sie ist möglich und wirklich, weil wir, insofern wir geschaffen sind, an dieser absoluten Vollkommenheit des Seins teilhaben, die darin besteht, zu mehreren in einer vollkommenen Gemeinschaftseinheit und gemäß ein und derselben Natur zu existieren. INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 379 Die unbestreitbaren Aspekte des „Mangels“ und „Bedürfnisses“ im Menschen müssen mit den Aspekten der Fülle und der — natürlich begrenzten — Vollkommenheit zusammenhängen, die aus ihm trotz ihrer Begrenztheit ein „Abbild“ seines Schöpfers machen. Eben gerade in Bezug auf das Vollkommenheitsideal dieses „Abbild-des-Seins-desSchöpfers-Sein“ existieren wir „mit dem Mangel an Erfüllung“ und dem „Bedürfnis nach Verwirklichung“. Ein derartiger „Mangel“ und ein derartiges „Bedürfnis“ gehören wohlverstanden zur Begrenztheit unseres Seins und zu unserem Werden. Diese Mängel und Bedürfnisse streben auf ein Ideal der Beziehungsbedingtheit zu und sind dafür offen, aber sie bilden nicht den tiefsten ontologischen Grund, das letzte „Warum“ der Beziehung zum menschlichen Anderen und zum (zu den) transzendenten Anderen. Man würde sich ebenfalls bezüglich der Natur des anzustrebenden Ideals irren, wenn man diesen „Mangel und dieses Bedürfnis unseres im Werden befindlichen Seins“ als Grund der Beziehung zur menschlichen oder göttlichen Alterität ansehen, und im Anderen eine „Ergänzung“ des Ichs sehen würde. Dabei würde das Wesentliche der menschlichen Ethik verdunkelt. Das ethische Ideal muss nicht — und kann übrigens auch nicht — durch das Ausgerichtet-Sein auf ein „irgend Etwas“ festgelegt werden, das der Gegenstand eines Verlangens ist und einen Mangel oder ein Bedürfnis befriedigt. Und indem er sich der Anwältin zuwendet: — Langsam und unbemerkt beginne ich, auch auf Ihre Frage nach der Bedeutung der glaubenschaftlichen Beziehungsbedingtheit für Moral und Recht zu antworten. DIE ANWÄLTIN Ich bin ganz Ohr… DER ANDERE PHILOSOPH Die ethische Pflicht muss also ausgehend von den dynamischen, notwendigen Grundeigenschaften des Seins als solchem verstanden werden, insofern diese sich dem begrenzten Seienden, das der im Werden begriffene Mensch ist, als Normen seiner Tätigkeit und seiner Handlungen aufdrängen. Die Beziehungsbedingtheit des Seins gründet nicht in einem Mangel 380 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN an Sein, für den die Beziehung ein Schmerzmittel wäre. Aber das, was uns in unserer gegenwärtigen Existenzweise noch fehlt, und daher den Gegenstand eines Verlangens darstellt, ist, dass wir, indem wir durch göttliche Seinsmitteilung dazu erhoben werden, die ethische Vollkommenheit dieser konstitutiven Beziehungsbedingtheit erreichen. Das Wesen des ethischen Ideals des Menschen ist die volle Entfaltung seines Seins gemäß seinen konstitutiven, notwendigen, beziehungsbedingten Grundeigenschaften. Glaubenschaftlich gesagt handelt es sich um das messianische Verlangen nach Heil. Die Liebe wird dann nicht mehr nur als eine auf den „Anderen“ ausgerichtete (Willens)Eigenschaft des individuellen Seienden verstanden werden, wobei die Existenz des Anderen als von vornherein „daseiend“ angenommen würde, und wobei man außerdem schon (durch den Verstand) etwas Kenntnis von ihm erworben hat, bevor man ihn liebt. Die Liebe gewinnt dann endlich für uns jene Bedeutung, die sie von aller Ewigkeit her ist, nämlich die Bedeutung einer Struktur von Seienden, einer Struktur der Seinsmitteilung, einer wesentlichen Großzügigkeit, deren Ausübung und reine Aktualität sie ist. Die Liebe ist der vollkommene Akt — für den Menschen ist sie nur eine Ausübung, ein „Zur-Tat-Werden“— eines für das „Ich“ wesentlichen Wollens, dass der Andere sei, und dass er als Anderer sei, seinerseits in Vollkommenheit ein „Ich“, und dass er daher seinerseits wollen könne, dass der „von ihm verschiedene Andere“ sei, und dass dieser als Dritter in sich selbst auch ein von ihm und vom „Ersten Ich“ verschiedenes „Ich“ sei, indem er vom „Ersten Ich“ bereits auch als Dritter, vom Anderen verschiedener Anderer gewollt ist. Was in der Sprache kompliziert und schon fast komisch wirkt, verhält sich in der Wirklichkeit ganz einfach, damit in jedem Fall die interpersonale Unterscheidung des Einen vom Anderen vollkommen sei — die Unterscheidung vom Ich zum Du und vom „Ich und vom Du“ zum „Er“. Bitte verzeihen Sie diese holprige Ausdrucksweise, wo es doch darum geht, die zentrale Einfachheit des Bewusstseins auszufalten. Aber der Versuch, eine Intuition, die das allerpersönlichste „Ich“ und das „Du“ in seinem Innersten in ihrer gemeinsamen allertiefsten Beziehung an ihr meistgeliebtes „Er“ bindet, in einer nur „in der dritten Person sprechenden Sprache“ zum Ausdruck zu bringen, und das, um seine INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 381 Universalität zu unterstreichen, kommt dem gleich, dass man in einer Ebene ein Rauminhalt aufbauen will; dass man drei Dimensionen aufzeigen will, während einem nur zwei zur Verfügung stehen. Man muss also „perspektivisch zeichnen“. Solange der Mensch Mühe hat, die dynamische Identität des Seins mit der Liebe, also die Beziehungsbedingtheit des im Schenkungs- und Empfangensakt befindlichen Seins durch authentisch reflexive Begriffe zu begreifen, bringt er ihre Kraft nicht in Begriffen, die eine Tätigkeit ausdrücken, sondern durch Bilder der Leidenschaft und der Bedürftigkeit zum Ausdruck. Der empirisch denkende Mensch meint, dass die Einflüsse durch die Welt der Gegenstände, denen er passiv ausgesetzt ist, stärker sind als der Einsatz, den er aus persönlicher Initiative leisten kann. Und auch den notwendigen und freien Elan, in sich selbst als großzügiger Wille dazu zu existieren, den Anderen ins Sein zu rufen, und in Gegenseitigkeit in sich selbst als glaubenschaftliche Anerkennung und Dankbarkeit dafür, dass man vom Andren ins Sein gerufen wurde, deutet er psychologisch mit der paradoxen Kategorie eines absoluten und totalen „Mangels“, einer „Leere“. „Du fehlst mir sehr...“, sagt der kindische und besitzergreifende Verliebte... „Meine größte Sehnsucht ist dein Glück...“, sagt der glaubenschaftlich Liebende... Und hier drängen sich neue Fragen auf und verlangen fehlerfrei explizierte und rational begründete Antworten. Worin besteht in der Menschheit die Vollkommenheit der Gemeinschaftseinheit zwischen Personen? Worin ihre Unvollkommenheit, die nicht mit der göttlichen Vollkommenheit verglichen werden kann? Widerspiegelt sich die Struktur der Vollkommenheit der göttlichen Gemeinschaftseinheit als Vollkommenheitsstruktur in der geschaffenen Menschheit? Auf all diese Fragen muss eine relationale Ontologie Antworten liefern. Bereits gestern sind wir auf sie gestoßen. So scheint mir also das „coesse“ des „esse“ des Menschen zu verstehen zu sein. DER THEOLOGIEPROFESSOR Ja, ganz ohne Zweifel kann man das so sehen... Ich formuliere meine Frage erneut, indem ich Ihre Antwort auf die Frage nach den „Wundern“ mit einbeziehe. Wo im menschlichen Bewusstsein hat der Glaube seine Wurzeln? Hat der Glaube in der Erfahrung Abrahams begonnen, oder lässt die Erfahrung 382 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Abrahams eine noch tiefer liegende Neigung des menschlichen Bewusstseins zur Geltung kommen? DER ANDERE PHILOSOPH Sokrates wird als Vater der Philosophie angesehen. Aber nicht er ist es, der den Menschen fähig gemacht hat, Philosophie zu betreiben. Aber der Mensch, der er war, gab einer Fähigkeit, die der menschlichen Natur angeboren ist, eine besondere Spannkraft, die daraufhin von herausragenden Schülern erweitert wurde. Genauso verhält es sich mit Abraham. Aber während man sich daran gewöhnt hat, sich die menschliche Natur der Person als wesentlich philosophierfähig vorzustellen, gesteht man ihr nicht eine ähnliche, wesentliche „Glaubensfähigkeit“ zu. Daher entzieht man sich die Mittel, durch die man in dieser menschlichen, rational untersuchten Natur das ausmachen könnte, was die Normen eines authentischen „Glaubens“ darstellt. Während man nach und nach die methodologischen Voraussetzungen der Naturwissenschaft und der Philosophie vertieft hat, hat man sich nie die Frage nach der Existenz ähnlicher Voraussetzungen gefragt, die dem „Glauben“ angemessen sind. Die Theologen scheinen weitaus mehr von den Fragen nach der Rechtgläubigkeit der „Glaubensüberzeugungen“ in Anspruch genommen zu sein, als von jenen nach deren rationaler Gültigkeit. Übrigens haben unsere Zusammenkünfte mit Fragen nach der Rechtgläubigkeit begonnen, anlässlich des Stellenwertes des Katechismus der katholischen Kirche. Zur Entlastung der Theologen und religiösen Machthaber muss man allerdings zugeben, dass sie in den klassischen Vorstellungen vom Sein und von der menschlichen Natur keinen Verankerungspunkt für einen rationalen Glaubensvollzug finden konnten. Genauso wenig kann man sie für die existierenden Philosophien verantwortlich machen, die sie übrigens, so gut sie es können, nutzen, um ihre Glaubensüberzeugungen zu erklären. Aber das ist eine kurzsichtige seelsorgerische Einstellung. Nicht in einer ganz und gar neuen Sicht der Dinge (denn wie könnte man eine solche annehmen?), und auch nicht in einer nach den alten Plänen neu wiederhergestellten, sondern in einer vervollständigten und für das Verständnis des Glaubens wirksameren Sicht der Dinge muss man einen ontologischen Ort suchen, um zu analysieren, was die Möglichkeit, zu glauben ist, und was ihre Verwirklichung in einer Glaubenszustimmung, INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 383 sowie auch ihre explizite Ausdrucksweise in „Glaubensüberzeugungen“ oder Glaubenslehren ist. DER DOMHERR Und wie? Ein ontologischer Ort? Wollen Sie damit sagen: „eine Ontologie“? DER ANDERE PHILOSOPH Genau. Die interpersonale Struktur der Seinsmitteilung erweist sich, insofern sie Initiative ist, als eine Struktur der Offenbarung; und insofern sie Aufnahme ist, als eine Struktur des „Glaubens“. Sein Sein empfangen, also „sich als Seiendes empfangen“, ist an sich nicht ein Zeichen von Endlichkeit, von Begrenztheit oder Minderwertigkeit, weil derjenige, der „das Sein gibt“, es deswegen gibt, weil es zur Vollkommenheit seines „Seins“ gehört, ins Sein zu rufen. Sich als Sein in Fülle zu empfangen ist ebenfalls ein Zeichen von Vollkommenheit. Das von einer vollkommenen Seinsmitteilung implizierte Empfangen kann nicht unvollkommen sein. Wo die Seinsmitteilung vollkommen ist, ist die Freiheit desjenigen, der ins Sein ruft und der aktiver Seinsvollzug ist, vollkommen, und nicht begrenzt durch die Notwendigkeit, zu entscheiden, ins Sein zu rufen oder nicht. Eine derartige Entscheidung, die eine Unvollkommenheit des „Geschenks“ implizieren würde, nämlich aufgrund der Nicht-in-Akt-Befindlichkeit oder der Potentialität, die durch die Möglichkeit und Unausweichlichkeit der Wahl notwendigerweise in die Handlung eines derartigen „Gebers“ hineingebracht würden, würde bewirken, dass die Seinsmitteilung in diesem Fall nicht vollkommen wäre. Es ist das unvollkommene und mangelhafte Geschenk, das die Aufnahme seitens des Empfängers unvollkommen und mangelhaft macht. Das vollkommene Geschenk versetzt den Anderen, der es empfängt, in einen Zustand der vollkommenen Freiheit, ohne erniedrigende Unterordnung. Das „Ins-SeinRufen“ ist korrelativ zum „Ins-Sein-gerufen-Sein“. Das Seiende, das ins Sein ruft, und das Seiende, das ins Sein gerufen wurde, sind einander an Seinsvollkommenheit ebenbürtig; das eine angesichts des anderen; das eine für das andere. Gemeinsam sind sie, was sie sind, das eine mit dem anderen. Ansonsten würden sie nicht sein. Die Beziehungsbedingtheit des Seins — weil es keine Seienden gibt, die nicht in Beziehung stehen — ist eine transzendentale Vollkommenheit, genauso, wie es wahr ist, 384 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN dass das Sein erkennbar ist, und dass es, wenn es nicht erkennbar wäre, nicht wäre. Die Erkennbarkeit des Seins und seine Gutheit (omne ens est intelligibile; omne ens est bonum) sind übrigens in sich selbst ebenfalls beziehungsbedingt. Wenn es überhaupt keinen vollkommenen Empfangenden geben würde, dann gäbe es auch keinen vollkommenen Gebenden. Wenn es nur unvollkommene Empfangende geben würde, dann gäbe es nur unvollkommene Gebende. Aber das kann nicht sein. Unvollkommene Empfangende setzen die Existenz eines vollkommenen Gebenden voraus, und eines vollkommenen Empfangenden. Und damit sind wir wiederum bei der dreigliedrigen Struktur Gottes angelangt. So besteht die Gutheit eines Seienden nicht nur darin, dass „es“ als Gut angestrebt werden kann, wie Platon und Aristoteles vorschlugen, sondern darin, dass „es“ das Seiende, durch das „es“ glaubenschaftlich als gut erkannt wird, „ins Sein ruft“. Die Beziehung der Offenbarung in Großzügigkeit einerseits und des Glaubens in Dankbarkeit andererseits ist das, was wir als glaubenschaftliche Beziehung bezeichnet haben. Sie bildet die „Vollkommenheit“ eines Seienden, oder, besser gesagt, des Seins in seiner Dimension der Vollkommenheit. Der Glaube ist die Erkenntnis und das Anerkennen dessen, was „Ein Seiendes“ durch unbedingte und daher völlig freie Gutheit für und in „dem Anderen“ Seienden ins Sein ruft, indem es dieses, damit die Unterscheidung zwischen ihnen vollkommen sei, in sich selbst wiederum zu einer Seinsmitteilung für ein „Drittes Seiendes“ macht. DER DOMHERR Sie bringen die Glaubenserkenntnis mit der Vollkommenheit eines Seienden in Verbindung. Aber wie erklären Sie nun, dass es bei den Glaubenden dermaßen viele Zweifel gibt? Soviel ich weiß, ist Zweifeln nicht ein Zeichen von Vollkommenheit! DER ANDERE PHILOSOPH Aber für die menschlichen Glaubenden ist es auch nicht unbedingt ein Zeichen von Vollkommenheit, nicht zu zweifeln! DER DOMHERR Aha! DER ANDERE PHILOSOPH INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 385 Denken Sie nicht, dass ich Ihre Frage als Witz abtue. Ich suche nur den Weg, um richtig zu antworten, denn sie ist nicht einfach. Ich würde sie gerne mit einer anderen Art von Fragen vergleichen, wie dieser hier: Einst hielt ein bekannter Astronom einen Vortrag. Er erklärte, dass die Erde und der Mond einander anziehen, und dass also, kurz gesagt, der Mond auf die Erde fällt. Voll Überraschung rief jemand aus dem Publikum: „Aber ich sehe doch ganz genau, dass er nicht fällt“. Und der Astronom antwortete: „Ich sehe genauso gut wie Sie. Die lineare Beschleunigung des Mondes hindert ihn daran, mit der Erde zusammenzustoßen.“ Und unser Jemand wendet erneut ein: „Aber ich sehe, dass er sich dreht, und sich nicht geradeaus bewegt“. „Sie haben recht“, sagte der Astronom. — „Dann erklären Sie mir doch bitte, warum er sich dreht.“ — „Weil er beides gleichzeitig tut. Er bewegt sich ganz und gar geradeaus, und gleichzeitig fällt er, also dreht er sich.“ Die greifbare Wirklichkeit kommt durch vielfältige Faktoren zustande. Um sie zu verstehen, muss man diese verschiedenen Faktoren jeweils einzeln betrachten und ihr Zusammenspiel erfassen, um dann schließlich das, was wir beobachten, erklären zu können. Und wenn die Wirklichkeit von Störfaktoren beeinflusst wird, muss man auch diese ausfindig machen, und sich soweit wie möglich gegen sie absichern... Der konkrete Glaube der Leute ist voll von Zweifeln. Daran sollten wir nicht zweifeln... Und doch gehört der Zweifel nicht zum Wesen des Glaubens. Aber das Fehlen von Zweifeln gewährleistet noch nicht die Echtheit eines konkreten, einzelnen Glaubens, der einem in vielerlei Hinsicht begrenzten menschlichen Seienden zu eigen ist. Werfen wir einen Blick auf die Regeln der mathematischen Addition. Sie sind absolut sicher, aber die Rechnungen meines Lebensmittelhändlers können Fehler enthalten, sogar zu seinen Ungunsten... Und seine Gewissheit, dass er den richtigen Preis verlangt, macht eine fehlerhafte Rechnung nicht gültig... Genauso verhält es sich mit der Art und Weise, in der die Menschen ihren Glauben leben. Mein Glaube an den Anderen kann, obwohl er wesentlich zu meiner Persönlichkeit gehört, von Lügnern oder Verrätern missbraucht, oder durch die Untreue anderer enttäuscht werden. Mein Glaube an Gott kann von Scheinoffenbarungen missbraucht werden, oder von angeblich vollkommenen und unbezweifelbaren Offenbarungen, die aber voll Lug und Trug 386 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN sind, oder von falsch verstandenen Zeugnissen für eine echte Offenbarung... Die erste Quelle von Glaubenszweifeln kommt daher, dass der Glaubende seinen Glauben als Ergänzung zur menschlichen Erkenntnis verstanden hat, und dann fälschlicherweise eine Verbindung zwischen der Begrenztheit seiner (experimentellen oder philosophischen) Erkenntnisse und seinem Glauben herstellt, der ihn tiefer in die Wirklichkeit einführen würde, von der er angeblich lediglich einen Aspekt sieht. Es wird gelegentlich gesagt, dass der Glaube die immer noch begrenzte Kenntnis, die man von der menschlichen Existenz besitzt, bereichert. Diese Aussage muss verdeutlicht werden, denn sie ist mehrdeutig. „Der Glaube bereichert den Menschen durch eine andere Erkenntnisform, und zwar den Menschen, der von der Welt bereits eine objektive und experimentelle, und von seiner eigenen Existenz eine philosophische Erkenntnis besitzt.“ Der Glaube darf nicht als die geradlinige Verlängerung eines „ein-förmigen“ menschlichen Wissens angesehen werden, als Mittel, die natürlichen Grenzen oder irgendwelche intellektuellen Unzulänglichkeiten zu überwinden. Er ist nicht ein Zweig, der auf die natürliche Wurzel der Erkenntnis „aufgepfropft“ wurde, damit diese bessere Früchte trägt, und auch nicht eine Art „Turbolader“ des Wissens oder ein „Schnellgangzusatzgetriebe“ oder „Überdrehzahlschutz“ des natürlichen Verstandes des Menschen, und auch nicht a fortiori eine billige Weisheitsquelle für langsame und verbohrte oder kindliche Geister, und ebensowenig ein Heilmittel für einen gefallenen und verminderten menschlichen Verstand. Diese verschiedenen, in sich falschen Auffassungen, die aber gelegentlich mit Gewissheit angenommen werden, können nicht anders, als eines Tages Zweifel hervorbringen. Und in diesem Fall wäre das ein Fortschritt. Als Tätigkeit des Bewusstseins ist der Glaube eine natürliche Erkenntnisweise „sui generis“, mit demselben Recht wie die experimentelle und die reflexive Erkenntnisweise, aber eben auf ihre von diesen beiden unterschiedene Weise. Die harmonische Entwicklung der menschlichen Erkenntnis in ihrer Gesamtheit impliziert die glaubenschaftliche Erkenntnisweise. Aber die glaubenschaftliche Erkenntnis ist nicht eine Verlängerung der naturwissenschaftlichen oder der philosophischen Erkenntnis. Machen wir einen Vergleich: Die ganzheitliche Entwicklung der Sinneswahrnehmung verlangt unter anderem die INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 387 Sehfähigkeit und das Gehör. Das Fehlen des Gehörs wäre eine schmerzliche Behinderung. Aber das Hören ist nicht eine Verlängerung des Sehens, also eine Art „höheres Sehen“. Es ist eine Wahrnehmungsweise „sui generis“, ohne welche die menschliche Sinneswahrnehmung nicht ganzheitlich ausgeübt werden könnte. Genauso verhält es sich mit unserer Glaubensfähigkeit. Ein ihrer beraubtes Bewusstsein wäre nicht nur schwer behindert, sondern es wäre nicht das, was es ist, und es würde schlicht und einfach nicht existieren. Genauso wenig, wie der Mensch sich davon befreien kann, nachzudenken und zu urteilen, aber durch Unfähigkeit dazu gelangen kann, schlecht zu denken und schlecht zu urteilen; kann er sich davon befreien, zu glauben, aber er kann schlecht glauben, also die wesentlich zu ihm gehörende Glaubenschaftlichkeit durch Unfähigkeit verfälscht in die Tat umsetzen. Mit demselben Gewicht wie seine Reflexivität und mit demselben Anspruch auf Vollkommenheit ist die Glaubenschaftlichkeit des Bewusstseins ein Grundzug unserer menschlichen Natur; und zwar so, dass sie dies auf weitaus grundlegendere Weise ist als die auf die Welt der Dinge ausgerichtete Intentionalität, und dies, weil sie eine Dimension des bewusstseinsbegabten und freien Seienden als solchem ist, und nicht nur dieses Seienden, insofern es „menschlich und in der Welt inkarniert“ ist. DER THEOLOGIEPROFESSOR Aber der Glaube, in dem Sinn, wie Sie sagen, also dieser Glaube, den die Menschen — wenn auch in unvollkommener Weise — in ihren Religionen ausüben, lässt uns trotzdem erkennen, dass es Gott gibt! Religion als Tatsache ist nämlich universal, und eine derartige Universalität kann nicht sinnlos sein. DER ANDERE PHILOSOPH Dieser Glaube ist zweifellos nicht sinnlos! Aber ganz so einfach ist das alles nicht. Und wenn Vereinfachungen auch um der besseren Verbreitung willen gelegentlich nützlich ist, so bergen sie doch die Gefahr in sich, dass man die Wahrheit der Dinge verfälscht. Nicht die Gottesvorstellungen, die sich die Menschen in ihren Religionen machen, haben Beweiskraft für die Existenz Gottes, sondern die Tatsache, dass die Menschen fähig sind, sich Gottesvorstellungen zu geben, und das sogar, 388 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN wenn diese falsch sind. Diese Fähigkeit bezeugt eine menschliche Wirklichkeit, die tiefer liegt als die kulturbedingten Gottesbilder. Auf die Notwendigkeit der Existenz Gottes kann man nicht deswegen schließen, weil die Menschen in der objektiven Wirklichkeit der Religionen an Gott glauben und behaupten, dass es ihn gibt. Ein Beweis der Existenz Gottes durch Übereinstimmung der Menschen, auch wenn diese nicht universal, aber doch wenigstens verhältnismäßig allgemein ist, hat keinen rationalen Wert, er gehört also nicht in den Bereich der absolut notwendigen Wahrheiten. Man verbleibt damit im Bereich des Beobachtbaren, also in diesem Fall in der Soziologie. Nicht jeder beliebige Vollzug des menschlichen Bewusstseins kann die Existenz Gottes Aussagen. Die naturwissenschaftliche Erforschung der Welt und der menschlichen Verhaltensweisen ist dazu ganz und gar unfähig, genauso wie die Entwicklungen des logisch-mathematischen formalen Denkens. Der Geist, der sich auf diese beschränkt, kann in keiner Weise zur Behauptung der Existenz Gottes vordringen, noch kann er a fortiori gültig an ihn glauben. DER THEOLOGIEPROFESSOR Aber der Glaube an Gott, also jene Glaubenschaftlichkeit, von der sie sagen, dass sie wesentlich ist, kann die Existenz Gottes feststellen. Denn er ist tatsächlich die vollkommenste aller möglichen Beziehungen zu Gott. DER ANDERE PHILOSOPH Das glaubenschaftliche Bewusstsein erbringt keinerlei Beweis für die Existenz Gottes. In der auf Gott ausgerichteten Glaubenschaftlichkeit liegt die Initiative, mich zu offenbaren, nicht wie in der menschlichen interpersonalen Glaubenschaftlichkeit bei mir. Die ganze Initiative mir gegenüber, uns gegenüber, liegt bei Gott. Wir ergreifen Gott gegenüber überhaupt keine Initiative. — Genau das erkennen wir ebenso in unserem Tod, wo wir Gott-Dreieinigkeit gegenüber in völliger „Passivität“ existieren, für unsere „Vergöttlichung im Geist“ durch den Vater und das inkarnierte und auferstandene Wort — Auf der Ebene unserer menschlichen Natur sind das Sich-demAnderen-Offenbaren und das An-den-Anderen-Glauben Verhaltensweisen, die in einer Beziehung der Gegenseitigkeit INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 389 stehen können. Gott gegenüber können wir ausschließlich „glauben“, und wir können uns Gott nicht mit dem Willen, ihn selbst ins Sein zu rufen, offenbaren. Deswegen können wir im Bereich der auf Gott ausgerichteten Glaubenschaftlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes keinen „Beweis der Existenz Gottes“ aufstellen. Wir müssen unser Sein „reflexiv“ als empfangenes Sein erkennen, als ein Sein, das in seiner beziehungsbedingten, glaubenschaftlichen, interpersonalen Endlichkeit von der Unendlichkeit des Seins geprägt ist. Und dann versetzt uns dieses Anerkennen unmittelbar in eine Glaubensbeziehung zu Gott. Als glaubenschaftlicher Mensch kann der glaubenschaftliche Mensch genauso wenig wie der Naturwissenschaftler als Naturwissenschaftler einen „Beweis der Existenz Gottes“ aufstellen. Aber der glaubenschaftliche, interpersonale Mensch stellt in seiner Wirklichkeit die Grundlage dar, auf der das philosophische, reflexive Bewusstsein diesen Beweis in einem Vorgehen des „Anerkennens“ aufbaut. Der glaubenschaftliche Mensch ist daher eben gerade auch das analoge Vergleichsstück zum Wesen Gottes. Er ist es in höchstem Maße in seiner Stellung der erfüllten menschlichen Glaubenschaftlichkeit, die das Leben weitergibt, und die in der ehelichen und elterlichen, sowie auch der kindlichen Glaubenschaftlichkeit besteht. Und aufgrund dieser Ähnlichkeit wird er seiner Gottesbeziehung eine Gestalt und Ausformung geben. Die Menschheit als ganze ist das analoge Vergleichsstück zum mehrpersonalen Gott, und in dieser analogen Ähnlichkeit ist die Familienstruktur das göttliche Siegel. Wir befinden uns hier am Ursprung des Glaubens an die immanente Offenbarung Gottes in seiner Schöpfung. Die philosophische Reflexion ist im logischen und demonstrativen Sinn die Startlinie. Dem Glauben gegenüber ist sie gewissermaßen apriorisch gegeben oder logisch vorausgesetzt. Sobald diese Reflexionslinie überschritten ist, und zwar fehlerfrei, entfaltet sich die Glaubensbeziehung gemäß ihren eigenen Regeln, wenn ich das so sagen kann, nicht automatisch und in unfehlbarer Weise, sondern immer noch unter der kritischen Aufsicht der philosophischen Reflexion, die dann a posteriori urteilt. Und der Übergang von einem auf Gott ausgerichteten Glauben in der Immanenz der Schöpfung, zu einem auf Gott ausgerichteten Glauben in der Transzendenz 390 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN einer persönlichen Offenbarung Gottes, vollzieht sich dann auf der Grundlage des Glaubens an Gott in der Immanenz seiner Schöpfung. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Genau deshalb können wir beim Deuten der Geschichte sagen, dass der Glaube Israels die „apriorische geschichtliche Bedingung der Möglichkeit“ der transzendenten Offenbarung Gottes in Jesus ist, und dass unsere — kritische und differenzierte — Teilhabe an diesem Glauben für uns die Bedingung der Verständlichkeit des Evangeliums ist. DIE GÜLTIGEN GRÜNDE FÜR DIE BEHAUPTUNG DER EXISTENZ GOTTES DER ANDERE PHILOSOPH Wir sind uns einig... Das glaubenschaftliche Bewusstsein findet in der Begegnung mit dem Anderen das ihm angemessene und menschlich entsprechende Objekt. Nicht Gott ist das „Objekt“ seiner notwendigen Ausübung. Aber de facto macht es sich Vorstellungen von Gott, oder besser gesagt vom Göttlichen. Es kommt also spontan derjenigen Wirklichkeit gegenüber zur Ausübung, die der Mensch als über ihm stehend betrachtet. Dennoch kann man aus der objektiven Existenz derartiger Vorstellungen in den Religionen nicht „rigoros“ auf die Existenz eines transzendenten Seienden schließen, auf das sich diese Vorstellungen beziehen würden, selbst wenn man zugeben würde, dass sie die Beschaffenheit dieser Transzendenz sehr schlecht ausdrücken. Man kann auch aus der glaubenschaftlichen Dimension des Bewusstseins nicht unmittelbar auf die Existenz Gottes schließen, „an den“ zu glauben ist. Der Beweis dafür ist, dass man, wenn man ohne interpersonal aufgebaute Reflexion an Gott glaubt, sich de facto einen Gott vor Augen stellt, der in einer in ihm einzigen Stellung der Alterität steht, als Abbild des „einzigen Ehepartners“ der menschlichen Glaubenschaftlichkeit. Die Gottesbeziehung ist dadurch nicht etwa ihrer Echtheit beraubt. Sie ist nun nicht mehr die Behauptung eines Gottes, der in sich selbst allein ist, und in Beziehung zu uns isoliert dasteht, wie sich das Aristoteles und die klassische Objektphilosophie vorstellten. Sie ist vielmehr die Behauptung eines Gottes, der uns gegenüber nicht mehr isoliert ist, aber der immer noch INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 391 Gefahr läuft, als in sich selbst einsam gedacht zu werden. Ich sage bewusst „der Gefahr läuft...“, denn seine Einsamkeit in sich selbst ist genau genommen nicht bewiesen. Sie folgt nur de facto aus der Tatsache unserer Unwissenheit. Nun kann man aber aus der Unkenntnis der Wirklichkeit nichts über die Wirklichkeit schließen. Aber Unkenntnis kann überwunden werden, ohne dass bewährte Kenntnisse dadurch in Zweifel gezogen würden... Letztere ermöglichen es übrigens, dass man Fortschritte macht. Aber indem man sich durch Unkenntnis unsere familiäre Glaubenschaftlichkeit als analogische Vergleichsgrundlage entzieht, führt man gewissermaßen einen Kurzschluss der Möglichkeit, die wir in unserer geschaffenen Wirklichkeit besitzen, die wahre Beschaffenheit unseres Glaubens an Gott zu erkennen, herbei, und man verunmöglicht es sich selber, zu erkennen, wer dieser Gott ist, an den wir glauben sollen. Muss man sich in diese Unkenntnis einschließen? Muss man vorgeben, dass wir nicht von einer Mehrzahl der Personen in Gott sprechen können? Ist es angebracht, zu sagen, dass wir diese Frage nicht stellen können? Dann, nämlich wenn man es sich verwehrt, die Frage zu stellen, müsste man auch zugeben, dass man von Gott auch nicht aussagen kann, dass er in sich selbst allein ist. Die religiösen Gottesvorstellungen sind in ihrer Eigenschaft als kulturelle Errungenschaften der Menschheit in ihrer objektiven Gegebenheit nichts weiter als das Zeichen, dass der Mensch de facto glaubenschaftlich an Anderes als an die Seienden seiner endlichen Welt denkt. Verweist uns dieses Zeichen auf die Notwendigkeit, glaubenschaftlich Anderes zu denken als diese Welt und die bewusstseinsbegabten Seienden dieser Welt? Ja, nämlich auf dem Weg der reflexiven Anerkennung unserer Endlichkeit. DER DOMHERR Was ist also Ihr Gottesbeweis? Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass meine Frage der reinen intellektuellen Neugier entspringt... Ich empfinde keinerlei Bedürfnis, einen Beweis zu besitzen, um von der Existenz Gottes überzeugt zu sein. DER ANDERE PHILOSOPH Der Weg einer methodologisch richtigen Behauptung der Existenz Gottes kann ausschließlich „reflexiv“ sein, und vollzieht sich unter der Bedingung, dass sich dieses reflexive 392 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Vorgehen bis zu den letzten notwendigen Grundeigenschaften des Seins aufschwingt, die in unserem Mit-Anderen-Sein in einer gemeinsamen Existenz in der Welt als wirklich vorausgesetzt sind. Wir müssen in uns selbst, also in den Aspekten der Endlichkeit unseres beziehungsbedingten Seins, die Notwendigkeit eines Bezugs zu einem im Sein Unendlichen feststellen. Es handelt sich um das Bewusstsein von einem notwendigen Denken an jenes Unendliche, das im Bewusstsein unserer Endlichkeit enthalten ist. Genauso gut könnte man sagen: „In einem zunächst noch undifferenzierten und absoluten Bewusstsein von der Unbegrenztheit des Seins — von dem etwa das Gedicht des Parmenides zu Beginn der westlichen Philosophie Zeugnis ablegt: „Das Sein ist und es ist unmöglich, dass es nicht sei... Das Sein ist absolut oder aber gar nicht“ — muss unsere Endlichkeit so erkannt werden, dass man versteht, dass nicht sie dieses Absolute im Sein erhält, und dass die Unendlichkeit Gottes in ihre Transzendenz hineingedacht werden muss, also seine Seinsunendlichkeit, die von unserer Existenz unterschieden ist und ihr Urgrund ist, und ebenso von allem, was in einer mit der unsrigen vergleichbaren Existenzweise existiert. Parmenides, der diese Absolutheit des Seins als eine dermaßen tiefe reflexive Wahrheit wahrgenommen hatte, dass er sie als eine „Offenbarung der Göttin“ darstellt, untersucht sie zunächst nicht weiter, und „objektiviert“ diese Seinstotalität, — die aber dennoch anhand des Gesetzes der Seinsmitteilung „strukturiert ist“ — zu und in einem ungeteilten Ganzen, zu und in „einem einzigen Kloß, der ewig und unveränderlich ist, in jeder Hinsicht ausgeglichen und unbeeinflussbar, wie eine ganz und gar runde Kugel“. Warum hatte Parmenides nicht auch die (philosophische) Einsicht in die Beziehungsbedingtheit des Seins, indem er den Seinsstatus der Verneinung besser verstanden hätte, anstatt sie kategorisch abzulehnen? Die Verneinung, die Heraklit so überaus wichtig nahm, ohne dahin zu gelangen, ihre Verwurzelung im Sein als solchem zu erkennen? Nutzloses Bedauern! Aber im Sein ist sehr wohl „Verneinung“ enthalten: Verneinung zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“, zwischen „Du“ und „Ich“, zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen. INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 393 Eine Endlichkeit also, die unser ganzes Sein umfasst, insofern es ein im Werden befindliches Sein ist, das mit einem „WenigerSein“ beginnt, um zu einem „Mehr-Sein“ zu gelangen. Einzelne Endlichkeiten, die gemäß den verschiedenen Aspekten unseres Seins „einzuordnen“ sind: Erkenntnis, Wille, Bewusstsein und Freiheit; Unvollkommenheit unserer interpersonalen Beziehungen, besonders unserer Glaubenschaftlichkeit; Endlichkeit unserer Fähigkeit, ins Sein zu rufen; Endlichkeit unserer Seinsannahme; Endlichkeit der Heiligkeit, das heißt, Endlichkeit der authentischen, beziehungsbedingten Selbstverwirklichung mit dem Anderen, wegen unserer Fähigkeit, schlecht zu handeln, usw. Der notwendige Bezug auf ein Unendliches, das die absolute Aktualität im Sein besitzt, ohne welches unser im Werden befindliches Sein — und die Gesamtheit all dessen, was wird — nicht als endliche Seinsweise gedacht werden könnte, also als „nicht unendlich“. Das wirkliche Unendliche, das ein Unendliches voller Aktivität all dieser begrenzten Vollkommenheiten ist, die sich in unserem Werden verwirklichen. Ein Unendliches der Seinsmitteilung also, der offensichtliche Urgrund unserer endlichen Fähigkeit, ins Sein zu rufen. Tatsächlich nehmen wir in unserer endlichen Fähigkeit, das Sein zu geben, die Identität des Seins und des Ins-Sein-Rufens wahr, und verstehen auch, dass sie nicht dazu ausreicht, das Universum der Menschheit und der Natur, das unseren Erfahrungsbereich darstellt, ins Sein zu rufen. Wir verstehen auch, dass jegliche totalisierende Summe der endlichen Fähigkeiten, ins Sein zu rufen, zusammen mit der unsrigen, in sich selbst genauso wenig dazu ausreichen würde, durch sich selbst zu existieren. Jede endliche Möglichkeit, ins Sein zu rufen oder das Sein zu geben, setzt eine unendliche Aktivität der Seinsmitteilung voraus, also ein transzendentes Unendliches, das sogar jenseits dessen steht, was das ethische Ideal einer Heiligkeit in den interpersonalen Beziehungen vom Menschen fordern kann, wenn diese jeglichem möglichen Bösen entzogen sind, sei es nun ein erlittenes oder verursachtes Übel, Leiden oder Sünde. Kurz gesagt, ein Unendliches einer vollkommenen Seinsmitteilung und eines vollkommenen Empfangens. Der Zusammenhang zwischen der Ausübung unserer Glaubenschaftlichkeit und dem reflexiven Anerkennen der Existenz Gottes ist also sehr eng. Wenn das glaubenschaftliche 394 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Bewusstsein von Reflexion durchdrungen ist, also bewusste Gegenwärtigkeit für sich selbst als glaubenschaftliches Bewusstsein ist, indem es reflexiv seinen unterscheidenden Bezug zum Seinsunendlichen versteht und auch versteht, dass dieser Bezug im Sein nichts anderes sein kann als eine Beziehung der Seinsmitteilung, weil es ja sonst nicht in den Bereich des Seins gehören würde: Dann vollzieht das glaubenschaftliche Bewusstsein notwendigerweise (besser oder weniger gut) seinen „Glauben“ an Gott. Der glaubenschaftliche Mensch, der sich reflexiv eines Unendlichen bewusst ist, kann nicht (besser oder weniger gut) nicht an Ihn glauben. Der Mensch ist also wesentlich religiös. Aber die Religionen sind lediglich unvollkommene Verwirklichungen seines religiösen Seins. Daher können sie sich verbessern, indem sie sich Stück für Stück von ihrem Objektivismus befreien. Aber außerhalb der Religionen gibt es für den Menschen keine Möglichkeit, seine Glaubenschaftlichkeit Gott gegenüber gesellschaftlich auszuüben; sei es nun, dass er eine der existierenden Religionen annimmt, oder auch, dass er eine neue gründen will. Wir empfangen unser Sein. Wir empfangen es von anderen, die es empfangen haben. Aber wir empfangen es als endlich, und unsere Art und Weise, es zu empfangen, ist „endlich“. Wenn wir es in Fülle empfangen würden, wären wir Personen Gottes und Gott. Die reflexive Schwierigkeit eines Anerkennens Gottes liegt nicht darin, zuzugeben, dass wir unser Sein empfangen, sondern dass wir es in unvollkommener Weise und daher nicht „unendlich“ empfangen, dass wir es also nicht „in Gott“ empfangen, sondern „außerhalb Gottes“, und dass wir also nicht Gott sind, sondern Geschöpfe: bewusstseinsbegabte und freie Menschen, zusammen mit der Welt der Lebewesen und dem ganzen Universum in seiner ungeheuren Tiefe. Indem wir darin, dass wir uns als endliche Seiende erkennen, den notwendigen Bezug „endlich-unendlich“ im Sein erfassen, erkennen wir, dass unser von Gott empfangenes Sein ein „geschöpfliches“ Sein ist, und nicht ein „Gott-sein“. Gott anerkennen heißt, dass wir uns damit abfinden, das, was wir ganz einfach als Menschen sind, nicht als „göttlich und absolut“ zu betrachten; und uns nicht „zu vergöttern“, sondern einfach menschlich zu bleiben: also, kurz gesagt, Gott nicht in einem humanistischen Pantheismus aufzulösen, in dem wir uns INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 395 zum absoluten Mittelpunkt machen würden. Uns nicht für das Absolute zu halten bedeutet a contrario nicht, die Menschheit in einem übergroßen Universum aufzulösen. Das übergroße Universum kann Gott nicht „ersetzen“, wenn es darum geht, unsere Bewusstseinsrelationalität richtig zu erklären. Und die Entwicklung des Lebens, die in dieser Bewusstseinsrelationalität stattfinden kann, kann für irgendeine endliche Fähigkeit, ins Sein zu rufen, keinen zureichenden Grund liefern, wie groß und wunderbar auch immer die Möglichkeiten des Fortschrittes des Lebens sein mögen, die man in ihr ausfindig machen kann. Gewisse zeitgenössische Denkströmungen möchten, dass wir an den Evolutionsgott glauben, an den blinden Hersteller der Lebensformen, und ihn an die Stelle des schöpferischen Verstandes stellen, der diese wunderbare Evolution hervorgebracht hat. Das ist ein schwerwiegender methodischer Fehler! DER ERSTE PHILOSOPH Ich bin ein wenig erstaunt, dass sie in Ihrer Argumentation dem Kausalitätsprinzip gar keinen Platz einräumen. Ich dachte, dass Sie in ihm eine „kosmologische“ Form Ihrer interpersonalen Grundvoraussetzung sehen: „Sein heißt, Anderes ins Sein rufen,… Anderem Sein geben,…“. DER ANDERE PHILOSOPH Ich verstehe Ihre Frage durchaus! Ohne die dreifache reflexive Einsicht, nämlich erstens, dass das Sein Ins-SeinRufen ist, und zweitens, dass es unmöglich ist, dass die Wirklichkeit eines derartigen durch Mitteilung gekennzeichneten Seins nicht sei (also die durch die Behauptung der Beziehungsbedingtheit des Seins vervollständigte Einsicht des Parmenides), und drittens, dass unser Sein und alles unserer Erfahrung zugängliche wirkliche Sein von Endlichkeit gezeichnet sind... Ohne diese drei reflexiven Einsichten also sehe ich keine Möglichkeit, wie man, ausschließlich vom als „Daseiendes“ ausgesagten seienden Objekt ausgehend, oder sogar vom Sein eines einzigen Subjekts, Gott in stimmiger Weise als Seinsunendlichkeit, transzendent und Schöpfer bejahen könnte. Vom Objekt-sein ausgehend beruft man sich auf das Kausalitätsprinzip, dem man dann eine metaphysische Bedeutung beimisst, um es der kantianischen Kritik zu 396 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN entziehen, die es auf die Welt der Phänomene einschränkt. Mir scheint es hingegen so zu sein, dass dieses Prinzip dann unverankert und unbekannter Herkunft bleibt, wenn man von einer Seinsvorstellung ausgeht, die sich auf das Objekt-Sein beschränkt. Denn tatsächlich ist dieses Prinzip in einem Verständnis dessen, was einfach nur ein „Daseiendes“ wäre, keineswegs gegeben. In gewissen klassischen Formulierungen der Existenz Gottes kann man den Tatbestand feststellen, dass man sich auf ein derartiges Prinzip beruft und ihm Beweiskraft beimisst, obwohl es nicht der Erkenntnis des „Daseins“ entspringt. Dieser Versuch kann nichts weiter sein als eine ungeschickte und schlecht durchdachte Art und Weise, die absolute Notwendigkeit einer Seinsmitteilung auszudrücken. Vielleicht entspreche ich damit Ihren Erwartungen... Ich weiß es nicht... DER ERSTE PHILOSOPH Scheint Ihnen der klassische Gottesbeweis durch das Kausalitätsprinzip also von einer unzulänglichen Analyse der Seinsmitteilung abzuhängen? Aber Sie sprechen diesem Prinzip nicht jeglichen Wert ab, wenn Sie seine Anwendung auf die sinnlich wahrnehmbare Welt einschränken. DER ANDERE PHILOSOPH Wie Sie wissen, halten gewisse Philosophen dieses Prinzip für gültig, weil es ihnen zufolge ein rationales, zur Vernunft gehörendes Prinzip ist. Und mit diesem Recht kann es auch außerhalb der Grenzen der objektiven Erfahrung der Phänomene angewendet werden. Kant aber ist gegen diese Anwendung. Man müsste auf jeden Fall den Wert seiner metaphysischen Anwendung feststellen. Andere Philosophen wiederum sind der Ansicht, dass die metaphysische Anwendung eines derartigen Prinzips nicht gerechtfertigt ist, da es nicht auf eine andere Erkenntnis des Seins begründet werden kann als auf jene der sinnlich wahrnehmbaren Seienden. Es wäre also nichts weiter als die Feststellung der konstanten Beziehungen zwischen den Dingen, wobei diese Beziehungen aber außerhalb dieser Dinge liegen. DER ERSTE PHILOSOPH Ich kenne diese verschiedenen Standpunkte sehr gut. Was halten Sie davon? INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 397 DER ANDERE PHILOSOPH Die Einen wie die Anderen haben mit dem, was sie aussagen, recht, aber ihre Standpunkte sind unvereinbar, weil sie alle einen grundlegenden Aspekt der Wirklichkeit vergessen: nämlich ihre Beziehungsbedingtheit. Die Einen wie die Anderen könnten diesen Aspekt allerdings entdecken, und zwar von ihrem jeweiligen Gesichtspunkt ausgehend, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie ihre Überlegung vertiefen. Die Einen fragen sich, wie ein derartiges Kausalitätsprinzip in der Vernunft vorhanden sein kann. Gewiss nicht als abstraktes und formales Gesetz, wie der ordnende Inhalt anderer Inhalte des Denkens, wie etwa die Form eines Syllogismus. Dieses Kausalitätsprinzip kann in der Vernunft also nur als eine ausgeübte Tätigkeit existieren, und zwar als ausgeübt von dem Bewusstsein, das mit seinem Sein an sich identisch ist. Es kann also nur ein wesentlicher Grundzug seines Seins als solchem sein. Die Anderen fragen sich, ob unser Verständnis des Seins in der Form des Daseins das Rationale der Wirklichkeit gesamthaft erfasst. Erweist eine ganzheitliche Verständlichkeit des Seins das Daseiende, oder vielmehr die „Daseienden“ nicht als Teil einer relationalen Seinsstruktur unter Seienden? Indem sich die Vertreter beider Denkrichtungen, jeder für sich, derartige Fragen stellen, können sie einander näher kommen, und zwar, nachdem sie eine tiefgreifende Veränderung ihrer jeweiligen Ontologien vollzogen haben. Das reflexive Bewusstsein von unserer glaubenschaftlichen Beziehungsbedingtheit ermöglicht uns also einerseits, mit mehr Kohärenz und Gewissheit zu einer Bejahung der Existenz Gottes voranschreiten zu können, und andererseits, über eine reichhaltigere Vergleichsgrundlage zu verfügen, um das Wesen Gottes zu denken. DER ERSTE PHILOSOPH Wenn ich Sie recht verstehe, schlagen Sie eine „Vermenschlichung“ des Kausalitätsprinzips vor. Und indem Sie es als in der Tätigkeit des Menschen begründet betrachten, machen Sie es also zu einem Teilgebiet der Ethik. DER ANDERE PHILOSOPH 398 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Tatsächlich! Das Bewusstsein von unserer „mit Anderen seienden glaubenschaftlichen Endlichkeit“, also das Bewusstsein von der ontologischen Unvollkommenheit unserer menschlichen interpersonalen Glaubenschaftlichkeit, verweist uns, sobald es durch all die Rückschläge des unehrlichen Glaubens und des Verrates sensibilisiert worden ist, auf einen zweifachen Anspruch. Zunächst auf den Anspruch, der am Ende der Bewegung an sich unseres Anerkennens eines vollkommenen Unendlichen steht. Dieses göttliche, vollkommen Unendliche ist auch in sich selbst eine Unendlichkeit an glaubenschaftlicher Vollkommenheit. Es gibt eine vollkommene Glaubenschaftlichkeit in einem vollkommenen Sein, das sich in sich selbst vollkommen mitteilt. Das ist die Bejahung eines in sich selbst mehrpersonalen Gottes, in trinitarischer Seinsstruktur des Gebens des Lebens. Dann gibt es einen Anspruch, der zur glaubenschaftlichen Wiederaufnahme unserer reflexiven Bewegung auf Gott hin gehört. Indem wir ein vollkommen Unendliches setzen, das sich aus unbedingter Initiative mitteilt, und das sich offenbart, indem es uns erschafft, möchten wir auch, dass es sich uns jenseits unserer gegenwärtigen Unvollkommenheiten mitteile, damit wir es vollständig empfangen können. Das ist das menschliche Verlangen nach einer vollkommenen Liebe, die in uns einen vollkommenen Glauben wecken würde. Kurz gesagt, nach einem von allem Bösen befreiten Leben im Glück! Ein tiefes und echtes Bedürfnis, das seine Erfüllung finden muss. Aber nicht Gott ist Gegenstand dieses Verlangens. Er kann nicht gültig als Gegenstand eines „Verlangens“ des Menschen bezeichnet werden, weil er dann lediglich ein „Objektgott“ wäre, wie der Gott des Aristoteles oder des Platon. Halten wir die Projektion eines Vollkommenheitsideals, für das der Mensch tatsächlich erschaffen ist, nicht für ein richtiges Gottesbild. Die folgenden beiden Vorstellungen dürfen wir nicht verwechseln: die absolute göttliche Vollkommenheit und die Vollkommenheit unserer menschlichen Natur als in uns liegendes Ziel der „Offenbarung Gottes in uns, die das bewirkt, was er beziehungsbedingterweise in sich selbst ist“. Die Gewissheit eines reflexiven Erkennens der Existenz eines Gottes, der in sich selbst vollkommene Seinsmitteilung ist, und der die seinen Plänen entsprechende Verwirklichung des Verlangens nach dem Glück in beziehungsbedingter ethischer INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 399 Vollkommenheit, also des Verlangens, das er in uns hineingelegt hat, indem er uns erschuf, absolut gewährleistet, diese Gewissheit also dürfen wir nicht mit einer götzendienerischen „psychologischen Vergötterung“ des Objekts unserer Hoffnung verwechseln, also mit einer Erfüllung in totaler Vollkommenheit. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Wenn ich Sie recht verstehe... und mir scheint, dass Sie immer wieder darauf zurückkommen,... befürchten Sie, dass sich der religiöse Mensch durch die psychische Ausübung seiner Religion damit zufriedengeben könnte, eine horizontale, menschliche, interpersonale Glaubenschaftlichkeit aufzurichten, und sie „vertikal“ gegen Gott zu stellen. Dadurch würde Gott zu einem in sich alleinseieneden „Über-Anderen“ ohne die Begrenztheiten des konkreten menschlichen Anderen... In diesem Fall würde ganz offensichtlich eine Verwechslung vorliegen; eine Angleichung Gottes an ein menschliches Ideal, und eine Art „Überhöhung eines menschlichen Ideals ins Unendliche“, das als Gottesvorstellung ausgegeben und aufgenommen würde. Das wäre ganz offensichtlich, wenn auch im Unbewussten, eine Form von Götzendienst. DER ANDERE PHILOSOPH Genau das ist es. Ich danke Ihnen... Gott ist nicht derjenige, dem ich mich zuwende, weil mein Glaube an die Menschen enttäuscht worden ist, oder weil keines der endlichen Objekte meinen Durst nach Besitz löschen kann, oder weil die Bejahung aller endlichen Objekte das intellektuelle Verlangen meines Verstandes nicht befriedigen kann, und weil jede endliche Aussage jenseits ihrer selbst auf ein unendliches Objekt aufmerksam macht, wie das gewisse „Urteilsphilosophien“ behaupten. Der Glaube, den ich Gott zuwende, ist nicht ein Glaube, der von Menschen enttäuscht worden ist oder Gefahr läuft, es dadurch zu werden, dass ich beim Glauben an die Menschen stehenbleiben würde. Nein. Mein menschlicher Glaube an den Gott, der transzendenter Schöpfer ist, weil er in sich selbst Geben des Lebens zwischen Mehreren ist, gibt mir absolute Gewissheit, dass all meine Glaubensbeziehungen zu Anderen, mag es sich nun um mir mehr oder weniger nahestehende Personen handeln, also all mein glaubenschaftliches Sein in 400 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN seiner universalisierten Offenheit, sich vollkommen verwirklichen wird, weil nämlich sowohl Gottes vollkommenes Werk für alle Menschen ohne Ausnahme, als auch die vollkommene Verwirklichung seiner Pläne — die nicht misslingen kann — für jeden Einzelnen genau darin bestehen. Die Glaubenschaftlichkeit, die ich Gott gegenüber in einem Akt und im Leben des auf ihn ausgerichteten Glaubens ausübe, kann nicht auf ein in sich ungeteiltes Seiendes ausgerichtet sein, wie etwa auf eine menschliche Person. Sonst wäre Gott eine andere „Person“ neben einer mir gegenüberstehenden menschlichen Person, aber doch unendlich hoch über ihr, als ein „Großer König“, den ich unter den Subjekten sehen würde. — Ich bewege mich immer noch auf der ontologischphilosophischen Ebene und nicht auf der empirischen und psychologischen. Um authentisch zu sein, muss die glaubenschaftliche Ausrichtung unseres Bewusstseins aus dem Innersten seiner reflexiven Gegenwart zu sich selbst „aufsteigen“, hin zu dem Sein, das der Urgrund unseres interpersonalen Seins in glaubenschaftlicher Beziehungsbedingtheit ist, insofern dieses das „Abbild seines göttlichen Wesens“ ist. Denn tatsächlich begegne ich Gott nicht in der Verfassung von „objektiver Alterität“, wie das bei einem anderen menschlichen Seienden der Fall ist. Auf dieselbe Beziehungsweise an Gott zu glauben, wie man an „ein“ Seiendes glaubt, etwa an „ein“ menschliches Seiendes, wäre daher ein Anthropomorphismus. Denn tatsächlich denke ich dann so an Gott, als ob er eine zum Rahmen einer menschlichen, interpersonalen Struktur gehörende Person wäre. Ich sehe dann nicht, dass ich seine Transzendenz übersehe, oder dass ich zu mir selbst in Widerspruch stehe; denn um seine Transzendenz zu behaupten, stelle ich sie über die menschliche interpersonale Struktur, nachdem ich sie aber in eben dieser Ebene aufgefasst habe. Die Transzendenz Gottes verlangt, dass ich ihn mir in Bezug zu mir nicht als „objektive Person“ vorstelle. Wenn es auch wahr ist, dass mein Glaube an Gott genauso „natürlich“ ist wie mein Glaube an Andere, so richtet er sich doch nicht auf dieselbe Weise auf Gott aus wie auf andere Menschen. Ansonsten würde ich meinen Glauben in einer objektivistischen Verformung seiner ontologischen Beschaffenheit ausleben. INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 401 An den Gott zu glauben, der uns für und durch unsere gegenseitigen Vertrauensbeziehungen erschafft, bedeutet, an einen Gott zu glauben, der in sich selbst die absolute Vollkommenheit derartiger Vertauensbeziehungen ist, weil er in sich selbst nicht „allein“ ist, sondern als Mehrere in einer vollkommenen Liebes- und Glaubenseinheit existiert. Er kann also vor mir objektiv nicht „ein in sich selbst Einziger“ sein, noch kann er in meinen Vorstellungen den Status der Objektivität einnehmen (der aus ihm ein einsames Seiendes machen würde), ohne dass ich einen derartigen Status nicht sofort berichtigen müsste. DER DOMHERR Durch Ihre in kleinen Schritten durchgeführten Schlussfolgerungen, mit denen Sie schließlich, nach einigen strategischen Rückziehern, zum Durchbruch gelangen, um so schließlich unsere gesamte Diskussion zu führen, sind Sie im Begriff, der Philosophie die ganze religiöse Botschaft der Theologie anzuhängen. Das ist irgendwie invasiv!... In der Zuhörerschaft wird zustimmend gelacht... Sie sehen!... Wollen Sie jetzt auch noch die Inkarnation Gottes im Kind von Bethlehem schlussfolgern? DER ANDERE PHILOSOPH Es scheint sich um eine freundschaftliche Invasion zu handeln... Machen Sie sich um das Kind von Bethlehem keine Sorgen. Der philosophische Menschenfresser, vor dem Sie Angst haben, lässt sich durch die Anmut eines Kindes, das dermaßen mit Gnade und Göttlichkeit ausgestattet ist, erweichen... Was tut die Philosophie also angesichts der Inkarnation? Kann der Gott, der sich mir in meinem Sein, in meinem MitAnderen-Sein, in der Grundlage „unserer“ gemeinsamen geschichtlichen Existenz „offenbart“, sich auch in der Geschichte der Menschen als derjenige offenbaren, der sich, natürlich immer zu mehreren, für unsere gemeinsame Zukunft jenseits der Geschichte einsetzt? Die philosophische Reflexion kann das nicht ausschließen. Aufgrund unserer dauerhaften moralischen Unvollkommenheit und unserer Fähigkeit, bis zu unserem Tod Böses zu tun, kann sie sogar ein besonderes Eingreifen Gottes herbeiwünschen. 402 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Aber sie kann dessen tatsächliches Stattfinden nicht voraussehen. Sie kann begreifen, dass Gott dazu die Initiative ergreift, und zwar gegenüber einer Menschheit, die als Geschöpf dazu vor-bereitet ist, ihn als solchen aufzunehmen; dazu vorbereitet aufgrund der moralischen Verpflichtung, uns in vollkommener Glaubens- und Liebesbeziehung mit Anderen zu verwirklichen. Wenn Gott nun die Initiative dazu ergreift, dann wäre das, logischerweise und in Übereinstimmung mit seinem göttlichen Sein, in der Form einer Seinsmitteilung „sui generis“ in unserer Geschichte, nämlich dort, wo die Glaubenschaftlichkeit der Menschen in zureichendem Maße in ihrer natürlichen Vor-bereitung fortgeschritten sein wird. Der Christ erkennt, dass all dies in der Inkarnation des Wortes des Vaters, des Anderen vom Einen, in einem Mann Israels geschehen ist: in Jesus von Nazareth. Die Wirklichkeit einer derartigen transzendenten „Offenbarung“, deren absolute Initiative bei Gott liegt, und die daher weder vorhergesehen noch von den Menschen explizit erahnt werden kann, ist dennoch durch die natürliche Entwicklung der von Gott als solcher erschaffenen und gewollten Glaubenschaftlichkeit des Menschen ermöglicht. Der Mensch, der dann mit klarem Verstand dem Gott, der seinen Einsatz für seine absolute Zukunft in einer vollkommenen Verwirklichung seines beziehungsbedingten Seins in dieser Weise offenbart hat, seinen Glauben in erneuerter Form schenken will, muss sich auch der Bedingungen der Möglichkeit eines derartigen Glaubens bewusst werden. Wir haben bereits ausführlich darüber gesprochen. Mir scheint es nicht nötig, darauf zurückzukommen. DER MODERATOR Vergessen Sie bitte nicht, auf die Frage unserer Anwältin zu antworten... VERÄNDERN DIE INTERPERSONALITÄT DES SEINS UND DIE GLAUBENSCHAFTLICHKEIT UNSERE AUFFASSUNG VOM RECHT UND VON GERECHTIGKEIT? DIE ANWÄLTIN Ja... danke... Kann die Erkenntnis einer glaubenschaftlichen Dimension der menschlichen Existenz, die ja die Vorstellung impliziert, dass Gott in mehreren Subjekten existiert, einen INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 403 Einfluss auf unsere Auffassung vom Recht und von seiner Beziehung zum moralischen Gesetz haben? DER ANDERE PHILOSOPH Zweifellos, aber... DER MODERATOR, indem er ihn unterbricht und sich der Anwältin zuwendet... Verzeihen Sie, meine Dame, aber ich möchte meine Fragen der Ihrigen anschließen... Ist das moralische Gesetz göttlichen Ursprungs? Oder sind Moral und Rechtsordnung auch ohne Gott möglich? Diese Frage kann einerseits auf der Ebene der menschlichen Praxis verstanden werden; andererseits auf der Ebene des Seins... Ich habe sehr wohl meine eigenen Gedanken dazu, aber als Moderator soll ich die anderen zu Wort kommen lassen. Was denken also die Philosophen darüber? DER ERSTE PHILOSOPH Glaubende sehen im moralischen Gesetz ein Gebot Gottes. Für Juden und Christen erging die Offenbarung dieses Gesetzes stückweise und in fortschreitendem Maß erst an die ersten, aus dem Nichts hervorgebrachten Menschen; dann an Noah und die Überlebenden der Sintflut, dann an Mose und die Hebräer am Sinai, nach der Befreiung aus Ägypten. Man hat den Eindruck, dass sich das moralische Gesetz bei jeder „Rettung“, oder bei jedem Schritt der Weiterentwicklung verbessert... Das sage ich nur so nebenbei... Lässt sich das deuten? Da Gott nicht anders zu uns spricht als in dem Akt, in dem er uns erschafft — das haben wir in diesen Tagen zu Genüge gesagt — schließe ich, zusammen mit der Antigone des Sophokles, dass uns das moralische Gesetz angeboren ist, und dass es in unsere Herzen eingeprägt ist. Dass das moralische Gesetz von Gott kommt, ist also eine weitverbreitete Ansicht. Dennoch kann man nicht sagen, dass Nichtglaubende und Atheisten ohne moralisches Gesetz leben. Kann man sich damit zufriedengeben, zu sagen, dass Gott es sehr wohl in ihr Gewissen eingeschrieben hat, aber dass sie nicht merken, dass es darin eingeschrieben wurde? Es ist so, als ob sie einen Text lesen würden, ohne seinen Autor zu kennen. Das moralische Gesetz würde ohne Gott nicht existieren, aber seine Anwendung durch den Menschen wäre ohne Gotteserkenntnis möglich. 404 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Gott ist der unabhängige Gesetzgeber und hat daher die allgemeinen Gesetze geschaffen, die unsere sozialen Beziehungen bestimmen sollen. Das Recht präzisiert gewissermaßen ihre Anwendungsbestimmungen. Genau deswegen kann ein „gerechtes“ Recht dem moralischen Gesetz nicht widersprechen. Man kann also sagen, dass das Recht mittels des moralischen Gesetzes von Gott kommt; oder dass es vom moralischen Gesetz kommt; oder dass es das moralische Gesetz selbst ist, ohne dass man dabei auf Gott Bezug nimmt. Das Recht bleibt dasselbe, was sich ändert, ist die innere Einstellung des Glaubenden oder des Atheisten ihm gegenüber. DIE ANWÄLTIN Ich verstehe. Sie haben vor allem auf die Fragen unseres Moderatoren geantwortet. Ich meinerseits frage mich, womit eine neue Auffassung von der Beschaffenheit der menschlichen Beziehungen unter anderem unsere Auffassung von Recht und Moral verändern könnte. DER ERSTE PHILOSOPH Ich möchte gerne meinen Kollegen auf Ihre Frage antworten lassen... Erlauben Sie mir lediglich, sie in unsere philosophische Debatte „einzuordnen“. Hegel hat klargestellt, dass die Rechtsordnung ihrem Wesen nach die konkrete Form des freien Handelns des Menschen darstellt. So gesehen gibt es eine Übereinstimmung zwischen Recht und Moral. Allerdings kann das positive Recht, weil es lediglich ein Werk von Menschen ist, in gewissen Fällen mehr oder weniger weit hinter seinem Gerechtigkeitsideal zurückbleiben. Aber wenn wir das Wesen des Rechts ausgehend von einer Reflexion über das Sein, und in Parallele zum davon abgeleiteten Gottesbild verstehen wollen, dann müssen wir diese Möglichkeit des Rechts, zu missraten, indem es „ungerechte Rechte“ auferlegt, im husserl’schen Sinn ausklammern. Sich die Frage nach dem Recht zu stellen heißt dann, sich nach dem Stellenwert der Rechte der menschlichen Person zu fragen. Die Rechte der Person sind bereits in sich selbst Beziehungen: Beziehungen zu Dingen und Handlungen eines Anderen, insofern diese Handlungen dem Träger des Rechtes geschuldet sind, der sie deshalb als ein Gut, das ihm gehört, einfordern kann. Daraus folgt für einen jeden eine Pflicht, die Rechte der Anderen zu achten. INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 405 Angesichts der klassischen Definition stellen Sie sich also die folgende Frage: „Kann die Idee der Rechte der Person eines Tages neu durchleuchtet werden, nämlich wenn man die wesentliche Beziehungsbedingtheit der Person mit einbezieht, und nicht nur die vorhandenen Situationen von Beziehungen zwischen Individuen?“ Sind Sie mit dieser Formulierung einverstanden? DIE ANWÄLTIN Ja, das ist der Sinn meiner Frage. DER ANDERE PHILOSOPH Um auf diese Frage zu antworten, werde ich mich, wie mein Kollege anrät, innerhalb der Hypothese bewegen, dass das positive Recht mit den ethischen Forderungen im Einklang steht und seine konkrete Anwendungsweise ausdrückt. Zunächst möchte ich die Stellung des moralischen Gesetzes als Wirklichkeit, die unserem Bewusstsein angeboren ist, etwas genauer darlegen. Wir müssen hier eine in der Philosophie häufig angewendete Unterscheidungsform beachten, nämlich jene zwischen einer Tätigkeit, insofern sie ausgeübt wird, und ihrem oder ihren Inhalten. Nehmen wir als Beispiel das Wort „Wort“. Dieser Begriff kann einerseits den Akt oder die Ausübung des Sprechens bedeuten, und andererseits die Worte, die den Inhalt oder die Bestimmung dieses Aktes bilden. Wenn wir hier vom „moralischen Gesetz“ oder von „moralischer Pflicht“ sprechen, muss dabei gut unterschieden werden zwischen „dem Akt, zu verpflichten oder sich zu verpflichten“, und „dem, wozu man verpflichtet ist, oder wozu man sich verpflichtet“. Als mein Kollege von einem Fortschritt des moralischen Gesetzes sprach, meinte er das moralische Gesetz in seinen einander ablösenden Inhalten. Wenn man seine Bemerkung über einen Fortschritt des moralischen Gesetzes in der Bibel anlässlich jeder neuen „Befreiung“ oder „Erhebung an Würde“ auf der Ebene des Bewusstwerdens betrachtet, verdient sie Zustimmung. Aber von Anfang an gibt es Verpflichtung als moralischen Imperativ, selbst wenn ihr Inhalt nur in rudimentärer Weise wahrgenommen wird. Bezüglich des ethischen Imperativs und seiner Inhaltsbestimmung stellt sich also die zweifache Frage nach 406 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN seiner ontologischen Stellung. Selbstverständlich auferlegt Gott das moralische Gesetz nicht einem von Kopf bis Fuß bereits erschaffenen Menschen. Er setzt den moralischen Imperativ also nicht erst nach seinem Schöpfungsakt ein. Die ins Herz des Menschen eingeschriebene, angeborene Vorstellung von einem moralischen Gesetz impliziert die Gleichzeitigkeit der Erschaffung des Menschen und seiner ethischen Verfasstheit. Aber reicht diese Gleichzeitigkeit vom „In-unsere-Herzengeschrieben-Werden“ des Gesetzes mit dem Schöpfungsakt aus, um das Prinzip anzunehmen, dass jedes Wort Gottes eine Wirklichkeit ist, und dass das Wort Gottes, wenn es um den Menschen geht, eine menschliche Person ist? Meines Erachtens nicht. DER DOMHERR Und warum? Die Lehre vom Angeborensein des Gesetzes trifft sich mit der klassischen Vorstellung von einer natürlichen Moral und einem Naturrecht, das also an die menschliche Natur gebunden ist und aus ihr folgt. DER ANDERE PHILOSOPH Zweifellos, aber dann hängt alles davon ab, wie Sie die menschliche Natur betrachten. Wenn Sie sie immer noch „individualistisch“ betrachten, und als aufgrund ihrer angeborenen Mangelhaftigkeit zu Anderen in Beziehung stehend, dann ist ihr die moralische Verpflichtung zur Achtung und Liebe des Anderen von außen auferlegt, entweder durch Gott, oder durch die Gesellschaft selbst, damit der Mensch nicht seinem grundlegenden Egoismus nachgibt. Das „Wort“ Gottes, dass die moralische Verpflichtung und ihre inhaltliche Bestimmung begründet, muss ganz mit dem geschaffenen Sein des Menschen zusammenfallen, mit weiter nichts als seinem Sein, aber mit seinem ganzen Sein, das ja gerade ein nicht in Stücke aufgeteiltes „Wort Gottes“ ist. DER DOMHERR Und wie das? DER ANDERE PHILOSOPH Dadurch, dass der Mensch bewusstseinsbegabt und frei erschaffen ist; dass er sich also bewusst und von sich aus gemäß den notwendigen Grundeigenschaften seines Seins verwirklicht. INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 407 Nun ist der Mensch aber ein im Werden befindliches Seiendes. Daher prägen die notwenigen Grundeigenschaften seines Seins zwingend auch seine Handlungen, durch die er sich verwirklicht. Das ist der moralische Imperativ. Der Mensch unterliegt also der Verpflichtung, aus sich selbst heraus das zu werden, was er ist; unter der Verpflichtung, sich zu vollziehen; sich zu verwirklichen. Außerdem sind die Grundeigenschaften seines Seins, die analog dieselben sind wie die Grundeigenschaften des Seins Gottes, die Inhaltsbestimmungen seiner Verpflichtung in Freiheit. Nun haben wir bereits gesehen, dass Sein darin besteht, ins Sein zu rufen. Die Grundeigenschaften des Seins gehören in den beziehungsbedingten und glaubenschaftlichen Bereich zwischen Personen. Sich dieser Beziehungsbedingtheit bewusstwerden und unsere Taten schrittweise an sie anpassen heißt, zu entdecken, was das moralische Gesetz ist, und moralisch zu handeln. Gott ist als vollkommenes Bewusstsein und vollkommene Freiheit mit absoluter Notwendigkeit sein beziehungsbedingtes Sein. Der Mensch ist als begrenztes, im Werden befindliches Seiendes lediglich der Verpflichtung nach sein Sein, und nicht mit absoluter Notwendigkeit. Die moralische Verpflichtung ist zwar nicht die absolute, notwendige Grundeigenschaft der göttlichen Freiheit, aber dennoch die herausragendste Form der menschlichen Freiheit. Aber da die menschliche Freiheit lediglich eine Freiheit unter Verpflichtung ist, verwirklicht sie sich im Rahmen von vielfältigen und hierarchisch gegliederten Entscheidungen, in Übereinstimmung mit ihren notwendigen und wesentlichen beziehungsbedingten Grundeigenschaften. In den ihm zur Verfügung stehenden weit gefächerten Wahlmöglichkeiten hängt der Mensch von der äußeren Welt ab. Aber durch die aus seinem Sein folgenden Verpflichtungen, die das moralische Gesetz bilden, hängt er ausschließlich von sich selbst ab. Diese Unabhängigkeit von der Welt ist das äußere Zeichen seiner ontologischen inneren Freiheit. Die konkrete Form der menschlichen Freiheit besteht also darin, seine Entscheidungen an diesen moralischen Forderungen auszurichten und sie zu erfüllen. DIE ANWÄLTIN 408 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Dann gibt es also keine Offenbarung der moralischen Gesetze im Verlauf der Geschichte, und auch kein Eingeschrieben-Sein der göttlichen Gebote in das menschliche Bewusstsein im Augenblick seiner Erschaffung. Damit entfernen wir uns sehr weit von der Bejahung eines „offenbarten“ Rechts, wie sie der Islam behauptet. DER ANDERE PHILOSOPH Nein, von Seiten Gottes ist keine individuelle oder an eine Gemeinschaft gerichtete Offenbarung einer Moral oder eines Rechts möglich. Derartige Offenbarungen sind nichts weiter als bestürzende Behauptungen gewisser Menschen. Tatsächlich steckt der moralische Imperativ mit seinen hauptsächlichen Inhalten weitaus tiefer im Menschen, als man aufgrund der Vorstellung von einer im Lauf der Geschichte von Gott dieser oder jener Person diktierten Botschaft vermuten könnte; oder aufgrund der Vorstellung von einem bei seiner Erschaffung ins Bewusstsein des Menschen eingeprägten Gebotes. Denn in beiden Fällen könnte man annehmen, dass der moralische Imperativ auch hätte nicht existieren können, und dass die moralischen Gesetze anders hätten ausfallen können, wenn Gott anders entschieden hätte. Nun kann Gott aber keine Menschheit erschaffen, ohne dass diese in ihrer geschaffenen Freiheit verpflichtet wäre, und sich als der Verpflichtung unterliegend verstehen würde, sich durch ihre Taten selbst zu verwirklichen. Die moralische Verpflichtung im Menschen ist das Abbild der freien Notwendigkeit, durch die Gott Gott ist. Außerdem kann Gott nicht ein anderes moralisches Gesetz auswählen — sonst wäre die Freiheit Gottes nicht vollkommen — als jenes der Übereinstimmung unserer Handlungen mit den notwendigen Grundeigenschaften unseres Seins, die ebenfalls Abbild dessen sind, was Gott in sich selbst ist. Alle moralischen Gesetze folgen aus der wesentlichen Beziehungsbedingtheit unseres Seins, in Analogie zur Interpersonalität Gottes an sich. Die Menschen werden sich dessen im Verlauf der Geschichte schrittweise bewusst, wobei sie sich der Wahrheit mehr oder weniger annähern, und sie wenden sie in juristischen Anwendungen mit mehr oder weniger „Richtigkeit“ auf die Einzelfälle an. Sie müssen auch die gesamte Verantwortung dafür übernehmen, um nicht Gott dadurch für ihre Fehler in INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 409 diesem Bereich verantwortlich zu machen, dass sie das Gesetzeswerk als „offenbart“ hinstellen. DIE ANWÄLTIN Die Menschen sind also für ihre juristischen Gesetzgebungen ganz und gar selbst verantwortlich und dürfen sich dafür auf keine göttliche Autorität berufen. Sind Sie damit nun aber nicht ein Verfechter dessen, was man als „Rechtspositivismus“ bezeichnet? DER ANDERE PHILOSOPH Warum nicht? Man muss scharf unterscheiden... Vorausgesetzt, dass dieser Rechtspositivismus nur während der Dauer einer Volkswahl... die für unsere Tätigkeiten zur Auswahl stehenden Möglichkeiten... nicht verabsolutiert. Damit das Recht mit dem einzigen Willen Gottes, die Menschheit nach seinem Abbild zu erschaffen, übereinstimmt, würde es ausreichen, dass die Würde des Menschen und seiner Beziehungen zum Anderen wirklich geachtet werden. DIE ANWÄLTIN Dann muss eine derartige relationale Vorstellung vom Menschen also zumindest in der Theorie irgendwelche Auswirkungen darauf haben, wie man das Recht versteht? DER ANDERE PHILOSOPH Ganz gewiss. Da der Mensch in der Vollkommenheit seines Seins wesentlich beziehungsbedingt ist, und nicht aufgrund einer ontologischen Mangelhaftigkeit und eines Bedürfnisses nach Ergänzung, muss gesagt werden, dass „man sich dadurch verpflichtet, zu sein und als Mensch sich selbst zu werden“, dass „man sich, in Treue zu sich selbst, dem Anderen verpflichtet“. Die Selbstverpflichtung, sich als Mensch zu verwirklichen, ist dasselbe, wie sich dem Anderen in Treue zu sich selbst verpflichten“. Die Verpflichtung, den Anderen als „Anderen“ ins Sein zu rufen — also als ganz und gar von mir unterschieden, auch als beziehungsbedingtes Seiendes, und also als offen für die Universalität des Dritten — bzw. die Pflicht zur Nächstenliebe (caritas), oder, noch anders gesagt, das moralische Gesetz der Liebe, begründet in den Anderen die Hoffnung, Bezugspunkt dieser Liebe zu sein, zu der ein jeder sich in Freiheit verpflichtet. 410 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Jeder freien Verpflichtung in mir entspricht in den Anderen eine auf sie gegründete Erwartung, dass ich meine Pflicht ihm gegenüber erfülle. Diese Erwartung steht in Übereinstimmung zu ihm selbst. Sie ist die juristische Form der ethischen Glaubenschaftlichkeit. Und bei den Anderen setzt jede ebenfalls unter freier Verpflichtung stehende Hoffnung voraus und verlangt, weil sie begründet sein muss — ansonsten wäre die Verpflichtung der Hoffnung sinnwidrig —, und weil sie nicht auf sich selbst begründet sein kann, dass es in mir eine Verpflichtung gibt, für ihn zu existieren, also eine Pflicht zur Liebe und zur caritas. Die Beziehung „Verpflichtung im Einen, die im Anderen Hoffnung weckt“, ist gegenseitig. Die ethische Verpflichtung in mir begründet beim Anderen eine „Hoffnung“; die ethische Verpflichtung im Anderen begründet meine Hoffnung. Bei Personen zieht die Gegenseitigkeit des Wollens, dass der Andere sei, die Pflicht zum Glauben an die Liebe des Anderen nach sich, an die Liebe, die in diesem Glauben und dieser Hoffnung ihre eigentliche Verwirklichung findet. Nun kommt aber diese der Ethik eigene Beziehung dadurch zur Ausübung, dass sie sich konkretisiert, sich also in der Ordnung des Rechts verwirklicht. Die interpersonale Struktur der moralischen Ordnung durchdringt und ordnet jede Rechtsordnung. Anders gesagt: Die Rechtsordnung erhält ihre Struktur von der interpersonalen moralischen Struktur. Die Verpflichtung und Pflicht zur Freiheit konkretisiert sich also in der rechtlich festgelegten Pflicht, wo meine dem Anderen gegenüber existierende Pflicht mit der Pflicht des Anderen mir gegenüber in einem Verhältnis der Gegenseitigkeit steht. Auch die sichere Hoffnung, die ich auf die Freiheit des Anderen und die Erfüllung seiner Pflicht setze, konkretisiert sich in der Rechtsordnung. Sie nimmt die Gestalt eines ihm gegenüber existierenden Rechts an: die konkretisierte Gestalt der Verpflichtung zur Hoffnung auf seine Pflicht. So, wie es in der moralischen Ordnung die Pflicht zur Hoffnung auf die Pflicht des Anderen gibt, ohne die wir moralisch dagegen sein könnten, dass der andere seine Pflicht ausübt — was in sich widersprüchlich wäre — so gibt es folglich in der Rechtsordnung eine rechtliche Pflicht zu den Rechten, die uns die Pflichten sichern, die der Andere sich in Freiheit auferlegt. In der Rechtsordnung, die die konkretisierte Ordnung der Pflicht (im hegelianischen Sinn) ist, ist das Recht (der Person) INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 411 die verpflichtende Erwartung — ich kann mich ihr also nicht im eigentlichen Sinn entziehen — an die Pflicht des Anderen mir gegenüber. Weil diese beiden Bedeutungen gleich sind, sagen wir, dass die Rechte des Anderen mir gegenüber die juristische Form seiner in Freiheit ausgeübten Hoffnung sind, mich meine Pflichten ihm gegenüber gemäß diesen rechtlichen Anordnungen ausüben zu sehen. In der Ordnung des Rechts bin ich angehalten, zu erwarten, dass der Andere mir gegenüber seine Pflichten ausübt. Daher ist also jedes „Recht“ bei mir zu einer Pflicht korrelativ, die sich der Andere mir gegenüber auferlegt, und umgekehrt. Jeder Pflicht, die mir als relationalem Seienden auferlegt ist, weil ich mich als freies Subjekt notwendigerweise dazu verpflichte, entspricht im Anderen ein Recht, das auf die Pflicht begründet ist, die ich ihm gegenüber habe. DER ERSTE PHILOSOPH Noch einmal drehen Sie den klassischen Standpunkt um. Anstatt zu sagen „Das Recht des Anderen bewirkt in mir eine Pflicht“, sagen Sie: „Meine Pflicht gegenüber dem Anderen bewirkt in ihm ein Recht“. DER ANDERE PHILOSOPH Genau! Die Rechte einer Person sind also auf die Pflichten der anderen freien Personen ihr gegenüber gegründet. Unsere Rechte sind auf die Freiheit des Anderen uns gegenüber gegründet, und nicht umgekehrt, denn wenn eine Pflicht, so wie das klassische Denken es zu oft annimmt, in einer Person auf das Recht eines Anderen ihr gegenüber gegründet wäre, dann würde die Grundlage der Pflicht und der moralischen Verpflichtung nicht mehr im Sein an sich der Person liegen, sondern außerhalb ihrer selbst. Wenn sich die juristisch festgelegten Pflichten aus den von Anderen eingeforderten und festgelegten Rechten ergeben würden, dann wäre die moralische Verpflichtung nicht mehr auf die notwendigen Grundeigenschaften der Freiheit begründet, und die Rechtsordnung wäre nicht mehr die Ordnung der Konkretisierung von Freiheit und Moralität, und das Recht wäre dann lediglich eine Beziehung der „legalisierten“ Gewalt. Und es würde nicht genügen, zu behaupten, dass Verpflichtung als solche auf Freiheit gegründet ist; aber in 412 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN gewissen Fällen durch die Rechte des Anderen ihre Inhaltsbestimmung erhält, weil unter dieser Behauptung das Recht des Anderen mir gegenüber keinen verpflichtungsbegründenden Wert hätte, wie man gewöhnlich annimmt. Obendrein löst eine derartige Ausdrucksweise die Ausübung der Pflicht willkürlich von ihrer Inhaltsbestimmung los, indem sie beide in unterschiedliche freie Subjekte hineininterpretiert, was nicht möglich ist, ohne dass man den Freiheitsakt an sich zu Nichts reduziert. „Rechte“, die der Freiheit eines Anderen anhaften, können die moralische Pflicht in meinem Sein genauso wenig inhaltlich bestimmen, wie die dogmatischen Definitionen des Glaubens meinen Akt des Glaubens an Gott bestimmen können. Jede menschliche Gesetzgebung, die auf derartige Voraussetzungen begründet wäre, würde implizit oder unbewusst die Menschenwürde in Frage stellen. Meinen grundlegenden Pflichten dem Anderen gegenüber entsprechen genauso viele grundlegende Rechte des Anderen, die auf diese Pflichten gegründet sind; und umgekehrt entsprechen den grundlegenden Pflichten, durch die sich der Andere frei für mich einsetzt, genauso viele grundlegende Rechte in mir, weil diese Rechte in diesen Pflichten begründet sind. Insofern ich frei bin, also insofern ich ein Subjekt bin, das sich seinen eigenen, notwendigen Grundeigenschaften verpflichtet, verpflichte ich mich den auf die Pflichten des Anderen gegründeten „Rechten“, und dadurch bin auch ich der Pflicht des Anderen mir gegenüber „verpflichtet“. Ebenso muss ich die Art und Weise, in der ich „mein Recht erhalte“, so gestalten, dass ich zum Ausdruck bringe, dass der andere aus Pflicht mir gegenüber frei handelt und daher verantwortlich ist. Man kann daher nur wünschen, dass eine Mentalität des Einforderns durch eine Gesinnung der Anerkennung und der Dankbarkeit dadurch ersetzt wird, dass der Sinn für unsere Pflichten die Oberhand über unsere Selbstsucht gewinnen wird. Dies wird in dem Maß möglich werden, in dem man versteht, dass man in dem Maß wirklich sich selbst ist, in dem man wirklich will, dass die Anderen seien und auf bestmögliche Weise sich selbst seien. Der wahrhaftige Geist des allgemeinen Rechts ist nichts anderes als die „soziale Glaubenschaftlichkeit“. Die eheliche Glaubenschaftlichkeit ist der Geist des Eherechts. Aber das INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS 413 existierende „Recht“, das für die Situationen der Verletzung des moralischen Rechts geschaffen wurde, geht von einem individualistischen Gesichtspunkt aus. Um zu schließen, möchte ich sagen, dass es für die Möglichkeit einer derartigen Weiterentwicklung außerdem nötig ist, dass sich unser Gottesbild weiterentwickeln kann, und dass wir darin das absolute und vollkommene Ideal unserer interpersonalen Beziehungen finden können... DER DOMHERR ergreift plötzlich das Wort: Sie haben gesagt, dass der menschliche Forstschritt hin zu einem gerechteren Recht, zu mehr Brüderlichkeit und Harmonie zwischen den Menschen in Parallele dazu die Zustimmung zum trinitarischen Geheimnis als Urbild der interpersonalen Beziehungen voraussetzt oder zumindest verlangt. Ich habe Ihren Gedankengang gut verfolgt. Er ist ziemlich stimmig, aber Ihre Schlussfolgerungen überraschen mich, und es wird Ihnen nicht leicht fallen, dafür Zustimmung zu erlangen. Sie beißen sich die Zähne aus an einer Wirklichkeit, der Sie nicht gewachsen sind, mein Herr! DER ANDERE PHILOSOPH An einer Wirklichkeit, die eine beobachtbare „Tatsache“ ist? Das ist möglich, und sogar mehr als wahrscheinlich... DER DOMHERR Die rationalistischen Philosophen werden sich Ihnen nicht anschließen. Und was die Kirche anbelangt, so ist sie weiterhin den Philosophen gegenüber, die die Geheimnisse des Glaubens erklären wollen, sehr misstrauisch. Und wie werden Sie außerdem die Juden und die Muslime von Ihrer philosophischen Wahrheit überzeugen, die ja der Ansicht sind, dass das Geheimnis der Dreieinigkeit bereits eine Lästerung des Einen Gottes darstellt? Sind Sie sich der in einem derartigen Unterfangen liegenden Utopie bewusst? Das ist meine Diagnose. DIE ANWÄLTIN Nun kann ich Ihnen endlich für Ihre Antwort danken. Die plötzliche Wortmeldung des Herrn Kanonikus war mir zuvorgekommen... Ihre Antwort erinnert mich an gewisse Thesen des Auguste Comte..., der jedoch ein positivistischer und 414 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN eher materialistischer Denker war..., aber er hatte, sagen wir..., „Gemeinschaftssinn“. DER DOMHERR Ich bitte vielmals um Verzeihung, meine Dame... DIE ANWÄLTIN Kein Problem, Herr Kanonikus. Ich habe Verständnis dafür, dass Sie mehr als ich in diese Debatte vertieft sind, da Sie davon weitaus tiefer betroffen sind... DER ANDERE PHILOSOPH Mit diesem Vergleich zu Auguste Comte haben Sie recht. Aus Idealismus wollte er ausschließlich von „Pflichten“, und nicht von „Rechten“ sprechen. Er hatte Einsichten, für die man ihm recht verschaffen muss. Aber der Vorrang der in die Freiheit des Subjekts eingeschriebenen „Pflicht“ gegenüber einem „Recht“, das ihm von außen her zwingend zukäme, kann nicht gültig auf die materiellen Bedingungen der menschlichen Existenz begründet werden; aber sehr wohl auf die interpersonale geistige Beziehungsbedingtheit dieser Existenz. Eine relationale Ontologie kann tatsächlich eine gesamte Rechtsphilosophie inspirieren. Dort wäre noch viel Arbeit zu leisten. Wir können miteinander darüber sprechen... Ich stehe Ihnen gerne zur Verfügung! DER MODERATOR Da Sie hiermit den Schlussstrich unter Ihre Antwort ziehen, nutze ich die Gelegenheit, um die Sitzung aufzuheben... Bis morgen, bei unserer letzten Zusammenkunft! ACHTE BEGEGNUNG DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT DER MODERATOR Nun sind wir also zum letzten Mal auf diesem Kreuzschiff zusammengekommen. Abends werden wir in Haifa anlegen. Nutzen wir diesen Vormittag aus, um unsere Fragen nach der Glaubenschaftlichkeit wieder aufzunehmen. WIE KANN MAN ZWISCHEN DEN WAHRHEITEN DER PHILOSOPHISCHEN UND JENEN DER GLAUBENDEN VERNUNFT UNTERSCHEIDEN? DER DOMHERR Erlauben Sie mir, Herr Debruquel, auf meine Kritik Ihrer Grundgedanken zurückzukommen... Gestern, gegen Ende der Zusammenkunft, fragte ich Sie, ob Sie nicht auch das Geheimnis der Inkarnation herleiten wollen, nachdem Sie dies bereits mit jenem der Trinität getan haben... Ganz allgemein würde ich gerne wissen, wie Sie Ihre Philosophie noch von der Theologie unterscheiden können. Ich verstehe Sie nämlich immer noch falsch... DER ANDERE PHILOSOPH Ich verstehe Ihre Frage durchaus, Herr Kanonikus... Ich gehe zunächst auf die unausgesprochenen Voraussetzungen Ihrer Frage ein. In Ihren Augen vermische ich Philosophie und Theologie, und zwar, weil Sie nicht sehen, wo ich innerhalb meines Vorhabens die Grenze zwischen beiden ziehe. Zweifellos ziehen wir beide die Grenze nicht an derselben Stelle. Vielleicht bin ich nicht klar 416 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN genug! Denn ich komme zu leicht von einem Thema auf ein anderes. Ich werde mir Mühe geben, mich genauer zu fassen... Sie sind sicherlich der Ansicht, dass der Philosoph ausschließlich über die Einheit Gottes, und nicht über seine Dreiheit, sprechen sollte. Sie ziehen Ihre Grenze zwischen „materiell“ verschiedenen Wahrheiten. Ich ziehe meine zwischen „formal“ verschiedenen Wahrheiten, die aber dieselben Wirklichkeiten betreffen: Für den Philosophen die ontologische und erschaffende Trinität, und für den Glaubenden und den Theologen die sich als rettend und in ihr Heilswerk eingebunden offenbarende Trinität. DER DOMHERR Dann ist es eine Unterscheidung in nur einem Punkt: die Trinität. Sie ist nicht wirklich methodologisch. DER ANDERE PHILOSOPH Das gebe ich zu. Methodologisch gesehen würde ich also die Religionsphilosophie ganz allgemein und besonders jene des Christentums einerseits, und andererseits die konfessionell gebundene Theologie im allgemeinen und besonders jene des Katholizismus, unterscheiden. Sie liegen nahe beieinander, weil man sogar sagen kann, dass ihre „Materialobjekte“ teilweise nicht unterscheidbar sind. Sie überschneiden einander, würden die Logiker sagen. Sie unterscheiden sich, weil ihre „Formalobjekte“ verschieden sind. Ich möchte nicht zu abstrakt bleiben..., auch wenn das Thema es ist, und ich möchte mich auch nicht an eine peinlich genaue Untersuchung der jeweiligen Methoden der mit dem Christentum befassten Religionsphilosophie und der katholischen Theologie einlassen. Sagen wir, um konkret zu werden... Wenn Sie von der heiligen Dreieinigkeit sprechen, und ich von einer Dreieinigkeit von Personen in Gott, oder von einer dreigliedrigen interpersonalen Struktur in der göttlichen Natur, dann sprechen wir zweifellos beide von derselben transzendenten Wirklichkeit: Gott,... Dasselbe „Materialobjekt“, zumindest teilweise. DER DOMHERR Sie beweisen also, dass Gott Dreieinigkeit ist, Sie haben es gerade gesagt... Dann liegt also, wenn man von der katholischen Rechtgläubigkeit ausgeht, eine Häresie vor! DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 417 DER ANDERE PHILOSOPH Nein. Ich sage es nochmals, nein! Wir beide geben nämlich dem Begriff „Dreieinigkeit“ nicht dieselbe „formale“ Bedeutung. Verstehen Sie es doch! Ich selbst als christlicher Glaubender wende mich, wenn ich zu Gott, der heiligen und in Jesus dem Christus offenbarten Dreieinigkeit bete, an den Vater unseres Herrn, an Christus, den Sohn Gottes, und an den Heiligen Geist, der aus dem Einen und aus dem Anderen hervorgeht und uns von ihnen versprochen wurde. Und genauso ist das für Sie, oder? Anders gesagt: Es handelt sich um die durch die Inkarnation des Wortes in Jesus offenbarte Dreieinigkeit: den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Eine mit der Inkarnation untrennbar verbundene Trinität, genauso, wie der Gott der ersten Verse des Buches Genesis untrennbar sowohl Schöpfer ist, und dann der Gott Abrahams, und dann der Gott, der Israel befreit. Nun ist aber die Inkarnation des Wortes in Jesus, wie sie Johannes im Prolog seines Evangeliums beschreibt, ein Ereignis in unserer Geschichte. Eine unserem Glauben vorgelegte unerhörte Tatsache. Wie sollte ein Philosoph bitte eine „Tatsache“ „herleiten“ und beweisen? Sie als Theologe, und ebenso alle anderen, und ich als Glaubender: Wir alle machen diese Tatsache zur Grundlage der Theologie. Sie ist ihre grundlegende Voraussetzung. Auch Sie „beweisen“ sie nicht. Und der „Glaubende“ „beweist“ sie ebenso wenig. Ausgehend vom Zeugnis der Apostel anerkennt er sie als wirklich, als „stattgefunden-habend“, und dieses Zeugnis wird in der Überlieferung der Kirche weitergegeben, in der Kirche, der wir eine sehr tiefe „gesellschaftliche Glaubenschaft“ entgegenbringen, aber keine „theologische Glaubenschaft“. Ich denke, wir sind uns einig! DER DOMHERR Wir sind uns einig. Wenn Sie also mit der Überlieferung der Kirche von der heiligen Dreieinigkeit sprechen, dann können Sie nicht als Philosoph davon sprechen, weder auf die eine noch auf die andere Weise. DER ANDERE PHILOSOPH Ich sehe, dass wir noch nicht einig sind! Als Religionsphilosoph, also als Philosoph der religiösen Dimension des 418 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN menschlichen Seins; und sogar in einem noch weiteren Sinn als Metaphysiker, auf der Ebene des Seins als solchem, kann ich von einer Dreieinigkeit der Personen in Gott sprechen, da ich dabei nicht denselben Begriff verwende wie Sie. Mein Begriff von mit der christlichen Religion befasster Philosophie ist eben nicht der des Glaubenden, der ich bin, und der durch Jesus Christus zu Gott betet. Ich kann auch als Philosoph beten, aber das ist nur eine Seite meines Gebets als Glaubender. Aber kommen wir zu einer strikten und genauen intellektuellen Analyse zurück. Mein philosophischer Begriff von der dreigliedrigen Struktur in Gott unterscheidet sich „formal“ von jenem, der der evangelischen Offenbarung zu eigen ist, denn als Philosoph kann ich die Tatsache der Existenz Jesu im Land Israel, Jesu, in dem Gott sich als Drei Lebende in einer einzigen Lebens-, Seins- und Existenzgemeinschaft für unser universales Heil zu erkennen gibt, nicht „herleiten“. Ich komme auf mein bevorzugtes Beispiel zurück. Als Philosoph kann ich mich nach dem Wesen der menschlichen Liebe frage, und auf diese Frage antworten. Aber niemals könnte ich, von einer philosophischen Vorstellung von der menschlichen Liebe ausgehend, darauf schließen und von der „Tatsache“ und „lebendigen Geschichte“ sprechen, in der meine Frau mir sagt, dass sie mich liebt, und ich ihr sage, dass ich sie liebe. Hier liegt eine rein menschliche, aber authentische „Offenbarung“ einer Person für eine andere vor. Diese sich ereignende Wirklichkeit kann, obwohl sie dauerhaft ist, nicht reflexiv oder philosophisch schlussgefolgert oder bewiesen werden. Aber ohne eine zumindest intuitive und empirische, wenn auch mangelhafte, philosophische Vorstellung von der menschlichen Liebe, hätte diese „Geschichte der Liebe“ weniger Bedeutung und wäre weniger verständlich. Es wäre besser, dass sie, ausgehend von einer richtigen philosophischen Vorstellung von der menschlichen Liebe, eine richtige Verständlichkeit besitzen würde. Diese Vorstellung bildet sich gleichzeitig mit dem Ausleben der Wirklichkeit der menschlichen Liebe heraus, und sie wird dann ausgelebt, wenn sie von der Reflexion ihren Sinn erhält. Und genauso verhält es sich mit den Beziehungen zwischen Religionsphilosophie (Philosophie des religiösen Seins des Menschen) und evangelischer Offenbarung. DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 419 Und genauso ist in der kirchlichen Gemeinschaft die Aussage, dass die göttliche Dreieinigkeit, der Vater, Sohn und Heilige Geist, sich in Jesus offenbart, die Aussage eines „Geheimnisses des Glaubens“, und zwar sowohl, was ihre Existenz, als auch, was ihre Wesenheit anbelangt. Damit bin ich sehr wohl einverstanden. Und diese Aussage ist für den Glaubenden, der ich bin, eine Aussage. Das liegt auf der Hand. Aber es ist nicht eine philosophische Aussage. Das lässt sich leicht verstehen... DER THEOLOGIEPROFESSOR Klar! Wenn die Dreieinigkeit Jesu eine philosophische Behauptung wäre, wie jene der Existenz Gottes, dann wäre sie nicht mehr „ein Geheimnis des Glaubens“, und würde nicht mehr zur katholischen Rechtgläubigkeit gehören. Aber sie ist eben, ganz richtig, nicht philosophischer Art, sondern ein Geheimnis des Glaubens. DER ANDERE PHILOSOPH Ich bin auch Ihrer Meinung. Das ist der Grund, warum mein philosophischer Begriff von einer Dreieinigkeit der Personen in Gott „formal“ nichts über die Offenbarung in Jesus aussagt. Dieser Begriff ist in sich selbst verständlich und ist rational ausgearbeitet, ohne Benutzung der evangelischen Zeugnisse. Aber die „Tatsache“, dass ich ihn ausgearbeitet habe, indem ich über die evangelischen Zeugnisse und deren dogmatische Erklärung „informiert“ war, hängt ganz und gar von der „Tatsache“ der evangelischen Offenbarung ab, und von der „Tatsache“ ihrer Weitergabe in der Kirche, und von der „Tatsache“, dass ich ein christlicher Glaubender bin. Auch das ist wahr. Die tatsächlichen Umstände der Ausarbeitung eines Begriffs sind nicht zu verwechseln mit seiner Ausarbeitung anhand einer Erkenntnismethode, deren Regeln nicht von „Tatsachen“ abhängen, sondern universal sind und sich als solche auf die „Tatsachen“ anwenden lassen und dabei die Tatsachen verständlich machen. Wenn dieser Begriff der dreigliedrigen interpersonalen Struktur in Gott, oder der Dreieinigkeit von Personen erst einmal rational ausgearbeitet, und daher aufgrund dieses rationalen Gedankengebäudes verständlich ist, dann ermöglicht er es, dass man die Verständlichkeit jenes Ereignisses besser wahrnimmt, in dem sich die durch diesen Begriff bezeichnete göttliche Wirklichkeit in ihrem Plan und ihrem Einsatz für alle 420 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Menschen offenbart. Christliche Dreieinigkeit, ja, Geheimnis des Glaubens! Also nicht durch Reflexion herleitbar, aber durch sie aufgrund ihrer Immanenz im Vollzug des Glaubens an sich verstehbar, mit der gesamten Verständlichkeit, die die Reflexion aus ihrem geschaffenen Sein entnehmen kann. Auf der Grundlage der Anerkennung der Existenz eines Gottes, der die Welt und den Menschen erschaffen hat, stellt die Vernunft reflexiv nicht nur fest, dass Gott nicht in sich selbst „allein“ sein kann, dass er also in unbestimmter Weise ein „Seiendes in der Mehrzahl“ ist, also zumindest „Zwei“ ist, sondern dass er „Drei“ ist, ausschließlich „Drei“, und notwendigerweise „Drei“. Diese verständliche Struktur Gottes, die der Mensch im Akt seiner transzendenten Offenbarung erkennen kann, wird nicht durch diese Offenbarung gebildet, da sie sie ja voraussetzt. Wer sie einmal in ihrem Offenbarungsakt gesehen hat, kann sie danach wie in einem Spiegel im Schöpfungsakt Gottes wiedererkennen, und in seinem „analogen Ebenbild“, nämlich der familiären Struktur der menschlichen Existenz. DER DOMHERR Sie lösen also die christliche Dreieinigkeit von der philosophischen Dreieinigkeit los? DER ANDERE PHILOSOPH Ja, durch eine formale Unterscheidung, der im Vollzug des Glaubens der feine Unterschied entspricht zwischen dem Glauben, der dem ontologisch dreieinigen Gott gegenüber in ehelicher Analogie steht, wie der jüdische Glaube (auch wenn die Interpersonalität Gottes im Judentum formal nicht anerkannt ist... aber doch logisch nicht ausgeschlossen ist), und dem Glauben, der dem in Jesus als Retter offenbarten dreieinigen Gott in kindlicher Analogie gegenübersteht, im Christentum, da wir durch den Vater und das im Menschensohn inkarnierte Wort im kindlichen Geist des Vaters und des Wortes, die alle drei Ewige sind, „vergöttlicht“ sind. DER DOMHERR Mein Einwand hatte also eine gewisse Berechtigung, da er Ihnen Anlass zu dieser wesentlichen Unterscheidung gibt. DER ANDERE PHILOSOPH DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 421 Zweifellos! Eine offenherzige und begründete Konfrontation ist immer ertragreich. Tatsächlich hat diese Behauptung, dass die christliche Dreieinigkeit ihrem Wesen und ihrer Existenz nach ein „Geheimnis des Glaubens“ ist, im geschichtlichen Zusammenhang ihrer Formulierung eine philosophische Auswirkung. Ihre Bedeutung ist also zweifach. „Substantiell“ oder „an sich“ ist sie eine Glaubensaussage. Aber „per accidens“, um thomistisch zu sprechen, ist sie eine philosophische Aussage, nämlich der griechischen Philosophie gegenüber, und allen philosophischen Strömungen, die sich heute noch an ihr inspirieren, und die dem Primat eines besonderen Einheitsbegriffs, nämlich jenes der „ungeteilten Einheit“, hörig sind. Nun ist dieser Begriff aber aufgrund der Tatsache, dass er die Idee einer relationalen Einheit ausschließt, mit der relationalen Glaubensaussage unvereinbar. Diese dogmatische Behauptung sagt aus, dass die Philosophien der ungeteilten Einheit „radikal“ unfähig sind, der trinitarischen Offenbarung auch nur ein Mindestmaß an Verständlichkeit zu verleihen, und ich füge hinzu, folglich auch nicht der Schöpfung. In diesem Sinn ist das „Geheimnis der Dreieinigkeit“ selbst in seiner Verständlichkeit für die Vernunft in ihrer griechischen Prägung unzugänglich. Vergessen Sie nicht, diese unerlässliche Präzisierung anzufügen: „in ihrer griechischen Prägung“. Nicht, dass dieser Begriff von der Vernunft und den transzendentalen Eigenschaften des Seins eine „griechische Besonderheit“ wäre: Ganz im Gegenteil ist sie in allen Kulturen sehr weit verbreitet, insofern sie die wesentlich „objektivistische“ Form der Vernunft ist. Aber durch Platon und Aristoteles haben ihr die Griechen die am weitesten ausgearbeitete spekulative Form gegeben. Mit der griechischen Form der Vernunft also kann man diskutieren, argumentieren, widersprechen, sich abgrenzen. In Bezug auf sie kann man auch einen Standpunkt einnehmen, der ihr kontradiktorischer Gegensatz wäre, und dann folglich zu einer besseren Wahrheit vordringen... Ich verstehe Ihre Bedenken und Ihr Kopfschütteln... Was die grundlegendsten Prinzipien des Seins und des Bewusstseins anbelangt, soll man also nicht das menschliche philosophische Denken mit der griechischen Philosophie identifizieren, genauso wenig, wie man die unter Einbezug all ihrer Möglichkeiten betrachtete Religionsphilosophie mit der christlichen, konfessionellen Theologie identifizieren soll, die 422 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN zur Organisation ihrer Bemühung um das „Verständnis“ der evangelischen Offenbarung „tatsächlich“ und aufgrund der geschichtlichen Umstände grundsätzlich die griechisch inspirierten Philosophien benutzt. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Aber ich gehe davon aus, dass Sie ihrerseits nicht die unter Einbezug all ihrer Fähigkeiten, die Verständlichkeit der evangelischen Offenbarung aufzuzeigen, betrachtete gegenwärtige und zukünftige katholische Theologie einerseits, mit den in einer rein statischen Sichtweise des religiösen Denkens der Kirche betrachteten theologischen Werken der Vergangenheit andererseits vermischen, darin eingeschlossen die Konzilsbeschlüsse. Weder die Hände noch die Gedanken des Heiligen Geistes sind durch das griechische Denken gefesselt. Die katholische Theologie enthält wunderbare Perspektiven des Fortschritts. Ich gehe davon aus, dass Sie ihr diese Weiterentwicklung zugestehen… DER ANDERE PHILOSOPH Grundsätzlich nicht. Aber tatsächlich kommt sie oft schwierig voran… DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Nicht immer, und je länger, je weniger! Ich könnte Ihnen eine große Anzahl von Arbeiten meiner Kollegen aufzählen, die eine große Forschungsfreiheit und methodologische Genauigkeit bezeugen, wie Sie sich das wünschen. DER ANDERE PHILOSOPH Das gebe ich zu. Jede Bemühung muss für sich bewertet werden. Infolge Ihrer Bemerkung werde ich meine Analyse also nuancieren. Die konfessionelle, katholische Theologie ist nicht durch ihr Wesen, oder „per se“, an das griechische Denken gebunden, also an die Philosophie, deren Voraussetzung die „ungeteilte Einheit“ als einzige und ausschließliche Form der Seinsvollkommenheit ist. Meine Behauptung, dass sie „in der Praxis“ an das griechische Denken gebunden sei, nehme ich also zurück. Sie ist es nur „per accidens“, also gewissermaßen aufgrund einer Extrapolation der besonderen psychologischen Veranlagung des christlichen Glaubenden, insofern er seinen Glauben an Gott durch Jesus Christus mit dem Glauben an die DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 423 Überlieferung der Zeugnisse der Kirche gleichsetzt, und umgekehrt. DER DOMHERR Aber der christliche Glaubende kann nirgends anders hingehören als in die Tradition der Zeugnisse der Kirche. Das liegt auf der Hand. Warum also diese offensichtliche Wahrheit in ein kritisches Argument gegen die traditionelle Theologie umformen? DER ANDERE PHILOSOPH Ganz offensichtlich ist es nicht möglich, Christus außerhalb dieser übrigens weitverzweigten Tradition zu bezeugen. Ich mache aus dieser Wahrheit keine Kritik. Ich habe lediglich von einer durch den Glaubenden vollzogenen psychologischen Verwechslung gesprochen, die einen Irrtum darstellen kann. Die Tatsache, dass man berechtigterweise, für das Evangelium, an der Tradition hängt, kann auch „per accidens“ als eine Art Nebenwirkung oder Zweitwirkung, eine diesmal unberechtigte Anhänglichkeit an die Philosophien herbeiführen, die benutzt worden sind, um die evangelische Botschaft zu verstehen und ihre Verständlichkeit in den geschichtlichen Umständen darzulegen, wo bewusst für diese Botschaft Zeugnis abgelegt werden und mit diesen Philosophien diskutiert werden musste. Kurz, das kritische Vertrauen in die kirchliche Tradition lässt sich nicht mit dem Glauben an den in Jesus offenbarten dreieinigen Gott gleichsetzen. Der Glaube an Gott lässt sich nicht auf den „gesellschaftlichen“ Glauben an die Kirche reduzieren. Eine Gemeinschaft im trinitarischen, theologischen Glauben ist nicht ein theologischer Glaube an diese Gemeinschaft. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Im Grunde genommen ist also der konfessionell gebundene Theologe, wie Sie sagen, und dies entspricht auch meiner Meinung, aufgrund seines apostolischen Eifers entschuldbar, aber angesichts der „glaubenden Vernunft“ ist er methodologisch (gesehen) nicht im Recht. DER ANDERE PHILOSOPH Wie Sie meinen. Aber wenn er in den Augen des in seinen notwendigen Grundeigenschaften betrachteten glaubenschaft- 424 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN lichen Bewusstseins nicht im Recht ist, dessen Grundeigenschaften unserem Glaubensleben als ethische Normen auferlegt sind, dann ist er auch vor dem Schöpfer dieses glaubenschaftlichen Bewusstseins nicht gänzlich im Recht, und dann ist er es folglich auch vor dem Geist Gottes nicht ganz und gar. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Im Grunde genommen schlagen Sie genau wie ich vor, dass die Theologen sich in Zukunft von den Eingebungen des Geistes in dynamischer Weise mehr belehren lassen. Hüten Sie sich auf jeden Fall davor, das Wesen der katholischen Theologie mit ihren der Vergangenheit angehörenden Werken zu verwechseln, obwohl diese Werke auch nicht abzulehnen sind, weil sie ja ein, wenn auch unzulängliches Verständnis des Glaubens übermitteln, und die Wirklichkeit der Offenbarung bezeugen, die verständlich zu machen sie sich bemüht haben. DER ANDERE PHILOSOPH Gewiss! Haben wir ein Auge aufeinander, so dass wir unzulässige Vermischungen vermeiden können! Eine letzte Bemerkung zu diesen „Vermischungen“! Die Rechtgläubigkeit im Glauben an die Offenbarung soll also nicht zu einer bemitleidenswerten „Rechtgläubigkeit“ im philosophischen Denken ausgeweitet werden. Die griechische Philosophie hat, nicht insofern sie ein rationales Denken ist, sondern insofern sie ein ausschließendes Denken der „ungeteilten Einheit“ auf der Ebene der Transzendentalien ist, dadurch, dass sie von der katholischen Theologie seit Jahrhunderten als Mittel genutzt wurde, keineswegs einen zusätzlichen Wahrheitswert gewonnen, durch den sie an der Gewissheit des Glaubens teilhaben könnte. Keineswegs. Auch hier soll es keine Vermischung geben! Aber ganz im Gegenteil sollte man die vom Anfang der christlichen Theologie an unternommenen Bemühungen um Verständnis nicht aufgeben, diese Bemühungen, die seit und sogar in der Abfassung der Evangelien und der anderen christlichen Texte stattgefunden haben. Ohne ein klares Verständnis Dessen, oder Derer, an die man glaubt, und ohne das Verstehen des Plans der Liebe, in dem Er (Sie) sich zu unseren Gunsten einsetzt (einsetzen), und den Er (Sie) uns offenbart (offenbaren), gibt es keine authentische Glaubenszustimmung, nicht einmal auf der Ebene des DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 425 gesellschaftlichen Glaubens an die Kirche. Die Suche nach der Verständlichkeit der evangelischen Offenbarung ist Aufgabe der Theologie und Religionsphilosophie. Während die konfessionelle Theologie „psychologisch und institutionell“ eher an die in der Tradition des Glaubens gebrauchten Philosophien gebunden ist, verfügt die Religionsphilosophie über eine große psychologische Freiheit, um einzig den rationalen Ansprüchen dieser Suche nach Verständlichkeit zu genügen; den Ansprüchen, die im Sein des glaubenschaftlichen Bewusstseins gründen. Und schließlich, um die Behandlung der Voraussetzungen Ihrer Frage abzuschließen, Herr Kanonikus, denke ich, dass man sehr wohl unterscheiden muss zwischen dem ontologischen Vorrang einer apriorischen Bedingung der Möglichkeit und der Verständlichkeit einer Wirklichkeit unserer menschlichen Erfahrung einerseits, und dem zeitlichen Vorrang der Wirklichkeit dieser Erfahrung in Bezug auf die Suche nach ihrer Verständlichkeit andererseits. Die Suche nach den apriorischen Bedingungen, sei sie nun ein Unterfangen des Theologen oder des Philosophen der christlichen Religion in seiner Rolle als Hermeneutiker — die von seiner Rolle als Methodologe unterschieden ist — ist im Bezug auf die Wirklichkeit, die er zu verstehen sucht, immer aposteriorisch. Weil ich lebe, stelle ich mir die Frage nach meinem Leben und den Möglichkeiten der Tatsache, dass ich ins Leben eingetreten bin. Und weil ich geschaffen bin, stelle ich mir die Frage nach den apriorischen Bedingungen eines Schöpfungsaktes in Gott. Und weil der Schöpfergott sich als ein Rettergott offenbart, indem er sich in seinen drei Personen, Vater, Sohn und Geist in einem Einsatz für die Menschheit einbringt, stelle ich mir die Frage nach den apriorischen Bedingungen einer derartigen Offenbarung und nach ihrer trinitarischen „Ausformung“. Ein mit mir befreundeter Priester, Pfarrer in einer großen französischen Stadt, der treffende Formulierungen liebt, sagte mir: „Jedes Forschen nach“ irgendeiner apriorischen, an keine Bedingungen gebundenen Gegebenheit, ist immer aposteriorisch“ bedingt. Das hat er sehr klar gesehen. Wenn der Religionsphilosoph daher in den bereits existierenden Philosophien nicht das benötigte Werkzeug zur Auffindung der Bedingungen der Verständlichkeit der trinitarischen Offenbarung findet, dann wird er ohne Zögern 426 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN nach einer besseren Philosophie suchen, die als Philosophie genauer ist, und leistungsfähiger in ihrem hermeneutischen Vermögen, die biblische und evangelische Überlieferung zu deuten. Außerdem wird er versuchen, die Möglichkeit an sich, zu „glauben“, also an die freie Initiative anderer bewusstseinsbegabter und freier Seiender zu glauben, in der Natur seines mit Bewusstsein und Freiheit begabten menschlichen Seins besser zu begründen. DER DOMHERR Und Sie meinen immer noch, dass Sie die Welt erneuern werden! Ich sage Ihnen noch einmal: Das ist ein Jugendtraum! Sie wollen uns davon überzeugen, dass man dadurch, dass man die Existenz Gottes folgerichtig beweist, gleich auch begründet, dass er eine Dreieinigkeit von Personen ist, und dass diese ontologische Dreieinigkeit die Bedingung der Verständlichkeit der evangelischen Offenbarung der Trinität ist, und auch der Offenbarung unseres Heils, das sich sozusagen durch die Adoption in das trinitarische Leben vollzieht. Und um zu diesem Ziel zu gelangen — ein hehres Ziel, das gestehe ich Ihnen zu, aber wie fern steht es dem philosophischen Denken und den traditionellen religiösen Glaubensüberzeugungen —, berufen Sie sich auf eine menschliche Erfahrung des Glaubens im Familienleben, das leider selbst bereits schlecht verstanden und gelebt wird. Wie wollen Sie unter diesen Bedingungen — bei all der menschlichen Mittelmäßigkeit, den festgefahrenen religiösen Glaubensüberzeugungen und all den gegen Sie stehenden philosophischen Grenzen — einen Erfolg erzielen? Sie befinden sich in einer noch misslicheren Lage als Sisyphus. DER ANDERE PHILOSOPH Die Hindernisse, die sich einer Vertiefung unseres menschlichen Glaubensverständnisses in den Weg stellen, überblicke ich genauso wie Sie, Herr Kanonikus. Dabei spreche ich nicht vom Verständnis der Glaubenslehren oder der Lehre eines bestimmten Glaubens, wie etwa jenem der katholischen Lehre, sondern von der inneren Zusage des „Glaubens“, die im Rahmen dieser Lehren, also der jüdischen, christlichen oder muslimischen, die wesentliche Glaubenschaftlichkeit unseres Bewusstseins aktualisiert. Wenn diese wesentliche Glaubenschaft rational „reflektiert“ wäre, würde sie es uns erlauben, besser begründete Beurteilungen derjenigen DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 427 Offenbarungslehren abzugeben, die, mit manchmal sogar mörderischer Gewalt, die Glaubensüberzeugung ihrer Gläubigen fordern. Denn in der Tat kann Gott sich nicht so „offenbaren“, dass er dabei die Erfordernisse eines glaubenschaftlichen Bewusstseins, dessen Schöpfer er ist, verkennt, oder ihnen sogar zuwiderhandelt. Eine „Offenbarung“, die sich als solche ausgibt, erweist ihre Wahrheit und Echtheit durch das genaue Ausmaß ihres Einklangs mit den glaubenschaftlichen Grundeigenschaften. Umgekehrt wird sich, falls sie dazu in Widerspruch steht, eines Tages ihr Irrtum zeigen, und zwar im selben Ausmaß dieses Widerspruchs. Außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass ich Dinge in Angriff nehme, die mir zu hoch sind, und ich träume nicht davon, die Welt der Philosophie und Theologie zu revolutionieren. Nicht ich als einzelnes Individuum kann beabsichtigen, das religiöse Gesicht der Welt zu verändern. Ich fühle mich übrigens überhaupt nicht als religiöser Reformator. Ich spreche lediglich Ideen aus, die die natürliche Verständlichkeit des „glaubenschaftlichen Glaubens“ zum Ausdruck bringen. Bitte verzeihen Sie diesen Pleonasmus... Meine philosophische Aufgabe besteht darin, diese Ideen bekanntzumachen, und jenen, die sie verstehen werden, zu ermöglichen, authentischer zu glauben. Ich lege keinerlei neue Glaubenslehre vor, da ich die Unmöglichkeit, sie auf eine angeblich neue Offenbarung Gottes zu begründen, nur allzu klar sehe. Zudem fallen meine Gedanken nicht mit meiner individuellen Person in eins. Um mich zu verteidigen, brauche ich sie nicht zu verteidigen, vielmehr werden sie mich verteidigen, indem sie sich selbst verteidigen. Ich bahne also nicht einen Weg für neue Glaubensüberzeugungen, sondern ich begnüge mich damit, „eine“ Kurve des Wegs zu überblicken, auf dem das glaubende Bewusstsein der Menschen voranschreiten wird. Derjenige, der vom Schiff aus das Gleiten eines großen Flusses betrachtet, weiß, dass nicht sein Blick die Fluten vorantreibt, sondern dass er ihnen folgt. Wohin gehen sie? Zu einem Ozean, der sie aufnehmen wird, das steht fest. Auf welchem Weg? Seine Augen sehen es nicht. Mit dieser Anspielung auf den Vergleich, mit dem Platon den dialektischen Aufstieg der Seele zum absoluten Guten beschreibt, kann ich mich auch vergewissern, dass die glaubende Menschheit in jedem ihrer Glieder das Versprechen 428 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN erhalten hat, eines Tages, jenseits des Laufes dieser Geschichte und ihrer Wenden, in den Ozean der Glaubenschaft einzugehen. In dieser Perspektive will ich nun nochmals, und zwar diesmal in der Fachsprache, auf Ihre Frage antworten: „Beweisen, dass Gott existiert, und beweisen, dass er eine Dreieinigkeit von Personen ist“? Von welchem Gott spricht man, wenn man sagt, dass Gott existiert? Die Antworten auf diese Frage sind äußerst vielfältig. Zuerst kommt die „negative“ Theologie, die behauptet, dass man von Gott nur „verneinend“ sprechen kann: Gott ist nicht sinnlich, nicht sichtbar, nicht körperlich, nicht benennbar, nicht vorstellbar, nicht denkbar, und er existiert nicht einmal, er ist weder „Sein“ noch „Nicht-Sein“. Gott wäre demnach das absolut Unerkennbare. Die psychologische Absicht dieser mystischen Theologen versteht man ohne weiteres, aber der Mangel an logischer Genauigkeit und die Stimmigkeit, mit dem sie so von Gott sprechen, also ob sie ihn kennen würden, obwohl sie doch sagen, dass er der Unerkennbare ist, ist zu bedauern. Wenn sie auch sehr spirituell sind, so gehen sie doch von der empirischen Voraussetzung aus, dass das menschliche Erkennen ausschließlich auf die sinnliche Wahrnehmung der Dinge zugeschnitten ist. Gott ist also absolut jenseits. Das liegt dann auf der Hand. Aber das Behaupten der Wirklichkeit des Geistes durch eine einfache Verneinung der Sinnlichkeit ist keine wohlbegründete intellektuelle Vorgehensweise, auch wenn sie vielen Menschen bereits schwerfällt. Davon verschieden und nuancierter ist die These der thomistischen Schule, die beinhaltet, dass man von Gott sagen kann, dass er „existiert“, aber nicht, „was er ist“. Allerdings kann man von ihm mit „analogen“ positiven Begriffen sprechen, indem man ihm die am Menschen und in der Welt vorgefundenen Seinsvollkommenheiten in herausragendem und unüberbietbarem Maße zuschreibt, nachdem man sie gedanklich von ihren Begrenztheiten losgelöst hat. Dieser These schließe ich mich voll und ganz an. Das ganze Problem besteht darin, sie „richtig anzuwenden“, wie Descartes sagte, als er davon sprach, welchen Gebrauch wir von unserem gesunden Menschenverstand machen sollen. Es geht nämlich darum, richtig zu erkennen, wo bei den Eigenschaften der menschlichen Existenz die Begrenztheit und Unvollkommenheit einerseits, und andererseits die Vollkommenheit liegt. Dies ist nicht einfach, und ohne echte philosophische Kompetenz unmöglich. DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 429 Tatsächlich werden die Begrenzungen der Vollkommenheiten und die begrenzten Vollkommenheiten des Seins gelegentlich fälschlicherweise miteinander verwechselt. Daher besteht diese Möglichkeit dieser fatalen Unklarheit in der Abgrenzung der Bedeutung der Begriffe „endlich/vollendet“ und „unendlich/unvollendet“; „vollkommen“ und „unvollkommen“. Der Begriff „vollendet“ bezeichnet das, was das ihm gesetzte, unüberbietbare Ziel erreicht hat, und bedeutet dann „verwirklicht und vollkommen“. Wenn das unüberbietbare Ziel nicht erreicht wurde, gebraucht man den Begriff „unvollkommen“; wenn das erreichte Ziel einen weiteren Fortschritt unmöglich macht, „endlich“, was soviel bedeutet wie „begrenzt und nicht allumfassend“. Der Begriff „unvollendet“ bezeichnet das, was nicht verwirklicht ist und daher unvollkommen ist, also das, was das ihm gesetzte Ziel nicht erreicht hat, oder was dieses Ziel nicht erreichen kann, weil es unbestimmt ist. Der Begriff „unendlich“ bezeichnet das, was vollkommen ist, aufgrund der Tatsache, dass es keinen weiteren möglichen Fortschritt gibt, der das überbieten würde, was bereits grenzenlos ist. Diesen richtigen Unendlichkeitsbegriff finden wir im 11. Jahrhundert bei Anselm von Canterbury. Nicht nur hinter den Begriffen „vollendet“ und „unvollendet“; „vollkommen“ und „unvollkommen“ kann sich die Bedeutung des anderen Begriffs verbergen, sondern der Begriff „unendlich“ kann scheinbar sein eigenes Gegenteil bedeuten, und zwar dann, wenn wir die Unendlichkeit einer Eigenschaft, wie zum Beispiel die Vorstellung von der Wahl zwischen unendlich vielen Möglichkeiten, für die wirkliche und wahrhaftige Unendlichkeit dieser als Vollkommenheit ausgesagten Eigenschaft halten. Die Wahl unter „unendlich vielen“ Möglichkeiten ist das Gegenteil einer unendlich vollkommenen Freiheit, die jede solche Entscheidung transzendiert. KANN MAN SAGEN, DASS GOTT EXISTIERT, OHNE IRGENDETWAS ÜBER SEINE NATUR ZU DENKEN? DER DOMHERR Verzeihen Sie! Aber ich sehe nicht, worauf Sie hinauswollen, und warum das eine Antwort auf meine Frage sein soll, die lautete: „Ist Ihr Beweis der Existenz Gottes gleichzeitig auch ein Beweis der Existenz der Dreieinigkeit?“ Ja oder nein? 430 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER ANDERE PHILOSOPH Ich bitte Sie, mir ebenfalls zu verzeihen. Weder ja noch nein. Man muss eine subtile Unterscheidung beachten... Ich denke, man kann von einem Seienden nicht aussagen, dass es existiert, wenn man überhaupt nicht weiß, was es ist, oder sich wenigstens, wenn man danach fragt, ob es existiert, hypothetisch eine gewisse Vorstellung von seiner Natur machen kann. Aber dass man das, dessen Existenz feststeht, nicht ganz und gar kennt, ist nicht weiter erstaunlich. Das ist vielmehr die normale Situation der menschlichen Intelligenz, die ununterbrochen bemüht ist, ihr Verständnis der Wirklichkeit, um deren Existenz sie weiß, zu verbessern. Ohne irgendeine positive Vorstellung von Gott können wir die Existenz Gottes nicht behaupten. Hierbei handelt es sich nicht um die gelegentlich mit der Arroganz des falschen Weisen gestellte Herausforderung, die, um Sokrates nachzuahmen, ihr Unwissen zur Schau stellt, wobei sie doch gar nicht weiß, wo die wahren Wissenslücken sind. Wendet er nicht des Öfteren ein: „Wenn Sie behaupten, zu wissen, was Gott ist, dann erklären Sie es mir doch bitte, mir, der ich es nicht weiß!“ Diese als Demut getarnte Arroganz kann nicht als Ehrfurcht vor Gott dienen, und genauso wenig kann sie die menschliche Intelligenz dazu zwingen, darauf zu verzichten, immer besser zu verstehen, „was Gott ist“. Möge doch der falsche Weise darauf verzichten! Vielleicht wäre das besser so! Aber er soll seine Unkenntnis nicht vor den anderen zur Weisheit erheben. Wir behaupten also die Existenz Gottes, während wir immer schon eine gewisse, natürlich mehr oder weniger richtige, Vorstellung von Gott haben. Sogar der falsche Weise hat eine solche. Und diese Vorstellungen sind in der Anerkennung an sich seiner Existenz enthalten. Was sind diese verschiedenen Vorstellungen wert? Hier liegt die Schwierigkeit. Was können wir wirklich über das göttliche „Wesen“ sagen, wenn wir seine Existenz behaupten? Tatsächlich gibt es verschiedene Beweise der Existenz Gottes, wie es auch verschiedene intellektuelle oder moralische Vorgehensweisen gibt, die darauf hinauslaufen, dass man die Existenz einer Wirklichkeit annimmt, die man dann jeweils „Gott“ nennt. Das heißt aber noch nicht, dass diese jeweils als „Gott“ bezeichnete transzendente Wirklichkeit jedes Mal auf dieselbe Weise gedacht wird. Die verschiedenen Gottesbehauptungen DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 431 streben nicht alle wie die Radien eines Kreises auf ein und denselben Punkt zu. Dieser Gedanke ist Teil eines zu einfachen Synkretismus oder einer auf billige Toleranz gegründeten Vereinheitlichung. Diese Vorgehensweisen sind insofern lobens- und anerkennenswert, weil sie eine bei allen Menschen vorhandene einzige Absicht, also eine einzige Bemühung, das „transzendente Wirkliche“ zu denken, darstellen, und nicht insofern sie alle zu demselben Endpunkt gelangen, also zu einem auf dieselbe Weise und mit denselben Eigenschaften und Merkmalen gedachten Gott. Die Vorstellung, oder vielmehr die Vorstellungen, die durch das eine Wort „Gott“ ausgedrückt werden, können in gewissen Punkten übereinstimmen, aber in anderen Punkten bis zum Widerspruch auseinanderstreben. Aber was auch immer das Endergebnis dieser unsere Gottesvorstellungen betreffenden Vorgehensweisen sei: Sie alle verdienen aufgrund der in ihnen liegenden Bemühung und Absicht Respekt. Aber in ihren Endergebnissen sind sie nicht alle von gleichem Wert. Nicht alle Gipfel des Himalaya sind der Mount Everest, aber all jene, die sie bestiegen haben, sind gute „Himalaya-Bergsteiger“. Der Ausruf Pascals, „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht der Gott der Philosophen“, hilft uns bei der Erkenntnis der verschiedenen Gottesvorstellungen nicht viel weiter, aber er bringt die philosophischen Vorstellungen in Misskredit. Nun sind aber die religiösen Gottesvorstellungen „methodologisch“ gesehen auch philosophische Gottesvorstellungen. Um sie zu korrigieren und zu verbessern, kann man sie also der philosophischen Kritik unterziehen. Der Gott Platons, das „Gute an sich“, der „unbewegliche Beweger und reine Akt“ des Aristoteles, der „Eine unaussprechliche“ des Plotin, die „erste Wirkursache“ und das „letzte Ziel“ der klassischen Autoren, und das „unendliche Seiende“ des Descartes sagen nicht dasselbe aus, auch wenn ihre Bedeutungen auf die einzige, absolute und transzendente Wirklichkeit hinweisen. Die biblischen, evangelischen und koranischen „Vorstellungen“ von Gott lassen sich nicht zu einer einzigen Bedeutung zusammendenken. Die jüdische und die christliche Gottesvorstellung unterscheiden sich sogar radikal von der muslimischen. In den philosophischen Systemen und in den religiösen Lehrgebäuden hängt die Gottesvorstellung, oder vielmehr: 432 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN hängen die Gottesvorstellungen vom gesamten religiösen Hintergrund und philosophischen Umfeld ab. Dadurch, dass man behauptet, dass eine Wirklichkeit existiert, die den Menschen transzendiert, denkt man noch nicht notwendigerweise auf gleichzeitig eindeutige und richtige Weise, was Gott ist. Deshalb kann man die Frage, ob es einen philosophischen Beweis für eine bestimmte Gottesvorstellung gibt, wie etwa für jene von einem Gott, der in sich selbst Dreieinigkeit von Personen ist, nicht mit Ja oder Nein beantworten. Außerdem werden die Gottesvorstellungen je nach philosophischem Hintergrund grundlegend voneinander verschieden sein, je nach dem, ob man sich einen philosophischen Hintergrund aneignet, der vom Primat der Idee Einheit-Unizität bestimmt ist, wie Parmenides sie formuliert hat, oder ob man, im Gegenteil dazu, die Verständlichkeit des Seins als grundlegendes Prinzip annimmt, also den Gedanken, dass das Sein seine Vollkommenheit nicht in der ontologischen Einsamkeit finden kann, sondern in der Einheit einer Seinsmitteilung. Was nicht heißt, dass diese verschiedenen Gottesvorstellungen keinen einzigen Punkt gemeinsam haben, sondern, dass sie mindestens in einem Punkt unvereinbar sind, ohne dass die Wahrheit in diesem Punkt in einer „dritten Vorstellung“ enthalten wäre. Anderenfalls könnte die Unvereinbarkeit nicht als kontradiktorischer Gegensatz bezeichnet werden. Die klassische Behauptung eines einsamen Gottes — auf die Weise des Aristoteles oder der aristotelischen Scholastiker, die versucht haben, den Gedanken vom „reinen Akt“ aufzuarbeiten, um ihn mit dem Gott der Bibel in Einklang zu bringen — kann in keiner Weise irgendetwas über das dreieinige Wesen Gottes aussagen. Eine derartige Gottesvorstellung ist sogar — rein logisch gedacht — grundlegend unvereinbar mit der Vorstellung von einem Gott, der Dreieinigkeit von Personen ist, und den uns die Evangelien zeigen als den, der in der Person Jesu für unser Heil wirkt. Zudem haben die Theologen behauptet, und das Lehramt der katholischen Kirche hat ihren Standpunkt für gültig erklärt, dass die Dreieinigkeit der Personen in Gott „ein Geheimnis des Glaubens“ sei, „sowohl, was ihr Wesen, als auch, was ihre Existenz anbelangt“. In Bezug auf die „unitäre“ griechische Philosophie drückt dieser Standpunkt eine im Sein und daher auch im Erkennen DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 433 vorhandene Unvereinbarkeit aus, wobei die Erkenntnis zu Unrecht als in die unitäre Ontologie eingeschlossen gedacht wird. Im Bezug auf eine relationale Ontologie bedeutet diese Genauerfassung der christlichen Glaubenslehre im Sinne einer rettenden Dreieinigkeit, dass unser Heil, das sich durch die Erhebung in das Leben der Dreieinigkeit vollzieht, und zwar durch den Vater und das auferstandene Wort und die Annahme im Geist, zwar nicht durch die reflexive menschliche Vernunft entdeckt, aber von der glaubenden Vernunft vernünftig aufgenommen werden kann, und zwar auf der Grundlage unseres reflexiven „Verständnisses“ der ontologischen göttlichen Personen. Diese dogmatische Definition stellt also klar, dass in der Erkenntnisordnung ein methodologischer Unterschied, aber keineswegs Unvereinbarkeit besteht zwischen Reflexivität und Glaubenschaftlichkeit. Zum Glück! ... Wir haben es bereits gezeigt... Dieser ontologisch gesehen dogmatische Standpunkt der Kirche ist in seinem klassischen geschichtlichen Umfeld logisch zusammenhängend und bleibt in Abhängigkeit von diesem, dort wo es bleibt, gültig, und zwar genauso lange, wie es bleiben wird. Aber wenn unsere philosophische Gottesvorstellung genauer wird und aufgrund des Fortschrittes des Denkens an Verständlichkeit gewinnt, dann muss dieser dogmatische Standpunkt angepasst, und seine doppelte Bedeutung genauer gefasst werden, wie wir es getan haben. Nun muss unser Denken über Gott ja gerade nuanciert werden. Es kann tatsächlich durch die Anwendung der Anforderungen der transzendentalen Methode auch auf unsere Gottesvorstellung verbessert werden. Besonders, indem wir die Frage nach der apriorischen Bedingung der Möglichkeit des Schöpfungsaktes in Gott stellen. Warum? ... Damit frage ich hier nicht nach einem besonderen Beweggrund, sondern danach „Was in Gott, in seinem göttlichen Sein, bewirkt, dass Gott erschaffen konnte und dass er die Welt und den Menschen erschaffen hat?“ Diese Frage richtet die menschliche Vernunft an das Judentum... und auch an den Islam, wenn Letzterer sie hören möchte. DIE GYNÄKOLOGIN Aber diese Frage stellen sich die Juden ja selber! Einer unserer Freunde erzählte uns zu Hause, dass die Rabbiner 434 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN folgenden Midrash erzählten, den sie gehört hatten. Sie sehen, bei den Juden werden viele Geschichten erzählt! Gott, der von je her existiert — und das ist seit je her sehr lang! — begann, sich zu langweilen. Er wollte nicht mehr allein bleiben. Er sagte sich: „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild“; so werden wir Gesellschaft haben, um zu sprechen. Und da Gott allen Raum einnahm, in dem man sein kann, konzentrierte er sich auf sich selbst. Er zog sich zusammen. Er wurde Tsimtsum. Und in dem Raum, der dadurch leer wurde, machte er den Menschen. Aber da er aus Erfahrung wusste, dass „es nicht gut ist, allein zu sein“, machte er dem Menschen gleichzeitig auch eine Gefährtin: die Frau. Der Mann spricht also mit seiner Frau, falls nicht überwiegend das Gegenteil der Fall ist, und Gott spricht mit den Menschen, falls nicht auch da überwiegend das Gegenteil der Fall ist! Die Juden haben also längst durch eine kleine, mit etwas Humor gewürzte Geschichte auf Ihre Frage geantwortet. DER ANDERE PHILOSOPH Dieser Midrash ist tatsächlich charmant. Nun gut! Midrash für Midrash! Ich biete Ihnen einen anderen: Gott existierte von je her, und die Zeit verging ihm im Flug. Denn „Bei Gott“, oder „In Gott“ wurde immer gefeiert. Diejenigen, die „Bei Gott“ oder „In Gott“ waren, und von denen ein jeder Gott war, sprachen von je her „Miteinander“, und zwar in der angenehmsten Weise, die es nur gibt. Es kam der Tag, wo sie zueinander sagten: „Es ist so schön, gemeinsam „Unter Uns“ zu sein, „Bei Uns Gott“ zu sein, und miteinander zu sprechen. Wie wäre es, wenn wir unser Glück mit anderen teilen würden, die ihrerseits auch „Unter sich“ wären? Aber es gibt keine anderen „Unter-sich-Seienden“! Das ist wahr! Machen wir also ein „Unter-Sich“, das uns ähnlich ist, und sie werden miteinander sprechen.“ Und „Bei Gott“ entschieden sie zusammen: „Machen wir den Menschen als ein „Unter-Sich“, als unser Abbild.“ Und sie machten ihn als Mann und Frau. Und um die Ähnlichkeit des „Unter sich“ des Mannes und der Frau, mit den „Ihnen-Gott“ zu vollenden, sagten sie ihnen: „Wachst und vermehrt euch“. Das bedeutet: „Verhelft einander zum Wachstum und werdet aus zwei „Unter-Euch“ zu mehreren“. Und der Mann und die Frau sprachen miteinander über dasjenige, dem sie das Sprechen beibringen werden, ihrem Kind, ihrem „Es-spricht-noch-nicht“. Und sie sprachen oft DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 435 miteinander über dasjenige, das noch nicht sprach. Und so entstand die Geschichte all jener, die sprechen. DER PSYCHOANALYTIKER Ihr Midrash ist weder so flüssig noch so geschmeidig wie jener unserer Gynäkologin!... DER ERSTE PHILOSOPH Das kommt daher, dass er nicht dermaßen oft von Rabbinern erzählt worden ist!... Der Midrash meines Kollegen ist sozusagen ein grob zurechtgehauener Stein, der noch fein poliert werden muss. DER PHYSIKER Wenn wir Gott dadurch ähnlich sind, dass wir uns miteinander unterhalten, dann würde unser Seminar den ersten Preis für diese Ähnlichkeit erhalten! Was den Unterschied anbelangt, meine ich, dass er darin besteht, dass wir viele Fragen stellen, ohne die Antworten zu wissen, während sie „Bei Gott“ die Antworten haben, und es nicht nötig haben, sich Fragen zu stellen! DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Wer weiß! Vielleicht stellen sie sich da oben, „Bei Gott“, die Frage, was mit dem Menschen nun anzufangen ist, wo er nun einmal da ist! Vielleicht fragen sie sich, was sie ihm sagen wollen, was sie ihm offenbaren wollen, und wie. DER PHYSIKER Diese beiden Midrash sind wie zwei Hypothesen, wie zwei vorläufige Erklärungen des Warum und Wie der Schöpfung. Beide können nicht zusammen bewiesen werden. Das ist das mindeste, was kann man sagen. Welcher von beiden wird also für gültig erklärt werden, und welcher für ungültig? DER PSYCHOANALYTIKER Warum muss denn die Alternative zur Einsamkeit in der Existenz in einer „Gemeinschaft von Dreien“ bestehen? Warum reicht ein Paar nicht aus? DER ANDERE PHILOSOPH 436 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Weil „der Andere“, oder vielmehr die innerhalb der Grenzen des Paares liegende Beziehung zum Anderen, in der das Paar also nicht seine notwendige Offenheit für den Dritten lebt, nichts weiter sein könnte als eine Verdoppelung der Einsamkeit des Ichs. In einem Paar, dessen Wesen ausschließend ist, kann der Andere nichts weiter sein als das Spiegelbild des Ichs. Genaugenommen ist das eine Arbeitshypothese, denn in der Wirklichkeit ist ein derartiges Paar eine ontologische Absurdität und existiert nicht. Natürlich können Paare egoistisch sein. Dadurch stellt sich die Frage nach dem Bösen; aber ein solches Paar verwirklicht sich eben gerade im Bösen, weil es an dieser Offenheit für den Dritten Verrat übt. Unter der Hypothese, dass die Beziehung zum Andren nicht notwendigerweise eine Offenheit für den Dritten impliziert, würde das heißen, dass der Andere, insofern er beziehungsbedingt ist, nicht in seiner absoluten Eigenständigkeit in Beziehung zu sich selbst gewollt würde, da die „Relationalität zum Anderen“ dieses Anderen dann unumgänglicherweise auf „sich“ zurückkommen müsste, da sie ja nicht auf den Dritten zugehen könnte. Und sie käme auf ihn zurück als ein indirektes Wollen, sich selbst dadurch zur Existenz zu verhelfen, dass sie will, dass der Andere sei, um von ihm gewollt zu werden. Natürlich sind die als „Komplementarität“ verwirklichten Einheitsformen, wie sie zwischen bestimmten Dingen bestehen, nicht zu vernachlässigen, aber sie sind nicht von vollkommenem Wesen. Sie beruhen auf einem „Mangel“ sowohl im Einen als auch im Andren. Ein jeder „ergänzt“ sich durch den andren. Der Andere ist nicht um seiner selbst willen gewollt, also aufgrund dessen, was ein jeder „positiv“ ist, sondern aufgrund dessen, was ein jeder „negativ“ ist, also was seinem eigenen „Ich“ an Wirklichkeit fehlt. Wenn die Beziehung zum Anderen in Abhängigkeit von einem in ihr liegenden Mangel an Wirklichkeit gedacht wird, kann der Andere nicht als in einer vollständigen Unterscheidung von dem „Sich selbst“ so gedacht werden, dass die Wirklichkeit, die der andere ist, ganz und gar „seine“ sei, und nicht „für mich“, nicht einmal teilweise. Wenn der Andere als „Ergänzung für mich“ gedacht ist, dann ist er nicht als „absolut um seiner selbst willen gewollt“ gedacht. DER ERSTE PHILOSOPH Aber warum muss die Beziehung zum Anderen diesen Anderen daran hindern, auf das „Sich selbst“ zurückzukommen, DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 437 da man auf ihn zugegangen ist? Ist nicht die Gegenseitigkeit eine Grundregel der Liebe? DER ANDERE PHILOSOPH Sicherlich, aber die vollkommene Gegenseitigkeit vollzieht sich über den Dritten. Sie ist nicht ein einfaches Zurückschwappen zu sich selbst. Allerdings soll man nicht meinen, dass der „Weg über den Dritten“ ein Verschieben auf später bedeutet, oder eine „Verschiebung“ der Gegenseitigkeit. Die Gegenseitigkeit ist genau durch den Dritten unmittelbar, insofern dieser durch den Anderen in der ihm eigenen Beziehungsbedingtheit als Dritter zum Ersten gewollt ist. Der Grund dieses Wollens des Dritten im Wollen des Anderen durch den Ersten ist innerhalb der Notwendigkeit zu verstehen, dass die Unterscheidung oder „Verneinung“ des Einen und des Anderen vollkommen sein muss, darin eingeschlossen die Unterscheidung zwischen ihrer jeweiligen Beziehungsbedingtheit. Als beziehungsbedingte Seiende müssen sie vollkommen unterschieden sein. Es fällt uns schwer, die „Verneinung“ im Sein innerhalb der Art und Weise, in der wir das Wesen der Beziehung zum Anderen denken, zu begreifen. Vielleicht müssten wir verschiedene Formen von „Verneinung“ unterscheiden. Psychologisch verstehen wir die Verständlichkeit der „Verneinung“ falsch. Sie ist absolut im Sein, und nicht nur relativ, gemäß der Ordnung des Werdens, in der das, was wird, noch nicht das ist, was es sein wird. Die Verneinung soll nicht so gedacht werden, als ob sie in „einem“ Seienden verankert wäre, etwa als ein vollständiges Fehlen des Seins in einem Nichts, oder als ein Mangel an Sein, ein Manko, eine Abwesenheit von Sein, eine Leere. Die absolute Verneinung im Sein besteht zwischen den Seienden, insofern der Eine in all seiner beziehungsbedingten Wirklichkeit nicht der Andere in all seiner beziehungsbedingten Wirklichkeit ist. Und das, weil der Eine vollkommen das ist, was er ist, und der Andere genauso vollkommen das ist, was er selber ist. Aber ein jeder ist in Einsamkeit und Unkenntnis des Anderen nicht vollkommen das, was er ist, sondern insofern er in seinem ganzen Sein das bewusste Wollen ist, dass dieser Andere sei und von ihm vollkommen unterschieden sei. Der in sich selbst beziehungsbedingte Eine will den Anderen als beziehungsbedingt zu einem anderen, der er nicht selbst ist, weil 438 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN der Andere in seiner Beziehungsbedingtheit zu einem anderen ansonsten nicht völlig und vollkommen von ihm, dem Einen, unterschieden wäre. Der andere des Anderen muss also ein Dritter sein, und dieser Dritter muss gewollt werden als völlig verschieden von und beziehungsbedingt zu den beiden Ersten, als vom Anderen auf den Ersten ausgerichtet, und vom Ersten zum Anderen. Dieser ontologische Dritte ist in der erlösenden Trinität der Heilige Geist, das „Band der Liebe“. Wenn Sie damit einverstanden sind, dass wir — nach einer persönlich vollzogenen, stichhaltigen „reflexiven“ Überlegung — festlegen, dass „das Sein“, also dieses Wirkliche, das auf der Höhe des Personseins existiert, in der Verständlichkeit die ihm am nächsten kommt, eine relationale Struktur von Personen ist, dann wird die Struktur einer vollkommenen Beziehungsbedingtheit von vollkommenen Personen tatsächlich eine „Dreiheit“ in ihrer Einheit sein. Und diese dreigliedrige Struktur von Personen, die in sich selbst und in ihrer Einheit miteinander vollkommen sind, ist die vollkommene Art und Weise, auf die Gott existiert. Ich werde also jetzt auf Ihre Frage antworte, Herr Kanonikus. Auf die Art und Weise, wie Sie die Existenz Gottes beweisen, behaupten Sie einen solitären Gott, wie Aristoteles dies tat, oder aber einen dreipersönlichen Gott in seiner unteilbaren Einheit. Das hängt von der Ontologie ab, auf die man sich bezieht. Die beiden Midrash können sowohl die eine als auch die andere Ontologie illustrieren. DER EXEGET Mir scheint, dass der rabbinische Midrash menschlich sehr gut verständlich ist, und durchaus mit unserer Psyche in Einklang steht. DER ANDERE PHILOSOPH Genau deshalb enthält er eine schwerwiegende Unklarheit. Er ist der Ansicht, dass Gott den Menschen erschafft, weil „ihm Gesellschaft fehlt“. Der theoretische Standpunkt des rabbinischen Midrash ist der konträre Gegensatz des aristotelischen Standpunktes. Für Aristoteles kann Gott, da er vollkommen ist, nichts außer sich selbst kennen oder wollen. Er ist das Denken seines Denkens, das Wollen seines Wollens, Liebe für ausschließlich seine Wirklichkeit, welche die vollkommene Gutheit ist. Für eine bestimmte mündliche DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 439 Tradition des Judentums ist Gott nicht im aristotelischen Sinn vollkommen, da er erschaffen und sich für den Menschen interessieren kann. Muss man, um gelten lassen zu können, dass Gott Schöpfer ist und zum Menschen in Beziehung steht, darauf verzichten, ihn als die absolute Seinsvollkommenheit zu verstehen? Muss man, um ihn als in sich selbst vollkommen anzusehen, darauf verzichten, ihn als unseren Schöpfer anzusehen, der einen jeden von uns unendlich liebt? Das ist das theoretische und philosophische Dilemma der klassischen Gottesbilder, also der monopersonalen Gottesvorstellungen. Ich weiß, dass meine jüdischen Freunde es nicht für abwegig oder sinnwidrig halten, zu sagen, dass Gott nicht vollkommen ist. Darüber bin ich jedes Mal erstaunt. Denn wenn der Schöpfergott nicht vollkommen ist, dann ist er selbst nichts weiter als ein Demiurg, der von einem absoluten Seienden abhängig ist, das dann der wahre Gott wäre. Und wenn es über dem nicht vollkommenen Schöpfergott keinen Gott gibt, wie soll man ihn sich dann als ursprungslos und als Ursprung aller Dinge vorstellen? Spekulativ gesehen ist das eine auswegslose Sackgasse. Es gibt jüdische Denker, die sich nicht diesem Gedankengang anschließen; aber kann man ihn ausschließen? DER PSYCHOANALYTIKER Wenn es also für diesen rabbinischen Standpunkt keine philosophische Erklärung gibt, wie erklären Sie ihn dann? DER ANDERE PHILOSOPH Weil ich denke, dass die Juden, indem sie spontan den impliziten psychologischen Voraussetzungen des allgemeinen Denkens folgen, es vorziehen, eher an der Vorstellung von der Schöpfung festzuhalten, als an jener von der göttlichen Vollkommenheit. Das ist eine Wahl, nicht ein Beweis. DER PSYCHOANALYTIKER Warum diese Wahl? KANN DIE SUCHE NACH DEN BEDINGUNGEN DER MÖGLICHKEIT EINER TAT SICH AUCH AUF EINE GÖTTLICHE TAT BEZIEHEN? DER ANDERE PHILOSOPH 440 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Meiner Ansicht nach liegt der Grund darin, dass es bei den Juden noch eine andere Überzeugung gibt, die noch tiefer in ihrer religiösen Kultur veranlagt ist als die Schöpfungsvorstellung. Es handelt sich um ihre Befreiung aus Ägypten. Nun ist ihre Vorstellung von einem Befreiergott aber nur dann wirklich denkbar, wenn dieser Gott auch Schöpfer ist. Für sie ist die Vorstellung von der Schöpfung also in gewisser Weise die apriorische Bedingung der Möglichkeit und Verständlichkeit ihrer Befreiung, genauso, wie für Platon die Gegenwart der Wahrheit im Geist des Menschen die Bedingung ihrer Möglichkeit in der Präexistenz der Seele vor seiner Geburt findet, und in der Schau der Welt der „reinen Formen“, in deren Genuss sie stand, bevor sie in einen Menschenkörper gelangte. DIE HISTORIKERIN Auch andere Völker haben sich aus ihrer Gefangenschaft befreit. Und deswegen haben sie sich noch lange nicht einen Befreiergott zusammengeschustert! DER PSYCHOANALYTIKER Welche Bereiche des Unbewussten waren also hier im Spiel? DER ANDERE PHILOSOPH Ich weiß nicht, ob hier unbewusste Kräfte im Spiel waren, aber zweifellos hat eine tiefe Veranlagung der hebräischen Seele dazu geführt, dass die Hebräer, die Vorväter der Juden, ihren Auszug aus Ägypten als Befreiung verstanden haben. Nicht die objektive Tatsache des Ereignisses hat diese Veranlagung in ihrem menschlichen Bewusstsein hervorgebracht, sondern diese Veranlagung der Seele hat die Natur des Ereignisses erschlossen. Wohlverstanden hat sich diese Veranlagung ihres Bewusstseins erst anlässlich dieses Ereignisses herauskristallisiert. Das Ereignis war nichts weiter als die Gelegenheit dazu. Es war dieses Ereignis, aber es hätte auch ein anderes sein können, obwohl nicht jedes beliebige Ereignis einem derartigen Ausdruck der menschlichen Seele hätte Anlass geben können. Die hebräische Seele war die innere Lebendigkeit und formgebende Kraft des geschichtlichen Ereignisses. Das Hervortreten der hebräischen Seele hat bewirkt, dass eine Migrationsbewegung zu einem Befreiungsereignis wurde. Und in den Erzählungen des Buches Exodus bringt sie ihr eigenes DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 441 Hervortreten als bleibende Errungenschaft des menschlichen Bewusstseins zum Ausdruck. Tatsächlich kommt diese Veranlagung der menschlichen Seele in der Geschichte bei den Hebräern in herausragender Weise zum Vorschein. Sie ist ihnen zu eigen, aber nicht so, dass sie naturwidrig oder bei anderen Völkern nicht möglich wäre. Die Juden waren sich dieser Kontingenz bewusst und haben sie in einem Midrash in Worte gefasst: Bevor Gott mit den Hebräern einen Bund einging und ihnen seine „Thora“ angeboten hat, ging er als Botschafter die anderen Völker besuchen. Aber keines nahm seinen Vorschlag an. Als letztes Volk blieben die Hebräer übrig, die gewissermaßen mit geschlossenen Augen einwilligten: „All das, was der Herr sagt, werden wir tun“. Diese Veranlagung ist das in den Menschen hineingelegte Bewusstsein, dass Gott sich für seine Existenz einsetzt, indem er ihm ermöglicht, zu leben, und zwar nicht unter der Herrschaft von physikalischen Kräften, noch unter der Gewalt von anderen Menschen, sondern frei, unter dem Gesetz Gottes. Und wir fügen hinzu, dass dieses kulturbedingt als Vertrag dargestellte Gesetz kein anderes Gesetz ist als das Gesetz des Seins des Menschen an sich. In dieser Veranlagung der hebräischen und jüdischen Seele haben Sie das erkannt, was wir „Glaubenschaftlichkeit“ des Bewusstseins nennen. Es wurde nicht in einem spontanen Entwurf, sondern in einem langsamen Zum-VorscheinKommen, das mit Abraham begann, und von Generation zu Generation weitergeführt wurde, in Worte gefasst. Abraham gegenüber setzt sich Gott für dessen Nachkommenschaft ein. Der Einsatz Gottes für die menschliche Nachkommenschaft ist universal, aber Abraham wird sich dessen in der Wirklichkeit seiner Liebe zu Sara bewusst. Der Einsatz Gottes für die Völker der Erde ist universal, aber das Volk Israels wird sich dessen in seiner eigenen Geschichte bewusst. Der Inhalt dieser Bewusstwerdung ist also allgemeingültig. Die in einem „befreienden“ Eingreifen implizierte Vorstellung von der allmächtigen Initiative Gottes verallgemeinert sich für die ganze Menschheit, bis hin zu ihren Ursprüngen. Sie führt so zur Schöpfungsvorstellung, die gewissermaßen ihr letztes Glied ist, oder zumindest fast ihr letztes. In Wirklichkeit liegt hier unbewusst eine apriorische Suche nach der Bedingung der Möglichkeit der Exoduserzählung vor. 442 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Die Vorstellung von der Schöpfung als Bedingung der Möglichkeit und Verständlichkeit einer Befreiung ergibt sich also aus einer auswertenden und verstärkenden, und nicht nur wiederholenden Verallgemeinerung der Idee an sich eines Einsatzes Gottes für die Menschen, der in dieser Befreiung an sich vorausgesetzt ist. Ist die Verallgemeinerung dieser glaubenschaftlichen Einsicht mit der Vorstellung von einer „Schöpfung“ als Einsatz für den Menschen und seine Existenz abgeschlossen? Meiner Meinung nach nicht. Ganz im Gegenteil denke ich, dass sie sich bis auf Gott selbst hin erstrecken muss. Weswegen oder aufgrund welcher in Gott selbst innerlichen göttlichen Wirklichkeit ist Gott „fähig“, sich für den Menschen einzusetzen? In einer derartigen Fragestellung liegt sicherlich nicht nur eine neue „Universalisierung“ der Suche nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit einer Handlung, in diesem Fall der Schöpfung, sondern auch eine analoge Übertragung dieser Frage auf die göttliche Transzendenz. DIE GYNÄKOLOGIN Sie stellen die Frage nach dem Warum der Schöpfung. Und ich als Jüdin stelle Ihnen die Frage nach dem Warum dieser Frage. Kann der Mensch wirklich so eine Frage stellen? Hat er dazu die Möglichkeit? Hat er das Recht dazu? Ist sie nicht eine Art Verletzung des persönlichen Bereichs Gottes? Eine Indiskretion, die ein Sakrileg darstellt, weil sie sich der wohlwollenden Klugheit Gottes entgegenstellt? Im Exodus verbietet Gott Mose, ihn anzuschauen, damit Mose nicht stirbt. Das ist von Gott nicht als Drohung gemeint. Vielmehr ist es eine Vorsichtsmaßnahme, so, als ob man sagen würde: „Schau nicht in die Sonne, damit du nicht blind wirst“. Ich habe den Eindruck, dass sie „Gott ausziehen“ wollen, ihn entblößen wollen. Das ist das Höchstmaß an Unverschämtheit! Und biegen Sie die Einsichten des Judentums nicht missbräuchlich zurecht? DER ANDERE PHILOSOPH Ihre Frage verwirrt mich. Das gebe ich zu. Sie scheint mir nicht nur theoretisch, sondern existentiell zu sein, wenn ich das so sagen kann... Ich finde nicht das richtige Wort... Ihre Frage ist emotional geladen..., mit Gefühlen, die im Gespür für die Ehrfurcht wurzeln, die man dem Anderen schuldet, und die man Gott schuldet. Dem stimme ich zu. Aber gleichzeitig fällt mir DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 443 Ihre Frage irgendwie „in den Rücken“, so, als ob ich in meiner Argumentation und meiner intellektuellen Begeisterung dafür, alle wunderbaren, im Judentum und seiner Ausübung enthaltenen Wahrheiten zu beweisen, eine Kehrtwende vollziehen müsste. Denn die Propheten haben in ihrer Lehre die Idee vom Gott, der Schöpfer aller Dinge ist, tatsächlich dazu ausgearbeitet, um zu zeigen, dass Gott das Volk aus Ägypten befreien und aus dem Exil zurückführen kann, dass er also, kurz gesagt, die Geschichte lenkt. Es ist die vorzeitige, in einem ganzen Volk betrachtete Anwendung auf Gott der von Kant explizierten Suche nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit einer Handlung. Mose verhüllt sich tatsächlich das Gesicht und sieht nichts weiter als den Schatten Gottes... Aber es ist ihm immerhin erlaubt, den Schatten Gottes zu sehen! Sagen wir also, dass es der menschlichen Vernunft trotz allem erlaubt ist, den „Schatten Gottes“ zu sehen. Wenn Gott ihr seinen „Schatten“ zeigt, dann zweifellos, damit wir alles sehen, was man da sehen kann. Das ist nicht unzulässig. Wenn jemand uns liebt und uns etwas von sich zeigt, muss man dann ablehnen, es zu sehen und zu bewundern, nur weil er uns noch nicht alles zeigt? Bis jetzt zeigt uns Gott noch nicht alles, was er ist, und das zweifellos, damit wir nicht übermäßig in Verwirrung geraten. Und müssen wir vielleicht erst sterben, um alles zu sehen? Das wollte Gott für Mose nicht. In jenem Augenblick wollte er — von aller Ewigkeit her für sich — ein Volk, in dem er sich eines Tages ein menschliches Gesicht geben könnte... um uns das „göttliche“ Gesicht zu offenbaren, das er uns eines Tages, jenseits des Todes, formen wird... Ich denke, dass die spekulative Kühnheit meiner Fragestellung nach den apriorischen Bedingungen der in Gott selbst liegenden Möglichkeit seines Schöpfungsaktes berechtigt ist, und zwar eben deshalb, weil die Beziehung des Menschen zu Gott hier eine „glaubenschaftliche“ Beziehung ist, und nicht nur eine Suche nach „Kausalität“ in der Ordnung der rein „objektiven“ Wirklichkeiten. In der glaubenschaftlichen Beziehung ist die Ehrfurcht vor dem Anderen eine Ehrfurcht ohne Abstand und ohne Tabu. Mir scheint, dass der Gott, der aus der Sklaverei befreit, und der die Existenz mitteilt, es irgendwie erwartet, dass man ihm, innerhalb einer Bewegung der Anerkennung und Dankbarkeit für seine Großzügigkeit, 444 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN auch die Frage stellt: „Warum tust du das?“ und „Was beabsichtigst du noch zu tun?“ Wenn sich die Anerkennung und Dankbarkeit für ein empfangenes Geschenk nicht in einem Bewusstsein abschotten, das nur auf die Wirklichkeit des Geschenks — für das Sie dem Geber natürlich danken — ausgerichtet ist, dann wollen sie auch um Ihrer Seinsvollständigkeit willen in irgendeiner Weise die Gründe kennen, die den Geber dazu bewegen, das Geschenk zu machen. Das Geschenk erhält seinen ganzen Wert erst dann, wenn der Geber seine Gründe erkennen lässt. Und da diese Gründe gewissermaßen in das Geschenk selbst hineingelegt sind, ist es doch wohl Sache des Empfängers, sie zu entdecken und zu einem Beweggrund seiner Dankbarkeit und seines Glücks zu machen! Ich denke, das ist der Grund dafür, dass man den „Schatten Gottes“ untersuchen soll. Und „der Schatten Gottes“ ist das Licht, das Gott auf unsere Existenz wirft. Das Licht Gottes, das unsere geschaffene und immerwährend zur „Befreiung“ gerufene Existenz an sich ist. So lehrt uns der „Schatten Gottes“, dass er uns befreit, weil er uns erschaffen hat, und dass er uns erschaffen hat, weil er in sich selbst bereits absolut „Einsatz für den Anderen und den anderen des Anderen, also den Dritten, ist“. Dadurch, dass wir bis zu den lebendigen Kräften des Geistes des Volkes, das die Bibel geschrieben hat, aufsteigen, können wir verstehen, was ihr Text uns erzählt. Nicht so sehr die Ereignisse — denn was ist übrigens ihr historischer Wert? —, aber das, was es uns in einer „derartigen“ Erzählung von Ereignissen über „seine“ menschliche Wirklichkeit sagt. Sie nämlich, die Wirklichkeit des glaubenschaftlichen, menschlichen Bewusstseins, ist die wahre Gegebenheit und das Thema der Bibel. DIE HISTORIKERIN Dann sind Ihnen zufolge also die „in“ der Bibel erzählten Ereignisse weniger wichtig als die Bibel selbst, insofern sie „eine Niederschrift“ ist? Ist die Erzählung selbst, also der Text der Bibel als „autobiographisches Bekenntnis“ Israels, wenn man das so sagen kann, das hauptsächliche Ereignis? Sind die historisch betrachteten Ereignisse für Sie nichts weiter als der äußere Rahmen einer „innerlichen Geschichte“? DER ANDERE PHILOSOPH DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 445 Wenn Sie das so sagen wollen! Aber machen Sie daraus nicht, dass die Bibel nichts weiter ist als ein Roman. Die geschichtlichen Tatsachen als Hintergrund und Farbpaste. Mit diesen Grundstoffen schaffen die Hebräer und Juden ihr „Selbstporträt“. Es sind diese „Selbstporträts“, die den Philosophen, der Geschichtsmetaphysiker ist, interessieren. DER PSYCHOANALYTIKER Selbstportrait für Selbstportrait! Aber Sie beide malen auch ihr eigenes! Ob Jude oder Christ: Sie bedienen sich einer religiösen Sprache, in der man die innere Haltung der Psychologie der Liebe wiedererkennt... Ist das Ihr Unbewusstes…? Die Dame projiziert ihr psychisches Gefühl, „entblößt zu werden“, also zumindest etwas zu schnell entblößt zu sein, auf Gott. Und der Philosoph verbirgt nur mit Mühe seine Waghalsigkeit, mit der er alles aufdecken will,... so schnell und so weit wie möglich... Sie verstehen mich. In der Zuhörerschaft wird gelacht... DER ANDERE PHILOSOPH Natürlich ist der Philosoph ein „Verliebter“... ein in Wahrheit Verliebter. Und wenn sie nackt ist, ist sie schönsten! Ist das nicht wahr? Der Rest, die Verzierung, Kleidung, die Mode, der Stil,... Das alles könnte einfach trügerisch sein! Dringen auch wir zum Wesentlichen vor! die am die nur DAS GÖTTLICHE WERK FÜR DAS HEIL DER MENSCHEN UND DIE SPRACHE DER LIEBE IN DER BIBEL DIE GYNÄKOLOGIN Aber die Bibel gebraucht oft die Sprache der Liebe, um die Beziehungen zwischen Gott und Israel zu schildern! Israel, die Verlobte des ewigen Gottes. Gott, der eifersüchtig darauf achtet, dass sie bei ihm bleibt... Vielleicht die Angst der Verlobten, ihren „ewigen Gott“ zu sehr nach seinen Absichten fragen zu wollen... Angst davor, zu sehr zu wissen, was er ist... Wer weiß? Der Zauber, sich auserwählt zu wissen, könnte sich auflösen... oder auch die Angst, sich durch eine Rivalin ersetzt zu sehen... eine gewisse Dame namens „Kirche“... DER PSYCHOANALYTIKER 446 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Gut, ich sehe, dass Ihr Unbewusstes nicht krankhaft ist! Sie können es selbständig ans Licht ziehen. Aber warum führten die Juden dann die Analyse des Ereignisses, das ihre Geschichte begründet, nicht zu Ende? DER ANDERE PHILOSOPH Und wer sagt Ihnen, dass es nicht ein Jude ist, der die Wege bereitet hat für eine derartige Analyse? Und zwar auf die Weise, dass es bei der Auserwählung Israels keine „Rivalin“ geben kann, meine Dame! DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Das ist sehr richtig! Und in dem Maße, in dem sich die Kirche in der Vergangenheit als die „neue Auserwählte“ betrachtet hat, die den Platz der ersten einnimmt, hat sie sich tatsächlich in ihrer Sendung getäuscht. Damit sind wir sehr wohl einverstanden. Hier wurde ein schwerwiegender theologischer und pastoraler Fehler begangen, mit tragischen Auswirkungen für jene jüdischen Gemeinschaften, die in christlichen Ländern leben. Alles, was sich wieder gutmachen lässt, muss wieder gut gemacht werden, und in Zukunft muss ein Klima der Ehrfurcht und des Friedens geschaffen werden, und besonders eine Sendung zum Zeugnisgeben erfüllt werden, die beiden sowohl eigen als auch gemeinsam ist, und das zur Ehre des Höchsten. Wie sollen wir unsere Verschiedenheiten in Einklang bringen? Man muss gemeinsam, auf beiden Seiten, den Willen haben, die Grundlagen unserer gegenseitigen Komplementarität zu suchen, die aber für einen jeden verschieden, also irgendwie asymmetrisch ist. DER ANDERE PHILOSOPH Die Dame hat von Israel als der Verlobten des Allerhöchsten gesprochen. Das trifft sich mit dem, was ich vor einigen Augenblicken sagte, nämlich, dass der jüdische Glaube ehelicher Art ist. Und die herausragendste Fruchtbarkeit dieses Paares ist Jesus, der durch Israel, seine menschliche Mutter, Mensch ist, und Gott ist durch seinen Vater, der Gott selbst ist. Um die Komplementarität von Judentum und Christentum zu verstehen, muss man zunächst das „Judäisch-Jüdisch-Sein“ Jesu voll und ganz anerkennen. Hiermit meine ich nicht eine oberflächliche Kenntnisnahme von einem oberflächlichen, sozusagen beiläufigen Jüdisch-Sein, sondern eine tiefe DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 447 Kenntnisnahme, mit der man die Person Jesu in ihrer Tiefe erreicht. Das Thema des befreienden Pascha steht im Mittelpunkt des Evangeliums. Man entleert es der ihm eigenen Wirklichkeit, wenn man es als „Urbild“ des christlichen Osterns und der Auferstehung Jesu sieht. Wenn es so seiner eigentlichen Wirklichkeit beraubt ist, kann man sich mit der tiefgreifenden Frage nach dem Plan Gottes für die Menschen nicht mehr auf es berufen. Die tiefe, menschliche Wirklichkeit, die sich darin zum Ausdruck bringt, verflüchtigt sich, wie wir gesagt haben, wenn es dort nichts weiter gibt als ein „Urbild“. Und das, was Jesus uns in seiner Person vom Plan Gottes zu verstehen gibt, kann durch eine verkürzende Deutung des Werkes Gottes nur bedauerlich verkürzt werden; zum Beispiel durch eine Deutung, die sich auf die Einrichtung des Christentums beschränkt, und die als Deutung des Werkes Jesu dann zwangsläufig mit dem Gespür in Konflikt gerät, das Israel für seine Sendung in der Welt hat. Ist sich Jesus, der als Jude von der gesamten menschlichen Wahrheit der Befreiung und des Bundes mit Gott durchdrungen ist, nicht in sich selbst der Wirklichkeit der apriorischen Bedingungen einer Befreiung bewusstgeworden, die auch eine Befreiung der ganzen Menschheit wäre? Ist nicht genau das die Idee vom „Reich Gottes“? Man muss in den Texten des Evangeliums also zwischen den Zeilen lesen, genau wie in den biblischen Texten der Thora, um darin die Grundlagen der Möglichkeit zu entdecken. Ich denke, dass es in den Gedanken Jesu etwas gab, was einer derartigen „Analyse“ des Gründungsereignisses Israels entsprach: die Befreiung aus Ägypten als Werk Gottes. Und eine derartige Analyse ermöglichte es ihm, sich der unendlichen Weite des Heilswillens Gottes bewusstzuwerden, mit dem er das vollkommene Glück für die ganze Menschheit will, und der sich in seiner eigenen Person verwirklichte. Eine derartige Analyse wird auch in der Tradition des Talmud aufrechterhalten, und zwar als immer noch neue Hoffnung. Und wenn man auch philosophische Texte hinzuziehen möchte: Haben Männer wie Martin Buber und Emmanuel Levinas etwa nicht aus jüdischen Quellen geschöpft? Sie beide sind Juden und Denker der Alterität, also Philosophen jener Beziehung zum Anderen, zu den Anderen, in der die ethische Pflicht aufscheint und sich verwirklichen muss, und in 448 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN der die Menschheit ihre völlige Entfaltung und ihr Glück finden muss. Als jüdischer Mann sah Jesus sich also als wesentlicher Teil der bräutlichen Stellung Israels, im Hinblick auf „eine Nachkommenschaft, so zahlreich wie die Sterne am Himmel“. Zudem ging er mit dem Vater aufgrund der Gegenwart des Wortes in ihm eine Beziehung ein, die der gemeinsamen „Hauchung“ des Heiligen Geistes entspricht, des Dritten in Gott. Die Vereinigung dieser beiden „Rollen“ geschieht in der Geburt der unüberschaubaren Menschheit im Geist, die von ihrer Fähigkeit, zu sündigen, gerettet ist, und zwar durch den Vater und das inkarnierte Wort. Die Menschheit, die sich selbst in ihrer Zukunft jenseits der Geschichte offenbart ist, befindet sich in einer sohnhaften Stellung... Daher ist der Glaube an Gott im Christentum „sohnhaft“ bedingt, in Bezug auf die evangelische Verheißung unserer Befreiung vom Bösen. „Der Geist ruft in uns, Abba, Vater“, sagt Paulus von Tarsus. Zwischen Judentum und Christentum besteht also eine Komplementarität der theologischen Glaubensformen. Für das Judentum ist es der bräutlich-theologische Glaube, mit der Fruchtbarkeit einer ununterbrochenen menschlichen Nachkommenschaft. In unserer Geschichte kann die menschliche Liebe, die eine Familie gründet, ihrem tiefsten und höchsten Sinn nach gelebt werden, nämlich als „Nachahmung“ des Einen und des Anderen in der ontologischen Trinität. Das Kind wird als Analogie und Abbild des Dritten aufgenommen. Für das Christentum ist es der sohnhafte Glaube, in der Hoffnung auf unsere universale Auferstehung, die ein gemeinsames Werk des Vaters und des inkarnierten Wortes ist, im Geist, der uns gewissermaßen „brüderlich“ aufnimmt. Die menschliche, definitive Sohnschaft kann also ohne die Gründung einer neuen Familie als „Zeugnis“ für unsere sohnhafte Vergöttlichung im Geist gelebt werden, und „als Nachahmung“ des Geistes. Beide Formen des Glaubens an Gott sind nötig, um in Fülle Zeugnis abzulegen für Gott, der uns in einer familiären Struktur erschaffen hat, und sich als ein familiärer Gott offenbart, der uns familiär in sich aufnimmt. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Sie haben gerade eine Bemerkung über die Komplementarität von Judentum und Christentum gemacht, auf die ich gerne DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 449 zurückkommen möchte. Ich persönlich würde lieber von einer „Komplementarität, und sogar einem „Bund“ zwischen Israel und der Kirche“ sprechen. Denn die mit dem Wort „Kirche“ bezeichnete Wirklichkeit ist in der Tat weitreichender als das kulturelle Christentum. Dasselbe gilt auch für das Wort „Israel“. Seine ontologische Wirklichkeit reicht weiter als das Judentum. Aber lassen wir diesen unterschiedlichen Wortgebrauch beiseite... Es geht um die Komplementarität der beiden Formen des Glaubens an Gott: bräutlich und sohnhaft. Diese beiden Formen betreffen auch das innere Leben der Kirche, insofern sie in ihren Gliedern den „jüdischen Glauben“ in einem bräutlichen Bund aufnehmen muss, ohne ihn Israel zu stehlen, und ohne sich an seine Stelle zu setzen, und indem sie auch gleichzeitig mit sohnhaftem Herzen — und darin liegt ihre besondere Eigenart —, in ihren Gliedern die Hoffnung auf das Reich und die Auferstehung im Geist bezeugt. Der „eheliche“ Bund Gott-Israel ist das menschliche Urbild des im Hinblick auf unser Heil existierenden Bundes „inkarnierender Vater - inkarniertes Wort“. DER ANDERE PHILOSOPH Zweifellos... Aber natürlich unter der Bedingung, dass man richtig versteht, um welchen ehelichen Bund und um welche eheliche Liebe es geht. Was ist der Grund dieses Glaubens und dieser Liebe zwischen Ehepartnern? Welche ontologische Dichte muss man ihr zuschreiben, damit sie eine wirkliche „Analogie“ Gottes an sich, und Gottes mit den Menschen sei? Den Ehepartner zu lieben, weil „er es ist“, heißt, dass man ihm bis zu seinem Tod treu ist. Sein Tod würde mich von meiner Bindung an ihn lösen. Das ist das Niveau der klassischen Moral, das im Rahmen einer Objektphilosophie der Bedeutung und Würde der als Objekt gedachten Person. Auch wenn diese Liebe den ehelichen Beziehungen „auf Zeit“ schon weit überlegen ist, bin ich der Ansicht, dass sie nicht als Abbild des dreieinigen Gottes gelebt werden kann. Den Ehepartner deshalb zu lieben, weil „ich bin“, heißt, ihm bis zu meinem Tod treu zu sein. Der Tod des Anderen trennt mich in der Bindung, die ich eingegangen bin, nicht von mir selbst: Ja: Der Tod des Anderen trennt nicht mich von mir selbst, indem er mich von meiner Bindung loslösen würde. Ich sage also nicht „der Tod des Anderen trennt mich nicht von ihm“, 450 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN denn das wäre eine Dummheit, welche die Wirklichkeit an sich des Todes, der ja zumindest auf Zeit trennt, nicht mit einbezieht. Meine Bindung an den verstorbenen Ehepartner verlangt durch die Tatsache selbst seine unauslöschliche Existenz, und mein Wille, ihn bis zu meinem Tod zu lieben, bewirkt, dass diese Liebe und dieser Glaube jenseits des Todes beider eine ewige Liebe bilden. DIE KRANKENSCHWESTER, Mutter von fünf Kindern: Aber dem Anderen zu sagen, „ich liebe dich, weil du es bist“, kann sehr wohl beinhalten, dass man ihn auch über seinen Tod hinaus liebt. Weil man ja weiß, dass er unsterblich ist, und weil ihm die Auferstehung verheißen ist. DER ANDERE PHILOSOPH Zweifellos prägt die Erfahrung der Treue zum Anderen bis zu seinem Tod seine Gegenwart so tief in uns ein, dass sie uns bewusstmacht, dass wir ihn aus unserem ganzen Sein heraus geliebt haben; dass wir ihn liebten, weil „wir es waren“. Die Treue eines ganzen Lebens lässt uns entdecken, dass wir jeweils die Liebe zum Anderen „sind“. „Ich liebe dich, du bist es und nicht ich, den ich liebe, aber das, weil ich ich bin“. Und sich wahrhaft geliebt zu wissen besteht nicht darin, in sich selbst, also in seinen eigenen Eigenschaften nach Gründen für Liebe, deren Gegenstand man ist, zu suchen, indem man sagt: „Er oder sie liebt mich, weil ich es bin,... weil ich es verdiene,... weil ich es sehr wohl wert bin, usw...., sondern er liebt mich, weil er oder sie es ist, und weil er sich auf diese Weise frei und ganz und gar selbst einsetzt.“ Seinem Wesen nach ist der eheliche Glaube an die Liebe, mit der man geliebt wird, in dieser Weise darauf ausgerichtet, die „Offenbarung“ des Seins des Anderen aufzunehmen, der, indem er sich ganz für uns will, bewirkt, dass wir selbst ebenfalls zum Wollen eines anderen werden, eines anderen, der von uns selbst und von demjenigen, der sich für uns will, verschieden ist. In der Wirklichkeit des ehelichen Glaubens und der ehelichen Liebe ist der andere der Beiden das Kind, und ohne das Verlangen nach dem Kind kann keiner der beiden Ehepartner wahrhaftig sagen, dass er ganz und gar für den Anderen existieren will, für seine gesamte Unterschiedlichkeit und Eigenständigkeit, ohne Hintergedanken der Besitzergreifung oder Inbesitznahme oder der einfachen Ausweitung des eigenen DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 451 „Ego“. Nur im Verlangen nach dem Kind will man den Anderen als auf einen anderen, absolut gewollten Dritten hin ausgerichtet, für dessen Existenz man gemeinsam mit dem Anderen die Verantwortung übernimmt. In den Fällen von unheilbarer Unfruchtbarkeit nimmt die Hingabe an den kindlichen Dritten die „Gestalt“ von vielfältigen Formen der Großzügigkeit an. DIE ANWÄLTIN Wenn alle Männer... und Frauen die Liebe so verstehen würden, dann müssten keine Scheidungen mehr durchgeführt werden,... und es gäbe keine Verträge mehr, die vor dem Notar geschlossen werden müssen... DER ANDERE PHILOSOPH Doch, doch,... Es gäbe immer noch Verträge, aber sie würden als juristischer Ausdruck einer glaubenschaftlichen Liebe angesehen... aufgrund des Wollens, das selber nicht vertraglich geregelt ist... Tatsächlich sind die ethischen Anforderungen, die sich die eheliche Glaubenschaftlichkeit geben kann, in keiner Weise juristisch festlegbar, denn sie betreffen nicht die materielle und körperliche Form der gemeinsamen Güter und gegenseitigen Hilfeleistungen. Aber diese ethischen Anforderungen verlebendigen das ganze gemeinsame Leben von innen heraus in seiner alltäglichen Beschaffenheit. Da sie juristisch nicht festlegbar sind, können diese sie heutzutage nicht mehr sozial so dargestellt werden, als ob sie sich „zwingend“ aus unserem Bewusstsein ergeben würden. Sie sind rein ethische Anforderungen und gehen ausschließlich aus dem freien Bewusstsein hervor, das sich seiner eigenen notwendigen Grundeigenschaften tiefgehend bewusst wird, und ihnen mit seinem ganzen Sein zustimmt. In den Worten des Evangeliums würde man hier von der „Moral der Seligpreisungen“ sprechen. Es handelt sich nicht um „fakultative“ moralische Anforderungen — denn das wäre ein in sich widersprüchlicher Begriff —, sondern um die in ihren relationalen Grundlagen verstandene rein ethische Anforderung. Mann und Frau können sich folglich gemeinsam in einer ehelichen Liebe, die der Ewigkeit angehört, binden, weil sie gemeinsam fähig sind, ihre Wirklichkeit bis zu der ontologischen Würde zu steigern, die der Vaterschaft und 452 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Mutterschaft zu eigen ist. Und diese sind tatsächlich berufen, ewig zu sein. Die so in ihrer vollen Würde verstandene Familie ist folglich im wahrsten Sinne des Wortes das ontologische Abbild des Gottes, der Dreieinigkeit von Personen ist. Der Ehemann-Vater ist das „Ebenbild“ des Vaters in Gott; die Ehefrau-Mutter das „Ebenbild“ des ewigen Wortes, aus dem genauso wie aus dem Vater der Heilige Geist hervorgeht. Und in der Familie ist das Kind das „Ebenbild“ des Heiligen Geistes. Seine Stellung der „Sohnschaft“ ist in seiner Ehelosigkeit bewahrt. Im ehelichen Glauben und der familiären Liebe verwirklicht sich das menschliche Sein in seinen tiefsten geistigmenschlichen Beziehungen. Unter der Voraussetzung, dass sie sich als freie Schöpfungen ausgeformt haben, die unauslöschlich ins Sein eingeschrieben sind, verwirklicht es sich als Werk der Ewigkeit: Ewig sind die Personen, und ewig ist die Gegenseitigkeit des Glaubens und der Seinsmitteilung, die Vollendung des Glaubens ist. Die tiefste Wurzel und Grundlage der ehelichen und elterlichen Liebe ist nichts anderes als dieses absolute Wollen, das Gott in sich selbst ist, dass der Andere sei aus dem Einen, und mit ihm der Dritte. Aufgrund dieses dreieinigen Wollens, das er ist, erschafft Gott uns dafür, dass wir in der schrittweisen Entdeckung und Nachahmung seiner eigenen relationalen Vollkommenheit leben, und er bewirkt jenseits unseres zeitlichen Todes für die ganze Menschheit in vollkommener Weise die Vollendung unserer Verpflichtung, gemeinsam glücklich zu sein, indem wir „unter uns“ sind, wie er in sich selbst „unter Dreien“ ist. DER DOMHERR Mir scheint, Sie wollen aus der Ehe ein Sakrament für die Ewigkeit machen. Das ist eine hehre Absicht, aber nicht die Lehre der Kirche. Der Ehebund wird beim Tod eines der beiden Ehepartner aufgelöst. Der Witwer oder die Witwe kann daraufhin mit bestem Recht wieder heiraten und gemäß den Gesetzen der Kirche ein ehrbares Leben führen. Aber eine gewisse Anzahl von Witwern und Witwen haben es vorgezogen, auf diese Möglichkeit einer zweiten Ehe zu verzichten, und haben sich im geweihten Leben ganz Gott hingegeben. Bei vielen von ihnen hat die Kirche eine herausragende Heiligkeit festgestellt und sie dann offiziell für verehrungswürdig, selig DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 453 oder heilig erklärt. Wenn die Ehe nach der Lehre der katholischen Kirche unauflöslich ist, so bezieht sich das nicht auf die Ewigkeit, sondern nur auf die Zeit bis zum Tod eines der Ehegatten. Wenn Sie der Ehe eine Bedeutung für die Ewigkeit beimessen wollen, dann wollen Sie ein moralisches Ideal vorschlagen, welches das vom gesunden Menschenverstand gemeiniglich angenommene bei weitem übersteigt. Aber für jene, die eine größere moralische Vollkommenheit möchten als die der Ehe, gibt es die sogenannten „evangelischen Räte“, also den Weg der drei Ordensgelübde: Armut, Keuschheit und Gehorsam, durch welche der Mann oder die Frau sich ganz und gar, mit Leib und Seele, Gott weiht, und seinen oder ihren ganzen Willen Gottes heiligem Willen unterwirft. Damit folgen sie dem Ruf Jesu, der damals an einen noch jungen Mann erging, der wissen wollte, was er tun müsse, um ins Himmelreich zu gelangen. Und Jesus hatte ihm geantwortet: „Halte das Gesetz“. „Das tue ich seit meiner Kindheit“, hatte dieser Mann geantwortet. „Dann“, fuhr Jesus fort, „wenn du vollkommen sein willst, geh hin, verkauf deinen Besitz, gib das Geld den Armen, und folge mir nach“. Dieser Mann war dem Ruf Jesu nicht gefolgt, aber in der Geschichte der Kirche haben viele Männer und Frauen auf diesen Ruf geantwortet und sind dem Beispiel Jesu und seiner Mutter, der Jungfrau Maria, gefolgt. Aber aus anderen Stellen der Evangelien können wir auch entnehmen, dass Jesus dazu ermutigt, aus Eifer für das „Reich Gottes“ auf die Ehe zu verzichten. DIE GYNÄKOLOGIN Kann also von all den Juden, die Jesus nicht so nachgefolgt sind, keiner ein eifriger Diener des Höchsten sein? Gibt es seit der Ankunft Jesu nur noch unter den Ehelosen der katholischen Kirche „Gerechte“? Und all die jüdischen Märtyrer, die im Laufe der Geschichte abgeschlachtet wurden! DER DOMHERR Das sage ich nicht... Die heutige Kirche sagt nicht mehr, dass der Zölibat der Ehe überlegen ist... Er ist eine freie Antwort auf einen Ruf, und nicht eine Verpflichtung... DIE ANWÄLTIN 454 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Mag sein! Aber unterschwellig ist diese Meinung bei euch immer noch vorhanden. Eure Deutung des Evangeliums, die zu einer derartigen Vorstellung geführt hat, habt ihr nicht verändert. Ich habe leider den Eindruck, und übrigens nicht nur ich, sondern auch andere Angehörige der Kirchen der Reformation, dass ihr mit zwei Zungen sprecht, je nach dem, ob ihr euch an verheiratete Leute oder an Ordensleute richtet. Den Ordensleuten, und vor allem den Ordensfrauen, sagt ihr, dass sie den besten Weg der Heiligkeit gewählt haben, und den anderen sagt ihr, dass ihre Lebensform genauso erhaben ist wie jene der Ordensleute. Es wäre nötig, zu wissen, ob es in diesem Bereich eine doppelte Wahrheit gibt. Ich verkenne keineswegs die Großzügigkeit jener Männer und Frauen — lassen wir gewisse tadelnswerte Übertreibungen ihres religiösen Eifers beiseite —; aber die in dieser typisch „römischen“ Ausdrucksweise unterschwellig vorhandene Theologie erregt nicht nur Ärgernis, sondern sie ist schlicht und einfach falsch und in der Schrift, deren Sinn ihr Katholiken umbiegt, sehr schlecht begründet... Zudem ist dieser „Ruf“ Gottes nicht in allen christlichen Kirchen vernehmbar... DER DOMHERR Nun aber mal langsam... Selbst in denjenigen Kirchen, wo der Zölibat nicht Voraussetzung für das Priestertum ist, gibt es Ordensmänner und Ordensfrauen... DER PSYCHOANALYTIKER Zum Wesentlichen dieses theologischen Streitgesprächs, das hier zwischen zwei Frauen einerseits, von denen eine Jüdin ist, und die andere Lutheranerin, und einem römisch-katholischen Priester andererseits stattfindet, kann ich nichts beitragen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass auf beiden Seiten eine gewisse Anzahl von unbewussten Komplexen im Spiel ist: ein gewisses Aufbegehren der Frauen gegen die römische Kirche, die in ihren Leitungsorganen ausschließlich Männer berücksichtigt, und ein narzisstischer Komplex dieser Amtsinhaber, die sich in den heiligen Texten wiedererkennen wollen, und darin eine Rechtfertigung für ihre Verhaltensweisen suchen. Ein bisschen Klarheit über sich selbst kann gelegentlich hilfreich sein, um eine objektivere Wahrheit zu finden. DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 455 Was denken etwa die katholischen Frauen über das doktrinäre Gehabe der römischen Machthaber ihnen gegenüber? Vielleicht kann die eine oder andere unserer Teilnehmerinnen uns hierüber ins Bild setzen! DER MODERATOR Sie, meine Dame? Ich meine die Krankenschwester?... DER PSYCHOANALYTIKER Keine Antwort! Was muss man daraus schließen? Dass sich die katholischen Frauen weitgehend noch nicht dieser Probleme bewusst geworden sind? Oder dass es je länger je weniger katholische Frauen gibt? Nachdem die Kirche die Naturwissenschaftler verloren hat, nämlich die Physiker im Anschluss an die Verurteilung des Galilei, und im Anschluss an die Zurückweisung Darwins die Biologen, und dann im letzten Jahrhundert zugelassen hat, dass sich die Arbeiterklasse außerhalb von ihr formierte: Ist sie nun heute nicht dabei, sich die Mehrheit der Frauen zu entfremden? Für die Kirche könnte das Schweigen der Frauen noch schädlicher sein als ihr Aufbegehren gegen sie. Der Bildungsmangel der Frauen der Vergangenheit hat aus ihnen folgsame und brave Kirchgängerinnen gemacht, die für den Zölibat der Priester keine große Gefahr darstellten. Und die Unterordnung, die den Frauen in den Kulturen der Menschen auferlegt ist, bringt sie dazu, auch die religiöse Unterordnung zu wählen... Diese ist ja auch leichter zu ertragen als die Unterordnung unter ihre männlichen Gebieter. DER DOMHERR Das ist nicht mehr theologische Argumentation, sondern journalistische Polemik! Als ob die Lehre der Kirche immer auf die Frage nach dem Zölibat oder der Priesterehe, und auf das Verbot des Frauenpriestertums zurückgeführt werden müsste! Als ob es keine wichtigeren Fragen gäbe als das! Und jedes Mal, wenn sich ein „Skandal“ ereignet, wenn ein Priester oder sogar ein Bischof dem Priestertum den Rücken kehrt, um eine sinnliche Bindung einzugehen und eine Familie zu gründen, kommt man auf dieses Thema zurück... Was hat das mit dem katholischen Glauben zu tun? ... DER ERSTE PHILOSOPH 456 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Verzeihen Sie, Herr Kanonikus, aber ich denke nicht, dass man sich über die gemachten Bemerkungen aufregen sollte. Zunächst sollte man die Probleme selbst nicht mit den Gelegenheiten verwechseln, bei denen sie sich stellen. Die Gelegenheiten gehören vielleicht in die Schublade der vielfältigen Ereignisse, aber die Probleme sind ernsthaft. Und dann sind es nicht die Laien, die aus dem Priesterzölibat ein zentrales Element der Organisation der katholischen Kirche machen, sondern die Hierarchie selbst. Genauso ist es die höchste Autorität der katholischen Kirche, die der Ansicht ist, dass nur Männer Priester werden können, und dass die Frauen vom Priestertum ausgeschlossen sind. Und man sagt uns, dass diese Fähigkeit der Einen und Unfähigkeit der Anderen von der „göttlichen Einrichtung der Kirche“ abhängt. Nicht die Gläubigen haben das entschieden. Einige von ihnen sind mit diesem Zustand der Dinge einverstanden, andere nehmen daran Anstoß. Ich denke, das ist ihr gutes Recht. Wenn die kirchlichen Machthaber diese Dinge selber wichtig nehmen, dann soll man es den Gläubigen nicht zum Vorwurf machen, dass sie sie bei jeder Gelegenheit in Frage stellen. Und zudem: Vertiefen die kirchlichen Machthaber denn etwa nicht das Problem, indem sie die Verantwortung für eine derartige Diskriminierung auf Jesus abschieben, wenn sie uns sagen, dass nicht sie die Frauen vom Priestertum ausschließen, sondern dass Jesus selbst es so entschieden hat, und dass die Machthaber in Rom diese Entscheidung gar nicht ändern können? Legen sie damit nicht jenen ein Hindernis in den Weg, die für Jesus offen sind, und dazu neigen würden, an ihn zu glauben, aber davon durch die Machenschaften einer gewissen römischen Verwaltung abgeschreckt werden? Wenn an der Kirche auch viel bösartige Kritik geübt wird — was ich als Philosoph bedaure — so ist es doch wohl so, dass die Kirche zu oft meint, dass jede Kritik und jede Forderung nach Rechtfertigung böse gemeint ist! Dreht sie, indem sie so handelt, nicht der Sache Jesu den Rücken? DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Ihre klärende Stellungnahme ist ausgeglichen. Ich weiß das zu schätzen, umso mehr, als Sie ihre Vorbehalte in Form von Fragen formulieren. Allerdings sollte man den Ausspruch „Das Evangelium ist wunderbar; wenn es doch bloß die Christen nicht gäbe!“ nicht überstrapazieren und die Kirche und Christus DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 457 vorschnell zueinander in Widerspruch setzen. Das ist zwar irgendwie modern. Aber ich gebe zu, dass eine gewisse katholische Theologie zu dieser Reaktion anregt, genauso, wie eine gewisse römische Sturheit in der Vergangenheit viele Katholiken ins Schisma oder in die Häresie getrieben hat. Man muss allerdings auch die Bemühungen um Öffnung mit einbeziehen, die in der heutigen Kirche spürbar sind. Sie sind echt, trotz der in jeder Institution gegebenen Unbeweglichkeiten und Erschwernisse. Und schließlich soll man den Zeitgeist nicht unbeachtet lassen. Die Kirche ist nicht fähig, sich dafür unempfänglich zu machen, und ihre Leseweise der heiligen Texte ist in jedem Zeitalter der Geschichte davon abhängig. Die Historiker stehen noch vor der unermesslichen Aufgabe, Ordnung in das Gewirr von gegenseitigen Einflüssen zwischen Kirche und Kulturen und von Reaktionen gegen diese Einflüsse zu bringen. Bei konfliktgeladenen Situationen braucht man Geduld und Unterscheidungsgabe, und es ist angebracht, jede Frage bis in die letzte Einzelheit sowohl in sich selbst als auch in ihren Beziehungen zu den anderen Aussagen des christlichen Glaubens, sowie auch zu den Überlegungen der Philosophen, zu studieren. Um auf die verschiedenen Themen dieses Kolloquiums über den Glauben zurückzukommen, muss man sehr wohl zugeben, dass die Kirche in der Vergangenheit vor allem eine „Spiritualität des Individuums“ entwickelt hat, eine Spiritualität des Menschen, der „allein“ ist, selbst wenn er in Gemeinschaft mit anderen lebt. Es ist eine Spiritualität von Männern und Frauen, die nebeneinandergestellt sind, jeder individuell vor Gott, also, kurz gesagt, eine Spiritualität für „Mönche und Nonnen“, wie das die Etymologie des lateinischen Wortes „monachus“ besagt. In der Ausformung dieser Spiritualität ist, wie in diesem Kolloquium mehrmals hervorgehoben wurde, der Einfluss des griechischen Denkens nicht zu übersehen. Und diese Art von Spiritualität hat man für alle Lebensformen verallgemeinert, auch für jene der verheirateten Leute, und für Eltern und Kinder in ihrer gegenseitigen Beziehung. Es gab keine eigentlich familiäre Spiritualität. Das Ideal für die verheirateten Leute bestand darin, so zu leben, als ob sie nicht verheiratet wären. Und jenes für die Kinder darin, Erwachsene zu werden, so, als ob sie keine Eltern hätten, und ihre Eltern zu verlassen, um ins Kloster zu gehen. Und gelegentlich bestand das Ideal für die 458 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Eltern sogar darin, ihre Kindern an ein Kloster abzugeben und sich selbst, natürlich getrennt von den Kindern, in ein Kloster zurückzuziehen. Und als Beispiel für dieses Ideal führte man den Leuten das Leben Jesu und Mariens vor Augen, so, als ob beide den „Zölibat“ gelebt hätten. Nun besagen aber die Texte aber einerseits, dass der Mann Jesus der Erstgeborene einer zahlreichen, von Joseph und Maria gezeugten Familie war, und dass andererseits seine vergöttlichte Nachkommenschaft aufgrund seiner personalisierenden Einheit mit dem Wort, und daher gemeinsam mit dem Vater, keine andere ist als die gesamte Menschheit. Aber die Texte, die das aussagen, wurden in Abhängigkeit von dieser individualistischen Auffassung vom Ideal des christlichen Lebens gelesen und ausgelegt. Diese Spiritualität war nicht frei von Großzügigkeit, Hingabe und Selbstverleugnung. Oft bot sie Gelegenheit, erhabene Tugenden auszuüben. Es geht nicht darum, das anzuschwärzen, was Beachtung und Ehrfurcht verdient. Es geht darum, herauszufinden, ob eine derartige Spiritualität wirklich dem Geist des Evangeliums entspricht: ob sich die evangelische Idee vom Leben nur in dieser Form von Spiritualität zum Ausdruck bringen kann. Ich meine, im Anschluss an unsere Diskussionen über die Glaubenschaftlichkeit sagen zu müssen, dass das Evangelium eine andere Form von Spiritualität inspirieren könnte, die dem Ehe- und Familienleben besser angemessen ist. Vielleicht ließe sie sich sogar mit den großen Wahrheiten der christlichen Offenbarung besser vereinbaren, und würde in tieferem Einklang stehen mit der jüdischen, biblischen Überlieferung? DER ANDERE PHILOSOPH Das würde dann ebenfalls ermöglichen, eine Grundlage für eine wahrhaftige Komplementarität zwischen Judentum und Christentum auszuarbeiten. DER SELBSTÄNDIGE THEOLOGE Selbstverständlich! Aus reiner Zerstreutheit habe ich das ausgelassen. DER ANDERE PHILOSOPH Dennoch lag es in der Logik der üblichen Spiritualität der Kirche, zu sagen, dass der Zölibat eine höhere Form des DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 459 moralischen Lebens sei als die Ehe. Die Tatsache, dass diejenigen, die in der Kirche Verantwortung tragen, abgesehen von einigen „Fundamentalisten“, es nicht mehr wagen, so zu sprechen, und auch die Tatsache, dass die traditionellerweise zugunsten des Zölibats beigebrachten Gründe inzwischen mit Schweigen bedacht werden: All das ändert nichts am Vorhandensein dieser Schlussfolgerungen, die sich aus dieser üblichen Spiritualität logisch ergeben. Es gibt also irgendwo eine Fehlerquelle. Wo hat sie sich eingenistet? Sicherlich nicht in der Tatsache, dass diese Spiritualität bei zölibatär lebenden Männern und Frauen bewundernswerte Ansätze der Großzügigkeit hervorgerufen hat, sondern in der Tatsache, dass sie nicht fähig war, die genauso hochherzigen Ansätze von Großzügigkeit bei den Eheleuten und Eltern im Rahmen des normalen Familienlebens anzuerkennen. Wie groß ist der Anteil der Väter und Mütter unter den „Heiliggesprochenen“, im Vergleich zu den unverheirateten Heiligen? Sie wissen genauso gut wie ich, dass er verschwindend klein ist. Das ist ein Zeichen, das auf die Fehlerquelle in der üblichen Spiritualität hinweist. Sie ist falsch, weil sie „unvollständig“ ist. Denn in der Tat schafft sie es nicht, der Gesamtheit der familiären Beziehungen genauso wie dem Zölibat einen „evangelischen Geist“ zu verleihen. Eine andere Spiritualität, die das Gegenteil bewirken würde, also das Eheleben aufwerten und verunmöglichen würde, dass man die Werte des Zölibats anerkennt, wäre genauso falsch. Der Fehler wäre von derselben Art, aber umkehrt. Eine genauso bruchstückhafte Sichtweise. Es ist also an der Zeit, eine Spiritualität zu suchen, die diese beiden Aspekte der Existenz vereinen kann, nämlich jenen des Ehelebens und jenen des Zölibats, beide in ihrer jeweiligen Besonderheit, und ohne sie einander anzugleichen oder den einen dem anderen unterzuordnen. Man könnte dann von einer ganzheitlichen und nicht mehr bruchstückhaften Spiritualität sprechen, von einer Spiritualität, die auf eine ganzheitliche Ontologie gründet, wie nur die relationale es ist. DER PSYCHOANALYTIKER Sie bemühen sich um die Quadratur des Kreises. Zwischen Zölibat und Eheleben muss sehr wohl gewählt werden. Man kann nicht beides gleichzeitig wollen. 460 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER ANDERE PHILOSOPH Natürlich! Eine solche Binsenwahrheit muss nicht diskutiert werden. Aber sie betrifft ausschließlich das Individuum als solches. Indem wir uns auf die Unmöglichkeit, dass es beides wählt, fixieren, bleiben wir gewissermaßen innerhalb des Rahmens einer individualistischen Sicht der Dinge, also im Rahmen eines nicht-relationalen Seinsbegriffs. Um dieser zweifachen Stellung, Zölibat und Ehe, gerecht zu werden, und für beides eine besondere Ethik auszudenken, verfallen wir einer dualistischen Sichtweise: eine höhere Spiritualität für die Mönche und eine tiefer angesetzte für verheiratete Leute. Die eine oder die andere zählt. Sie können einander nur widersprechen, und werden nicht als komplementär aufgefasst. DER THEOLOGIEPROFESSOR In meiner Eigenschaft als Verantwortlicher für die Ausbildung zukünftiger Priester wüsste ich gerne, wie man sie komplementär macht! DER ANDERE PHILOSOPH Nicht ich mache sie komplementär. Sie sind es von Natur aus. Man braucht bloß ihre „Komplementarität“ festzustellen. Das Wort ist nicht ausdrucksstark genug. Man müsste sagen, „die Tatsache, dass sie sich gegenseitig implizieren“. Aber dazu muss man, „in die richtige Richtung schauen“, wie Platon es jenem nahelegte, der das Gute an sich schauen wollte. Das Auge der Seele ist nämlich gut. Es geht nicht darum, blinden Augen das „Augenlicht“ zu geben. DER DOMHERR Sie wollen also sagen, dass man zwanzig Jahrhunderte lang in die falsche Richtung geschaut hat... Das ist allerdings anmaßend! Die katholische Theologie hat sich sehr von Platon inspirieren lassen. Hat also auch Platon in die falsche Richtung geschaut? DER ANDERE PHILOSOPH Ich will lediglich sagen, dass man den Kopf im Lauf von zwanzig Jahrhunderten nach und nach gedreht hat, um nun endlich in die richtige Richtung zu schauen... Platon hat damit begonnen, „aus der Höhle herauszugehen“, indem er versuchte, die widersprüchlichen Thesen des Heraklit und des Parmenides DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 461 zu vereinbaren. Aber er war sich bewusst, damit gescheitert zu sein. Aristoteles hat gewisse Fehler verbessert, aber der Einheitsbegriff im Sinne des Parmenides blieb als Blockierung bestehen. Die Ausarbeitung muss weitergeführt werden, die „Blockierung“ muss gelöst werden, und auf die platonischen und die von ihnen abhängigen neuplatonischen Vorstellungen muss man radikal, also von Grund auf, verzichten. Sie beinhalteten, dass man sich durch Verzicht auf alle Verlänglichkeiten des Körpers, nicht nur auf niedrige sexuelle Triebbefriedigung, sondern auch auf den ehelichen Akt, zu den geistigen Wirklichkeiten aufschwingt, und sich in reinerer Weise dem Göttlichen nähert... dem in sich Einen, in dem man sich dann mystisch auflösen würde. DER DOMHERR Aha! Und wie soll man auf diese heidnischen Vorstellungen verzichten? DER ANDERE PHILOSOPH Indem man als Reflexionsgrundlage der totalen Spiritualität eine Ontologie nimmt, die der klassischen Ontologie kontradiktorisch widerspricht, und keine bruchstückhafte, individualistische Spiritualität zulässt. Ich sehe keine andere derartige Ontologie als die relationale. Sie ist rational begründet und ermöglicht uns ein in sich stimmiges Verstehen der Offenbarung Gottes in der Person Jesu. Gott ist in sich selber eine aus drei Personen bestehende Familie, die uns als ihr Abbild als familiäre Seiende erschafft, und er erhebt uns auf die Weise einer familiären Beziehung in seine eigene Vollkommenheit. Ich wiederhole es mit den Worten der Offenbarung: Der Vater mit seinem in Christus inkarnierten Wort, also beide, erheben uns in eine universale, im Geist „vergöttlichte“ Brüderlichkeit. Indem sie das tun, befreien sie uns von unserer Fähigkeit, zu sündigen, und von jeglicher Unvollkommenheit unserer Freiheit in unseren interpersonalen menschlichen Beziehungen. In diesem Sinne ist die Vergebung Gottes nicht nur eine durch Worte vollzogene „Lossprechung“ von unseren Fehlern, ein Ausradieren unseres Schuldscheins, sondern eine wahrhaftige Wirklichkeit, die der gegenwärtigen gegenüber neu ist, wie das auch auf seine Offenbarung in der Schöpfung zutrifft. 462 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Die trinitarische Fruchtbarkeit des Reiches verwandelt uns am Tag unseres letzten Tages, sie „rechtfertigt“ uns, „erschafft uns neu als Gerechte“, und zwar aus erschaffenen Sündern, die wir sind und zurzeit auch bleiben. Sie versetzt uns in eine Ordnung der vollkommenen Gerechtigkeit und Heiligkeit in unseren interpersonalen Glaubens- und Liebesbeziehungen. Ganz auf sich allein gestellt kann eine menschliche Person gar nicht, in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit, in angemessener Weise von einem Gott Zeugnis ablegen, der Dreieinigkeit von Personen ist, und von seinem Werk in seiner dreieinigen Entfaltung. Niemand kann das dadurch, dass er sich in seiner einzelnen Individualität denkt: weder ein einzelner Mann, noch eine einzelne Frau, noch ein einzelner Dritter, der gemeinsam aus dem Mann und der Frau hervorgeht. Die geschlechtliche Existenz des Mannes und der Frau ist die Bedingung dafür, dass geistige Personen in der Welt inkarniert sein können, in Zeit und Geschichte, dass sie sich aktualisieren können und ihre geistige Beziehungsbedingtheit in ontologischer Ähnlichkeit mit dem Gott, der sie erschaffen hat, verwirklichen können. Das, was am menschlichen Sein am höchsten geistig ist, ist auch tiefer fleischlich als alles andere. Wir müssen uns dieser geistigen Würde bewusst sein, die sich im menschlichen Körper zum Ausdruck bringt, und die sich ohne ihn nicht so verwirklichen könnte, dass unser Leben menschlich unwiederbringlich und vollkommen gelingt, und ein „Lob der Herrlichkeit“ Gottes darstellt, um einen Ausdruck des heiligen Paulus aufzugreifen. In ihrer ehelichen und elterlichen Bindung bezeugen Mann und Frau durch die Wirklichkeit ihrer Personen, und nicht nur durch Worte oder lehrmäßige Äußerungen, den Vater und sein ewiges Wort in ihrer ewigen Fruchtbarkeit gegenüber dem Heiligen Geist. Und der Mann oder die Frau, der/die sich für den Zölibat entscheidet, ratifiziert in unwiederbringlicher Weise seine/ihre sohnhafte Beziehung als „Dritter“ in der Familie. Dadurch bezeugt er durch seine ganze Person, und nicht nur durch Worte oder dogmatische Formeln, die ewige Person in Gott, die der Heilige Geist ist, die uns brüderlich in unsere Vergöttlichung aufnimmt. Der Zölibat, ein bleibendes Zeichen der Sohnschaft, ist daher das vorausgreifende Abbild unserer Vergöttlichung in Brüderlichkeit im Heiligen Geist. Um des Reiches Gottes willen... oder, im Hinblick auf das Reich Gottes“, sagte Jesus. Das heißt nicht, dass wir nach dem Tod DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 463 wieder zu zölibatären „Individuen“ werden. In ähnlicher Weise ist die eheliche und elterliche Liebe die Analogie des Vaters und des inkarnierten Wortes in ihrem Werk der Vergöttlichung der Menschheit. Das christliche Ehepaar zeugt seine Kinder im Hinblick auf deren Auferstehung. DER DOMHERR Das ist ein Blick in eine sehr ferne Zukunft... in eine sehr, sehr, sehr ferne Zukunft… DER ANDERE PHILOSOPH Und doch ist es diese Vision, die Paulus hatte, als er an seine Gemeinde in Korinth schrieb: „Genauso, wie der Mann das „Haupt“ der Frau ist (ergänzen Sie: die Frau ist das „Herz“ des Mannes), so ist Christus das „Haupt“ (der Offenbarer Gottes) der Kirche (für die Verkündigung des Evangeliums) und Gott (der Vater) ist das Haupt Christi (des inkarnierten Wortes, des Retters der Menschheit).“ DER EXEGET Sie bereichern den Text nachhaltig... Andere Kommentatoren sehen darin nur eine Rangordnung in der Ausübung von Autorität. Gott befielt Christus, Christus befielt der Kirche, die Kirche befielt den Gläubigen, wie der Mann seiner Frau. DER ANDERE PHILOSOPH Wenn dem so ist... Welch ein Rückschritt zu gewissen orientalischen Gewohnheiten, die leider immer noch gepflegt werden... Dagegen muss die dreieinige Wirklichkeit Gottes in ihrer letzten Verständlichkeit die christliche Spiritualität inspirieren, die sich auf das Evangelium beruft. In Gott sind die Personen einander an göttlicher Würde gleich, und ihre besonderen Beziehungen implizieren einander, ohne sich einander anzugleichen oder in einer einzigen Individualität unterzuordnen. Männern und Frauen obliegt es nun, sich dessen bewusstzuwerden, und Gott in den besonderen Beziehungen, in denen sie sich vollkommen verwirklichen, zu bezeugen: in der elterlichen Ehelichkeit und im sohnhaften Zölibat. In einer Familie ist das Kind der Segen des Heiligen Geistes. In Israel ist das Kind der Segen, den Gott durch seinen Bund mit Abraham 464 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN und Sara erteilt. Gott setzt sich für die Nachkommenschaft Abrahams und Saras ein, indem er mit ihnen zusammen handelt, so, wie er in sich selbst zu Mehreren existiert. Der Sinn der menschlichen Liebe und ihrer familiären Beziehungen und die Kraft, etwas für die Ewigkeit aufzubauen, haben ihre tiefsten Wurzeln in Gottes Sein an sich, das von dreieinig-familiärem Wesen ist. Ich wage zu denken, dass diese Sichtweise unserer Entscheidung für eine Lebensweise, oder unser Verständnis von unserer Lebensweise tiefgreifend anregen kann: eheliche und elterliche Liebe, oder sohnhafter Zölibat. Die evangelische Ehe und der evangelische Zölibat sind gemeinsam notwendig, um die trinitarische Offenbarung in Christus gemäß den Grundsätzen von ein und derselben relationalen Spiritualität zu bezeugen. Diese Offenbarung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern in Israel inkarniert, in dem Volk, das sein Bleiben in der Zeit als ehelichen Bund des Höchsten mit ihm verstanden und gelebt hat. Dadurch hat Israel der menschlichen Existenz einen Sinn verliehen, an dem die gesamte nicht-jüdische Menschheit teilhaben kann. Einen Sinn, den die Christen, um Christen zu sein, mit Israel gemeinsam haben müssen, anstatt ihn Israel zu entreißen... wenn sie zusätzlich den Sinn des göttlichen Wortes in Christus und für unsere Teilhabe an der Sohnschaft des Geistes bezeugen wollen. DER DOMHERR Ihre Antworten treiben mich in die Enge. Ich entgegne Ihnen also einen letzten Einwand. Sie sagen, dass die Familie in ihrer ontologischen, dreigliedrigen Struktur das Abbild der Dreieinigkeit ist. Nun ruft aber in Gott der Erste, der Vater genannt wird, den Anderen, sein Wort oder seinen Sohn, allein ins Sein. In der menschlichen Familie ruft der Mann die Frau nicht ins Sein. Er begegnet ihr, wählt sie aus, oder besser gesagt, er erkennt sie... und ist von ihr ausgewählt und erkannt. Sie schenken einander ihren Glauben und verloben sich, und heiraten danach, zeugen ihre Kinder und werden Vater und Mutter. Die Beziehung in der Ehe ist also nicht ein Abbild der Dreieinigkeit. Es gibt nicht, wie in Gott, eine anfängliche Lebensweitergabe durch den Mann an die Frau. DER ANDERE PHILOSOPH DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 465 Das ist normal. Es muss sogar so sein. Es ist das Zeichen dafür, dass die Initiative zur Schöpfung und ihrer Ausfaltung in der Zeit ausschließlich und absolut bei Gott liegt. Der männliche Mensch kann in keiner Weise in seinem Sein die am Anfang stehende Macht haben, den weiblichen Menschen ins Sein zu rufen. Der Autor des zweiten Kapitels des Buches Genesis hat das wunderbar verstanden. Gott erschafft den Mann, und aus dem Mann zieht er die Frau hervor und ruft sie aus ihm ins Sein. So legt er in das Menschliche an sich ein „Abbild“ seiner ersten Zeugung, aber er gesteht dem Mann nicht die Initiative für dessen Möglichkeit zu. Eine derartige Initiative setzt die absolute Macht, ins Sein zu rufen, voraus, und ist eine ausschließliche Eigenschaft Gottes, die mit seinem Sein an sich identisch ist. Aber ausgehend von dem, was sie sind, überlässt Gott dem Mann und der Frau die Initiative, sich „Dritten“ mitzuteilen, ihren männlichen und weiblichen Kindern, die sie zeugen werden. Die Initiative im Ehepaar und in der Familie verwirklicht sich in Abhängigkeit von der absoluten Initiative Gottes. Die Glaubenschaft-zu-Gott gesteht Gott die absolute Initiative bezüglich seiner Offenbarung zu. Folglich hat jede Vorstellung und jede Verhaltensweise der Überlegenheit oder der mehr oder weniger gewaltsamen Herrschaft des Mannes über die Frau etwas mit dem Willen gemeinsam, über die Frau zu verfügen, und ihr gegenüber die erste Initiative innezuhaben. All diese Verhaltensweisen sind also ein Missverständnis oder ein Widerspruch zur absoluten Initiative Gottes, der die lebensweitergebende Beziehung von Mann und Frau so eingerichtet hat, dass sie sich auf einen von ihnen selbst verschiedenen „Dritten“ ausrichtet. Man kann also sagen, dass diese Versuche, zu beherrschen, die ursprüngliche Form des Bösen in der Menschheit sind, die höchstmögliche Stufe der Weigerung, Gott in Wahrheit zu gehorchen. Wenn wir nun unsere „Vergöttlichung“, die vom Bösen befreit, betrachten, sehen wir auch, dass der Vater sein Wort in die Menschheit „sendet“, und dass die Macht zum „Heil“ in Christus in Abhängigkeit vom Vater und vom ewigen Wort zur Ausübung kommt. Unser Heil wird also im Geist gewirkt, der an ontologisch dritter Stelle steht. Jesus hat in seiner Menschheit diese absolute Initiative des Vaters voll und ganz anerkannt. Deshalb war sein „Gehorsam“ vollkommen. 466 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN DER DOMHERR Das ist ein sehr „spekulativer“ Gehorsam, der sich auch viel leichter ertragen lässt als das Kreuzesopfer... Aber lassen wir das... Ich habe noch einen schwerwiegenderen Vorbehalt... Ihr Vergleich zwischen der trinitarischen Struktur Gottes und jener der menschlichen Familie wird durch die Sprache der Liturgie des Irrtums überführt. Sie sagen, dass sich das Wort in Gott dem Vater gegenüber in einer „bräutlichen“ Stellung befindet, und dem Geist gegenüber in „mütterlicher“ Stellung, der wiederum gegenüber dem Vater und dem Wort eine „kindliche“ oder „sohnhafte“ Stellung innehat. Nun sagt die Liturgie aber, dass das Wort auch der „Sohn“ des Vaters ist, sein ewiger Sohn. Wie kann es „Wort-Braut“ und Sohn sein? Außerdem haben Sie gesagt, dass Sie als Glaubender den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist anbeten. Also... DER ANDERE PHILOSOPH Ja, und wie jeder Christ mache ich mein „Kreuzzeichen“, und das sehr bewusst... Sie sprechen von Liturgie... Ich werde Ihnen als Glaubender antworten... Mir scheint diese Benennung „einziger Sohn“ natürlich zu sein, da es sich um das religiöse Vokabular handelt, das die rettende Trinität beschreibt, also um das Vokabular des „apostolischen Glaubensbekenntnisses“. Die Benennungen der Personen der Trinität wurzeln im Ereignis der Inkarnation des Wortes in der geschaffenen Menschheit. DER DOMHERR Und wie verstehen Sie diese Benennung „einziger Sohn“, bei der es sich ja um eine ewige Sohnschaft, und nicht um eine eheliche Beziehung handelt? DER ANDERE PHILOSOPH Ich verstehe sie als Theologe. Und eben deshalb gebe ich mich nicht mit der religiösen Sprache zufrieden, die zwar eine transzendente Offenbarung bezeugt, sich aber um die ontologische Kohärenz der symbolträchtigen Symbole, die sie gebraucht, keine Gedanken macht. Es reicht aus, eine symbolisierte Wirklichkeit ins Auge zu fassen, die ins sich ontologisch kohärent sein muss. Der glaubenschaftliche Glaubende, der die Rationalität des Glaubens verstanden hat und eine an sich verständliche Offenbarung verlangt, um so durch die Qualität seines Glaubens Gott, den Schöpfer und Offenbarer, DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 467 zu ehren, bemüht sich, eine ontologisch kohärente Verständlichkeit dieser göttlichen Offenbarung zu erreichen. Der religiös Glaubende ehrt Gott auf seine Weise. Möge sie immer noch gültig sein! DER DOMHERR Sie erfinden nichts! Das ist genau das, was die großen heiligen Theologen immer schon versucht haben... DER ANDERE PHILOSOPH Das freut mich... Ich bemühe mich lediglich darum, sie nachzuahmen... Und dazu bediene ich mich der relationalen Philosophie, die ich Ihnen dargelegt habe, und des Gottesverständnisses, das mir durch diese Philosophie ermöglicht wird. Hinter der Benennung „einziger Sohn“ steht in der Bibel eine ganze Geschichte. Auf Isaak bezogen bedeutet sie eine Bevorzugung in der Liebe: „Mein meistgeliebter Sohn“. Das Evangelium lässt eine „Stimme vom Himmel“ in Erscheinung treten, die sagt: „Derjenige, an dem ich mein ganzes Wohlgefallen habe“. Diese Liebe ist die Grundlage der Einzigkeit des Sohnes. Der „Sohn“, um den es sich im Falle Jesu handelt, ist ein „Menschensohn“, ein bevorzugter Sohn, der unter allen Menschensöhnen herausragt. Dieser „Menschensohn“ ist aufgrund der göttlichen Gegenwart in ihm einzig. Die Einzigkeit dieses Menschensohnes bedeutet keineswegs, dass er der einzige Sohn Mariens ist. Einzig unter allen Menschen aufgrund der göttlichen Gegenwart, die in ihm wohnt, ist er wohlgemerkt auch unter den anderen Kindern von Joseph und Maria nur deshalb einzig. Das liegt auf der Hand. Niemals hat eine andere Frau, oder auch Maria selbst, ein zweites Mal einen derartigen Sohn geboren. Und niemals haben Maria, und sie genauso wenig wie Joseph, die in ihrem Sohn gegenwärtige Gottheit hervorgebracht. Aber sie sind voll und ganz die Eltern dieses von der göttlichen Gegenwart bewohnten Sohnes. Wie sind sie sich dessen bewusst geworden? Das ist eine andere Frage. Die göttliche Gegenwart im „Menschensohn“ bedeutet genauso wenig, dass diese göttliche Gegenwart in Gott eine sohnhafte Wirklichkeit wäre, auch wenn diese göttliche Gegenwart in einem Menschensohn diesem Sohn die Stellung 468 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN des „ewigen Sohnes“ Gottes verleiht. Diese Tatsache verdoppelt die Bedeutung der Vaterschaft Gottes. Insofern er Schöpfer ist, kann Gott „Vater“ genannt werden, und zwar im symbolischen Sinn, da seine schöpferische Tätigkeit hier im besonderen als an den menschlichen Personen ausgeübt gedacht wird. In unserer menschlichen Erfahrung gibt es kein stärkeres und bedeutsameres Symbol. Und außerdem, und zwar in herausragender Weise, ist Gott „Vater“ dieses „Menschensohnes“. Dieser Gott, der Schöpfer ist und sich in diesem „Menschensohn“, Jesus, zeigt, ist auch der Geist, der die Menschheit leitet und Ihm näher bringt. Wir haben es hier mit einer im Rahmen des biblischen Monotheismus der Zeit Jesu entstandenen Trilogie der Namen Gottes zu tun, und nicht Gottes selbst, sondern Gottes in seiner Beziehung zur Menschheit. Diese Trilogie ist nicht ausreichend erklärt. Außerdem wirft sie sehr schnell zahlreiche Fragen auf. Die Antworten lassen sich in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe enthält all jene Antworten, die darauf hinauslaufen, dass es einen einpersönlichen Gott gibt, der in drei Abschnitten seines Handelns betrachtet wird: Schöpfung, Offenbarung, Heiligung. Die zweite Gruppe führt uns eine pyramidale Sicht vor Augen: ein einpersönlicher Gott, der bei seinem Werk die Hilfe eines verherrlichten „Mittlers“ zugunsten der Menschen in Anspruch nimmt. Die dritte Gruppe anerkennt mit wachsender Klarheit, dass die Wirklichkeit der Schöpfung und einer Offenbarung des Heils die Existenz eines dreipersönlichen Gottes voraussetzt. Die Inkarnation Gottes in einem „Menschensohn“ ist nicht nur ein Akt der schöpferischen „übergroßen Macht“, die sich eines „Gottesmannes“ bemächtigt, der so ein „Demiurg“ würde, sondern eine wirkliche göttliche Gegenwart in einem Menschen. In einem Menschen bildet die göttliche Gegenwart einerseits mit der menschlichen Natur eine dermaßen totale personale Einheit, und behält andererseits eine derartige Unterscheidung von der menschlichen Natur bei, dass diese Unterscheidung in Gott selbst begründet sein muss, und dass sich die Vorstellung von einem einpersonalen Gott nicht mehr mit einer derartigen Offenbarung vereinbaren lässt. Wie soll man diese göttliche Gegenwart in einem Menschen, Sohn von Menschen, bezeichnen, die diesen Menschen personalisiert und aus ihm, in den Augen der Menschen, einen DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 469 unter den Menschen „Einzigen“ macht? Es ist natürlich, dass dazu der Titel „Gott Sohn“, „Gott, ewiger Sohn des Vaters“ gebraucht wird, um die durch diese Gegenwart implizierte Unterscheidung in Gott selbst hervorzuheben. Das bedeutet nicht, dass dieser Name aufgrund der menschlichen Sohnschaft Jesu einen ontologischen Status der Sohnschaft in Gott impliziert. Aber man kann die Beziehung „Vater-Sohn“ symbolisch und innerhalb eines kulturellen Rahmens, und also auch außerhalb ihrer ontologischen dreigliedrigen Struktur verwenden, um eine Beziehung von anderer ontologischer Art zu bezeichnen, insofern sie an die symbolhafte kulturelle Beziehung „Vater-Sohn“ erinnern kann. Das ist eine Ausdrucksmöglichkeit der spontanen religiösen Sprache. Und diese Möglichkeit besteht auch innerhalb der ausgefeilten, theologischen Sprache, vorausgesetzt, dass diese weiß, dass man sie nicht ontologisieren darf. Johannes, der Apostel, den Jesus besonders achtete, und den er in meditativen Gesprächen über hochstehende Reflexionen über seine eigene Person und seine Heilssendung in besonderer Weise hat ausbilden können, hatte diese Stellung verstanden. Eben deshalb hat Johannes versucht, uns einerseits das „offenbarende Wort“ Gottes als eine in Gott und von Gott, der es ausspricht, unterschiedene lebendige Wirklichkeit vor Augen zu führen, und andererseits dieses Wort, das Gott in sich selbst ausspricht, mit dem „Menschensohn“ gleichzusetzen, der sein Herr war. Kann man etwa nicht sagen, dass der Schöpfergott, der das Menschliche nach seinem Abbild erschaffen hat, die Frau in der Weise aus dem Mann hervorzieht, wie der Vater, der die „Stimme“ ist, in sich selbst den Anderen, der sein Wort ist, ins Sein ruft? Deshalb muss der Mann der Frau Wirklichkeit verleihen, weil ihre menschliche Stimme nur dann eine wirkliche Stimme ist, wenn sie sein Wort ausspricht. Sagt Adam in der Schöpfungsszene etwa nicht: „Das ist der Knochen von meinem Knochen; das Fleisch von meinem Fleisch“? Ohne dieses Wort, oder wenn dieses Wort nicht möglich wäre, könnte er selbst nicht existieren, und genauso wenig seiner Frau ihren Namen geben, „Mutter aller Lebenden“, und also auch nicht mit ihr zusammen sich auf den lebendigen Dritten hinbewegen, der aus ihrem Blut hervorgeht. DER PSYCHOANALYTIKER 470 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Ich persönlich könnte mir gut vorstellen, wie sich Ihr Symbol auch zu einer Trilogie ausweitet: die Stimme, das Wort und das Echo, das von dem Wort und der Stimme geschaffen wird... DER DOMHERR Und wiederum haben Sie alles zu Ihren Gunsten gewendet... Aber ich werde mich erst dann geschlagen geben, wenn ich alles verstanden habe... Herzlichen Glückwunsch... trotzdem. DIE HISTORIKERIN Danke, dass Sie die Rolle der Frau in den glaubenschaftlichen Beziehungen hervorgehoben haben. Ohne Mutterschaft gibt es also keine Vaterschaft, nicht einmal in Gott... Das ist es, was zählt, damit unsere Würde wahrhaft anerkannt werde... Aber als Historikerin habe ich noch eine Frage. Die Denker der jüdischen Religion, sagen wir, jene des rabbinischen Judentums, haben die Gedanken Jesu nicht geteilt. Zudem finde ich in den historischen Zeugnissen keine Fragestellung, die der Ihrigen gleicht. Schreiben Sie nicht die Geschichte neu, und zwar so, wie sie in Ihrer Ansicht nach hätte sein sollen? DER ANDERE PHILOSOPH Keineswegs, selbst wenn man den Eindruck haben kann! Der Grund ist, dass die Philosophie hinter der „beobachtbaren“ Geschichte, also jener der Historiker, aber nicht ohne diese „Geschichte der Historiker“, die Geschichte dessen wahrnimmt, was sich im tiefsten Inneren des menschlichen Wesens abspielt. Es ist wahr, dass die Juden sich die Frage nach der Bedingung für die Möglichkeit eines Schöpfungsaktes in Gott kollektiv und explizit noch nicht gestellt haben, und ebenso wenig jene nach dem Ausmaß dieses Schöpfungsaktes, also nach seiner transzendenten „Zukunft“. Genauso wenig wie die christlichen Denker, wohlgemerkt! Als ich Ihnen vor wenigen Augenblicken Buber und Levinas zitierte, zeigte ich, dass es mir naheliegt, zu denken, dass die intellektuellen Voraussetzungen für das Aufkommen einer derartigen Frage von jüdischen Denkern, oder Denkern, die aus jüdischen Quellen schöpfen, jetzt oder in Zukunft geschaffen werden. DER PHYSIKPROFESSOR DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 471 Haben die Juden besondere Gründe, diese Frage zu stellen? In der Tat sind Sie es, wie ich höre, der die Frage nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit des Schöpfungsaktes stellt, und Sie sind kein Jude, sondern Christ! Also? Hierin liegt eine Ungereimtheit, die ich mir nicht erklären kann. Sie meinen, im Judentum einen inneren Weg festzustellen, auf dem es sich aber nicht bewegt... DER ANDERE PHILOSOPH Auf dem es sich doch, bis zu einem gewissen Punkt, bewegt... Ich schöpfe eben gerade als Christ aus den Quellen des Judentums! Und das sogar, indem ich das ganze griechische Erbe des Christentums „durchquere“. Während meines Philosophiestudiums wurde mir zunächst bewusst, dass die christlichen Theologen nicht fähig waren, die Wahrheiten ihres Glaubens mit den von ihnen benutzten griechischen Philosophien zu rechtfertigen. Dann habe ich festgestellt, dass das griechische Denken nicht fähig ist, die einfache menschliche Glaubensfähigkeit zu begründen. Die griechische Philosophie — was immer ihre Verdienste sein mögen, die ich als Philosoph keineswegs in Abrede stelle, da ich ja ihre Methode übernehme — kann unseren natürlichen „Glaubenstrieb“ — um den von unserem Psychoanalytiker geprägten Begriff wieder aufzunehmen — nicht einzig durch die Begriffe, die sie ausgearbeitet hat, begründen. Das griechische Denken verfügt also auch nicht über Begriffe, die es ermöglichen würden, die jüdische Form dieses „Triebs“, und die evangelische Botschaft, die mütterlich daraus hervorgegangen ist, richtig zu analysieren. Um angenommen zu werden, beruft sich das Evangelium auf beide, also auf die dynamische natürliche Glaubensfähigkeit, und auf deren Ausarbeitung und Ausformung durch das Volk Israel im Laufe der Geschichte, bis heute. Ich erkläre mich, anhand des Beispiels, das wir gerade diskutieren. Für die Juden ist Gott der Befreier, und sogar, wenn man das so sagen will, Begründer ihres Volkes und also Schöpfer aller Völker. Für die Griechen ist Gott das vollkommene substantielle Sein, das sich selbst in seiner Einsamkeit genügt. Er kann also nicht einmal die kleinste Kenntnis von den Menschen auf der Erde haben. Dagegen möchten diese ihn kennen, ihn schauen, und sie fühlen sich zu ihm hingezogen, weil er der wunderbarste Gegenstand ist, den sie sich vorstellen können. Aber er ignoriert sie seinerseits in seiner „herrlichen Isolation“. 472 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Fassen wir doch, da unser Kollege uns gebeten hat, die Hoffnung auf die zukünftigen Möglichkeiten der katholischen Theologie nicht aufzugeben, die Lösung ins Auge, die sie uns „in der Vergangenheit“ vorgelegt hat, nämlich ein „gewaltsames“ Zusammenfügen der beiden Vorstellungen! Sie löst das Dilemma zwischen der solitären, absoluten Vollkommenheit Gottes und seiner Schöpfungstätigkeit, indem sie sagt, dass er alles erschafft „und alle Dinge dadurch erkennt, dass er sich selbst erkennt“. Und da das rational unverständlich ist, erklärt sie, dass es sich um ein Geheimnis handelt, das man glauben muss! Aber lassen wir das! In Wirklichkeit ist eine derartige Aussage nichts weiter als eine Art und Weise, beide Seiten des Dilemmas für wahr zu halten, ohne die Verständlichkeit ihrer Beziehungen aufzeigen zu können. DER PHYSIKPROFESSOR Und woher kommt diese Unfähigkeit, dieses falsche Dilemma aufzulösen? DER ANDERE PHILOSOPH Wenn man von einem Seinsbegriff ausgeht, der von der totalitären Vorstellung von der ungeteilten Einheit beherrscht ist, und außerdem noch durch ein Missverständnis der Verständlichkeit der Verneinung im Sein behindert ist, kann man das Prinzip der Einheit der Gegensätze dieses falschen „Dilemmas“ nicht aussagen. Aristoteles und die Juden sind in diesem Punkt logischer vorgegangen. Für Aristoteles ist Gott allein, und für die Juden ist Gott nicht vollkommen... Aber ihre Logik wird nicht der ganzen Wirklichkeit gerecht. Ihre miteinander logisch unvereinbaren Standpunkte können beide falsch sein. Und sie sind es. Die Wahrheit verlangt zweierlei: dass man der ganzen Wirklichkeit gerecht wird, und logische Genauigkeit. Unsere Begriffe von der göttlichen Vollkommenheit und von der Schöpferkraft müssen nicht nur vereinbar sein, sondern sie müssen einander implizieren. Allerdings ist der jüdische Standpunkt demjenigen des Aristoteles vorzuziehen, da er in dem Sinn „fruchtbarer“ ist, dass er nicht spekulativ in der Unbeweglichkeit stehenbleibt und festgefahren ist. Vielleicht ist er psychologisch „blockiert“, — eine Blockierung, deren Sinn für den Geschichtsphilosophen und den Geschichtstheologen sicherlich ersichtlich ist — aber er bleibt in zweifacher Weise „offen“: spekulativ offen für den DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 473 menschlichen Verstand, und ontologisch offen, wenn ich das so sagen kann, für das Handeln Gottes am Menschen. Der Standpunkt des Aristoteles schließt Gott in seine Einsamkeit ein. Aber diese Gefangenschaft gibt es nur in den Gedanken der Menschen. Sie kann Gott also nicht betreffen, und auch seine Handlung nicht behindern. Aber da sie ein im Menschen befindlicher Gedanke ist, kann sie den Menschen daran hindern, das Handeln Gottes an ihm zu verstehen. Er sagt sich dann, dass er vor einem „Geheimnis“ steht. Die Einigung und die Lösung unseres Dilemmas muss also zwischen dem jüdischen Standpunkt und den Ansprüchen der menschlichen Vernunft als solcher, und nicht der menschlichen Vernunft in ihrer griechischen Ausformung, gesucht werden. Eben deshalb hat Gott seine persönliche Offenbarung in Jesus im Judentum vollzogen, und nicht innerhalb der griechischen Kultur, die tatsächlich grundlegend unfähig ist, eine derartige Offenbarung unmittelbar von Gott zu empfangen. Sie wird lediglich eine menschliche „Verkündigung“ dieser Offenbarung empfangen, und im Versuch, sie zu verstehen, wird diese ihr dann noch ihre spekulativen Unzulänglichkeiten auferlegen. Obwohl sie darum besorgt ist, die Offenbarung nicht zu verformen, wird sie sie dennoch verbiegen. DER MODERATOR Alle guten Dinge haben ein Ende... Eine letzte Frage aus der Zuhörerschaft... Leider haben wir nicht mehr die Zeit, darauf zu antworten... Ich leite sie an Herrn Debruquel weiter, an den sie gerichtet ist, und der sicherlich auf gebührende Weise antworten wird... Unser Meinungsaustausch war ertragreich. Dennoch habe ich den Eindruck, dass wir dieses Seminar nicht unversehrt verlassen werden. Viele gewohnte Ideen sind erschüttert worden, und neue Wege öffnen sich vor uns, um das Leben anders, begeisternder aufzufassen... Wir laufen auch Gefahr, die Schrift durch eine neue Brille hindurch zu lesen. Vielleicht werden wir Neues entdecken! Ich möchte Ihnen eine letzte Frage stellen. Möchten Sie die „Mitschrift“ dieses Kolloquiums erhalten?... Alle möchten es! Welch eine Einstimmigkeit! In diesem Fall können wir alle einen herzlichen Dank an das technische Personal richten, das unsere Diskussionen ungekürzt aufgenommen hat. Sie haben das 474 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN kleine Geschenk, das ich ihnen nun im Namen von uns allen übergeben werde, redlich verdient. Es wird geklatscht... Ich werde dafür sorgen, dass die Niederschrift dieser Aufnahmen nicht zu lange dauert, und dass jedem so bald wie möglich seine Kopie zugestellt wird. Die Lektüre wird uns sicherlich Anlass geben, die Kontakte wieder aufzunehmen und unsere Diskussion auf andere Weise fortzuführen. Die Liste der Teilnehmer und ihre persönlichen Daten sind der „Mitschrift“ dieses Kolloquiums beigefügt, das tatsächlich jenes der „Glaubenschaftlichkeit“ war. Es ist ganz selbstverständlich, dass Ihre Freunde und Bekannten, die diese Mitschrift lesen werden, ebenfalls an diesem Austausch teilnehmen dürfen. Nun möchte ich Ihnen nur noch wünschen... oder vielmehr, wir möchten einander einen angenehmen und lehrreichen Aufenthalt in Israel wünschen, im Land der Nachkommenschaft Abrahams und Saras, im Land des Erwachens des Glaubens, im Land der Offenbarung Gottes in Jesus, im Land, das in herausragender Weise das Land der menschlichen Glaubenschaftlichkeit ist. Auf ein gemeinsames Wiedersehen! EINE FRAGE AUßERHALB DER SITZUNG EINE FRAU AUS DER ZUHÖRERSCHAFT meldet sich verspätet zu Wort: Ich bin geschieden. Meine Kinder leben bei mir, wegen des gewalttätigen Verhaltens des Vaters und seiner Weigerung, zu arbeiten. Aufgrund meiner grauenhaften Erfahrungen im ehelichen und familiären Leben frage ich mich, wie die Familie Abbild Gottes sein kann. Mein ältester Sohn nimmt jedes Mal daran Anstoß, wenn man sagt, dass Gott „Vater“ ist. Ihre Philosophie gilt nur für die glücklichen Leute, oder für jene, die noch von ein paar Krümeln wiederhergestellten Glücks träumen können... Ich bin in diesem Fall nicht allein... Gibt es vielleicht auch Männer, die Gründe haben, so zu denken wie ich?... Entschuldigen Sie die Brutalität meiner Frage... Übrigens wollte ich sie nicht wirklich stellen... Nur jetzt, am Schluss Ihrer Diskussionen, überwinde ich mich dazu... Vielleicht zu spät...! HERR DEBRUQUEL Ich wünschte, ich könnte passende Worte finden, um Ihr Leid zu teilen!... Aber ich weiß, dass kein Wort dieses schmerzhafte Scheitern der Existenz heilen kann. Bei Scheidungen ohne Kinder ist der Bruch nur gefühlsmäßiger Art, wenn man das so sagen kann... Ein Neuanfang ist möglich... Man muss dann wünschen, dass er durch den vorausgegangenen Misserfolg nicht behindert wird. Aber wenn Kinder da sind, bleiben die Trümmer eines Bauwerks des Glücks, das untergegangen ist, für immer gegenwärtig. Die große Schwierigkeit liegt darin, die elterliche Beziehung so gut wie möglich weiterzuführen, sei sie nun väterlich oder mütterlich, dem Kind oder den Kindern gegenüber; und das, obwohl die eheliche Beziehung, die sie in die Existenz gerufen hat und sie während ihrer ganzen Existenz unterstützen sollte, nicht mehr ist... Wie kann man Mutter sein, und nicht mehr wirklich Ehefrau? Wie kann man Vater sein und nicht mehr wirklich Ehemann? Wie kann das Kind noch seine kindliche Beziehung zu seinen beiden Elternteilen leben? Für das Kind geht es gelegentlich darum, hinzunehmen, dass der eine von beiden für „fast tot“ gehalten wird, obwohl er noch lebt... Was auch immer man sagt, das Kind muss mit einer Art Trauer zurechtkommen..., mit dem Tod des Ehepaars... 476 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Das zeigt, dass die menschlichen interpersonalen Beziehungen, ja selbst die wesentlichsten Grundeigenschaften der Existenz, durch Unvollkommenheit zerstört werden und von der Möglichkeit des Bösen betroffen sind. Folglich müssen all unsere familiären Beziehungen, genauso wie jede einzelne menschliche Person, von dieser Unvollkommenheit jenseits des Todes „erlöst“ werden. Das Heil einer einzelnen Person kann übrigens nicht wahr werden, ohne dass sich gleichzeitig das Heil ihrer familiären Beziehungen vollendet. Versuchen Sie sich zu erinnern, meine Dame... an alle Gründe zur Hoffnung, die im Laufe dieses Kolloquiums von Diesem oder Jenem hergeleitet wurden. Das Heil durch unsere Auferstehung in Jesus Christus ist ein familiäres Heil in der dreieinigen Familie Gottes. Das ist wichtig! Und es gibt uns auch Kraft... Die Last unseres Leidens soll uns nicht dazu bringen, die ersten Wahrheiten und die Hoffnungen, die sich aus unserer menschlichen familiären Existenz ergeben, zu verkennen. Die verschiedenen Formen des Bösen, die unsere familiären Beziehungen infizieren können, dürfen uns nicht daran hindern, zu bedenken, dass die dreigliedrige Struktur der Familie das wahrhaftige ontologische Abbild der trinitarischen Beziehungen in Gott ist. Ja, die Mängel unserer Intelligenz, unseres Willens und unseres Geistes verbieten es uns nicht, zu denken, dass Gott von nicht-materieller und geistiger Natur ist, mit Intelligenz begabt und voll liebenden Willens ist. Ausgehend von unserer, wenn auch unvollkommenen und dem Bösen unterworfenen menschlichen Natur können wir uns eine gewisse Vorstellung von Gott bilden. Daher müssen wir gleichzeitig alle Formen der menschlichen Unvollkommenheit aus unserem Gottesbild entfernen, und alle Formen der guten Eigenschaften des Geistes und des Herzens, die in unserer Menschheit vorhanden sind, ins Unendliche gesteigert denken. Genauso, wie wir durch das göttliche Geschenk unserer Auferstehung und insofern wir bewusstseinsbegabte und freie Personen sind, vom leiblichen Tod „gerettet“ werden müssen, der allen biologisch Lebenden zu eigen ist, müssen wir auch vom Scheitern unserer ehelichen, elterlichen und kindlichen Beziehungen gerettet werden, und zwar durch eine wahrhaftige Vergöttlichung dieser Beziehungen jenseits der gegenwärtigen Geschichte, nach dem Tod. Die Tatsache des Leidens, das wir in diesen Situationen des Scheiterns erfahren: Bruch und gegenseitiger (oder auch nicht DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT 477 gegenseitiger) Hass zwischen Ehepartnern, zwischen Eltern und Kindern: All das zeigt gut, wie absolut notwendig es ist, dass diese familiären Beziehungen jenseits unseres Todes von allen Unvollkommenheiten befreit werden. Die Gründe unserer Schmerzen sind Zeichen der Hoffnung... Die Hoffnung auf dieses Heil kann eine Linderung sein für diejenigen, die leiden. Es ist keine Illusion... Seien Sie davon überzeugt... Ihre Kinder werden Ihnen für Ihre Sicherheit dankbar sein… INHALT HINFÜHRUNG ................................................................................ 7 MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN UND RATIONALES DENKEN ........ 7 Das Nebeneinander der drei monotheistischen Religionen ist ein reiner Skandal für die Vernunft................................. 8 Dieser Skandal kann durch eine Kritik der reinen glaubenden Vernunft überwunden werden.............................................. 9 ERSTE BEGEGNUNG .................................................................... 13 DAS GEISTIGE BEDÜRFNIS NACH EINER REFLEXIVEN ANALYSE DES GLAUBENSAKTES ................................................. 13 Der Katechismus der katholischen Kirche und die theologische Forschung ..................................................... 14 Lehrautorität und das Misstrauen beim glauben.................... 19 Das Misstrauen zu glauben durch einen interpersonalen rationalen Prozess überwinden .......................................... 26 Bessere philosophische Hilfsmittel ausfindig machen, um eine bessere Theologie zu erarbeiten ........................... 29 Den Seinsstatus des „Anderen“ denken, um theologische Aussagen besser denken zu können................................... 32 Die in sich einzige Wahrheit einer göttlichen Offenbarung und die geschichtliche Vielfalt ihrer menschlichen Ausdrucksformen............................................................... 35 Die rationale Analyse des Glaubensaktes wird durch die Behauptung, dass der Glaube ein Geschenk ist, angefochten ........................................................................ 41 Die Verständlichkeit einer Offenbarung setzt die Vernunftgemäßheit des Glaubensaktes voraus .................. 51 ZWEITE BEGEGNUNG .................................................................. 61 DIE OFFENBARUNG ALS REDEN GOTTES VERSTANDEN............... 61 Das Offenbarungsverständnis des Koran............................... 62 Die Frage nach psychologischen Faktoren des muslimischen Glaubens............................................... 68 Dürfen Wahrheiten, die als offenbart gelten, historischen oder wissenschaftlichen Wahrheiten widersprechen? ....... 72 480 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Die philosophische Frage nach der Beschaffenheit der Offenbarung betrifft alle religiösen Auffassungen ............ 75 Die selbstausgerufene Vorrangstellung des Islam gegenüber den anderen Formen von Religion ................... 81 Der Sinn, in dem religiöse Erfahrungen des Menschen Offenbarung Gottes sein können oder nicht sein können .. 87 Der psychische Hang des glaubenden Bewusstseins, sich scheinbare Offenbarungen in menschlichen Worten zu geben ................................................................ 96 Eine von Gott kommende Offenbarung setzt eine ontologische Fähigkeit voraus, sie zu empfangen ........... 103 DRITTE BEGEGNUNG ................................................................ 115 DIE PHILOSOPHISCHE NOTWENDIGKEIT EINER ANALYSE DES GLAUBENSAKTES ...................................................................... 115 Kann die philosophische Vernunft über die Echtheit einer Offenbarung urteilen? ...................................................... 116 Den Glauben haben, offenbaren, glauben, sich offenbaren: die Mehrdeutigkeit dieser Begriffe in ihrem Sinn und Gebrauch .......................................................................... 123 Kein Offenbarer ist glaubhaft, wenn er sich nicht darum bemüht, den Menschen besser und glücklicher zu machen ........................................................................ 130 Ermöglicht die klassische Philosophie zu verstehen, dass Gott sich für das Glück der Menschheit einsetzt? ... 137 Eine Philosophie der Rationalität des Glaubensaktes für ein besseres Verständnis der Evangelisation.............. 148 VIERTE BEGEGNUNG ................................................................ 159 DER SEINSSTATUS DES GLAUBENSAKTES ................................. 159 Kein Glaube ohne Offenbarung, oder keine Offenbarung ohne Glaube? ................................................................... 159 Die konstitutive Glaubenschaftlichkeit in ihren wesentlichen Formen ....................................................... 168 Die traditionellerweise anerkannten Erkenntnisformen....... 178 Religiöse Aussagen in Konfrontation mit wissenschaftlichen Aussagen........................................... 188 Glauben oder Verstehen? Wann kommt es zum Dilemma? 198 Steht der Glaube über der Vernunft oder gehört der Glaube zur Vernunft?................................................. 210 FÜNFTE BEGEGNUNG ................................................................ 217 INHALT 481 DER GLAUBENSAKT IM INNERSTEN DER EINHEIT DES SEINS ..... 217 Eine klassische Philosophie des Individuums oder eine Philosophie der interpersonalen Beziehung? ................... 220 Gibt es einen metaphysischen Beweis für die Notwendigkeit der Existenz des Anderen? ...................... 235 Die Notwendigkeit des Daseins des Anderen und die glaubenschaftliche Erkenntnis ......................................... 248 Wenn die Existenz des Anderen notwendig ist, kann Gott nicht als ein Wesen gedacht werden, das allein ist. ......... 251 Welcher Monotheismus? Ein Gott, der ein Individuum ist, oder ein interpersonaler Monotheismus? ......................... 267 Ein interpersonaler Monotheismus zum Verständnis der Möglichkeit der Schöpfung und der Offenbarung ........... 271 Die Forderung nach einer vollkommenen Erfüllung der moralischen Pflicht, oder das messianische Verlangen, vom Bösen befreit zu werden .......................................... 275 Für eine Offenbarung zugunsten seiner Schöpfung handelt Gott im Anschluss an die Art, wie er sich beim Erschaffen offenbart ........................................................ 278 SECHSTE BEGEGNUNG .............................................................. 293 BETREFFS DER GLAUBENSCHAFTLICHEN INTERPERSONALITÄT . 293 Die Religionen und ihre Auffassung vom Paar Mann-Frau 294 Ist das kartesianische Cogito ein hinreichender Ausgangspunkt, um zu einer ganzheitlichen philosophischen Wahrheit vorzudringen? ....................... 300 Die interpersonale Dimension der Intentionalität ................ 309 des Bewusstseins.............................................................. 309 Die ethischen Anwendungen der Interpersonalität des Seins gemäss der familiären Dreiheit: Vater-Mutter-Kind ....... 320 Der Schöpfungsakt als Offenbarungsakt des Schöpfers verstanden ........................................................................ 331 Das biblische Bewusstsein, dass Gott in der Schöpfung dem Ehepaar Nachwuchs verspricht................................ 336 Geschichtliche und relational-ontologische Beziehungen zwischen Judentum und Christentum .............................. 348 SIEBTE BEGEGNUNG ................................................................. 365 INTERPERSONALITÄT ALS GRUNDLAGE DER MORAL UND DES RECHTS ..................................................................................... 365 In welchem Sinn ist Gott der Urheber der in der Bibel dargestellten Geschichte? ................................................ 365 482 DEN MENSCH VERSTEHEN UM GOTT ZU DENKEN Gibt man dem « Handeln des Glaubens » dadurch eine Grundlage, dass man behauptet, Sein bestehe darin, „das Sein zu geben“? ...................................................... 373 Die gültigen Gründe für die Behauptung der Existenz Gottes .......................................................... 390 Verändern die Interpersonalität des Seins und die Glaubenschaftlichkeit unsere Auffassung vom Recht und von Gerechtigkeit?.................................. 402 ACHTE BEGEGNUNG ................................................................. 415 DIE MENSCHLICHEN PERSONEN UND DIE PERSONEN IN GOTT .. 415 Wie kann man zwischen den Wahrheiten der philosophischen und jenen der glaubenden Vernunft unterscheiden?........ 415 Kann man sagen, dass Gott existiert, ohne irgendetwas über seine Natur zu denken? .................................................... 429 Kann die Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit einer tat sich auch auf eine göttliche Tat beziehen? ........ 439 Das göttliche Werk für das Heil der Menschen und die Sprache der Liebe in der Bibel......................................... 445 EINE FRAGE AUßERHALB DER SITZUNG .................................... 475 *** Joseph Duponcheele : docteur en philosophie Contact email : <mailto:[email protected]>