«Steve Jobs war kein Genie»

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Special «Marketing», Handelszeitung vom 27. März 2014
«Steve Jobs war kein Genie»
Dominique Turpin Der Präsident der Lausanner Kaderschmiede IMD über die neuen Aufgaben des Marketings.
Interview: Alice Baumann
Sie vertreten öffentlich die These, der Chief Marketing Officer sei tot. Wie würden Sie reagieren, wenn
jemand Ihre Funktion als Dean für überflüssig
erklären würde?
Dominique Turpin: Das ist die falsche Frage. Unter
meiner Funktion verstehen alle das Gleiche. Was
ich sagen will: Marketing ist der am meisten missverstandene Begriff im Management. Man versteht
PR, Werbung, Verkauf oder Branding darunter.
Doch es geht um viel mehr als das – um Mehrwert.
Das war vor 50 Jahren schon so und wird auch in
50 Jahren noch so sein.
Sie wollen frischen Wind ins Marketing bringen:
Der Chief Marketing Officer (CMO) soll sich neu
Chief Customer ­Officer (CCO) nennen. Warum?
Der Job des Marketingfachmanns ist es doch, Mehrwert für den Kunden zu kreieren und diesen zu
kommunizieren. Er soll sich im Markt herumhören
und heraus­finden, was die Konsumenten plagt.
Also sind die Ohren der Marketing­fachperson
wichtiger als ihr Mund?
Ja genau. Produkte und Dienstleistungen sollen
meine Kopfschmerzen beseitigen. Schon Peter
Drucker sagte vor 50 Jahren, Technologie und
Produktion seien nur unterstützende Funktionen –
Unternehmen bräuchten vor allem Marketing und
Innovation. In Wirklichkeit gehe es da­rum, Werte zu
erzeugen. Ein Unternehmen, das keine Werte
herstellt, hat damals wie heute keine Existenzberechtigung.
Die Kernaufgabe des neuen Chief Customer Officer
ist es folglich, dem Konsumenten Werte zu vermitteln. Wie macht er das konkret?
Damit muss er sich eben täglich beschäftigen. Der
Konsument weiss ja nicht, was er morgen brauchen
wird. Also soll dies der Marketingmann für ihn herausfinden. Und zwar im Alltag. Analysen heutiger
Kundenwünsche sind nicht mal das Papier wert, auf
dem sie gedruckt sind. Die Marketingliteratur
spricht auch seiten­
weise über vorhandene
Konsumenten­bedürfnisse. Das ist Quatsch!
Wie soll eine Organisation herausfinden, welche
Dinge unser Leben leichter, besser und billiger
machen können? Braucht sie dafür Genies wie
Steve Jobs?
Steve Jobs war auch kein fehlerloses ­Genie. Er hat
zwar früh geahnt, dass wir ein iPhone und ein iPad
schätzen werden, aber vorher hat er mit dem Newton und dem Apple-TV Flops gelandet. Zum Glück
für die Unternehmen erinnern wir Konsumenten
uns vor allem an die erfolgreichen Produkte ...
Wer erschafft in der Schweiz denn Inno­vationen?
Jeder Hotelier, der mal in seinem eigenen Hotel
übernachtet hat und unter den Tisch gekrochen ist,
um den Stecker fürs Internet zu suchen, weiss, dass
ein exzellenter Service von Kleinigkeiten abhängt.
Und jeder Gast, der zusätzlich zur Übernachtung
den Internetanschluss bezahlen muss, kehrt nie
wieder zurück. Denn das WLAN sollte so selbstverständlich sein wie das warme Wasser in der Dusche.
Und wie erfährt der Hotelier, warum seine
unzufriedenen Gäste kein zweites Mal bei ihm
absteigen?
Eben findet er es nicht über den Kunden heraus,
denn dieser wird ihm keinen Abschiedsbrief schreiben. Er und seine Crew am Empfang müssen
lernen, gescheitere Fragen zu stellen als: «Hatten
Sie eine gute Nacht?» Was geschieht, wenn ich
schlecht geschlafen habe? Bekomme ich etwa die
Anzahl Stunden zurückerstattet? Autohändler oder
Elektronikläden haben es einfacher als Dienstleister. Ist der Kunde unzufrieden, erhalten sie das neue
Auto oder das neue Notebook zurück. Daraus
lernen sie hoffentlich etwas.
Was sind kluge Fragen?
Bei einem schnellen Lunch sollte mich niemand
fragen, ob das Essen gut war. Am Mittag dreht sich
alles nur um die Zeit: Habe ich den ersten und den
zweiten Gang je binnen einer Viertelstunde bekommen? Konnte ich nach dem Essen umgehend
zahlen? Alles andere ist nebensächlich. Sogar der
Preis hat in solchen Momenten nur zweite Priorität.
Also sollte der Gastronom vor allem ins Personal
und in die Logistik investieren. Das findet jeder heraus, der sich in die Schuhe des Konsumenten stellt.
Fällt Ihnen als Nestlé-Professor ein Schweizer
Musterschüler ein?
Ja klar, Nespresso. Diese Firma hat es geschafft, zu
verhindern, dass ich im Warenhaus neun Säcke mit
alternden Kaffeebohnen kaufen muss. Stattdessen
kann ich mir als Privatmensch leisten, neun Sorten
Aromen im Haus zu haben, die immer frisch sind.
Die Kapseln sind einfach einzusetzen, die Maschinen leicht zu reinigen und ersetzbar. Das nenne ich
einen superguten Kundenservice. Oder Easyjet:
Wie der Name sagt, fliege ich nach einer unkomplizierten Buchung fast überall hin, und dies – verglichen mit den Angeboten etablierter Fluggesellschaften – zu einem sehr tiefen Preis.
Sind Fluggesellschaften speziell innovativ und kundenfokussiert?
Oh nein, längst nicht alle. Der Brand ist immer nur
so gut, wie ihn die Kundschaft wahrnimmt. Oft beginnt der Ärger bei der langen Schlange vor dem
Check-in am Flughafen, geht über die unfreundliche Bedienung durch das Flugpersonal, die
schmutzige Toilette, das schlechte Essen sowie den
veralteten Film an Bord und ­endet beim Gepäckverlust auf dem Förderband des Zielorts. Die Tragik
dabei ist, dass Leistungen wie die Zubereitung des
Essens und der Gepäckservice von Partnerbetrieben ausgeführt werden. Trotzdem bleibt dem Kunden nur eine Erinnerung: «Lufthansa ist eine
schlechte Fluggesellschaft.» Fazit: Marketing ist jedermanns Job; die ganze Erlebniskette von A bis Z
muss herausragend sein. Da steht auch der Unternehmenschef in der Verantwortung. Er darf das
Marketing nicht einfach delegieren.
Wie finden Sie heraus, wie gut ein Chef oder Inhaber arbeitet?
Wenn ich ihn nach den drei schlimmsten Kopfschmerzen seiner Kunden befrage und er hat keine
Antwort darauf, macht er den falschen Job oder den
Job falsch. Ein Produkt verkauft sich nur gut, wenn
es Probleme löst. Und wenn es dem Brand dient.
Jeder von uns bucht lieber Emirates oder Lufthansa
als eine aserbeidschanische Fluggesellschaft.
Sie sind Präsident einer Business School. Welcher
Mission folgt das IMD?
Wir entwickeln global tätige Führungskräfte. Marketing ist ein Puzzlestein ihrer Aus- und Weiterbildung. Noch wichtiger sind heute die Werte einer
Person, also die Schulung des Charakters. Und
natürlich der Gesamtblick für den Markt. Wenn
Banken um 16 Uhr vor seiner Nase den Schalter
schliessen und der Bankomat eine Störung hat, ist
es dem Kunden egal, ob sein Finanzinstitut das
Team Alinghi sponsert oder nicht. Er ist dann ganz
einfach unzufrieden.
Lehrt Ihre private Kaderschmiede allen Studierenden Ihr Dogma?
Persönlich unterrichte ich nur Marketing, nicht
Finanzen. Ich kann also nicht über die Inhalte
anderer Professoren bestimmen. Aber auch unsere
Schule unterliegt diesem Dilemma, dass sie aus der
Tradi­tion eher träge ist, von den Zielen her aber
innovativ sein will.
Wie innovativ ist denn das IMD?
Wir stellen uns aktuellen Themen wie dem
kostenlosen Online-Learning für die gesamte
­
Bevölkerung mit Internetanschluss sowie der
Bewertung der Professoren durch Studierende.
Unseren Kunden ist die Titelei der Lehrkräfte egal.
Wenn ein Assistent mehrmals viel besser unterrichtet als ein Professor, bekommt der Assistent
gute Noten, während der Professor seine Kündigung riskiert. Ich versuche also zu praktizieren, was
ich lehre.
Also geht es in erster Linie um Qualität?
Nein. Qualität ist das Thema von gestern. Qualität
wird vorausgesetzt. Sie differenziert dich nicht. Vor
20 Jahren drehte sich am IMD alles um Total Quality
Management. Heute gibt es null Kurse zu diesem
Thema. Der Kunde will einen Unterschied beim
Wert, nicht bei der Qualität. Marketing ist heute ein
rein emotionales Thema, wie die gut laufende
Schweizer Industrie der Luxusuhren beweist. Kein
Mensch braucht eine Hublot oder Rolex. Die Zeit
steht auf jedem Smartphone. Aber er will sich durch
den Schmuck am Handgelenk unterscheiden. JeanClaude Biver beispielsweise hat schon sehr früh erkannt, dass er im grossen Stil ins Marketing investieren muss. Er hat enorme Wahrnehmung und Wertschätzung seiner Luxusuhren erreicht. Hinter einer
starken Marke stehen Jahrzehnte von Aufbauarbeit,
wie auch das Beispiel Rolex zeigt. Das schaffen nur
Manager mit Weitblick und Sinn fürs Marketing.
Der Lehrmeister
Also könnte der Unternehmenschef den Marketingchef ersetzen?
Sagen wir es so: Das Marketing ist noch wichtiger
als die Finanzen. Also sollte der Chief Marketing
Officer mehr verdienen als der Chief Financial
­Officer (CFO). Aber das ist wohl nirgends der Fall.
Beim Marketing denken alle an eine einfache
Sache. Dabei gehört es zu den schwierigsten Aufgaben eines Unternehmens.
Die Schule Das International Insti­tute
for Management Development (IMD) in
Lausanne ist eine private Wirtschaftshochschule, die 1990 aus der Fusion zweier
firmeneigener Kaderschmieden hervorgegangen ist, des IMI in Genf von Alcan
und des IMEDE in Lausanne von Nestlé.
Name: Dominique Turpin
Funktion: Präsident und Nestlé-Professor
am IMD in Lausanne
Alter: 57
Nationalität: Doppelbürger Schweiz und
Frankreich
Ausbildung: PhD Sophia University
(Tokio, Japan)
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