M QA SP: Qualifikationsarbeit ohne Veranstaltung Sozialpädagogik Geschlossener Vollzug für delinquente Kinder und Jugendliche Analyse politischer Forderungen aus sozialpädagogischer Sicht. Unter der Leitung von: Rebecca Mörgen Institut für Erziehungswissenschaft Lehrstuhl Pädagogik-Sozialpädagogik Freiestrasse 36 CH – 8032 Zürich Abgabetermin: 28.01.2014 Eingereicht von: Sonja Gross Püntstrasse 6 8942 Oberrieden 09-752-155 [email protected] 4. Semester Master Hauptfach: Erziehungswissenschaft Nebenfach: Psychologie Inhalt 1. Einleitung ............................................................................................................................ 2 2. Kinder- und Jugendkriminalität .......................................................................................... 3 2.1 Definition und Statistik ................................................................................................... 3 2.2. Repressive politische Forderungen und Darstellung in den Medien .............................. 6 2.3. Positionierung der Sozialpädagogik ................................................................................ 7 3. Diskussion geschlossener Unterbringung ......................................................................... 10 3.1. Ursache abweichenden Verhaltens ................................................................................ 10 3.2. Kritische Betrachtung aus pädagogischer Perspektive .................................................. 13 4. Schlussfolgerung ............................................................................................................... 16 Literaturverzeichnis .................................................................................................................. 18 1 1. Einleitung „Massive Zunahme der Kinderkriminalität“, so lautet der fettgedruckte Titel eines Artikels der Presse (vgl. diepresse.com, 10.10.2008). Kinderkriminalität wird immer wieder zu einer „bedrohlichen Neuigkeit“ hochstilisiert, um eine Abbildung 1 neue Sicherheitspolitik einzuklagen (vgl. Müller/Peter 1998, S. 13). Hans-Joachim Plewig erkennt im aktuellen Umgang mit Kinderkriminalität ausserdem einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft, zurück vor das Zeitalter der Entdeckung der Kindheit und Jugend als Schonraum, in eine Repression (vgl. 1998, S. 277). Diese repressive Haltung findet im medialen Diskurs und in fordernden Stimmen von Politikern seinen Ausdruck: „Lange Jugendstrafen sind selten. Experten fordern Gesetzesänderung, um härtere Strafen verhängen zu können“ (Häuptli, NZZ vom 12. Juli 2009). Diese Schlagzeile der NZZ ist keine Ausnahme. Sie widerspiegelt die weitverbreitete Forderung härterer Bestrafung von kriminellen Kindern und Jugendlichen. "Gewalttätige Jugendliche gehören nicht in einen Kuschelvollzug, den SPD, Grüne und Linke wollen", so zum Beispiel auch der deutsche CDU Politiker Koch (vgl. der Spiegel, 02.01.2008). Politik und Medien rufen immer wieder auf zur Abkehr von der „Kuschelpädagogik“ (vgl. bspw. Chassot, NZZ 14.11.2010). Diese politischen Forderungen nach geschlossener Unterbringung krimineller beziehungsweise delinquenter Jugendlicher sollen kritisch diskutiert werden, um die Hauptfragestellung, nämlich, ob sie aus sozialpädagogischer Perspektive gerechtfertigt sind, zu beantworten. Dazu soll die Entstehung der Forderungen und sowohl deren Argumentation als auch die Argumentation der Gegenseite, skizziert werden. Unterfragen sind somit: Weshalb entstehen diese politischen Forderungen und wie und wieso geht die Sozialpädagogik damit um. Obwohl in den Forderungen oft jeweils entweder von Kinder- oder von Jugendkriminalität gesprochen wird, hat sich herausgestellt, dass es schwierig ist, beides bei einer solchen Analyse auseinander zu halten. Zwar sind die Übergänge juristisch getrennt, sozialisatorisch gesehen sind sie aber fliessend (vgl. Müller/Peter 1998, S. 11). 2 Daher, aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit und, weil aus pädagogischer Sicht diskutiert werden soll, wird im Folgenden beides betrachtet. Eine differenziertere Betrachtungsweise wäre aber für weitere Arbeiten zum Thema empfehlenswert. Die Arbeit gliedert sich wie folgt. Zunächst werden die statistischen Zahlen zur Kinderund Jugendkriminalität dargestellt und diskutiert. In einem weiteren Schritt werden die beiden Positionen, die der politischen Forderungen und medialen Schlagzeilen und die der Sozialpädagogik erläutert. Wie argumentieren sie und weshalb, sie dabei die leitenden Fragen. Im dritten Kapitel wird schliesslich die geschlossene Unterbringung aus pädagogischer Perspektive beleuchtet. Dazu wird in einem ersten Teil die für die Argumentation Pädagogik nicht wegzudenkende Ursache von Kriminalität beziehungsweise Delinquenz dargestellt und in einem zweiten Teil verschiedene beispielhafte Theorien zur Beurteilung der geschlossenen Unterbringung vorgestellt. Dafür wird vor allem Bezug genommen auf das Buch von Dollinger und Raithel (2006) „Einführung in die Theorien abweichenden Verhaltens“ sowie beispielhaft die Theorie von Suterlüty (2003) zur Entstehung von Gewaltkarrieren. Massgeblich für die ganze Arbeit sind ausserdem die Texte aus dem Sammelband von Siegfried Müller und Hilmar Peter (1998) mit dem Titel „Kinderkriminalität – Empirische Befunde, öffentliche Wahrnehmung, Lösungsvorschläge“. 2. Kinder- und Jugendkriminalität 2.1 Definition und Statistik „Kinderkriminalität“, ist nach dem Pädagogen Thiersch (1998) ein vom Wortsinn her unsinniger Titel, der auf einen widersinnigen Tatbestand verweist und unweigerlich auf einen gesellschaftlich beängstigenden Notstand aufmerksam machen will. Widersinnig deshalb, weil Kinder, unschuldige Wesen, die eigentlich schutzbedürftig sind, als Verbrecher gehandelt werden. Der Notstand soll zu verstehen geben, dass unmittelbares und rasches Eingreifen unumgänglich ist (vgl. S. 27). Gebraucht werden die eindrucksvollen Schlagworte „Kinderkriminalität“ und „kriminelle Kinder“ vielfach von Medien zur Inszenierung spektakulärer Schlagzeilen (vgl. Cremer-Schäfer 1998, S. 117). Der Begriff Kriminalität, der laut Fremdwörter Taschenbuch eigentlich Straffälligkeit 3 bedeutet (vgl. Leisering 1999, S. 286), findet inzwischen aber auch oft in anderen Kontexten, wie beispielweise der Politik Verwendung. Im pädagogischen Diskurs wird eher auf den Begriff der Kinder- bzw. Jugenddelinquenz zurückgegriffen. Verstanden werden darunter „[…]Verstösse gegen das Strafgesetzbuch, die von Personen unter 14 Jahren begangen werden und wegen der juristischen Schuldunfähigkeit von Kindern keine gesetzliche Bestrafung zur Folge haben“ (vgl. Kluge & von Randow 1979, S. 5). Je nach Autor schliesst der Begriff aber auch schon die blosse Neigung rechtliche Grenzen zu überschreiten mit ein (vgl. Montada 2002, S. 860). Die publizierten Statistiken zur Auftrittshäufigkeit von Gesetzübertretungen Minderjähriger, werden seit über 30 Jahren, immer wieder von den Medien als bedrohliche Neuigkeit verkauft. Die „Neuigkeit“ wird, von denen, die am wenigsten gefährdet sind Opfer zu werden, als Bedrohung der Sicherheit sowie des friedlichen Zusammenlebens interpretiert und durch die Politik zur Forderung einer neuen Sicherheitspolitik genutzt. So schätzen zumindest Siegfried Müller und Hilmar Peter (1998) die Situation ein (vgl. S. 13). Wie sehen die Zahlen zur Kinderkriminalität tatsächlich aus? Werden unsere Kinder immer krimineller? Die Medien in Deutschland beziehen sich bei ihren Aussagen ausschliesslich auf die Daten der polizeilichen Kriminalstatistik, abgekürzt PKS. Diese ist die einzig verwertbare Statistik, die es gibt, wenn es um die Beurteilung der Entwicklung von Kinder- und Jugenddelinquenz geht (vgl. Weitekamp/Meier 1998, S. 84). Welche Datenquellen für die Schweiz relevant sind, gälte es weiter zu prüfen. Es wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die Situation grundsätzlich zumindest vergleichbar ist. Die Tatverdächtigenbelastungszahl der PKS von 1985 bis 1995 zeigt einen deutlichen Anstieg krimineller Auffälligkeit bei den 12 bis 13-jährigen Kindern sowie eine geringe Zunahme bei der Altersgruppe der 10 bis 11-jährigen. Ein vergleichbares Abbild ergibt der Verlauf für die Kriminalitätsbelastung deutscher Kinder in den verschiedenen Bereichen, wie Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Raub bzw. räuberische Erpressung und Körperverletzung. In allen Bereichen gibt es seit den 90er Jahren besonders für die höchste Altersgruppe der 12 bis 13-jährigen einen ansteigenden Trend, der abgeschwächt auch bei den 10 bis 11-jährigen zu erkennen ist, wobei bei Körperverletzung die stärkste Zunahme beobachtet werden kann. Der Hauptanteil der Delinquenz von Kindern macht 4 jedoch mit mehrfachem Abstand der einfache Ladendiebstahl aus. Körperliche Gewalt ist im Gesamtbild eher unterrepräsentiert (vgl. Weitekamp/Meier 1998, S. 89-106). Es bestehen allerdings Zweifel, ob die Kriminalstatistik die tatsächliche Kriminalität wahrheitsgetreu abbildet. Eine Vielzahl von Faktoren können eine Verzerrung herbeiführen. So zum Beispiel eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas, das sich auf das Anzeigeverhalten von Opfer, Geschädigten oder beobachtenden Drittpersonen auswirkt. Ausserdem Verfolgungsstrategien haben über die sich Zeit die polizeilichen verändert, ebenso Ermittlungsdie und statistischen Erfassungsmodalitäten. Spannend ist in diesem Zusammenhang auch die 1991 durchgeführte Studie von Menzel, die zeigen konnte, dass gerade 52%, also die Hälfte, aller Fallerfassungen fehlerfrei waren! Sowohl bei der strafrechtlichen Qualifikation der Straftat, der Deliktzuordnung als auch bei der Bezeichnung von Täterwohnsitzen und Tatorten wurde eine hohe Fehlerquote nachgewiesen (vgl. a.a.O., S. 85-88). An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass es aus entwicklungspsychologischer Sicht normal ist, dass Kinder und Jugendliche delinquieren. Nur sehr Wenige fallen häufiger auf. Diese Wenigen gelten als Intensivtäter und machen 60% der Kriminalstatistik aus. Es gilt ausserdem zu bedenken, dass es sich dabei meist um Delikte im Bagatellbereich handelt und es keine Möglichkeit gibt sogenannte Intensivtäter von anderen zu unterscheiden (vgl. Müller/Peter 1998, S. 14f). Es kann festgehalten werden, dass das Phänomen der zunehmenden Kriminalität bei Kindern mittels PKS beobachtet werden konnte. Es handelt sich dabei aber nur um eine sehr spezifische Altersgruppe, nämlich die der 12 bis 13-Jährigen. Ausserdem kann keineswegs, wie oftmals dargestellt, von einer beobachteten und quantifizierbaren Tatsache gesprochen werden, vielmehr handelt es sich um eine indirekte Messung, deren Ergebnis durch zahlreiche andere Faktoren mitbestimmt wird. Weitekamp und Meier (1998) fügen dem hinzu: „Es besteht allerdings zu Panikmache kein Anlass, da unsere kriminellen Kinder nicht immer jünger werden und auch nicht immer gewalttätiger“ (S. 111). Vielmehr handelt es sich um eine durch die Medien hervorgerufene Hysterie (ebd.). Dennoch wird das Thema zum Anlass genommen, um in der Politik um Wählerstimmen zu kämpfen. 5 2.2. Repressive politische Forderungen und Darstellung in den Medien „Kochs Rezept gegen Jugendkriminalität: Früher wegsperren, schneller abschieben, härter bestrafen“, so lautete der Titel zu einem 2008 veröffentlichten Beitrag im Spiegel. Der ehemalige hessische Ministerpräsident versucht, wenige Wochen vor der hessischen Landstagswahl, mit einem Sechs-Punkte-Plan die Wählerschaft zu überzeugen. In diesem ist die Einführung eines „Warnschussarrestes“ vorgesehen. „Jugendliche Straftäter müssen frühzeitig spüren, wie sich Gefängnis von innen anfühlt“ (vgl. der Spiegel, 02.01.2008). Koch kritisiert die „mangelnde Härte“ der Jugendrichter und geht noch weiter, in dem er fordert das Jugendstrafrecht in gewissen Fällen auch bei Kindern unter 14 Jahren anzuwenden (vgl. Frankfurter Allgemeine, 13.01.2008). Nach heftiger Kritik relativiert Koch seine Aussagen betreffend „kriminellen Kindern unter 14 Jahren“ und sagt aus: „Das ist ein Thema, da braucht man Fachleute, das muss man lange diskutieren“ (vgl. NZZ, 14.01.2008). Auch in der Schweiz wird, speziell während der Wahlkampfzeit, die härtere und schnellere Bekämpfung von Jugendgewalt und eine Verschärfung des (Jugend)Strafrechts diskutiert. Insbesondere die rechte Seite fordert „entschiedeneres, schnelleres Eingreifen, härtere Massnahmen und ein Mehr an Disziplinierung“ (vgl. Huber/Schierz 2013, S. 109). So beispielsweise die Schweizerische Volkspartei, SVP, in ihrem Positionspapier mit dem Titel Für Ordnung und Sicherheit – Schluss mit Jugendgewalt und Ausländerkriminalität. Sie hat das Problem ebenfalls analysiert und sieht es als „traurige Folgen der linken Kuschelpädagogik“ (vgl. SVP 2007, S. 16). Wie sie zu diesem Schluss kommt und nach welchen Methoden sie vorgegangen ist, ist leider nicht zu erkennen. Da gibt Koch schon etwas mehr Auskunft, indem er folgendermassen argumentiert: „Diese Jugendlichen fürchten die Haft wie der Teufel das Weihwasser. Genau diese Wirkung wird oft von Jugendrichtern unterschätzt“ (vgl. Frankfurter Allgemeine, 13.01.2008). Wie schon im vorangegangenen Kapitel erwähnt, wird dieser politische Diskurs durch Berichte der Medien über die „nicht mehr zu bewältigende“ und stetig ansteigende Kriminalität, gestützt. Und, wenn dies nicht mehr reicht, um zu dramatisieren wird immer wieder auf den (empirisch nicht haltbaren) Topos „Die Täter werden immer jünger. Und brutaler“ zurückgegriffen (vgl. Cremer-Schäfer 1998, S. 115). Laut Weitekamp und Meier (1998) handelt es sich um eine unberechtigte durch die Medien hervorgerufene 6 Hysterie, welche sich in gewissen Zyklen wiederholt (vgl. S. 111). Das Thema kommt insbesondere dann wieder auf, wenn in einer Phase Sicherheitspolitik gefordert wird. „Gewalt und Kriminalität geht von Kindern aus“, das ist die Vorstellung, die öffentlich eingeführt wird durch Schlagzeilen wie (vgl. Cremer-Schäfer 1998, S. 116): „Diebe, Schläger, Autoknacker. Kids ohne Gnade. Eine Welle sinnloser Gewalt rast durch Deutschland. Die Täter: acht- bis sechszehnjährige Kinder. Knochenbrechen aus schierem Vergnügen. Überfälle aus Langeweile. Diebstahl aus Nervenkitzel. Ehre und Fairness? Darüber lachen sie nur. Und schlagen zu. Eltern sind fassungslos. Bunte sprach mit drei Brutalo-Kids. Eindeutige Aussagen zum Nachdenken“ (Bunte, Heft 34, 1992). „Kinderkriminalität dient vor allem dazu, öffentlich Unbehagen und Angst über ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen zu artikulieren“, so konstatiert Cremer-Schäfer (1998, S. 127). Thiersch (1998) geht ausserdem von einer Funktionalisierung der Kinderkriminalität, sowohl im öffentlichen als auch im pädagogischen Bereich, aus. Das Reden von Kinderkriminalität stützt das Plädoyer für eine Rückkehr zu erhöhter Autorität und traditionellen Verbindlichkeiten. „Es bindet im Diskurs Kräfte ans Konkrete und verdrängt die mühsame Analyse der Situation“ (S. 28). Obwohl die Reden über Kinderkriminalität vielfach scheinbar stellvertretend für verstärkte sicherheitspolitische Massnahmen und die dementsprechende Verantwortungsübernahme zu stehen scheinen, sind sich Politiker und Parteien, wie in unseren Beispielen Koch und die SVP, einig bei der Forderung die geschlossene Unterbringung für Kinder flächendeckend einzuführen (vgl. Müller/Peter 1998, S. 16). Die Fachwelt steht dem allerdings eher skeptisch gegenüber. Wie sich die Sozialpädagogik dazu positioniert, wird im nächsten Kapitel erläutert. 2.3. Positionierung der Sozialpädagogik Um die Position der Sozialpädagogik zu verstehen, soll zunächst die Disziplin als solches skizziert werden, um dann, in einem zweiten Schritt, ihren Blick auf die Problematik der Kinderkriminalität aufzuzeigen. Die Sozialpädagogik Problemlagen“. Eine befasst genauere sich mit „erzieherischer Bestimmung gibt es Bearbeitung allerdings sozialer nicht (vgl. Raithel/Dollinger & Hörmann 2007, S. 296). Dementsprechend fehlt eine klare, einhellig geteilte Gegenstandsbestimmung der Sozialpädagogik sowie Einigkeit über die 7 Geltungsreichweite der Sozialarbeit (vgl. Schrödter 2007, S. 3). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass, trotz der geschichtlich unterschiedlichen Entstehungszusammenhänge, in dieser Arbeit Sozialarbeit und Sozialpädagogik als Synonyme verwendet werden. Schrödter (2007) unterscheidet beim Zweck der Sozialarbeit zwischen Auftrag und Funktion: Sozialarbeit erfüllt Funktionen, wie zum Beispiel Abweichung zu normalisieren oder bei gesellschaftlichen Konflikten zu vermitteln, dies entspricht aber nicht zwangsläufig ihrem selbstgesetzten Zweck. Es gilt also zwischen dem „intentional gesetzten Auftrag“ und der „von Intentionen unabhängigen Funktion“ zu unterscheiden. So erfüllt die Soziale Arbeit oft ordnungspolitische Zwecke, jedoch ohne per se dafür beauftragt zu sein (vgl. S. 6f). In diesem Zusammenhang spricht Schrödter (2007) auch von „wesentlichen“ versus „abgeleiteten“ Aufgaben. Während erstere einer Profession qua gesellschaftlichem Auftrag zugeschrieben werden, werden die abgeleiteten der Profession zugewiesen aufgrund derer vorhandenen Kompetenzen. Der gesellschaftliche Auftrag besteht für die Sozialpädagogik darin, so die These von Schrödter (2007), soziale Gerechtigkeit herzustellen (vgl. S. 23). Dabei bewegt sie sich stetig in einem Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle, wobei diese keineswegs nur gegensätzlich zu verstehen sind. Das „doppelte Mandat“ ist laut Böhnisch (1973) zentrales Strukturmerkmal der sozialpädagogischen Arbeit. Zur Aufgabe der Sozialpädagogik gehört es daher: „[…] ein stets gefährdetes Gleichgewicht zwischen den Rechtsansprüchen, Bedürfnissen und Interessen des Klienten einerseits und den jeweils verfolgten sozialen Kontrollinteressen seitens öffentlicher Steuerungsagenturen andererseits aufrechtzuerhalten“ (S. 27). Mit Hilfe ist der Anspruch verbunden, die Bedürfnisse der Hilfsbedürftigen zu vertreten. Daneben gilt es aber auch einen gesellschaftlichen Kontrollauftrag, bei dem es nicht vorrangig um die Bedürfnisse der Klienten geht, sondern darum soziale Kontrolle auszuüben, zu erfüllen. Kontrolle meinte dabei bisher aber keine strafende, sondern eine normalisierende Funktion, die auf Resozialisierung und Rehabilitation ausgerichtet ist (vgl. Huber/Schierz 2013, S. 104). Die Aushandlung des Verhältnisses dauert bis heute an. Gegenwärtig wird von einer Neujustierung des Verhältnisses gesprochen. Sven Huber und Sascha Schierz (2013) 8 haben diese Aushandlung in ihrem Aufsatz Punitivierung der Sozialen Arbeit? versucht zu porträtieren. Dabei diskutieren beziehungsweise sie Strafe eine im mögliche Verschiebung Rahmen sozial- in und Richtung Kontrolle kriminalpolitischer Transformationsprozesse. Ausgegangen wird von einer tendenziellen Diskreditierung der Denkmuster und Interventionsrationalitäten aus der Blütezeit des Wohlfahrtsstaates, die nur äusserst begrenzt straforientiert war. Entstehungsgeschichtlich ist die Sozialpädagogik teil des Wohlfahrtsstaates, dessen Probleme sie seit jeher in Erziehungsfragen umformulierte und somit „die klassischen Institutionen der Strafjustiz einer pädagogischen Kritik unterwarf“ (a.a.O., S. 104ff). Nach wie vor liegt ihr Fokus eher auf Integration und sozialem Wandel. „Die Theorien identifizieren gesellschaftliche Krisen und asoziieren mit ihnen Formen von Individualität als Symptome sozial produzierter Devianz. Menschen, die sozial auffällig werden, werden dadurch zu Symptomträgern gestörter sozialer Integrationsverhältnisse. Sozialität und Individualität werden zusammen gedacht und für sich sowie in ihrer Interaktion sozialpädagogisch qualifiziert“ (Dollinger 2011, S. 72). Die Theorien der Sozialpädagogik leiten sich dementsprechend nur begrenzt aus kriminologischen Wissensbeständen und Theorien ab. Im Gegensatz zu diesen, bei denen Tat und Täter im Fokus stehen, wird aus sozialpädagogischer Perspektive die Biografie und riskante Milieus sowie Lebenswelten und Lebenslagen mit in Theorie und Intervention einbezogen (vgl. Huber/Schierz 2013, S. 107f). Dennoch hinterlassen die vehementen Forderungen nach verstärkter Strafe ihre Folgen. Eine Veränderung der Strafbereitschaft ist feststellbar. Trotzdem kann nicht von einer Punitivierung, einer generellen Erhöhung der Punitivität, sprich Strafbereitschaft, gesprochen werden (a.a.O., S. 112). Festzuhalten ist des Weiteren, dass es zwar der Funktion der Sozialpädagogik entspricht Abweichung zu normalisieren, aber nicht unbedingt dem gesetzten Auftrag. Wichtiger ist die Vermittlung zwischen dem Klienten und den Kontrollinteressen und somit die Bewahrung eines Gleichgewichtes zwischen Hilfe und Kontrolle. 9 3. Diskussion geschlossener Unterbringung 3.1. Ursache abweichenden Verhaltens Die Sozialpädagogik sieht abweichendes Verhalten oder Kriminalität immer im Kontext (vgl. Kapitel 2.3.). Die Lebenswelt des Kindes beziehungsweise Jugendlichen spielt daher eine ebenso grosse Rolle, wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Zu diesen zählen sowohl volkswirtschaftliche, als auch kulturelle und politische Aspekte. Der Täter wird als Teil eines Ganzen und nicht ausschliesslich über das begangene Vergehen betrachtet und beurteilt. Als dementsprechend relevant werden die Ursachen, die zu abweichendem Verhalten führen, gesehen. Da es unmöglich ist, alle verschiedenen Theorien umfassend dazu darzustellen, werden einige ausgewählte beispielhaft skizziert. Beispielhaft wird die Theorie von Suterlüty (2003) zur Entstehung jugendlicher Gewaltkarrieren vorgestellt, welche durch weitere Befunde ergänzt wird. Im Anschluss werden Ergebnisse zu Zwillingsstudien, die antisoziales Verhalten untersucht haben vorgestellt sowie der Ansatz von Thiersch zur Entstehung abweichenden Verhaltens, als Beispiel für die soziostrukturelle Argumentationsweise. Es bestehen zahlreiche unterschiedliche Erklärungsansätze wie Kinder und Jugendliche zu Gewalttätern werden. Der sozialstrukturelle, auch „soziostrukturell“ genannt, gehört neben dem kulturtheoretischen zu den Bekanntesten. Beim sozialstrukturellen Ansatz wird davon ausgegangen, dass die Gewalt eine Folge der Modernisierung und der damit verbundenen höheren beruflichen und sozialen Anforderungen ist. Kulturtheoretiker hingegen sehen die Ursache von Jugendgewalt eher in allgemein verbreiteten Einstellungen und normativen Orientierungen. Kritisiert werden diese Ansätze beispielsweise von Suterlüty, der argumentiert, dass das Gewaltgeschehen an sich vernachlässigt wird. Er sucht die Ursachen für die Entstehung von Gewalt im Gewalterleben selbst (vgl. Suterlüty 2003, S. 11f). „Diese oft sehr rauschhaften Erfahrungen, so wird sich zeigen, gehören zu den Triebfedern biographischer Verläufe, welche die Form einer sich fortentwickelnden „Karriere“ der Täterschaft annehmen und meist in einer langen Vorgeschichte familiärer Gewalt und Missachtung gründen (Suterlüty 2003, S. 11). Nach Suterlüty (2003) liegt der Ursprung jugendlicher Gewaltkarrieren in familiären Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen (vgl. S. 23). Ausnahmslos alle Jugendlichen, 10 die im Rahmen seiner qualitativen Studie befragt worden sind, stammen aus gewaltbelasteten Familien und waren, entweder direkt oder indirekt, schon selber Opfer von Gewalt. In diesem Zusammenhang spricht er von direkter und indirekter Viktimisierung. Beide Formen von Gewalterleben gehen mit dem Erleben starker Ohnmachtserfahrungen einher. Die erlittenen Verletzungen sind sowohl physischer als auch psychischer Art (a.a.O., S. 151ff.). Diese erlebte Wehrlosigkeit führt gezwungenermassen zu einer Anpassung. Eine mögliche Anpassungsleistung ist die Entwicklung einer gewissen Indolenz beziehungsweise Unempfindlichkeit, welche als Überlebensstrategie zum Ideal erhoben wird. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass sie die Perspektive des Täters übernehmen und den Glauben, es verdient zu haben, annehmen. Auf diese Weise können Gefühle der Ohnmacht zu Schuldgefühlen und schliesslich zu Selbsthass werden, welcher oft vom Wunsch nach Gegengewalt respektive Vergeltung begleitet wird. Schliesslich nehmen diese Kinder und Jugendliche Gewalt als probates Mittel, um ihre eigene Ohnmacht zu beenden, wahr (vgl. Suterlüty 2003, S. 179). Begleiterscheinungen der Missachtung, wie die negativen Etikettierungen und Zuschreibungen als minderwertig, nutzlos und so weiter, gehen in das Selbstbild der Kinder über und bewahrheiten sich nicht selten in sogenannten selfullfilling prophecies, zu Deutsch „sich selbst erfüllende Prophezeiungen“ (a.a.O., S. 193-196). Nicht selten münden diese in einer Negativspirale, die nur schwer aufzubrechen ist. Das niedrige Selbstwertgefühl und die negativen Erwartungen an sich führen zu einem dementsprechenden Verhalten, das die Ablehnung durch die Bezugsgruppen, wie zum Beispiel Lehrer und Eltern, verstärkt und schliesslich das schlechte Selbstbild verfestigt (a.a.O., S. 206). Dieser Befund deckt sich mit den Annahmen der „Reputation Management“-Theorie, welche davon ausgeht, dass delinquente Jugendliche bewusst zwischen verschiedenen Identitätsentwürfen wählen. Das heisst sie entscheiden sich bewusst für eine kriminelle Identität und somit gegen eine „Erfahrung des Scheiterns“ (vgl. Brumlik 1998, S. 238). Als Resultat entstehen nicht selten auch gewaltaffine Interpretationsregimes, in denen die Kinder und Jugendlichen die zu Hause erlebte feindselige Welt auf andere Kontexte übertragen und diese ebenfalls als bedroht wahrnehmen. Um nicht erneut Opfer zu werden, liegt es für sie dann oft erschreckend nahe, auf die Situation mit Gewalt zu reagieren (a.a.O., S. 78). Diese ersten Motive werden dann während des Gewaltaktes abgelöst durch intrinsische Motive, so, wie dem „Triumph der physischen Überlegenheit“, den „Schmerzen des anderen“ und der „Überschreitung des 11 Alltäglichen“. Diese sekundären Motive können sich im Laufe der Zeit verselbstständigen und zum eigentlichen Grund für den Übergriff werden (a.a.O., S. 93). An Suterlüty (2003) wird kritisiert, dass er einzig die Familie als Ursprung der Gewaltkarriere beziehungsweise Schauplatz von Ohmacht und Misshandlungserfahrungen untersucht und betrachtet hat. Hees und Wahl (2009) machen darauf aufmerksam, dass auch in der Schule alle möglichen Formen von Gewalt und Missachtung auftreten (vgl. S. 26). Ebenso müsste der Einfluss von Gruppen, wie der Rechtsextremen, Hooligans oder auch linken und anarchischen Gewaltszenen näher betrachtet werden (vgl. a.a.O., S. 42). In verschiedenen quantitativen Zwillings- und Adoptionsstudien wurden die Effekte der Umwelteinflüsse, der sogenannte „shared environmental effect“ auf antisoziales Verhalten gemessen. Der Zusammenhang zwischen geteilter gemeinsamer Umwelt und antisozialem Verhalten beträgt bei Kindern und Jugendlichen zwischen 0.20 und 0.16 und ist somit beträchtlich. Nebst der Umwelt müsste aber auch der genetische Einfluss mitberücksichtigt werden. Dieser ist mit Werten zwischen 0.46 und 0.43 für Kinder und Jugendliche ziemlich hoch. Antisoziales Verhalten steht also tatsächlich unter erheblichem Umwelteinfluss, ist aber auch deutlich vererbbar (vgl. Bouchard 2004, S. 150). Dennoch sei darauf hingewiesen, dass es sich keineswegs um ein „Aggressivitäts“oder „Asi-Gen“ handelt. Wahrscheinlicher ist es anzunehmen, dass durch die Vererbung bestimmter Gene vermehrt aggressivitätsfördernde und impulsivitätsfreisetzende Hormone und Neurotransmitter, wie zum Beispiel Serotonin, Testosteron und Cortisol freigesetzt werden (vgl. Hees/Wahl 2009, S. 81). Die Entstehung jugendlicher Gewaltkarrieren, wie sie Suterlüty (2003) aufzeigt ist nur ein Beispiel für die Entwicklung kindlichen oder jugendlichen Fehlverhaltens. Auch anderes abweichendes oder antisoziales Verhalten ist vielfach zurückzuführen auf Defizite im engeren Lebensfeld (vgl. Bouchard 2004, S. 150). Thiersch (1998) entwickelte dazu eine Theorie, in der er auf den engen Zusammenhang von mangelnden Ressourcen, beengten Wohnverhältnissen, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Sozialhilfebedürftigkeit und Verhaltensauffälligkeiten verweist (vgl. S. 45). Ausserdem bestätigt er: „Abweichendes Verhalten entwickelt sich auch, wenn im engeren Lebensfeld der Kinder – z.B. in der Familie – Gleichgültigkeit, Zerstrittenheit und Missachtung so sehr dominieren, dass sich Selbst- und Lebensvertrauen nicht ausbilden können 12 oder, wenn überfordernde, aus Ehrgeiz und eigenen Frustrationen stammende Lern- und Karriereerwartungen in Kinder und Heranwachsende proijziert werden“ (ebd.). Aus diesen Befunden können wir festhalten: In Anbetracht der Tatsache, dass in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut aufwächst, ist die im Verhältnis relativ geringe Devianz erstaunlich (vgl. Brumlik 1998, S. 235). Wenn man weiter nach Ursachen und Prozessen sucht, die zu kriminellem Verhalten führen, stösst man auch unweigerlich auf die neun Thesen von Sutherland aus dem Jahr 1968. Bei diesen geht es im Kern geht darum, dass kriminelles Verhalten gelerntes Verhalten ist, das vor allem in Interaktionen mit anderen Personen gelernt wird (vgl. Dollinger/Raithel 2006, S. 45ff). Auf die Weiterentwicklung seiner Thesen wird im nächsten Kapitel nochmals zurückgekommen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass abweichendes Verhalten Resultat eines komplexen Zusammenspiels ist, bei dem keineswegs nur das Individuum eine Rolle spielt. Böhnisch bringt dies auf den Punkt, indem er delinquentes Verhalten als „Bewältigungsverhalten in kritischen Lebenskontexten“ bezeichnet und in Delikten immer auch auf massive Selbst- und Anerkennungsstörungen sowie soziale Hilflosigkeit hinweist (vgl. 2008, S. 189, nach Huber/Schierz 2013, S. 108). Dies kann als erster Hinweis darauf gedeutet werden, dass es kaum richtig sein kann, die Konsequenzen für Fehlverhalten auf rein individueller Ebene anzusetzen. 3.2. Kritische Betrachtung aus pädagogischer Perspektive Aus den vorher vorgestellten Theorien, unter anderem der von Suterlüty (2003) lässt sich schliessen, dass delinquente Kinder und Jugendliche vor allem eines brauchen, nämlich Unterstützung und Bestärkung, um ein positives Selbstkonzept aufbauen zu können. Nur so kann der Teufelskreis der selbsterfüllenden Prophezeiung, der falschen Attributionsregimes und der bewussten Wahl einer kriminellen Identität zum Selbstschutz durchbrochen werden. Es stellt sich natürlich die Frage, ob es reicht wenn sie diese Wertschätzung durch die im Heim arbeitenden Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen erhalten. Insbesondere ist dies fragwürdig wenn man die kurze Aufenthaltsdauer bedenkt. Selbst die in geschlossenen Heimen Tätigen geben zu, dass sie 13 ihren Auftrag in „Aufbewahrung“ und nicht in „Therapie, Verselbständigung und Problembewältigung“ sehen (vgl. IGFH 1995, S. 2). In den meisten Fällen brauchen die Kinder und Jugendlichen aber unbedingt psychologische Unterstützung. Diese greift allerdings häufig nur dann, wenn sich gleichzeitig Zuhause etwas ändert. Falls das Kind oder der Jugendliche durch eine Gruppe zu den Vergehen motiviert worden ist, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gross, dass er oder sie nach der Entlassung zu dieser zurückkehrt. Obwohl sich die Heime während des letzten Jahrhunderts extrem positiv entwickelt haben, stellen sie deswegen nach wie vor keine optimale Lösung dar. Vielmehr ist eine Orientierung an der Lebenswelt des Kindes und des Jugendlichen vonnöten (vgl. Bonhoeffer 1973, S. 70ff). Denn Sozialisation ist ein an den Sozialraum gebundener Prozess. Die Kompetenz einer erfolgreichen Lebensbewältigung wird immer in Bezug auf das jeweilige Lebensfeld gelernt. Das Problem, das sich deswegen in geschlossenen Anstalten ergibt, lautet auf den Punkt gebracht: „Der Knast ist der einzige Ort, wo man sitzen muss, um laufen zu lernen“ (IGFH 1995, S. 1). Geschlossene Heime sind zwar nicht gleichzusetzen mit Gefängnissen, aber auch hier wird die Verbindung zur Lebenswelt unterbunden und somit eine Resozialisierung beziehungsweise Rückkehr in diese ohne Rückfall massiv erschwert. In den Thesen von Sutherland (vgl. auch Kapitel 3.1.), wird davon ausgegangen, dass kriminelles Verhalten gelerntes Verhalten ist. Diese Thesen wurden später weiter entwickelt. Zusammengefasst lauten die weiterentwickelten Hypothesen: Je häufiger eine Person Kontakte mit anderen Personen hat, die Gesetze verletzen, desto häufiger wird sie selber Gesetzesverletzungen begehen. Und je häufiger sie Gesetzesverletzungen begeht, desto häufiger trifft sie andere Personen, die dies ebenfalls tun. Und so weiter. Wobei allerdings nicht von einem Determinismus, sondern lediglich von erhöhten Wahrscheinlichkeiten ausgegangen werden darf (vgl. Dollinger/Raithel 2006, S. 48). Aber nicht ausnahmslos alle Theorien gehen von den Ursachen von Verhalten aus. Anders als bei den bisher erwähnten Ansätzen geht die Etikettierungstheorie nicht von den Ursachen aus, sondern beschäftigt sich mit der Frage nach Zuschreibung von Abweichung und Identifikation mit dieser. Gefragt wird nach den Prozessen, die einen „Täter“ als einen solchen identifizieren und deren Konsequenzen (vgl. Dollinger/Raithel 2006, S. 74f). Demnach wird abweichendes, kriminelles Verhalten nicht bestraft, weil es ein Verbrechen ist, sondern ist ein Verbrechen, weil wir es verurteilen (vgl. Dollinger/Raithel 2006, S. 76). Devianz, sprich abweichendes Verhalten, ist dementsprechend kein objektiver Tatbestand, der diagnostiziert und verurteilt werden 14 kann, sondern wird erst durch die gesellschaftliche Reaktion auf sie als eine solcher konstruiert (ebd.). Aus dieser theoretischen Perspektive heraus kam Tannenbaum schon 1938 auf die prägnante Aussage: „The young delinquent becomes bad because he is defined as bad and because he is not believed if he is good“ (vgl. Dollinger/Raithel 2006, S. 78 nach Tannenbaum 1973, S. 214). Diese Annahme entspricht weitgehend jenen von Suterlüty (vgl. Kapitel 3.1.), wenn dieser von der Self-Fullfilling-Prophecy spricht. Aus den Zuschreibungen resultiert eine sekundäre Devianz, die keine Folge der ursprünglichen Devianz ist, sondern Konsequenz der aus dieser gefolgten Etikettierung. Beispielhaft wird dieser Prozess im achtstufigen Modell der Entwicklung einer delinquenten Identität nach Quensel (1981) dargelegt. Dieses Entwicklungsmodell zeigt eindrücklich auf, wie sich aus leichten Auffälligkeiten durch negative Reaktionen und Bestrafung bis hin zur polizeilichen Registrierung sowohl das eigene Selbstbild als „Verbrecher“ als auch die Verankerung in delinquenten Gruppen verfestigen. Das Rollenmuster wird schliesslich durch eine Einweisung in eine Strafanstalt endgültig beschlossen und endet in einem Kreislauf von Rückfällen, aus dem es durch die negativen Rückmeldungen der sozialen Umwelt als „Vorbestrafter“ nur schwer ist zu entkommen (vgl. Dollinger/Raithel 2006, S. 81ff). Wenn man die Erkenntnisse der Etikettierungstheorie auf die Frage geschlossener Unterbringung für Kinder und Jugendliche mit abweichendem Verhalten überträgt, so kann dieser ebenfalls unmöglich gutgeheissen werden. Die allermeisten pädagogischen Argumente stützen die Aussage: „Nur in Freiheit können junge Menschen die Kompetenzen und die Persönlichkeit entwickeln, die sie zum Leben in einer offenen, freiheitlichen und pluralen Gesellschaft brauchen, die auch die Gesellschaft selbst zu ihrem Fortbestand benötigt“ (IGFH 1995, S. 1). Nach dem sozialstrukturellen Ansatz kann kritisiert werden, dass die politischen Forderungen nach vermehrter geschlossener Unterbringung verkennen, dass die Lebenslage von Heranwachsenden unter anderem mit der Ausbildungsnot und der grossen Jugendarbeitslosigkeit schwieriger geworden ist (vgl. IGFH 1995, S. 4). Stattdessen betrachtet sie das Vergehen des Kindes oder Jugendlichen ohne biografischen Kontext und vergisst dabei, dass auch Familie und Umfeld wichtige Gelingensfaktoren sind für gewünschtes Verhalten, wie Suterlüty (2003) eindrücklich zeigt. 15 Der Etikettierungsansatz und das Konzept der sekundären Devianz zeigen ausserdem, wie Kriminalität durch Zuschreibungsprozesse erst erschaffen wird. Kulturtheoretisch gilt es die scharfe Beurteilung von delinquentem Verhalten, das aus entwicklungspsychologischer Sicht normal ist (vgl. Kapitel 2.1., S. 5), zu hinterfragen. Es reicht demnach nicht, das Kind oder den Jugendlichen für eine gewisse Zeit wegzusperren. Stattdessen sind sozialpolitische Massnahmen, lebensweltorientierte Programme und das bewusste Hinterfragen gesellschaftlicher Normen vonnöten. 4. Schlussfolgerung Kinderkriminalität und bedrohlich steigende Statistiken werden sowohl von Politikern und politischen Parteien als auch von den Medien immer wieder hervorgeholt, wenn es darum geht neue Wählerschaft auf sich aufmerksam zu machen oder die Leserschaft in Bann zu ziehen. Diese „bedrohliche Neuigkeit“ mündet oftmals in der Forderung nach härteren Massnahmen und vermehrter geschlossener Unterbringung und steht stellvertretend für eine neue Sicherheitspolitik und traditionelle Verbindlichkeiten. Während Politik und Medien ein flächendeckendes Angebot an geschlossenen Institutionen fordern, lehnen pädagogische Fachleute dies einhellig ab (vgl. Müller/Peter, S. 16). Denn: „Wenn die Gründe für Devianz in individuellen und sozialen Defiziten gesucht werden, und diese Defizite, u.a. durch Soziale Arbeit und Sozialpolitik, als über Behandlung, Therapie, Reform etc. bearbeitbar beschrieben werden, hat ein strafender Zugang zu Devianz und Abweichung wenig Plausibilität“ (Huber/Schierz 2013, S. 104f). Die Vermutung von Thiersch (1998), dass die eigentlichen Strukturprobleme, die hinter der Kinderkriminalität stecken, durch die drastische Diskussion verdeckt werden und sieht allgemeinpolitische Diskussionen zum Beispiel zur „Familien-, Arbeitsmarkt-, Ausbildungs-, und Sozialpolitik“ als längst überfällig an liegt nahe (vgl. S. 45 und S. 97). 16 Die vorherrschende Diskussion über eine geschlossene Unterbringung für delinquente bzw. mehrfach auffällige Kinder und Jugendliche ist als stark ideologisiert anzusehen. Das Phänomen Kinderkriminalität wird von verschiedenen Seiten funktionalisiert. Dies wird auch deutlich wenn man sich die statistischen Zahlen vor Augen führt. Diese deuten nämlich weder eindeutig noch objektiv auf eine allgemein zunehmende Kriminalität im Kindesalter hin. Eine Analyse von Weitekamp und Meier (1998) ergab, dass es sich vielmehr um eine künstlich hervorgerufene Hysterie handelt. Weitere Analysen bestätigen dies (vgl. u.a. Cremer-Schäfer 1998). Die Angst von Politikern vor einer Rückkehr zur „Schmusepädagogik“ ist unsinnig. Ebenso greift aber die Warnung von Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern zu einer Rückkehr zur „Schwarzen Pädagogik“ zu kurz. „In einem differenzierungsfeindlichen Pro- und Contra-Klima werden Bekenntnisse abgegeben, Zugeständnisse eingeklagt und pauschale Abrechnungen mit einer als Schmusepädagogik diffamierten Sozialen Arbeit vorgenommen“ (Müller/Peter 1998, S. 16). Eine realistische Auswertung der Frage nach geschlossener Unterbringung ist um Einiges komplexer und müsste ein Vielfaches mehr an Faktoren, zum Beispiel wirtschaftlicher und sozialpolitischer Art, berücksichtigen um der Frage gerecht zu werden. Eine eindeutige Analyse und logische Schlussfolgerung ist deshalb im Rahmen einer Arbeit schlicht unmöglich. Es bleibt daher bei einem Versuch die emotional aufgeladene Debatte aufzuzeigen und die hohe Komplexität darzustellen. Abschliessend kann aber dem Politiker Koch Recht gegeben werden bei seiner Einschätzung: Es braucht Fachleute, um dieser komplexen Problematik und ihrer Bearbeitung gerecht zu werden. „Das ist ein Thema, da braucht man Fachleute, das muss man lange diskutieren“ (Koch, vgl. NZZ, 14.01.2008). 17 Literaturverzeichnis Abbildung 1: http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/397880/Plus-30- Prozent_Massiver-Anstieg-der-KinderwbrKriminalitaet (letzter Zugriff: 20.01.14). Böhnisch, L./Lösch, H. 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