Der Einfluss der Türkei auf das Wahlverhalten der eingebürgerten

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Der Einfluss der Türkei auf das Wahlverhalten der eingebürgerten Türken
in Deutschland
Dr. phil. Mustafa Acar
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Die empirische Wahlforschung beschäftigt sich mit der Frage, “Wer wählt wen warum?“ (Wehling
1991: 7) und setzt sich zum Ziel, das Wahlverhalten der Wähler anhand der unterschiedlichen Determinanten und Einflussfaktoren zu erklären. Bei dem Wahlverhalten türkischstämmiger Wahlberechtigten müssen andere Faktoren außer den Einflussfaktoren der Wahlforschung, die das Wahlverhalten der gebürtigen Deutschen erklären, berücksichtigt werden.
Das Wahlverhalten eingebürgerter Personen in Deutschland ist in der Politikwissenschaft und Migrationsforschung ein relativ neues Forschungsthema und wurde „bisher seltsamer Weise kaum untersucht“ (Beyme 1999: 108). Bislang „gibt es nur wenige empirische Analysen des Wahlverhaltens
eingebürgerter Personen in Deutschland“ (Wüst 2002: 31). Daten, die die politischen Einstellungen,
Parteipräferenzen und das Wahlverhalten von eingebürgerten Türken in Deutschland abbilden, beruhen meistens auf Untersuchungen der Konrad-Adenauer-Stiftung (Wilamowitz-Moellendorff 2001,
2002, 2005) und des Zentrums für Türkeistudien innerhalb der standardisierten Mehrthemenbefragungen (Goldberg/Humbert 1998, Goldberg/Sauer 2004, Sauer/Goldberg 2006, Sauer 2007, 2009
und 2010). Eine erste umfangreiche Untersuchung über das Wahlverhalten der eingebürgerten Personen in Deutschland wurde von Andreas Wüst (2002, 2003a, 2003b) durchgeführt. Nach den Ergebnissen dieser empirischen Untersuchungen wählen Türken und Deutsch-Türken mehrheitlich die
SPD und sympathisieren mit den Grünen. Ihr Wahlverhalten wird von ihrem Arbeiterstatus, ihrer
Migrationsgeschichte, individuellen soziodemographischen Faktoren sowie aktuellen politischen Inhalten und Kandidaten beeinflusst.
Diese Studie beschäftigt sich mit der Türkei als ein Einflussfaktor auf das Wahlverhalten der türkischstämmigen Wählerschaft. Das Wahlverhalten ist ein vielseitiges Phänomen. Wenn es um die
Wahlentscheidung der eingebürgerten Türken geht, ist dieser Phänomen noch komplexer. In diesem
Zusammenhang sollen die speziellen Faktoren festgelegt werden, die neben den Erklärungsansätzen
der Wahlforschung das Wahlverhalten der eingebürgerten Türken erklären können. Eine von diesen
speziellen Faktoren ist die Türkei. Im Zentrum steht die Fragen: Hat die Türkei einen Einfluss auf
die Wahlentscheidung der türkischen Wählerschaft in Deutschland und in welchem Ausmaß?
Bei einer Untersuchung können verschiedene Erhebungsmethoden verwendet werden. Es ist hierbei
wichtig, dass die Befragungsmethode „zur Forschungsfrage und zum konkreten Untersuchungsgegenstand passen muss, weil sich die Methoden nach spezifischen Eigenschaften der empirischen
Untersuchungen unterschiedlich gestalten“ (Sauer 2010: 177). Für diese Studie wurde das persönliche (Face-to-Face) Interview als empirische Forschungsmethode ausgewählt und das Interview
wurde durch Paper-and-pencil durchgeführt. Das persönliche Interview wird von Scheuch (1973:
71) „als ein planmäßiges Vorgehen mit wissenschaftlicher Zielsetzung“ verstanden. Bei dem persönlichen Interview kann sowohl die Zielgruppe besser und vertiefender befragt werden, als auch
quantitativ ausgewertet werden. Das wichtigste Vorteil des persönlichen Interviews ist, dass „die
Personen nachfragen können und die Fragen besser geklärt werden können“ (Diekmann 1995: 439).
Die Interviews fanden in Hamburg vom 01.04.2011 bis 30.04.2011 statt und wurden mit 500 Personen durchgeführt.
Die Türkei ist ein wichtiger Faktor auf die Wahlentscheidung der türkischstämmigen Wählerschaft
bei den Bundestagswahlen. Dieser Faktor wird seit 1998 von den Wissenschaftlern und den unterschiedlichen politischen Kräften diskutiert. Der Einfluss der Türkei auf die Türken wurde im Jahr
1999 in einer Gesprächsrunde in der Friedrich-Ebert-Stiftung diskutiert. Die Teilnehmer sind zum
Ergebnis gekommen, dass die Türken in ihrem politischen Verhalten von ihrem Herkunftsland beeinflusst und dass sie von den meisten politischen Kräften in der Türkei als eine türkische Lobby in
Deutschland für die türkischen politischen Interessen gesehen werden (vgl. Bericht einer Gesprächsrunde in der FES 2000: 6).
Die Wirkung der Türkei (durch die Regierungen, Parteien und Politiker) auf das Wahlverhalten der
eingebürgerten Türken und das Interesse der in Deutschland lebenden Türken an türkischer Politik
werden von den türkischen Massenmedien und Selbstorganisationen vermittelt. Bei diesem Einfluss
haben die auf die Politik in der Türkei ausgerichteten Organisationen eine grundsätzliche Rolle. Sie
halten das Interesse an türkischer Politik aufrecht und beeinflussen die Türken in dem Zusammenhang des politischen und gesellschaftlichen Lebens.
„Diese Organisationen sind ursprünglich rein herkunftslandsorientierte Organisationen, die
das gesamte Spektrum der türkischen politischen Landschaft in die Bundesrepublik verpflanzt haben. Ihre Aktivitäten sind diasporapolitisch ausgerichtet (…). Diese Organisationen versuchen, Einfluss auf die deutsche Politik und Öffentlichkeit zugunsten des Heimatlandes auszuüben“ (Küçükhüseyin 2002: 10)
Dies ist ein Grund dafür, dass „die ethnische Mobilisierung in Deutschland sehr stark auf die Herkunftsländer bezogen geblieben ist“ und „ethnische Gruppen viel stärker auf die Politik ihrer Herkunftsländer orientiert sind“ (Koopmans 2001:93). Türkische Regierungen, Politiker und Parteien
beeinflussen durch die Wahlempfehlungen und Aufrufe an die türkischstämmigen Migranten in
Deutschland ihre Wahlentscheidungen und zeigen immer die SPD als Partei und eine mögliche rotgrüne Koalition als Regierung (vgl. Acar 2011: 196). Ein wichtiger Faktor für diesen Einfluss ist die
starke emotionale Heimatverbundenheit und kulturelle Identität von Türken.
„Die Option zur Rückkehr und die Verbundenheit mit der Türkei waren und sind wichtige
Rahmenbedingungen der gesamten Lebenseinstellung der türkeistämmigen Migranten und
resultieren aus der spezifischen Migrationsgeschichte der ehemaligen Gastarbeiternationalitäten, die sich auf die Nachfolgegenerationen übertragen haben“ (Sauer 2009: 108).
Diese empirische Studie setzt sich auch zum Ziel, den Einfluss der Türkei auf das Wahlverhalten
von Türken zu messen. Die bisher offene Frage, in welchem Maße die Türkei (Regierungen, Parteien und Politiker) die Wahlentscheidung der türkischstämmigen Wählerschaft in Deutschland beeinflusst, lässt sich mit dieser Studie festlegen. Die türkischen Regierungen, Parteien und Politiker wirken auf das Wahlverhalten der Mehrheit von Türken ein.
76,6% der Befragten werden von den Wahlempfehlungen der türkischen Regierungen, Parteien und
Politiker bei ihrem Wahlverhalten in Deutschland beeinflusst, 19,6% von ihnen stark, 32,2% mittelmäßig und 25,8% wenig. Dagegen liegt der Anteil der Befragten, deren Wahlentscheidung von der
Türkei nicht beeinflusst wird, bei 22,4%.
Abbildung 1: Wirkung der Türkei auf das Wahlverhalten (in %)
Wirkung der Türkei auf das Wahlverhalten
22,4
kein Einfluss
25,8
wenig
32,2
mittel
19,6
stark
0
5
10
15
20
25
30
35
Die Türkeiwirkung auf die Wahlentscheidung nach Geschlecht ist bei den Frauen (stark/mittel/wenig 80,76%) höher als bei den Männern (75,27%). Dagegen ist die starke/mittlere Wirkung der Türkei auf das Wahlverhalten der Männer und Frauen identisch (51%). 24,04% der Männer werden von
den Wahlempfehlungen der Türkei stark beeinflusst, während die starke Wirkung bei den Frauen bei
13,14% liegt. Dagegen werden 38,02% der Frauen und 27,87% der Männer vom Wahlaufruf der
Türkei mittelmäßig beeinflusst. Die Wahlaufrufe der politischen Kräfte der Türkei werden von
23,34% der Männer und von 29,57% der Frauen wenig wahrgenommen. Der Anteil der Befragten,
deren Wahlentscheidung von Wahlempfehlungen der Türkei nicht beeinflusst wird, liegt bei den
Männern bei 24,73% und bei den Frauen bei 19,24%. (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Wirkung der Türkei auf das Wahlverhalten nach Geschlecht (in %)
Wirkung der Türkei auf das Wahlverhalten nach Geschlecht
19,24
29,57
Frauen
38,02
13,14
24,73
23,34
Männer
27,87
24,04
0
5
10
stark
15
mittel
20
wenig
25
30
35
40
kein Einfluss
Die Staatsbürgerschaft ist ein wichtiger Indikator für den Einfluss der Türkei auf das Wahlverhalten,
weil das Wahlrecht von Migranten in Deutschland von der Einbürgerung abhängig ist. Deshalb ist
es wichtig, wie Türken, die das Wahlrecht haben, auf die Wahlempfehlungen der Türkei reagieren.
Es ist sehr interessant, dass die eingebürgerten Türken und Doppelstaatsbürger von der Türkei mehr
als die türkischen Staatsbürger beeinflusst werden. Nur 15,18% der deutschen Staatsbürger und
23,52% der Doppelstaatsbürger werden vom Wahlruf der Türkei nicht beeinflusst, während dieser
Anteil bei den türkischen Staatsbürgern bei 27,27% liegt. Die Türkei beeinflusst 14,13% der eingebürgerten Türken stark, 39,26% mittelmäßig und 31,41% wenig. Wenn die türkischen Staatsbürger
in Deutschland wählen würden, würden 52% (stark/mittel) von ihnen von der Türkei beeinflusst.
Die Türkeiwirkung auf die Wahlentscheidung der Doppelstaatsbürger beträgt 8,82% stark, 35,29%
mittel und 32,35% wenig.
Abbildung 3: Wirkung der Türkei auf das Wahlverhalten nach Staatsbürgerschaft (in %)
Wirkung der Türkei auf das Wahlverhalten nach Staatsbürgerschaft
23,52
32,35
Beide
35,29
8,82
27,27
20,72
Türkisch
27,27
24,72
15,18
31,41
Deutsch
39,26
14,13
0
5
10
15
stark
mittel
20
wenig
25
30
kein Einfluss
35
40
45
Literaturverzeichnis
Acar, Mustafa 2011: Das Wahlverhalten der türkischstämmigen Wahlberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Untersuchung zur Erklärung des politischen Verhaltens von Deutsch-Türken bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005, Hamburg: Verlag Dr. Kovac.
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