»Bin stolz auf den Gipfelflug Ihres Genies.« Aus einem Telegramm David Oistrachs zu Dmitrij Schostakowitschs 50. Geburtstag 1956, ein Jahr nach der Uraufführung des Ersten Violinkonzerts B4: Do, 06.12.2012, 20 Uhr | A4: So, 09.12.2012, 11 Uhr | Hamburg, Laeiszhalle L3: Fr, 07.12.2012, 19.30 Uhr | Lübeck, Musik- und Kongresshalle Alan Gilbert Dirigent | Frank Peter Zimmermann Violine Dmitrij Schostakowitsch Violinkonzert Nr. 1 a-Moll op. 77 Peter Tschaikowsky 2. Akt aus dem Ballett „Der Nussknacker“ (konzertante Aufführung) DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Das Konzert am 09.12.2012 wird live auf NDR Kultur gesendet. Donnerstag, 6. Dezember 2012, 20 Uhr Sonntag, 9. Dezember 2012, 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle, Großer Saal Freitag, 7. Dezember 2012, 19.30 Uhr Lübeck, Musik- und Kongresshalle Dirigent: Solist: Alan Gilbert Frank Peter Zimmermann Violine Dmitrij Schostakowitsch (1906 – 1975) Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77 (1947/48, rev. 1955) I. II. III. IV. Nocturne. Moderato Scherzo. Allegro Passacaglia. Andante – Cadenza – Burlesque. Allegro con brio – Presto Pause Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840 – 1893) Der Nussknacker Ballett op. 71 (1891/92) 2. Akt (konzertante Aufführung) Nr. 10: Szene (Im Zauberschloss von Zuckerburg) Nr. 11: Szene (Klara und der Prinz) Nr. 12: Divertissement a) Schokolade (Spanischer Tanz) b) Kaffee (Arabischer Tanz) c) Tee (Chinesischer Tanz) d) Trepak (Russischer Tanz) e) Tanz der Rohrflöten f) Mutter Gigogne und die Polichinelles Nr. 13: Blumenwalzer Nr. 14: Pas de deux Intrada Variation I (Tarantella) Variation II (Tanz der Zuckerfee) Coda Nr. 15: Schlusswalzer und Apotheose Einführungsveranstaltung mit Habakuk Traber am 06.12.2012 um 19 Uhr im Großen Saal der Laeiszhalle. 2 3 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER 4 Alan Gilbert Frank Peter Zimmermann Dirigent Violine Alan Gilbert, Erster Gastdirigent des NDR Sinfonieorchesters, ist seit 2009 Music Director des New York Philharmonic Orchestra – als erster gebürtiger New Yorker auf diesem Posten. Er habe das Orchester wieder zum Stadtgespräch gemacht und eine „experimentierfreudige neue Ära“ begonnen, begeisterte sich die „New York Times“. So stellte Gilbert gleich in seiner ersten Saison eine Reihe neuer Initiativen vor: u. a. ein jährliches Festival (in dieser Spielzeit mit dem Titel „The Bach Variations“) sowie die Konzertreihe „CONTACT!“, bei der sich das New York Philharmonic der zeitgenössischen Musik widmet. Zusätzlich besetzte er die Positionen eines Composer- und Artist-inResidence, die gegenwärtig von Christopher Rouse bzw. dem Pianisten Emanuel Ax eingenommen werden. In der aktuellen Spielzeit dirigiert Gilbert u. a. Uraufführungen von Werken der Komponisten Anders Hillborg, Steven Stucky und Christopher Rouse sowie einen Zyklus aller Brahms-Sinfonien und -Konzerte. Er setzt sein Nielsen-Projekt zur Aufführung und Einspielung aller Sinfonien und Konzerte des dänischen Komponisten fort, dirigiert Bachs h-Moll-Messe sowie ein amerikanisches Programm u. a. mit Ives’ 4. Sinfonie. Im Frühjahr 2013 unternimmt er mit seinem Orchester eine Europa-Tournee. Den Abschluss der Saison bilden vier Konzerte mit dem Titel „June Journey: Gilbert’s Playlist“, in denen Gilbert Themen und Ideen präsentiert, die er seit Antritt seiner Position entwickelt hat, darunter das Saisonfinale, eine Neufassung der Ballette „Petruschka“ und „Dornröschen“. Geboren 1965 in Duisburg, begann Frank Peter Zimmermann als Fünfjähriger mit dem Geigenspiel und gab bereits im Alter von zehn Jahren sein erstes Konzert mit Orchester. Nach Studien bei Valery Gradow, Saschko Gawriloff und Herman Krebbers begann 1983 sein kontinuierlicher Aufstieg zur Weltelite. Zimmermann gastiert bei allen wichtigen Festivals und musiziert mit allen berühmten Orchestern und Dirigenten in der Alten und Neuen Welt. Den Auftakt der Spielzeit 2012/2013 bildeten Festivalauftritte im Rahmen der Sommertournee des Gustav Mahler Jugendorchesters mit Daniele Gatti. Zu weiteren Höhepunkten der Saison zählen Konzerte mit dem New York Philharmonic und Andrey Boreyko, den Wiener Philharmonikern (mit einem Gastspiel in der New Yorker Carnegie Hall) und dem Cleveland Orchestra, jeweils mit Franz Welser-Möst, dem Philharmonia Orchestra, den Berliner Philharmonikern und dem Orchestre de Paris, jeweils mit Paavo Järvi, sowie dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Esa-Pekka Salonen. Zu den Höhepunkten der vergangenen Saison zählten „Residencies“ beim New York Philharmonic unter Alan Gilbert und Christoph von Dohnányi (verbunden mit einer Europatournee) und bei den Bamberger Symphonikern. Alan Gilbert ist Ehrendirigent des Royal Stockholm Philharmonic Orchestra (dessen Chef er achteinhalb Jahre war) und gastiert regelmäßig bei so bedeutenden Orchestern wie dem Boston Symphony Orchestra, dem Concertgebouworkest Amsterdam, dem Gewandhausorchester Leipzig oder den Berliner Philharmonikern. Er debütierte 2008 mit John Adams’ „Doctor Atomic“ in der Metropolitan Opera New York – eine Produktion, die auf DVD erschienen ist und 2012 mit einem Grammy ausgezeichnet wurde. Im September 2011 wurde Gilbert „Director of Conducting and Orchestral Studies“ an der Juilliard School, deren William Schuman-Lehrstuhl er seit 2009 besetzt. Vom Curtis Institute wurde er 2010 zum Ehrendoktor ernannt; 2011 erhielt er den „Ditson Conductor’s Award“ der Columbia University aufgrund seines großen Einsatzes für Werke amerikanischer Komponisten sowie zeitgenössische Musik. Neben seinen zahlreichen Orchesterengagements ist Frank Peter Zimmermann regelmäßig als Kammermusiker auf den großen Podien der Welt zu hören. Zu seinen regelmäßigen Kammermusikpartnern zählen die Pianisten Piotr Anderszewski, Enrico Pace and Emanuel Ax. Gemeinsam mit dem Bratschisten Antoine Tamestit und dem Cellisten Christian Poltéra gründete er das „Trio Zimmermann“; Konzerte führen das Ensemble unter anderem nach Amsterdam, Brüssel, Köln, London, Lyon, Mailand, München, Paris und Wien sowie zu den Salzburger Festspielen, dem Edinburgh Festival, dem Schleswig-Holstein Musik Festival und dem Rheingau Musik Festival. Zimmermann spielte von Bach bis Weill alle großen Violinkonzerte sowie zahlreiche Solound Kammermusikwerke auf CD ein. Viele seiner Aufnahmen wurden weltweit mit bedeutenden Preisen gewürdigt. Neben etlichen anderen Auszeichnungen wurde ihm im Jahr 2008 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Frank Peter Zimmermann spielt eine Stradivari aus dem Jahr 1711, die einst dem großen Geiger Fritz Kreisler gehörte. 5 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Subtiler Protest Schostakowitschs Violinkonzert Nr. 1 a-Moll op. 77 Diktatorische Staatssysteme, zumeist mit einem ideologischen Überbau versehen, schränken die persönliche Freiheit der in ihnen lebenden Individuen in besonderem Maße ein. Kulturell Schaffende haben hier von oben vorgegebenen kulturpolitischen Leitlinien zu folgen, so dass ihre Werke oftmals versteckt Zeugnis über die erlebten Repressalien ablegen. Auch Dmitrij Schostakowitschs Erstes Violinkonzert verrät sowohl durch die musikalisch-thematische Konzeption seiner einzelnen Sätze als auch durch seine verspätete Uraufführung viel von der (schöpferischen) Unfreiheit des Komponisten in der Stalinzeit und der Sowjetunion. Schostakowitsch komponierte sein Violinkonzert, genau wie seinen im Sommer entstandenen Liederzyklus „Aus der Jüdischen Volkspoesie“, zunächst nur für die Schublade. Im März 1948, als er das Violinkonzert fertig stellte, war er gerade zum zweiten Mal in seiner Karriere auf eine ‚schwarze Liste‘ gesetzt worden, die Komponisten aufführte, deren Werk als ‚formalistisch‘ eingestuft wurde. Das bedeutete, dass Schostakowitschs Musik nicht den Leitlinien des der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Stalin treuen Komponistenverbands entsprach. Seine Musik wurde als zu modernistisch und nicht realistisch-volksnah genug angesehen. Infolgedessen wurden kaum noch Werke von ihm aufgeführt. Der jüdische Geiger David Oistrach, der das ihm gewidmete Violinkonzert erst zwei Jahre nach Stalins Tod, am 29. Oktober 1955, in Leningrad uraufführte, hatte das Glück, bereits 1948 einen ersten Höreindruck zu erhalten. Schostakowitsch 6 ihn so schwarzen Jahr wurde er außerdem noch seiner Professuren an den Konservatorien in Leningrad und Moskau enthoben –, wird im ersten Satz hörbar. Dieses Nocturne hebt über düsterem Cello- und Kontrabassgrund mit einem tränenschweren, nächtlich-einsamen Gesang der Geige an, der sich, von Seufzermotiven durchwoben, scheinbar endlos empor schwingt, um dann, gelegentlich von Celestaund Harfen-Klängen sphärisch untermalt, langsam ersterbend zu enden. Dmitrij Schostakowitsch (1948) selbst spielte das Konzert David und Igor Oistrach aus seiner Partitur am Flügel vor. Oistrach zeigte sich tief beeindruckt. Ihm gefiel „der erstaunliche Ernst und die Tiefe des künstlerischen Anliegens, das absolut sinfonische Denken“ in diesem großen Konzert, das auch als ‚Sinfonie mit Violine‘ charakterisiert wird. Oistrach, der genau wie Schostakowitsch die Willkür der sowjetischen Staatsmacht z. B. in der Beschränkung seiner internationalen Konzertauftritte kennen lernte, konnte sich vor dem gleichen kulturpolitischen Hintergrund besonders gut in Schostakowitschs Situation einfühlen. Die Tragik, die Schostakowitsch 1948 empfunden haben muss – in diesem für In seiner Musik konnte Schostakowitsch seinem Innersten Ausdruck verleihen. Was die Musik ihm als nicht unvermittelt zu dechiffrierendes Ausdrucksmittel bedeutet haben muss, lässt sich aus einem Statement in den von Solomon Volkow herausgegebenen Memoiren ablesen: „Musik durchleuchtet einen Menschen ganz und gar. Und sie ist für ihn die letzte Hoffnung und Zuflucht. Selbst der halbwahnsinnige Stalin, der viehische Henker, hatte ein instinktives Gefühl dafür. Darum hasste und fürchtete er die Musik. Man hat mir erzählt, dass er trotzdem keine Aufführung des ‚Boris Godunow‘ im Bolschoi-Theater versäumte.“ Im zweiten Satz seines Violinkonzerts, einem Scherzo, finden sich in der Themengestaltung subtile Hinweise auf Schostakowitschs kritische Haltung zu den Geschehnissen seiner Zeit: Aufgrund der prekären Situation in der Sowjetunion – 1948 führte Antisemitismus zu der Festnahme von über 400 Künstlern, darunter Musiker, Schriftsteller und Schauspieler, die im August 1952 erschossen wurden –, äußerte sich Schostakowitsch nicht kritisch-verbal in der Öffentlichkeit. Formal liegt im 2. Satz eine ungewöhnliche Mischform aus Scherzo und Sonatensatz vor. Vier unterscheidbare Themen verschwistern sich zu jeweils zwei Themenkomplexen, wie Dethlef Arnemann aufzeigt. Themenkomplex I präsentiert das konzertierende Thema A zunächst in Flöte und Bassklarinette und das Thema B, das ‚Gewaltthema’, mit seinen angerissenen Forte-Oktaven in der Solovioline. Sodann tauschen Solovioline und Holzbläser die Themen. Die subtile Aussage des Scherzos ist dabei nur mit genauen Repertoirekenntnissen zu entschlüsseln. Schon Oistrach verwies auf die Verwandtschaft des Themas A mit dem 3. Satz der Zehnten Sinfonie von Schostakowitsch. Arnemann erläutert darüber hinaus, dass es sich hierbei um ein Überbleibsel aus dem 2. Satz der Zehnten handelt, das wiederum mit dem Thema des Prologs aus der Oper „Boris Godunow“ von Modest Mussorgsky verwandt ist. Mussorgskys Oper aber führt die unrechtmäßige Inthronisierung des Zaren Boris vor, der im Namen des Volkes Gräueltaten verübt. Die Parallele der Figur des Zaren Boris zum Diktator Stalin ist offenkundig. Das ‚Gewaltthema‘ hingegen lässt sich aus Schostakowitschs Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ ableiten. Es wird u. a. im 3. Satz, einer Passacaglia (in dem einleitenden, schwermütigen Bassthema der Celli und Kontrabässe), und im 4. Satz, der zitathaft einen trivial wirkenden Kanon in Klarinetten, Horn und Xylophon zu Gehör bringt, aufgegriffen. Themenkomplex II des Scherzos stellt das ‚jüdische Thema‘ und das DSCH-Thema dem 7 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Im Reich der Zuckerfee Der 2. Akt aus Tschaikowskys Ballett „Der Nussknacker“ Themenkomplex I gegenüber. Wie andere Komponisten auch, z. B. b-a-c-h, hinterließ Dmitrij Schostakowitsch tonale Siglen seiner Initialen in seinen eigenen Werken: d-es-c-h = D. Sch (in der deutschen Transliteration seines Namens). Im Fall des Violinkonzerts erscheinen sie in transponierter Form (dis-e-cis-h) als viertes, in die Melodik eingebundenes Thema zunächst in der Oboe. Damit verquickt ist das dritte, jüdische Thema, das zum ersten Mal in Holzbläsern und Xylophon erscheint und sich durch einen tänzerischen Rhythmus sowie melodisch durch eine übermäßige Sekunde auszeichnet, in der Kenner das ostjüdische Idiom erkennen. Schostakowitsch, der sich 1948 für seinen bis dahin ausgeprägten Kompositionsstil öffentlich entschuldigte, „Besserung“ gelobte und sich damit selbst verleugnete, identifizierte sich mit der zeitgleich verfolgten und unterdrückten jüdischen Kultur. Dass demgegenüber in Themenkomplex I die indirekt auf Stalin und Gewalt zu beziehenden Themen stehen, bedarf als indirekt geäußerte Kritik keiner weiteren Übersetzung. Im weiteren Satzverlauf nimmt die Solovioline das jüdische Thema auf und führt schließlich einen ausgelassenen jüdischen Tanz vor, der am Ende das ganze Orchester entzündet. Die ambivalente Stimmung des Scherzos, vordergründig tänzerisch-heiter und doch wehklagend, fasst die sowjetische Musikwissenschaftlerin I. B. Reltowa treffend „als das für Schostakowitsch so charakteristische ‚Lachen unter Tränen‘“ auf. Ist das Scherzo also aufgrund seiner Themengestaltung und der damit 8 verknüpften subtilen Aussage als zentraler Satz des Violinkonzerts anzusehen, wie Arnemann annimmt? Emotional berühren vielleicht der nächtlich-einsame Gesang des Nocturnes und das klagende Thema der Solovioline in der Passacaglia unmittelbarer. Für den Solisten zentral ist freilich auch die ausgedehnte und technisch anspruchsvolle Kadenz am Ende des dritten Satzes, die verschiedene Themen aus den vorangegangenen Sätzen wieder aufgreift und direkt in den vierten Satz, eine trivial wirkende Burleske, überleitet. Durch das bereits erwähnte Wiederaufgreifen des ‚Gewaltthemas‘ hat Schostakowitsch auch in den letzten, vordergründig volkstümlich wirkenden Satz einen doppelten Boden hineinkomponiert. „Ich kann beim besten Willen nicht begreifen, wie mit dem Wort ‚Ballettmusik’ irgendetwas ‚Negatives’ verbunden sein soll!“ – so äußerte sich einmal jener Komponist, der selbst am nachhaltigsten dazu beitragen sollte, dass genau diese seinerzeit verkommene Ballettmusik aus dem Sumpf belangloser Begleitdudelei wieder auf die Ebene anspruchsvoller Kunst erhoben wurde: Peter Tschaikowsky. Die Neigung zu tänzerischen Musikformen hatte er in seiner Instrumentalmusik schon früh kundgetan und um 1870 gar mit dem Entwurf eines „Aschenbrödel“-Balletts geliebäugelt, doch erst 1875 begründete er mit seinem „Schwanensee“ die Folge dreier Ballette, die bald zum Stamm- repertoire aller Theaterhäuser der Welt werden sollten. Direkt nach der Premiere des „Dornröschen“ 1890 erhielt Tschaikowsky vom Direktor des St. Petersburger Mariinski-Theaters Iwan A. Wsewoloschki den Auftrag, ein weiteres Ballett zu komponieren. Mit der von eben diesem zur Vorlage gewählten Erzählung Alexandre Dumas’, frei nach E. T. A. Hoffmanns Märchen „Nussknacker und Mausekönig“, konnte sich der Komponist jedoch anfangs nur schwer anfreunden – auch wenn er sich zeitlebens jene dort beschworene kindliche Weihnachtsstimmung bewahrt hatte und eine solche familiäre Idylle gut von den vielen Aufenthalten auf dem Landgut seiner Schwester kannte. Seinem Halina Wiederholz Der Innenraum des Mariinski-Theaters in St. Petersburg, wo Tschaikowskys „Nussknacker“ uraufgeführt wurde 9 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Neffen gegenüber beklagte er vor allem die „Unmöglichkeit“, die fantastischen Szenen, zumal die „Zuckermandel-Feerie“ des 2. Akts in Musik zu setzen. „Wenn ich die Überzeugung gewinnen sollte, dass ich auf meinem musikalischen Tisch nur ‚Aufgewärmtes‘ hinsetzen kann, so werde ich mit dem Komponieren aufhören“. Kaum hatte er sich im Februar 1891 dann doch mit dem Stoff abgefunden, bekam die Begeisterung zu allem Überfluss erneut einen Dämpfer: Auf einer Tournee erfuhr Tschaikowsky vom Tod ebenjener geliebten Schwester und hielt die Komposition der pittoresk-märchenhaften Nussknacker-Musik nun für „völlig ausgeschlossen“. Obwohl das Mariinski-Theater die Dekorationen für das Ballett schon bestellt hatte, gewährte Wsewoloschki seinem verehrten Komponisten Aufschub. Im Dezember 1892 war es endlich soweit: Nachdem vorab die Orchestersuite mit großem Erfolg uraufgeführt worden war, konnte die Doppelpremiere der Oper „Jolanthe“ und des „Nussknacker“ gefeiert werden. (Gemäß Pariser Praxis hatte Wsewoloschki zusätzlich zum Ballett noch einen Operneinakter als Prolog in Auftrag gegeben.) Die Oper wurde freundlich aufgenommen, Tschaikowskys „Nussknacker“Musik ebenso, das Ballett insgesamt jedoch nicht: „Um die Wahrheit zu sagen, es war etwas langweilig trotzt der prachtvollen Inszenierung“, gab Tschaikowsky selbst zu. Schon der legendäre St. Petersburger Ballettmeister Marius Petipa, der zu Beginn des Projekts mit Wsewoloschki das Libretto entworfen hatte und für die Abfolge der Tänze verantwortlich 10 Tschaikowskys „Nussknacker“ zerfällt in zwei sehr unterschiedliche Akte: Während der erste Akt handlungsbetont den Weihnachtsabend in Klaras Familie schildert, entführt der zweite Akt uns in ein Märchenreich, wo weniger einzelne Ereignisse als vielmehr die unterschiedlichen fantastischen Eindrücke eine Rolle spielen. Aus diesem Grund eignet er sich auch gut für eine separate konzertante Aufführung. Die Vorgeschichte ist rasch erzählt: Klara hat zu Weihnachten einen Nussknacker geschenkt bekommen. In der Nacht hat sie im Traum dessen Kampf mit den Mäusen beobachtet und ihm zum Sieg verholfen. Daraufhin hat sich der Nussknacker in einen Prinzen verwandelt und Klara – nun als Prinzessin gekleidet – zu einem Ausflug in das „Land der Süßigkeiten“ eingeladen. Dort angekommen, erwartet die Zuckerfee ihre Gäste. Eine von den Harfen umrauschte, warme Melodie schildert in Nr. 10 diese Ankunft, wobei in einer besonders „zauberhaften“ Variante in hoher Lage samt Violin-Flageoletts auch das charakteristische Instrument der Zuckerfee in Erscheinung tritt: Tschaikowsky hatte bei einem Besuch in Paris die Celesta, „ein Mittelding zwischen einem kleinen Klavier und einem Glockenspiel, mit einem göttlich schönen Klang“ kennen gelernt und wollte nun unbedingt der erste sein, der dieses neue Instrument in Russland präsentiert: „Es darf aber Niemandem Peter Tschaikowsky (um 1890) zeichnete, hatte im Verlauf des Schaffensprozesses Zweifel geäußert und die Choreographie (auch wegen einer Erkrankung) schließlich an Lew Iwanow abgegeben. Trotz all der Schwächen des Programms aber war dem Komponisten – zumindest was Einfallsreichtum, Instrumentation und Kolorismus betrifft – eine Krönung seines Ballettschaffens gelungen. Nirgendwo sonst äußert sich wohl in derart überschäumender Weise Tschaikowskys Talent für Märchenstimmung, Humor und kindliche Fantasie sowie eine meisterhaft beherrschte, dabei unaufdringlich schlichte, kammermusikalische, nicht zuletzt am großen Vorbild Mozart orientierte Musiksprache. Peter Tschaikowsky: „Der Nussknacker“, Bühnenbildentwurf zum 2. Akt von Konstantin Matwejewitsch Iwanow (1892) 11 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER gezeigt werden“, schrieb er seinem Verleger, „ich fürchte nämlich, Rimsky-Korsakow und Glasunow könnten die Sache wittern und den ungewöhnlichen Effekt vor mir aufbringen. Ich erwarte eine kolossale Wirkung von diesem neuen Instrument.“ Ebenso fantasievoll (etwa mit Flatterzungen-Effekten der Flöten) instrumentiert Tschaikowsky die folgende Szene (Nr. 11), die – gemäß der Erzählung des Prinzen – auch eine Reminiszenz an die Schlachtenmusik zwischen Nussknacker und Mausekönig aus dem ersten Akt enthält. Es obsiegt jedoch die glücklich schwingende Melodie des Paares. Nun folgt ein ausgedehntes Divertissement (d. h. ein Tableau aus einzelnen, handlungsfreien Tanzauftritten), in dem sich Klara und dem Prinzen verschiedene Köstlichkeiten und Nationalitäten präsentieren: Ein Trompeten-Solo und die unvermeidlichen Kastagnetten kennzeichnen den „Spanischen Tanz“ der SchokoladenFee. Karawanengleich zieht mit einem gleichförmigen Ostinato und Einwürfen des Tamburins der „Arabische Tanz“ (Kaffee) vorüber, der kurioserweise zwar auf einem georgischen Wiegenlied basiert, durch die unregelmäßigen Quintolen-Umspielungen und die „exotische“ Harmonik jedoch orientalisches Kolorit erhält. Das andere beliebte Heißgetränk Tee wird im „Chinesischen Tanz“ präsentiert, der melodisch und harmonisch allerdings kaum asiatisch klingt. Tschaikowsky behilft sich mit gleichsam nickenden Fagotten, Pizzicati als Stellvertreter chinesischer Zupfinstrumente, einer spieldosenartig dudelnden Klarinettenstimme und dem spitzen Klang der wohl chinesische Bam12 busflöten imitierenden Piccoloflöte. Seine trendbewusst exotische Vorstellung ist dabei freilich noch äußerst wage und reicht nicht an die wenig späteren, wenn auch ebenfalls stilisierten „asiatischen“ Experimente Debussys und Puccinis heran… Den „Russischen Tanz“ legen Kosaken mit einem sich am Ende wild beschleunigenden „Trepak“ aufs Parkett; daraufhin kokettiert ein „Rohrflöten“-Trio in einem grazilen Tanz mit klangvollem Mittelteil. Volkstümlich kommt dagegen „Mutter Gigogne“ mit ihren 32 Kindern daher. Hier konnte Tschaikowsky von seinen aus der Erziehung bei einem französischen Kindermädchen resultierenden Kenntnissen des französischen Märchen- und Liedguts profitieren. Schließlich setzt das „Corps de ballet“ im berühmten, rauschende Ball-Sphäre vermittelnden „Blumenwalzer“ einen glänzenden Schlusspunkt nach den Einzelnummern des Divertissements. Die handlungsarme Gestalt des zweiten Akts des „Nussknacker“ bringt es mit sich, dass dieses Ballett nur ein einziges klassisches Pas de deux aufweist – und dieses wird zudem nicht vom eigentlichen Liebespaar der Handlung getanzt. Die musikalisch vielleicht eindrücklichste Nummer des Balletts ist stattdessen der Zuckerfee und dem Nussknackerprinzen vorbehalten. Eine breit gezogene, umarmende Melodie der Violoncelli enthebt dieses Pas de deux ausdrucksvoll seinem spielerisch-fantasievollen Umfeld. Wunderbar verändert Tschaikowsky im Verlauf der Nummer das Klangbett, in dem sich das immer mächtiger gesteigerte Thema ausbreitet: Zuerst Marina Semjonowa und Alexei Jermolajew in einer Aufführung des „Nussknacker“ im Moskauer Bolschoi-Theater (um 1935) sekundieren Streicher-Pizzicati und Harfe, dann füllen Hörner die Harmonien, und am Ende – nach einer tragische Töne anschlagenden Episode – bereiten erhabene Akkordwechsel der Blechbläser den Einstieg der Melodie vor. Nach einer kurzen Tarantella des Prinzen folgt der Tanz für die Ballerina „Zuckerfee“, dessen schwereloses, fast geisterhaftes Klangbild ganz durch den Einsatz der Celesta bestimmt wird. Tschaikowsky wurde so gewissermaßen zum Pionier einer Tradition, nach der bis heute (etwa in der Filmmusik) unwirkliche Erscheinungen stets mit diesem Instrument untermalt werden. (In Petipas Programm war indes eher davon die Rede, dass man „das Fallen der Wassertropfen in den Fontänen hören“ sollte …) Nach der temporeichen Coda beschließt eine elegant beschwingte Walzer-Melodie das Werk. In dieser letzten Nummer greift der Komponist nicht nur auf das Zuckerfee-Thema aus Nr. 10, sondern auch zusammenfassend auf viele der zuvor gehörten Instrumentationsideen zurück. Julius Heile 13 NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Konzertvorschau NDR Sinfonieorchester C2 | Do, 20.12.2012 | 20 Uhr D4 | Fr, 21.12.2012 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Semyon Bychkov Dirigent Kirill Gerstein Klavier Paul Dukas Der Zauberlehrling Maurice Ravel Klavierkonzert D-Dur (für die linke Hand) Igor Strawinsky Petruschka Einführungsveranstaltungen: 20.12.2012 | 19 Uhr 21.12.2012 | 19 Uhr B5 | Do, 17.01.2013 | 20 Uhr A5 | So, 20.01.2013 | 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle L4 | Fr, 18.01.2013 | 19.30 Uhr Lübeck, Musik- und Kongresshalle Michael Gielen Dirigent Mihoko Fujimura Mezzosopran Damen des NDR Chores Knabenchor Hannover Gustav Mahler Sinfonie Nr. 3 d-Moll Einführungsveranstaltung: 17.01.2013 | 19 Uhr SONDERKONZERT KAMMERKONZERT Do, 13.12.2012 | 20 Uhr Lübeck, Musik- und Kongresshalle GRUBINGER IN CONCERT Martin Grubinger Schlagzeug NDR Sinfonieorchester Tan Dun Dirigent Martin Grubinger Percussionensemble Tan Dun „The Tears of Nature“ – Konzert für Schlagzeug und Orchester (Uraufführung, Auftragswerk des NDR) Keiko Abe „Prism Rhapsody“ für Marimba und Orchester Maki Ishii „Thirteen Drums“ für einen Schlagzeuger Tōru Takemitsu „Rain Tree“ für drei Schlagzeuger Keiko Abe „Wave“ für Solo-Marimba und vier Schlagzeuger Di, 22.01.2013 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio ELBQUARTETT Motomi Ishikawa Violine Barbara Gruszczynska Violine Aline Saniter Viola Bettina Bertsch Violoncello Franz Schubert Quartettsatz c-Moll D 703 Witold Lutosławski Streichquartett Ludwig van Beethoven Streichquartett e-Moll op. 59,2 Eine Veranstaltung des NDR Sinfonieorchesters in Kooperation mit dem SHMF Michael Gielen Semyon Bychkov Elbquartett Martin Grubinger 14 15 Stars der Zukunft DO 21.02.2013 | 20 UHR | LAEISZHALLE NDR SINFONIEORCHESTER | NICHOLAS MILTON LEITUNG FUMIAKI MIURA VIOLINE | NAREK HAKHNAZARYAN CELLO ALEXEJ GORLATCH KLAVIER WERKE VON SCHUMANN, PROKOFIEW, RACHMANINOW Belcanto FR 19.04.2013 | 20 UHR | ROLF-LIEBERMANN-STUDIO NDR RADIOPHILHARMONIE | ARIEL ZUCKERMANN LEITUNG HILA FAHIMA SOPRAN | DIANA HALLER MEZZOSOPRAN EUGENE CHAN BARITON AUSSCHNITTE AUS WERKEN VON VERDI, MOZART, ROSSINI U. A. ndr.de/podiumderjungen PianoStrings FR 18.01.2013 | 20 UHR | ROLF-LIEBERMANN-STUDIO SOPHIE PACINI KLAVIER | MECCORRE STRING QUARTET WERKE VON CHOPIN, LISZT, MOZART SINFONISCHES | OPER | KAMMERMUSIK | CHORMUSIK | MUSICAL | JAZZ FR 30.11.2012 | 20 UHR | ROLF-LIEBERMANN-STUDIO NDR BIGBAND | JÖRG ACHIM KELLER LEITUNG SEBASTIAN GILLE SAXOPHON | ENSEMBLE KWADROFONIK WERKE VON STRAWINSKY UND CHOPIN MIT DEM NDR SINFONIEORCHESTER | DER NDR BIGBAND DER NDR RADIOPHILHARMONIE | DEM NDR CHOR Sax & Kwadrofonik Junge Stars von morgen FR 26.10.2012 | 20 UHR HAUPTKIRCHE ST. NIKOLAI AM KLOSTERSTERN NDR CHOR | PHILIPP AHMANN LEITUNG ANNA-VICTORIA BALTRUSCH ORGEL WERKE VON BUXTEHUDE, BRITTEN, J. S. BACH, MACMILLAN Saison 2012/2013 Orgeltöne NDR SINFO NIEO RCHE S T ER Konzertvorschau Weitere NDR Konzerte NDR CHOR NDR PODIUM DER JUNGEN Sonderkonzert 1 Do, 20.12.2012 | 20 Uhr Hamburg, Kampnagel WEIHNACHTSKONZERT Philipp Ahmann Dirigent NDR Bigband NDR Chor „Take Two“ Fr, 18.01.2013 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio PIANOSTRINGS Sophie Pacini Klavier Meccorre String Quartet Frédéric Chopin Scherzo Nr. 2 b-Moll op. 31 Franz Liszt Klaviersonate h-Moll Wolfgang Amadeus Mozart Streichquartett G-Dur KV 387 In Kooperation mit Kampnagel NDR DAS NEUE WERK Mi, 16.01.2013 | 20 Uhr Hamburg, Kampnagel DANSEREYE Ein Tanzprojekt u. a. mit Isaac Spencer, Jan Burkhardt, Lisanne Goodhue, Deborah Hofstetter Choreographie: Sebastian Matthias Musik: Michael Wolters (Uraufführung, Auftragswerk des NDR) Das Konzert wird auch in der Reihe „Konzert statt Schule“ gegeben. Termin: Do, 17.01.2013 | 11 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio Folgeaufführungen: 17., 18., 19., 20.01.2013 | 20 Uhr Sophie Pacini Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus, Tel. 0180 – 1 78 79 80 (bundesweit zum Ortstarif, maximal 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunknetz), online unter ndrticketshop.de 17 Impressum Saison 2012 / 2013 Foto: Comstock Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK BEREICH ORCHESTER UND CHOR Leitung: Rolf Beck Redaktion Sinfonieorchester: Achim Dobschall Redaktion des Programmheftes: Julius Heile Die Einführungstexte von Halina Wiederholz und Julius Heile sind Originalbeiträge für den NDR. Fotos: C. Lee (S. 4) Franz Hamm (S. 7) akg-images | Tony Vaccaro (S. 6) akg-images | RIA Nowosti (S. 9, S. 13) akg-images (S. 10, S. 11) Sheila Rock (S. 14 links) Jacques Lévesque (S. 14 rechts) Felix Broede (S. 15 links) J. Larsen (S. 15 rechts) Susanne Krauss (S. 17) NDR | Markendesign Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co. Druck: Nehr & Co. GmbH Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. 18 NDR Variationen 5 Konzerte zum Verschenken Ob Mahlers Dritte, hochvirtuose barocke Kastratenpartien, Grenzen sprengende Jazz-Klänge, sechzehnstimmige, das Publikum umhüllende Chorklänge, „Alice in Wonderland“, phänomenale Nachwuchssolisten, Schuberts Forellenquintett oder „Karneval der Tiere“ für Familien – mit den NDR Variationen haben Sie nicht mehr die Qual der Wahl, sondern erleben die enorme musikalische Bandbreite der NDR Konzerte – von Klassik bis Jazz – innerhalb eines Abonnements. Zur Auswahl stehen Konzerte aus folgenden Reihen: NDR Sinfonieorchester in der Laeiszhalle | NDR Sinfonieorchester auf Kampnagel NDR Chor | NDR Das Alte Werk | NDR das neue werk | NDR Podium der Jungen NDR Jazz | NDR Kammerkonzerte | NDR Familienkonzerte Wahlabo mit 5 Konzertgutscheinen für 80 Euro, gültig für NDR Konzerte von Januar 2013 bis Juni 2013. Pro Konzertreihe kann ein Gutschein – je nach Verfügbarkeit der Karten – eingelöst werden. NDR Ticketshop im Levantehaus | Mönckebergstraße 7 20095 Hamburg Telefon (0180) 1 78 79 80* | Fax (0180) 1 78 79 81* | E-Mail: [email protected] Mo bis Fr: 10 bis 19 Uhr und Sa: 10 bis 18 Uhr * bundesweit zum Ortstarif, maximal 42 Cent pro Minute aus Mobilfunknetzen