KuBus 68 Eine Frage des Vertrauens – Die Auflösung des Deutschen Bundestags Autor: Rolf Scheller 00’03’’ 1. Juli 2005. Nur drei 3 Jahre nach der letzten Bundestagswahl will sich der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder heute das Misstrauen durch das Parlament aussprechen lassen. Und das, obwohl er eigentlich eine Mehrheit hat. 00’16’’ Off Wolfgang Thierse, SPD (Präsident des Deutschen Bundestags) “Das Wort zu einer Erklärung hat zunächst der Bundeskan zler, Gerhard Schröder” 00’20’’ UT/O-Ton Gerhard Schröder, SPD (Bundeskanzler) “Mein Antrag hat ein einziges, ganz unmissverständliches Ziel. Ich möchte dem Herrn Bundespräsidenten die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages und die Anordnung von Neuwahlen vorschlagen können. Der für meine Partei und für mich selber bittere Ausgang der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen war das letzte Glied in einer Kette zum Teil empfindlicher und schmerzlicher Wahlniederlagen.” 00’51’’ Die SPD -Fraktion ist konsterniert. Sie soll ihrem eigenen Kanzler das Vertrauen entziehen. Ein Problem, das die Opposition nicht hat, wie Angela Merkel zu entnehmen ist. 01’02’’ UT/O-Ton Angela Merkel, CDU (Parteivorsitzende) “Herr Bundeskanzler, lassen Sie es mich gleich zu Beginn ausdrücklich sagen, dass Sie heute den Antrag auf Abstimmung gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stellen mit dem Ziel, vorgezogene Wahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen, das begrüßen wir, das begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.” 01’27’’ O-Ton Wolfgang Schäuble, CDU (Stellv. Fraktionsvorsitzender) “Unser Grundgesetz kennt ja kein Selbstauflösungsrecht des Bundestages, sondern Bundeskanzler, Mehrheit des Bundestages und Bundespräsident müssen zusammenwirken, damit es zu vorgezogenen Neuwahlen kommt. Das ist verfassungsrechtlich nach meiner Überzeugung in Ordnung. Dass er das politisch macht, halte ich für richtig. Er sieht ein, dass er für das, was er als Regierungskurs für notwendig hält, in der Koalition keine hinreichende Unterstützung mehr hatte. Die Unterstützung ist vor allen Dingen auch durch ständige, schwere Wahlniederlagen der Sozialdemokraten geschwunden, und dass die Union das unterstützt als Opposition… Die Opposition möchte immer lieber früher als später Gelegenheit haben, eine bessere Politik zu machen, weil es verfassungsrechtlich in Ordnung ist und weil wir glauben, es ist besser, wenn die Wähler schon in diesem Jahr eine Chance haben, über eine neue Politik zu entscheiden, und deswegen sind wir dafür.” 02’18’’ Nach Artikel 68 des Grundgesetzes kann der Kanzler die Vertrauensfrage stellen. Entscheiden muss der Bundespräsident, der dann Neuwahlen anberaumen kann. Außenminister Fischer. 02’28’’ UT/O-Ton Joseph Fischer, Bündnis90/Die Grünen (Bundesminister des Auswärtigen) “Sie wollten Rot-Grün nicht, und Sie wollten es nicht nur aus politischen Gründen, sondern es hat Ihnen nicht gepasst, dass es hier eine demokratische linke Mehrheit, die sich auch auf ’68 bezieht, meine Damen und Herren, von den Deutschen gewählt wurde. Das ist doch der en tscheidende Punkt. Und dieser Unterschied besteht nach wie vor, da werden Sie uns nicht darüber hinweg diskutieren können. Und diese Koalition hat auch allen Grund, stolz zu sein auf das, was wir erreicht haben, liebe Freunde. Wir haben alle Chancen, wenn wir kämpfen, und darum werden wir auch kämpfen, dass wir gewinnen und nicht um zu verlieren, ich danke.” 03’03’’ Aber nicht alle aus Fischers grüner Fraktion halten Neuwahlen für rechtens. Der Abgeordnete Werner Schulz ist der Meinung, die Abstimmung werde manipuliert. 03’14’’ UT/O-Ton Werner Schulz, Bündnis 90/Die Gr ünen (MdB) “Glauben Sie denn ernsthaft daran, dass Sie nach dieser verschwiemelten Operation morgen in den Wahlkampf ziehen und über Wahrheiten reden können? Das ist nicht nur ein Tiefpunkt der demokratischen Kultur, sondern Sie beschädigen auch das Ansehen des Parlaments.” 03’29’’ Ein Großteil der Regierungsfraktion enthält sich. Dadurch ist das Abstimmungsergebnis eindeutig: Eine Mehrheit des Parlaments spricht dem Kanzler das Misstrauen aus. Für die Opposition eine Chance, an die Macht zu kommen. Für die Regierung die Möglichkeit, erneut – und dann eindeutig – den Regierungsauftrag zu erhalten. 03’56’’ UT/O-Ton Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen (Bundestagsvizepräsidentin) “Für mich war der 1. Juli ein sehr bitterer Tag. Er war kein Befreiungsschlag, schon gar nicht aus patriotischen Gründen. Sondern es war, ja, so etwas wie ein destruktiver Dominoeffekt. Wissen Sie, Rot-Grün ist sehr schwer von ganz vielen Menschen und mit ganzen Milieus erkämpft worden. Ich glaube, da hatten wir nicht das Recht, einfach ein Viertel von der uns gewährten Zeit einfach ungenutzt zurück zu geben. Und das Destruktive – ich kann schon verstehen, dass es im Zentrum der Macht eine Ermüdung gab. Denn auf der einen Seite gibt es dieses fast legendäre Bild der Bundesrepublik von außen betrachtet, mit seiner Ökologie, seiner Friedenspolitik, seiner Sozialpolitik, seiner stabilen Demokratie. Und auf der anderen Seite innenpolitisch diese heftige Unzufriedenheit. Aber dass man, um das aufzulösen, alles beschädigen muss, die Bundesregierung, das Parlament, die Fraktion, am Ende Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht, das will mir nicht einleuchten.” 05’00’’ Bonn 1972 - der damalige Regierungssitz. Die CDU/CSU stellt einen Misstrauensantrag gegen Kan zler Willy Brandt, SPD. 05’10’’ UT/O-Ton Willy Brandt, SPD (Bundeskanzler 1972) “Mein erklärtes, zu keinem Zeitpunkt verschwiegenes Ziel ist es, durch die Ablehnung des hier gestellten Antrages in die Lage versetzt zu werden, dem Herrn Bundespräsidenten die Auflösung des 6. Deutschen Bundestages und die Ansetzung von Neuwahlen vorschlagen zu können.” 05’33’’ UT/O-Ton Rainer Barzel, CDU (Parteivorsitzender 1972) “Am 28. April wurde der Haushalt des Kanzlers abgelehnt. Es hätte normalem demokratischem Stil und gutem parlamentarischem Brauch entsprochen, wenn der Bundeskanzler damals zurückgetreten wäre.” 05’53’’ UT/O-Ton Franz-Josef Strauß, CSU (Parteivorsitzender 1972) “Und die Tatsache, Herr Bundeskanzler, über die Sie lachen, dass in Ihrer Partei heute Verhältnisse ei ngerissen sind, auch wenn Sie sie nur als Randerscheinungen bezeichnen, die früher zu einem ganz klaren Trennungsstrich geführt haben und bei Ihnen nur mehr zu salbungsvollen Redensarten führen, aber zu nicht mehr. Ich plädiere auch hier, trotz der Schärfe des beginnenden Wahlkampfes, für die Gemeinschaft der Demokraten in der Mitte und Mitte-Rechts und Mitte-Links. Aber dann muss der Trennungsstrich gezogen werden gegenüber den Gesellschaftsveränderern, gegenüber den potenziellen Revolutionären, gegenüber denen in ihrer eigenen Partei” 06’28’’ Das Misstrauensvotum scheitert. Willy Brandt bleibt Bundeskanzler. 06’36’’ 1982. Eine Koalition aus CDU/CSU/FDP ist jetzt an der Macht. Kanzler Kohl stellt einen Misstrauensantrag – gegen sich selbst. 06’46’’ UT/O-Ton Helmut Kohl, CDU (Bundeskanzler 1982) “Die Koalition braucht als Grundlage für die notwendige, langfristige und breit angelegte Politik der Erneuerung eine Entscheidung des Wählers. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien wollen Neuwahlen.” 07’01’’ UT/O-Ton Willy Brandt, SPD (Parteivorsitzender 1982) “Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, schon oft das Empfinden hatten, dass es einer neuen Entscheidung der Wählerinnen und Wähler bedürfte, dann sage ich auch nach der heutigen Einlassung, dass Sie sich am Besten hätten zum verfassungsmäßig ganz unproblematischen Rücktritt entschließen sollen.” 07’28’’ Das Ergebnis der Abstimmung: Kohl wird das Vertrauen entzogen. Er hat erreicht, was er wollte: Neuwahlen werden anberaumt. Kohl gewinnt die Wahl – und bleibt dann 16 Jahre im Amt. 07’40’’ O-Ton Egon Bahr, SPD (Ehemaliger Bundesminister) “Die Situationen sind unvergleichbar, denn Brandt hatte damals keine Mehrheit mehr für den Haushalt. Kohl hatte eine Mehrheit, er hatte sie ja gerade bestätigt bekommen durch den Wechsel der FDP zur CDU und wollte eine Mehrheit haben, die er nicht der FDP verdankte, sondern sich selbst. Da wurde die Verfassung eigentlich manipuliert. Heute wird sie nicht manipuliert, und zwar einfach deshalb, weil es ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein ist. Nach dem Verlust der Mehrheit im Vermittlungsausschuss wäre es unverantwortlich, die Bundesrepublik Deutschland handlungsunfähig in die nächsten Monate bis zum Herbst zu senden oder zu schicken.” 08’42’’ Dieser Meinung hat sich am 1. Juli 2005 die Mehrheit der Abgeordneten im Reichstag, dem Sitz des Deutschen Parlaments, angeschlossen. Viele SPD- und Grünen-Abgeordnete mit Wut im Bauch. Aber das ändert nichts an dem Ergebnis. Bundeskanzler Gerhard Schröder will Neuwahlen, weil er darin die einzige Möglichkeit sieht, im Falle eines Sieges von Rot-Grün effektvoll weiterregieren zu können. Die Opposition will das verhindern. 09’10’’ Aber die Entscheidung über Neuwahlen fällt der Bundespräsident, der zur Zeit hier residiert. Sagt er „ja“, müssen Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen stattfinden. 09’24’’ 21. Juli. Bundespräsidialamt. Bundespräsident Horst Köhler teilt am Abend im Deutschen Fernsehen mit: 09’34’’ UT/O-Ton Horst Köhler (Bundespräsident) “Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt. Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben, unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Ich habe Respekt vor allen, die gezweifelt haben, und ich habe ihre Argumente gehört und ernsthaft gewogen. Doch ich sehe keine andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon überzeugt, dass damit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestags gegeben sind.” 10’20’’ Politiker aller Parteien, auch Bundeskanzler Schröder, begrüßen die Entscheidung. 10’25’’ UT/O-Ton Gerhard Schröder, SPD (Bundeskanzler) “Meine Damen und Herren, der Herr Bundespräsident hat die Weichen für Neuwahlen zum Deutschen Bundestag am 18. September gestellt. Ich begrüße seine souveräne Entscheidung sehr. Mit der Vertrauensfrage am 1. Juli ging es mir darum, Neuwahlen möglich zu machen. Dafür hatte ich seit der Ankündigung eine überwältigende Unterstützung in unserer Gesellschaft. Nicht nur alle Parteien, sondern viel, viel wichtiger, die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wünschen Neuwahlen.” 11’02’’ Die Oppositionsführerin Angela Merkel unterstützt in diesem Fall den Kanzler. 11’08’’ UT/O-Ton Angela Merkel, CDU (Parteivorsitzende) “Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat mit seiner Entscheidung den Weg frei gemacht für Neuwahlen, und ich - ich wende mich dabei an die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes - werbe dafür, dass wir diese Neuwahlen nutzen, um einen Neuanfang für unser Land zu ermöglichen.” 11’29’’ Aber inzwischen haben die Kritiker des Abstimmungsverfahrens Klage beim Bundesverfassungsgericht erhoben. In einer ZDF-Livesendung am 1. Juli nimmt die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Stellung. 11’44’’ UT/O-Ton Bettina Schausten (Moderatorin) “Wenn man so liest, hat man schon den Eindruck, dass unter den Verfassungsrechtlern es eben durchaus geteilte Meinungen gibt. Das kann so oder so ausfallen.” 11’51’’ UT/O-Ton, Jutta Limbach (Ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts) “Oh ja sehr , aber ja, sehr. Es ist sogar so, dass die Mehrzahl, wenn ich das richtig gezählt habe, die Mehrzahl der Verfassungsrechtler, der Staatsrechtslehrer hier von einer Manipulation, von einem Missbrauch spricht. Ich bin völlig anderer Meinung, und das sind wenige andere - ich glaube, darunter befindet sich auch ein vorheriger Bundespräsident- die mit mir der Meinung sind, das sei keine Manipulation. Aber das zeigt, vor welcher Kontroverse im Grunde genommen auch diese Richterinnen und Richter stehen.” 12’23’’ Am 18. September wird in der Bundesrepublik Deutschland gew ählt, sollte den Klagen nicht stattgegeben werden. Inzwischen rüsten sich alle Parteien für den Wahlkampf. Ihnen bleiben nur wenige Wochen, um die Stimmen der Wähler zu gewinnen. 12’36’’ Auch eine neue Linkspartei wirbt um die Wählergunst. 12’44’’ Ob Rot-Grün weiterregieren kann oder ob die CDU/CSU - mit welchem Koalitionspartner auch immer - ans Ruder kommt, liegt nun beim Souv erän, dem Wähler. Ende: 12’56’’ http://www.goethe.de/kubus