M E D I Z I N AKTUELL Oliver Brüstle Otmar D. Wiestler Zellersatz aus embryonalen Stammzellen Neue Perspektiven für die Transplantationsmedizin ZUSAMMENFASSUNG In der Wissenschaftsdiskussion hat das Thema embryonale Stammzellen (ES-Zellen) große Aufmerksamkeit erregt. Dies sind Vorläuferzellen aus dem frühen Embryonalstadium der Blastozyste, die noch in alle Zelltypen des Organismus ausreifen können. Sie haben allerdings nicht mehr die Fähigkeit, allein einen kompletten Embryo auszubilden. Im Herbst 1998 ist es zwei US-amerikanischen Arbeitsgruppen gelungen, mit der Gewinnung embryonaler Stammzellen beziehungsweise äquivalenter Vorläuferzellen aus menschlichen Embryonen eine neue Domäne der Stammzellforschung zu erschließen. Da aus murinen ES-Zellen bereits zahlreiche somatische Zelltypen gewonnen werden konnten, verspricht sich die Transplantationsmedizin große Fortschritte von der Stammzelltechnologie. Die Möglichkeiten, ES- Zellen nahezu unbeschränkt zu vermehren und sie langfristig autolog herzustellen, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Es besteht ein großes Interesse, humane ES-Zellen für entwicklungsbiologische Forschungsarbeiten und pharmakologische Untersuchungen einzusetzen. Dieser Beitrag soll eine Übersicht über das sich rasch entwickelnde Feld der Stammzellforschung geben und das Potenzial von ES-Zellen für den Zellersatz im Zentralnervensystem aufzeigen. Es ist den Autoren auch ein Anliegen, die heftige und oft kontroverse Diskussion zu versachlichen. Schlüsselwörter: Embryonale Stammzelle, Kerntransfer, Transplantation, Nervenzelle, Glia, multiple Sklerose, Myelinreparatur. Embryonic Stem Cells: New Perspectives for Cell Replacement Recent developments in stem cell technology have placed embryonic stem cells (ES cells) at the centre of both scientific and public interest. ES cells are derived from the inner cell mass of blastocysts and display two remarkable features. First, they are pluripotent and can generate all tissues and cell types. Second, they can be expanded to virtually unlimited numbers. These properties make ES cells an exciting potential donor source for cell transplants. Interest in the clinical use of ES cells received strong impetus from recent reports on the first isolation of ES cells and ES-like stem cells from embryonic human tissue. In addition, human ES cells may open new avenues for the study of human development and disease. In conjunction with recent advances in mammalian cloning, the ES cell technology provides both fascinating and controversial perspectives for the generation of autologous donor cells. Focussing on recent developments in ES cell-based nervous system repair, this report is aimed at providing an unbiased view of the field. Thorough and informed discussions between the medical community and the general public will be required to guide this promising technology from the laboratory to clinical application. Key words: Embryonic stem cell, nuclear transfer, neural transplantation, neuron, glia, multiple sclerosis, myelin repair U nter einer Stammzelle versteht man jede undifferenzierte Zelle eines Organismus, die sich selbst vermehren und reifere Tochterzellen bilden kann. Bei den embryonalen Stammzellen handelt es sich um eine sehr frühe Form, welche aus der inneren Zellmasse der so genannten Blastozyste jenseits des Acht-Zell-Stadiums eines Embryos gewonnen wird (5, 8). Embryonale Stammzellen können noch in alle Zell- und Gewebetypen des Organismus ausreifen. Im Gegensatz zu befruchteten Eizellen sind sie allerdings allein nicht in der Lage, einen intakten Embryo auszubilden. Die Zeitspanne des embryonalen Stammzellstadiums in der Blastozyste beträgt nur wenige Tage. Im Anschluss erfahren die Zellen des Embryos bereits eine Prägung, welche ihr Differenzierungsspektrum zunehmend einschränkt. ES-Zellen besitzen die bemerkenswerte Eigenschaft, nach Injektion in einen frühen Embryo an der Entwicklung und Ausreifung aller Gewebe- und Zelltypen in vivo teilzunehmen. Heute kann man mithilfe der ES-Zell-Technologie praktisch jedes Gen ausschalten oder verändern und die Folgen im lebenden Organismus einer transgenen Maus studieren. Diese Methode erlaubt nicht nur die Analyse einer veränderten Genfunktion in vivo, sondern hat Institut für Neuropathologie (Direktor: Prof. Dr. med. Otmar D. Wiestler) der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn A-1666 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 24, 16. Juni 2000 SUMMARY auch den Weg für die Herstellung einer großen Zahl von transgenen Tiermodellen für menschliche Erkrankungen geebnet. Die universelle Fähigkeit zur Differenzierung von ES-Zellen lässt sich in vitro nachvollziehen. So wurden in Kulturen differenzierender ES-Zellen unter anderem Zellen des Nervensystems, hämatopoetische Zelltypen, Kardiomyozyten, glatte und Skelettmuskelzellen, Chondrozyten, Endothelzellen und Keratinozyten beschrieben (7). Als mögliche Spenderquelle für Transplantate sind embryonale Stammzellen schlagartig in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt, als 1998 zwei US-amerikanische Arbeitsgruppen über die Isolierung humaner embryonaler Stamm- M E D I Z I N AKTUELL Tabelle Stammzelltransplantate in klinischer Erprobung Gewebequelle Beispiel Autologe Stammzellen aus dem erwachsenen Organismus Hämatopoetische Stammzellen, Leukämie, seltene Erbleiden Allogene Stammzellen aus Nabelschnurblut Hämatopoetische Stammzellen, Leukämie Allogene Stammzellen aus embryonalem Donorgewebe Mesenzephale Vorläuferzellen, M. Parkinson Xenogene Stammzellen aus embryonalem Donorgewebe Mesenzephale Vorläuferzellen (Schwein) M. Parkinson zellen beziehungsweise embryonaler Keimzellen berichteten. Die Gruppe von James Thomson am Wisconsin Regional Primate Research Center in Madison konnte embryonale Stammzelllinien aus menschlichen Blastozysten gewinnen, über mehrere Monate in Kultur halten und auf einige Stammzelleigenschaften untersuchen (12). Eine von John Gearhart an der Johns Hopkins University in Baltimore geleitete Gruppe von Wissenschaftlern verfolgte einen anderen Weg zur Gewinnung von Stammzellen. Hier wurden primordiale Keimzellen aus früh abortierten Feten entnommen und in Zelllinien überführt. Auch diese Zellen wiesen Eigenschaften von sehr frühen, pluripotenten embryonalen Vorläufern auf (10). In wieweit die Eigenschaften dieser humanen Zellen denen embryonaler Stammzellen der Maus entsprechen, ist allerdings noch weitgehend unklar. Donorquelle für die Transplantationsmedizin Die moderne Transplantationsmedizin hat spektakuläre Fortschritte gemacht. Gleichwohl werden die Verfügbarkeit und der langfristige Erfolg von Organtransplantaten durch verschiedene Probleme empfindlich eingeschränkt. An erster Stelle ist der nach wie vor prekäre Mangel an Spenderorganen zu nennen. Auch das neue Transplantationsgesetz hat keine nennenswerte Entlastung für die langen Warteli- fristige Funktionstüchtigkeit, Abstoßungsreaktionen, und das ungewisse Risiko einer Übertragung von Krankheitserregern stehen diesen Xenotransplantaten entgegen. In neuerer Zeit gibt es zunehmende Hinweise auf das Vorhandensein noch teilungs- und differenzierungsfähiger Stammzellen in erwachsenen Geweben auch außerhalb des Knochenmarks. Hieraus leiten sich Bemühungen ab, solche Zellen aus Gewebeproben zu isolieren, in Kultur stark anzureichern und anschließend als Spenderzellen für Transplantate zu verwenden. Bisher sind Ausbeute und Vermehrbarkeit solcher adulter Stammzellen allerdings bescheiden. Mit der Isolierung embryonaler Stammzellen beziehungsweise äquivalenter embryonaler Vorläuferzellen des Menschen rückt ein neuartiger Typ von Spenderzellen in das Zentrum des Interesses, mithilfe dessen sich viele der angesprochenen Probleme umgehen lassen. Embryonale Stammzellen können unter Kulturbedingungen zu praktisch unbegrenzten Zellzahlen vermehrt werden (11). Aufgrund ihres frühen Entwicklungsstadiums haben sie noch die Fähigkeit, in alle Zell- und Gewebetypen auszudifferenzieren. Falls es gelingt, die für einen spezifischen Reifungsprozess erforderlichen Faktoren zu identifizieren, wäre es im Prinzip möglich, die für die sten an Transplantationszentren gebracht. Das Risiko von akuten und chronischen immunologischen Abstoßungsreaktionen kann bei einigen Patienten nicht befriedigend beherrscht werden. Schließlich bleibt die Transplantation für verschiedene komplexe Gewebe des menschlichen Organismus nach wie vor eine große wissenschaftliche Herausforderung. Dies gilt in besonderer Weise für das zentrale Nervensystem, in welchem der Bedarf für erfolgreichen Zellersatz besonders groß wäre. Im Bereich des hämatopoetischen Systems hat die Transplantation von Stammzellen aus dem Knochenmark oder aus dem peripheren Blut in den vergangenen Jahren einen großen Entwicklungsschub erfahren (Tabelle). Allerdings werfen auch hier die Verfügbarkeit kompatibler alAlternative Methoden zur logener Spender und AbGewinnung von Stammzellen stoßungsreaktionen Probleme auf. Prinzipiell ist es ❃ Wachstumsfaktor-vermittelte Expansion denkbar, fetale menschliche somatischer Stammzellen Zellen in Zellkultur zu ver❃ Onkogen-vermittelte Immortalisierung mehren und dann für Transsomatischer Stammzellen plantate in erkrankten Or❃ Gewinnung somatischer Stammzellen aus ganen zu benutzen. Die sehr embryonalen Stammzellen begrenzte Verfügbarkeit von fetalen menschlichen Geweben, Probleme bei der In-vitro-Vermehrung von Vorläufer- Behandlung der jeweiligen Erkranzellen, immunologische Barrieren kung erforderlichen Spenderzellen und ethische Bedenken lassen je- in Zellkultur quasi künstlich herzudoch eine breite Verwendung fetaler stellen. Die Möglichkeit einer genemenschlicher Spendergewebe nicht tischen Veränderung von ES-Zelllipraktikabel erscheinen. Einige Un- nien könnte zur Modulation des Imtersucher propagieren seit längerem munsystems genutzt werden. Darden Einsatz von Spendergeweben über hinaus zeichnen sich seit der tierischer Herkunft. Fragliche lang- Herstellung des Klonschafs „Dolly“ A-1668 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 24, 16. Juni 2000 M E D I Z I N AKTUELL Perspektiven ab, durch Kernverpflanzung beziehungsweise Reprogrammierung des Zellkerns embryonale Stammzellen aus demselben Organismus zu gewinnen (13). Langfristig könnte es ein solcher Ansatz erlauben, Patienten Spenderzellen mit ihrer eigenen Erbinformation zu verpflanzen. Zellersatz im Zentralnervensystem Gehirn und Rückenmark sind die komplexesten Systeme, die die Evolution hervorgebracht hat. Diese Komplexität hat ihren Preis: Kaum ein anderes Organsystem weist ein tington, Schlaganfällen, traumatischen Hirn- und Rückenmarkverletzungen, aber auch primär die Glia betreffenden Krankheiten wie der multiplen Sklerose machtlos gegenüber. Ist ein Zellverlust einmal eingetreten, bietet sich – zumindest aus heutiger Sicht – die Transplantation als erfolgversprechendste Perspektive an. Nun unterscheiden sich Zellersatzstrategien im Nervensystem ganz wesentlich von der Transplantation ganzer Organe wie zum Beispiel Herz, Niere oder Leber. Die komplexe Architektur und die mannigfachen Verbindungen der einzelnen Hirnregionen machen es unmöglich, ganze Abschnitte des Ner- Grafik rend der Entwicklung des Nervensystems vorkommen, erfordern derartige Transplantate embryonales Spendergewebe. Bei der Parkinsonschen Krankheit werden solche Transplantate bereits klinisch angewandt. Allerdings werden für die Transplantation eines Patienten Zellen aus dem ventralen Mittelhirn von bis zu sieben menschlichen Feten benötigt – eine Strategie, die langfristig weder aus ethischer noch aus logistischer Sicht auf eine größere Zahl von Patienten anwendbar ist. Alternative Donorquellen Innerhalb der letzten Jahre sind zahlreiche Anstrengungen unternommen worden, Spenderzellen durch In-vitro-Expansion neuraler Vorläufer zu gewinnen (Textkasten). Bislang ist die Ausbeute allerdings zu gering, um ausreichende Zellmengen für klinische Transplantationszwecke herstellen zu können. Eine zweite Strategie zur Gewinnung großer Zellmengen ist die dauerhafte Vermehrung (Immortalisierung) von frühen neuralen Zellen mit Onkogenen. Ein möglicher klinischer Einsatz solcher potenziell tumorigener Gene erscheint jedoch äußerst fraglich. Gewinnung von Neuronen und Glia aus ES-Zellen Schematische Darstellung der Gewinnung transplantationsfähiger neuraler Spenderzellen aus pluripotenten ES-Zellen. Einmal aus der inneren Zellmasse von Blastozysten angelegt, lassen sich ES-Zellen in Anwesenheit von Leukemia Inhibitory Factor (LIF) zu nahezu unbegrenzten Mengen vermehren. Durch Aggregation zu so genannten Embryoidkörperchen wird die Differenzierung der ES-Zellen eingeleitet. Die dabei entstehenden neuralen Vorläuferzellen werden dann in definierte Zellkulturmedien überführt. Mithilfe zelltypspezifischer Wachstumsfaktor-Kombinationen lassen sich spezialisierte Vorläuferzellen weiter vermehren. Diese können durch Wachstumsfaktorentzug in vitro zur Ausreifung gebracht und transplantiert werden. so geringes Regenerationspotenzial auf wie das Zentralnervensystem. Zugrunde gegangene Nervenzellen regenerieren bis auf wenige Ausnahmefälle nicht und bleiben auf immer verloren. Dementsprechend stehen wir dem Großteil neurologischer Defizite bei Erkrankungen wie dem Morbus Parkinson, der Chorea Hun- vensystems komplett zu transplantieren. Vielmehr müssen bei einer Transplantation ins Nervensystem unreife Vorläuferzellen in die bestehende Architektur inkorporiert und dort zur Ausreifung gebracht werden. Da neurale Vorläuferzellen in nennenswertem Umfang nur wäh- Bereits seit mehreren Jahren ist bekannt, dass ES-Zellen prinzipiell Neurone und Gliazellen bilden können (7). Erst vor kurzem gelang es hingegen, auch teilungsfähige neurale Vorläuferzellen aus ES-Zellen zu gewinnen und mit Wachstumsfaktoren in vitro weiter zu vermehren (3, 9). Nach Wachstumsfaktorentzug reifen diese Vorläuferzellen in alle drei wesentlichen Zelltypen des Nervensystems aus – Neurone, Oligodendrozyten und Astrozyten (Grafik). Transplantationsexperimente an embryonalen Ratten zeigen, dass solche in der Kulturschale erzeugten Vorläuferzellen in der Lage sind, an der Hirnentwicklung teilzunehmen (l). Mit verfeinerten Methoden ist es mittlerweile sogar möglich, Vorläufer zu definierten Subpopulationen neuraler Zellen in praktisch unbe- Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 24, 16. Juni 2000 A-1669 M E D I Z I N AKTUELL grenzter Anzahl aus ES-Zellen zu gewinnen (3). Im Folgenden möchten wir das Potenzial dieser Zellen am Beispiel von ES-Zell-abgeleiteten Oligodendrozyten aufzeigen. Tiermodell der Pelizaeus-Merzbacherschen Erkrankung Copyright: Science, Washington, USA (3). Vorausgegangene Arbeiten mehrerer Forschungsgruppen hatten gezeigt, dass die Transplantation unreifer oligodendroglialer Zellen in das Nervensystem myelindefizienter Nagetiere großes Potenzial für die Wiederherstellung defekter Markscheiden hat. Ein für diese Untersuchungen vielfach verwendetes Tiermodell ist die myelindefiziente (md) Ratte, die aufgrund einer Mutation im PLPGen keine funktionsfähigen Markscheiden bilden kann. Der Gendefekt wird X-chromosomal rezessiv vererbt und stellt ein Analogen zur Pelizaeus-Merzbacherschen Erkrankung des Menschen dar. Wir haben an diesem Tiermodell exemplarisch untersucht, ob ES-Zellen grundsätzlich für die Reparatur von Defekten im Nervensystem verwendet werden können. Zu diesem nach Transplantation in den Hintersträngen des Rückenmarks zahlreiche PLP-positive Myelinscheiden nachweisen. Diese waren nicht auf die Implantationsstelle beschränkt, sondern fanden sich über mehrere Millimeter in Längs- und Querrichtung verteilt – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Zellen nach Transplantation im Empfängergewebe wandern (Abbildung 1). Das neu gebildete Myelin zeigte auch elektronenmikroskopisch einen regelrechten Aufbau (Abbildung 2). Diese Ergebnisse belegen, dass aus embryonalen Stammzellen hergestellte gliale Vorläuferzellen nach Transplantation reife Gliazellen bilden und myelindefiziente Regionen des Zentralnervensystems mit Markscheiden versorgen. Ein zentrales Problem von Zellersatzstrategien im ZNS ist, dass die meisten neurodegenerativen Erkrankungen große Abschnitte von Gehirn und Rückenmark mit einbeziehen. Dementsprechend würde es ein Zellersatz über Transplantation erfordern, Spenderzellen in verschiedenste Regionen des Nervensystems einzubringen. Im Tierexperiment ist dies möglich, wenn die Zellen anstatt ins Gehirnparenchym in das Ventrikelsy- reifte Ventrikelsystem und die Liquorwege entwickelt werden können. Die vorgestellten Befunde stellen ein erstes Beispiel für den erfolgreichen Einsatz ES-Zell-abgeleiteter somatischer Spenderzellen in einem Tiermodell einer neurologischen Erkrankung dar. Die Forschungsergebnisse sind so ermutigend, dass nun häufigere Entmarkungskrankheiten in Angriff genommen werden können. Von besonderem Interesse ist die multiple Sklerose, bei der chronische Entmarkungsherde nicht mehr hinreichend remyelinisiert werden. Zwar müssen sich die Untersuchungen hier auch mit der zugrunde liegenden Autoimmunreaktion auseinandersetzen. Aus einer Kombination von neuen, immuntherapeutischen Ansätzen und Zellersatz durch Transplantation kann man jedoch durchaus Erfolge erhoffen. Kernproblem: Herstellung spezifischer Neuron-Subtypen Im Gegensatz zu Gliazellen sind bei Nervenzellen eine Vielzahl von Subtypen beschrieben, die sich im Hinblick auf Morphologie, Transmitterbildung und Funktion stark unterscheiden. Ein neuronaler Zellersatz erfordert je nach zugrunde liegender neurologischer Erkrankung ganz verschiedene Spenderzellen. Während zum Beispiel bei Morbus Parkinson dopaminerge Neurone benötigt werden, Abbildung 1: Myelinbildung durch transplantierte von ES-Zellen abgeleitete gliale Vorläuferzellen. (A) Ein Längsschnitt durch das sind es bei der Chorea Rückenmark einer myelindefizienten Ratte zwei Wochen nach Transplantation zeigt zahlreiche neugebildete PLP-positive Mark- Huntington GABAerge scheiden (braun). Die transplantierten myelinbildenden Zellen sind von der Implantationsstelle (Stern) ins Empfängergewebe ein- Nervenzellen. Diesen unterschiedlichen Angewandert (Pfeile). Die stärkeren Vergrößerungen zeigen transplantierte Oligodendrozyten (B) und Astrozyten (C) im Detail. forderungen muss wähZweck wurde zunächst ein Zellkul- stem embryonaler oder neonataler rend der In-vitro-Differenzierung turprotokoll für die Gewinnung glia- Empfänger implantiert werden (4). So von embryonalen Stammzellen Rechler Vorläuferzellen aus ES-Zellen ließen sich auch nach Transplantation nung getragen werden. Die momenetabliert. Transplantationsexperimente der von ES-Zellen abgeleiteten glia- tanen Bemühungen zielen darauf ab, in myelindefizienten Ratten beleg- len Vorläuferzellen in die Seitenven- die während der Entwicklung wirksaten auf eindrückliche Weise, dass trikel embryonaler myelindefizienter men Faktoren zu identifizieren, um diese von ES-Zellen abgeleiteten Ratten neu gebildete Myelinscheiden sie dann in der Zellkultur anzuwenglialen Vorläuferzellen tatsächlich in in zahlreichen Hirnregionen nachwei- den. der Lage sind, Faserbahnen aktiv sen (3). Diese Beobachtung an unreiInnerhalb der letzten Jahre sind aufzusuchen und Markscheiden um fen Empfängertieren lässt hoffen, in zunehmendem Maße SignalmoAxone der Empfängertiere zu bilden dass in Zukunft vielleicht auch Zell- leküle entdeckt worden, die an der (3). So ließen sich nur zwei Wochen verteilungsstrategien über das ausge- Regionalisierung des Nervensystems A-1670 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 24, 16. Juni 2000 M E D I Z I N AKTUELL Ethische Gesichtspunkte und öffentliche Diskussion beteiligt sind. Diese erfreuliche Entwicklung lässt auf eine baldige Umsetzung der Ergebnisse auf die Gewinnung spezifischer Nervenzelltypen aus embryonalen Stammzellen hoffen. Übertragbarkeit auf menschliche Zellen Die Anwendbarkeit dieser Verfahren auf menschliche Zellen lässt sich nur durch Zellkulturexperimente an humanen embryonalen Stammzellen prüfen. Das Entwicklungspotenzial solcher Vorläuferzellen kann nach Implantation in das Nervensystem junger Empfängertiere untersucht werden (2). Darüber hinaus lässt sich das regenerative Potenzial von Vorläuferzellen durch Xenotransplantation in Tiermodelle neurologischer Erkrankungen studieren. Das Interesse an embryonalen Stammzellen geht weit über die Transplantationsmedizin hinaus. Mit ihrer Hilfe lassen sich grundlegende Mechanismen der normalen und pathologischen Differenzierung menschlicher Zellen und Gewebe studieren. Bislang waren solche Arbeiten häufig auf tierexperimentelle Untersuchungsreihen beschränkt. Gerade aus der Teratologie gibt es eindrucksvolle Beispiele dafür, dass sich der menschliche und der tierische Organismus grundlegend in ihrer Empfindlichkeit gegenüber missbildungsverursachenden Substanzen unterscheiden. Ähnliches gilt auch für die realistische Abschätzung eines krebserzeugenden Risikos von chemischen Verbindungen und anderen Noxen sowie für die Wirkung von Pharmaka. Die In-vitro-Differenzierung von embryonalen Stammzellen würde es ermöglichen, den Einfluss solcher Faktoren auf menschliche Zelltypen zu überprüfen. Schließlich könnte durch die Verwendung von Zelllinien auch der hohe Bedarf an Versuchstieren wesentlich eingeschränkt werden. Copyright: Science, Washington, USA (3). Weitere biomedizinische Anwendungen für ES-Zellen forderlich. Unter Mitwirkung von Ärzten, Wissenschaftlern, Juristen, medizinethisch ausgewiesenen ExDie Berichte über eine erfolgrei- perten und Politikern ist auf diesem che Isolierung embryonaler Stamm- diffizilen Gebiet durchaus eine einzellen des Menschen haben großes öf- vernehmliche Lösung denkbar. Eine fentliches Interesse gefunden und ei- von der Deutschen Forschungsgene lebhafte, kontroverse Debatte ent- meinschaft eingesetzte Expertenfacht. Auf der einen Seite verspre- kommission hat im März 1999 eine chen Arbeiten mit diesen Zellen neue Stellungnahme zum Problemkreis Behandlungsmöglichkeiten für die humane embryonale Stammzellen Medizin. Andere Stimmen haben da- abgefasst. Diese beinhaltet, dass Argegen große ethische Bedenken an- beiten mit humanen Stammzellen gemeldet. Das deutsche Embryo- embryonaler Herkunft ein großes nenschutzgesetz untersagt die Zeu- biomedizinisches Potenzial verspregung von menschlichen Embryonen chen. Eine Novellierung beziehungszu wissenschaftlichen Zwecken, die weise Anpassung des EmbryonenVerwendung künstlich erzeugter schutzgesetzes erscheine derzeit jemenschlicher Embryonen für For- doch nicht erforderlich. Die Experschungsarbeiten sowie Genmanipula- tengruppe empfiehlt, auf primordiale tion an Embryonen. Weiterhin ist das Keimzellen zurückzugreifen, da die so genannte Klonieren, dass heißt die Gewinnung menschlicher embryonaErzeugung von genetisch identischen ler Stammzellen durch das EmbryoEmbryonen unter Strafe gestellt. Da- nenschutzgesetz ausgeschlossen sei. mit sind enge Grenzen abgesteckt, Dieses Votum wird möglicherwelche die Gewinnung von embryo- weise einer Überarbeitung bedürfen. nalen Stammzellen des Menschen in Im Hinblick auf Anwendungen in Deutschland nicht zulassen. Ob wis- der Transplantationsmedizin werden Versuchsreihen an Zellen menschlicher Herkunft erforderlich sein. Es ist unklar, ob sie sich identisch verhalten wie murine embryonale Stammzellen. Bereits in naher Zukunft könnten die Methoden der Kernübertragung und -reprogrammierung neue Fragen von möglicher ethischer Brisanz aufwerfen. Auf der anderen Seite sollte die SorAbbildung 2: Elektronenmikroskopische Aufnahme eines von ES- ge nicht außer acht bleiben, Zellen abgeleiteten Oligodendrozyten nach Transplantation in das dass ein wichtiges biomediRückenmark einer myelindefizienten Ratte. Die Spenderzelle hat zinisches Entwicklungsfeld zahlreiche Markscheiden um benachbarte Nervenfasern gebildet. bundesdeutschen ArbeitsIn starker Vergrößerung lässt sich ein regelrecht lamellierter Auf- gruppen im Vergleich zu ihrer internationalen Konbau der Myelinscheiden erkennen (Detail). kurrenz verschlossen bleibt. senschaftliche Untersuchungen an Im Hinblick auf eine mögliche künfmenschlichen ES-Zellen aus den Ver- tige Anwendung in der Transplantaeinigten Staaten in bundesdeutschen tionsmedizin wäre diese Situation Einrichtungen möglich wären, wird langfristig kaum akzeptabel. Ein derzeit überprüft. Ausweichen auf primordiale KeimAufgrund des langfristig zu er- zellen erscheint derzeit nicht als hoffenden Nutzens embryonaler zufriedenstellende Alternative. Da Stammzellen für biomedizinische diese Zellen aus bereits mehreren Anwendungen erscheint uns eine Wochen alten Feten gewonnen werbreite öffentliche Debatte mit Betei- den, wäre eine solche Strategie mit ligung aller einzubeziehenden gesell- erheblichen ethischen und praktischaftlichen Gruppen dringend er- schen Problemen verbunden. Dar- A-1672 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 24, 16. Juni 2000 M E D I Z I N AKTUELL/DISKUSSION über hinaus gibt es Hinweise, dass sich primordiale Keimzellen im Hinblick auf Genregulation und Differenzierung deutlich von anderen Stammzellen unterscheiden (6). In zunehmendem Maße plädieren Wissenschaftler und Ärzte aus diesem Grund für eine neue gesetzliche Regelung, welche Arbeiten mit menschlichen ES-Zellen nach gründlicher Evaluation und unter streng kontrollierten Bedingungen möglich macht. Die positiven Erfahrungen mit Leitlinien für gentherapeutische Anwendungen könnten auch auf diese Fragestellung übertragen werden. Mit unserem Beitrag möchten wir auch das Interesse der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen an einer solchen Regelung wecken. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 2000; 97: A-1666–1673 [Heft 24] Literatur 1. Brüstle O, Spiro CA, Karram K et al.: In vitro-generated neural precursors participate in mammalian brain development. Proc Natl Acad Sci USA 1997; 94: 14809–14814. 2. Brüstle O, Choudhary K, Karram K et al.: Chimeric brains generated by intraventricular transplantation of fetal human brain cells into embryonic rats. Nature Biotechnol 1998; 16: 1040–1044. 3. Brüstle O, Jones KN, Learish RD et al.: Embryonic stem cell-derived glial precursors: A source of myelinating transplants. Science 1999; 285: 754–756. 4. Brüstle, O: Building brains: neural chimeras in the study of nervous system development and repair. Brain Pathol 1999; 9: 527–545. 5. 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Neue Ergebnisse beleben eine alte Kontroverse Unverständlich „Bei brusterhaltender Operation“, heißt es in der Zusammenfassung, „die heute etwa 70 Prozent aller betroffenen Frauen angeboten werden kann, ist nach allen vorliegenden Studien die postoperative Strahlentherapie weiterhin unverzichtbar.“ Doch in Tabelle 3 sind drei randomisierte Studien zitiert und die Überlebensraten von 1 137, 381 und 837 Patienten mit und ohne Strahlentherapie angegeben: 63 Prozent beziehungsweise 58 Prozent, 91 Prozent beziehungsweise 90 Prozent und 79 Prozent beziehungsweise 76 Prozent. – Es ist mir unverständlich, wie aus diesen statistisch nicht signifikanten und nur geringfügig erhöhten Überlebensraten noch die prinzipielle Notwendigkeit einer Strahlentherapie als Standard nach brusterhaltender Operation abgeleitet werden kann, wenn man von der Tatsache absieht, dass die Autoren Radiologen sind. Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Hans E. Müller Laborpraxis John Campestraße 7 · 38107 Braunschweig Zu dem Beitrag von Priv.-Doz. Dr. med. Marie-Luise Sautter-Bihl Prof. Dr. med. Michael Bamberg in Heft 1–2/2000 Strahleninduziertes Angiosarkom Die Schlussfolgerungen der Autoren klingen überzeugend und scheinen die Notwendigkeit einer postoperativen Strahlentherapie nach brusterhaltender operativer Behandlung eines Mammakarzinoms zu bestätigen. Ich vermisse jedoch sowohl im Text als auch im Literaturverzeichnis einen Hinweis auf das strahleninduzierte Angiosarkom der Brustdrüse nach „brusterhaltender Therapie“ eines primären Mammakarzinoms. Es gibt darüber bereits seit 1987 zahlreiche Arbeiten in der onkologischen Literatur und offensichtlich keinen Dissens bezüglich der Kausalitätszusammenhänge. An- Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 24, 16. Juni 2000 A-1673 M E D I Z I N DISKUSSION gesichts der Tatsache, dass die erwähnte Erkrankung nahezu ausnahmslos und nach kurzem Intervall zum Tode führt, und wenn weiterhin bedacht wird, dass nach Operation eines kleinen Mammakarzinoms ein potenziell gesundes Organ bestrahlt wird, muss man die Schlussfolgerungen der Autoren sicher kritisch werten. Zumindest wäre eine Stellungnahme zu der geschilderten Problematik wünschenswert. Dr. med. Hans Stockhausen Vogelsangstraße 129 · 42109 Wuppertal Schlusswort Im ersten Leserbrief wird Unverständnis darüber geäußert, dass wir uns in unserem Artikel über das Mammakarzinom den national und international üblichen Empfehlungen – beispielsweise Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft – angeschlossen haben, die adjuvante Strahlentherapie weiterhin als Standard nach brusterhaltender Operation zu betrachten. An diesem von Herrn Prof. Müller artikulierten Unverständnis wird deutlich, wie viel Aufklärungsbedarf nach wie vor hinsichtlich des Stellenwertes der Strahlentherapie im Gesamtkonzept der Onkologie besteht. So sind die Verfasser des Artikels auch nicht – wie es am Ende des Briefes heißt – Radiologen, das heißt sie betreiben nicht bildgebende Diagnostik, sondern als Radioonkologen therapieren sie Tumorpatienten. Die angesprochene Tabelle gibt einen Überblick über die fünf randomisierten Studien, die nach brusterhaltender Operation den Verlauf mit postoperativer Strahlentherapie dem ohne eine solche gegenübergestellt werden. Sämtliche zitierten Studien haben einen statistisch signifikanten und erheblichen Unterschied in der Lokalrezidivrate zu Ungunsten der nichtbestrahlten Kollektive ergeben. Alle Studien kommen deshalb zu dem Schluss, dass die Radiatio unverzichtbar sei. Richtig und im Text auch ausdrücklich erwähnt ist, dass die Überlebensraten keinen statistisch signifikanten Unterschied zeigten. Möglicherweise waren hierfür jedoch auch die Nachbeobachtungszeiten noch nicht ausreichend. Dass eine verbesserte lokale Tumorkontrolle durchaus die Überlebenschancen verbessern kann, wurde in den in unserem Artikel referierten Studien (5, 6, 7) mit einem Follow-up von 10 bis 15 Jahren gezeigt, in denen nach Mastektomie ein signifikanter Überlebensvorteil zugunsten bestrahlter Patientinnen nachgewiesen wurde. Die Berechtigung einer adjuvanten Therapiemaßnahme ausschließlich an Überlebensraten zu orientieren hieße jedoch, die heute immer mehr in den Vordergrund rückenden Aspekte der Lebensqualität zu ignorieren. Die Erkrankung Brustkrebs hat unter anderem deshalb in den letzten beiden Jahrzehnten einen Teil ihres Schreckens für die betroffenen Patienten verloren, da sie nicht mehr automatisch mit dem Schicksal Amputation verbunden ist. Unbestritten ist jedoch, dass eine brusterhaltende Operation ohne Strahlentherapie mit einem hohen Lokalrezidivrisiko verbunden ist. Wie in unserem Artikel beschrieben, ist das Rezidiv für die Patientin oft wesentlich belastender als die Erstdiagnose, zumal dann eine Ablatio meist nicht mehr vermeidbar ist. Der zweite Leserbrief thematisiert die Induktion von Angiosarkomen der Brust infolge einer Strahlentherapie. Das Risiko einer solchen ist als äußerst gering einzustufen. Eine Analyse des schwedischen Krebsregisters, in der speziell unter dieser Fragestellung die Nachsorgedaten von 122 991 Mammakarzinompatientinnen ausgewertet wurden, fanden sich 40 Angiosarkome. Die Häufigkeit korrelierte mit dem Vorhandensein eines Lymphödems (so genanntes Stewart-Trewes-Syndrom), eine Beziehung zwischen Angiosarkom und Strahlentherapie wurde jedoch nicht beobachtet (2). Zu ähnlichen Schlüssen kommt eine französische Analyse der Nachbeobachtungsdaten von 18 115 brusterhaltend therapierten Patientinnen aus elf französischen Tumorzentren: Hier ergab sich in neun Fällen ein Angiosarkom der Brust, das heißt fünf Fälle pro 10 000. Dies entspricht etwa der natürlichen Prävalenz von Angiosarkomen der Brust bei „Gesunden“ (3). Damit soll keineswegs bagatellisiert werden, dass durch den Einsatz ionisierender Strahlen das theoretische Risiko einer Tumorinduktion besteht. Hierüber wer- A-1674 Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 24, 16. Juni 2000 den sämtliche Strahlentherapie-Patienten auch vor Behandlungsbeginn aufgeklärt. Dieses rechnerische Risiko muss jedoch gegen das „reale“ Risiko einer Rezidiventstehung von bis zu 35 Prozent nach brusterhaltender Therapie ohne Nachbestrahlung abgewogen werden. Auch das sonstige Nebenwirkungsrisiko einer Strahlentherapie der Brust ist bei Verwendung moderner Techniken (dreidimensionale Bestrahlungsplanung) als gering einzustufen (4). Darüber hinaus ist diese Therapie – wie in unserem Artikel ausgeführt – auch kostengünstig (1). Somit sollte – unter Abwägung aller Gesichtspunkte – den Frauen, die sich für eine brusterhaltende Operation eignen, die Strahlentherapie nicht vorenthalten und damit der Erhalt ihrer Brust aufs Spiel gesetzt werden. Literatur 1. Hayman JA, Hillner BE, Harris JR, Weeks JC: Cost effectiveness of routine radiation therapy following conservative surgery for early stage breast cancer. J Clin Oncol 1998; 16: 1022–1029. 2. Karlsson P, Holmberg E, Samuelsson A et al.: Soft tissue sarcoma after treatment for breast cancer – a Swedish population-based study. Eur J Cancer 1998; 34: 2068–2075. 3. Marchal C, Weber B, de Lafontan B et al.: Nine breast angiosarcomas after conservative treatment for breast carcinoma: a survey from French comprehensive Cancer Centers. Int J Radiat Oncol Biol Phys 1999; 44 (1): 113–119. 4. Nixon AJ, Manola J, Gelman R et al.: No long term increase in cardiac-related mortality after breast-conserving surgery and radiation therapy using modern techniques. J Clin Oncol 1998; 16: 1374–1379. 5. Overgaard M, Hansen PS, Overgaard J et al.: Postoperative radiotherapy in high-risk premenopausal women with breast cancer who receive adjuvant chemotherapy. N Engl J Med 1997; 337: 949–955. 6. Overgaard M, Jensen MB, Overgaard J et al.: Postoperative radiotherapy in high-risk postmenopausal breast cancer patients given adjuvant tamoxifen: Danish Breast Cancer Cooperative Group DBCG 82C trial. Lancet 1999; 353: 1641–1648. 7. Ragaz J, Jackson SM, Le N et al.: Adjuvant radiotherapy and chemotherapy in nodepositive premenopausal women with breast cancer. N Engl J Med 1997; 337: 956–962. Priv.-Doz. Dr. med. Marie-Luise Sautter-Bihl Städtisches Klinikum Karlsruhe Klinik für Strahlentherapie Moltkestraße 90 · 76133 Karlsruhe Prof. Dr. med. Michael Bamberg Eberhard-Karls-Universität Abteilung für Strahlentherapie Hoppe-Seyler-Straße 3 72076 Tübingen