1 Hintergründe zu Nermin Abadan-Unat Die türkische Republik Am 1. November 1922 war die osmanische Dynastie für beendet erklärt und das Reich aufgelöst worden. In den ersten 15 Jahren ihres Bestehens stand die türkische Republik unter der Führung von Atatürk und gründete sich auf sechs grundlegende Prinzipien, die in der Verfassung verankert waren: Republikanismus, basierend auf der Prämisse der Volkssouveränität; türkischer Nationalismus, der den Ruhm der türkischen Vergangenheit und das Bedürfnis der Türken nach einem eigenen, nach modernen Prinzipien und ohne Einmischung von außen geschaffenen Staat betonte; Populismus, der die Idee einer alle wirtschaftlichen und sozialen Interessen vertretenden Großen Nationalversammlung verkörpert; Säkularismus beziehungsweise Laizismus, der die vollständige Trennung von religiösen muslimischen Einrichtungen und Staatsgeschäften fordert; Etatismus, der für eine staatliche Lenkung der wichtigsten Wirtschaftssektoren sowie der übrigen Sektoren stand und eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung zum Ziel hatte; und Revolutionismus, der vorschrieb, dass alle Umwälzungen sofort und in vollem Umfang durchgeführt werden müssen, damit die Entwicklung der modernen türkischen Gesellschaft so schnell wie möglich stattfinden könne. Die Jahre unter der Präsidentschaft Atatürks waren gekennzeichnet durch erheblichen wirtschaftlichen Fortschritt und eine allgemeine Entwicklung des Landes. Die Türkei konnte Strömungen, die Vergeltung forderten, verhindern und nahm enge diplomatische Beziehungen mit ihren ehemaligen Gebieten im Balkan auf. Gleichzeitig stellte sie auch ihre laizistische Politik in den Vordergrund und ging Bündnissen mit ihren muslimischen Nachbarstaaten im Osten aus dem Weg. Von der Neutralität zum Bündnis mit dem Westen Atatürks Nachfolger im Präsidentenamt wurde 1938 sein enger Mitarbeiter Ismet Inönü, der die Innenpolitik von Atatürk fortsetzte. Während des gesamten 2. Weltkrieges verfolgte Inönü eine Politik der Neutralität. Erst im Februar 1945 erklärte die Türkei Deutschland und Japan den Krieg. Nach dem Krieg versuchte die Sowjetunion, die Türkei zu sowjetischem Einflussgebiet zu machen und forderte die Kontrolle über die Ostprovinzen der Türkei sowie über die Meerengen. Daraufhin akzeptierte die Türkei die von dem amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman angebotenen Unterstützungsmaßnahmen und ging enge militärische und wirtschaftliche Beziehungen mit den Vereinigten Staaten ein. 1952 trat die Türkei dem Nordatlantischen Verteidigungspakt (North Atlantic Treaty Organization; NATO) bei. Inönü leitete innenpolitisch zu dieser Zeit eine allgemeine Demokratisierung des Landes ein: u. a. wurden jetzt auch Oppositionsparteien zugelassen. Bei den Wahlen 1950 siegte die Demokratische Partei, die sich für eine stärkere Liberalisierung der Wirtschaft einsetzte. Unter Vorsitz von Präsident Celâl Bayar, in Verbindung mit Ministerpräsident Adnan Menderes und Außenminister Fuat Köprülü, war die Demokratische Partei von 1950 bis 1960 die führende politische Kraft der Türkei. In dieser Zeit erlebte die Wirtschaft des Landes einen raschen Aufschwung, aber auch starke soziale Spannungen. 1960 wurde die Regierung in einem unblutigen Militärputsch durch General Cemal Gürsel gestürzt. Menderes und einige andere Politiker wurden der Korruption beschuldigt, zum Tod verurteilt und 1961 gehängt. Die neue Verfassung orientierte sich an wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen anderer demokratischer Staaten. Die politischen Parteien hatten sich in zwei große Lager gespalten: in die Republikanische Volkspartei und die Gerechtigkeitspartei. Die Republikanische Volkspartei war unter ihrem Führer Bülent Ecevit sozialdemokratisch ausgerichtet, die Gerechtigkeitspartei unter Süleiman Demirel stand in der Tradition Atatürks. Daneben gab es noch mehrere kleinere (kommunistische und sozialistische, nationale und islamistische) Parteien. Auch die seit 1950 2 existierenden Gewerkschaften schlossen sich zu linken bzw. rechten Dachverbänden zusammen. Die Türk Iş vereinigte in sich rechtsorientierte Gewerkschafter, und im Bund Fortschrittlicher Gewerkschaften waren kommunistische und andere linke Arbeitnehmer organisiert. In der Mitte der sechziger Jahre übten beide Organisationen einen großen Einfluss auf viele gesellschaftliche Bereiche aus. Die Verfassung von 1961 erschwerte eine Mehrheitsbildung, und die politischen Auseinandersetzungen verlagerten sich mehr und mehr auf die Straße. In dieser Phase politischer Instabilität entwickelten sich rechts- wie linksgerichtete, zum Teil gewaltbereite Gruppen, die Terrorakte verübten. 1971 intervenierte das türkische Militär erneut, das aber bereits wieder 1972 eine zivile Regierung installierte. Die innenpolitischen Spannungen, vor allem aufgrund der schlechten Wirtschaftslage, nahmen aber nicht ab, sondern zu. Es wurde der nationale Notstand ausgerufen, und es kam zu brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der staatlichen Sicherheitskräfte. Außenpolitisch war es 1974 zu einer größeren Krise gekommen, als die Türkei als Antwort auf einen von Griechenland inszenierten Putsch, bei dem sich Zypern zur selbständigen Republik erklärt hatte, das nördliche Drittel der Insel besetzte und eine Republik Nordzypern ausrief, die aber international nicht anerkannt wurde. Die Vereinigten Staaten stellten nach dem Einmarsch auf Zypern ihre militärische und wirtschaftliche Unterstützung für die Türkei ein, worauf wiederum die Türkei mit der vorübergehenden Schließung aller amerikanischen Stützpunkte im Land reagierte. Die türkischen Truppen blieben im Norden Zyperns stationiert; die Türkei unterstützte weiterhin eine türkisch-zypriotische Regierung. Der Staatsstreich von 1980 Die Regierung von Süleiman Demirel (1979-1980) behielt außenpolitisch die enge Bindung an den Westen bei, scheiterte aber in der Innen- und Wirtschaftspolitik. Da sich die Situation nicht änderte, verübten Extremisten rechter und linker Gruppen weiterhin Terrorakte. Am 12. September 1980 putschte die Armee unter der Führung des Generalstabchefs Kenan Evren. Als Staatspräsident und Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates (Admiral Bülent Ulusu wurde Ministerpräsident) setzte er die Verfassung außer Kraft und verhängte das Kriegsrecht. Alle politischen Aktivitäten wurden untersagt, Tausende verhaftet und die Presse zensiert. Zivilregierungen Die neue Verfassung, die 1982 in einem Referendum angenommen wurde, schrieb die „demokratisch legitimierte” politische Machtposition des Militärs fest. Evren wurde im selben Jahr mit 90,6 Prozent der Stimmen für eine siebenjährige Amtszeit zum Staatspräsidenten gewählt; 1983 gab er seine militärischen Funktionen auf. Aus der Stichwahl bei den Parlamentswahlen im November 1983 ging die konservative Mutterlandspartei (die Armee hatte eine rechtsgerichtete Gruppierung unterstützt) als Siegerin hervor, und ihr Vorsitzender Turgut Özal wurde Regierungschef. 1989 wurde Özal zum ersten zivilen Staatsoberhaupt seit 1960 gewählt, und Yıldırım Akbulut übernahm das Amt des Ministerpräsidenten (Regierungschefs). Akbuluts Nachfolger wurde 1991 Mesut Yılmaz, der wurde wiederum 1993 von Tansu Çiller, einer Wirtschaftswissenschaftlerin, die an der Spitze der Partei des Rechten Weges (DYP) stand, abgelöst. Während des Golfkrieges 1991 unterstützte die Türkei die Alliierten, entsandte aber keine eigenen Truppen. Nach Ende des Golfkrieges flüchteten Hunderttausende Kurden nach einem erfolglosen Aufstand gegen die irakische Regierung in das kurdische Siedlungsgebiet in der Türkei. Viele wurden in der Nähe der Grenze vorübergehend unter den Schutz alliierter Truppenverbände gestellt. In dieser im Südosten der Türkei gelegenen Region herrscht seit 1984 Bürgerkrieg. Alle bisherigen türkischen Regierungen haben die Autonomiebestrebungen der 15 Millionen Kurden massiv mit militärischen Mitteln bekämpft. Der politische und mili- 3 tärische Arm der Unabhängigkeitsbewegung ist die Partiya Karkeren Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistan; PKK). Bei den Kämpfen sind bis 1994 über 14 000 Menschen getötet worden. Im März 1995 verkündete die Regierung von Tansu Çiller die Absicht, die PKK zu vernichten, und nahm den größten jemals gestarteten Angriff gegen die Rebellen auf, wobei die türkische Armee 40 Kilometer in die von den Vereinten Nationen ausgewiesene Schutzzone des Kurdengebiets im Nordosten des Irak eindrang. Zur selben Zeit versuchte Tansu Çillers Regierung, liberalere Gesetze zu verabschieden, um die kurdischen Nationalisten wieder in die politische Struktur eingliedern und die kurdischen Schulen wieder öffnen zu können. Die Regierungen der westlichen Länder kritisieren weiterhin die aus der Türkei gemeldeten Menschenrechtsverletzungen, die im Bericht des amerikanischen Außenministeriums vom Februar 1995 zusammengefasst waren, und verurteilen das Verschwinden und die Ermordung von Kurden sowie die fortgesetzte Schikanierung, Einschüchterung und Inhaftierung von Menschenrechtsbeobachtern, Journalisten, Rechtsanwälten und Wissenschaftlern. Am 24. Dezember 1995 fanden die türkischen Parlamentswahlen statt. Aus diesen Wahlen ging erstmals in der Geschichte der modernen Türkei mit der Wohlfahrtspartei (RP) eine islamistische Partei als stärkste politische Kraft hervor. Die Partei des Rechten Weges (DYP) wurde zweitstärkste, die national-liberale Mutterlandspartei (ANAP) drittstärkste Partei. Für eine Regierungsbildung fand die RP keinen Koalitionspartner. Der ANAPVorsitzende Mesut Yılmaz und Tansu Çiller unterzeichneten ein Koalitionsprotokoll. Yılmaz übernahm im März 1996 das Amt des Ministerpräsidenten, trat aber nach einem Misstrauensvotum im Juni zurück. Präsident Demirel erteilte daraufhin Necmettin Erbakan, dem Vorsitzenden der Wohlfahrtspartei, den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung. Tansu Çiller, deren Partei DYP mit der RP die Regierungskoalition bildet, wurde stellvertretende Ministerpräsidentin und Außenministerin. Erbakan und Çiller verständigten sich auf eine gemeinsame Regierung, die zuerst von Erbakan, später von Çiller geführt werden sollte. Im Juni 1997 trat, nachdem seine Partei die Mehrheit im Parlament verloren hatte, Ministerpräsident Erbakan zurück. Daraufhin beauftragte Demirel den Oppositionspolitiker Mesut Yılmaz von der Mutterlandspartei mit der Regierungsbildung. Yılmaz führte eine Regierungskoalition seiner Partei mit der Partei für eine demokratische Türkei und der Demokratischen Partei der Linken. Zu den erklärten Zielen der neuen Regierung gehört das entschiedene Vorgehen gegen Islamisten und kurdische Separatisten sowie die baldige Aufnahme in die EU, die der Türkei aber von zahlreichen Mitgliedsstaaten derzeit noch wegen Menschenrechtsverletzungen verwehrt wird. Nachdem Mesut Yılmaz im November 1998 wegen Korruptionsvorwürfen vom Parlament gestürzt worden war, amtierte in der Türkei nur eine geschäftsführende Regierung. Der designierte türkische Ministerpräsident Yalim Erez gab Anfang Januar 1999 den Auftrag zur Regierungsbildung an Staatspräsident Süleyman Demirel zurück. Daraufhin bildete der Sozialdemokrat und ehemalige Ministerpräsident Bülent Ecevit am 11. Januar eine Minderheits- und Übergangsregierung mit Vollmachten bis zu den nächsten Parlamentswahlen, die am 18. April 1999 stattfanden. Ecevit bildete nach diesen um ein Jahr vorgezogenen Wahlen zur Nationalversammlung eine Koalition aus Demokratischer Partei der Linken (DSP), Partei der nationalen Bewegung (MHP) und Mutterlandspartei (ANAP). Das Regierungsbündnis von Ministerpräsident Ecevit verfügt im Parlament über 351 der 550 Sitze. Im Januar 2000 einigten sich Aserbaidshan, Georgien und die Türkei auf den Bau einer Erdölleitung vom Kaspischen Meer zum Mittelmeer. Die 1 730 Kilometer lange Leitung soll von Baku in Aserbaidshan über Georgien bis zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan angelegt werden. Die Große Nationalversammlung wählte am 5. Mai 2000 Ahmet Necdet Sezer zum neuen Staatsoberhaupt der Türkei, nachdem der amtierende Präsident Süleiman Demirel nach siebenjähriger Amtszeit nicht wieder kandidieren durfte. Die Regierungschefs der Türkei und 4 Russlands, Bülent Ecevit und Michail Kasjanow, einigten sich im Oktober 2000 auf eine Zusammenarbeit beider Staaten in der Energie- und in der Rüstungspolitik. Am 3. Oktober 2001 verabschiedete das Parlament eine weit reichende Verfassungsreform, die einen beachtlichen Schritt auf dem Weg zur weiteren Demokratisierung des Landes bedeutet. So wird die Todesstrafe zwar nicht abgeschafft, aber für die Zukunft im Wesentlichen auf Terrordelikte beschränkt. Die Verfassung garantiert nun die Gleichstellung von Mann und Frau. Darüber hinaus wird der nach wie vor große Einfluss des Militärs beschnitten: Dem bisher vom Militär dominierten Nationalen Sicherheitsrat werden künftig neun Zivilisten und nur fünf Militärs angehören, seine Beschlüsse werden nicht mehr bindend sein. Aus: „ENCARTA 2003“