Theorie 3 2 Theorie Gehörlosigkeit 2.1 Definition und Abgrenzung des Begriffes „Gehörlosigkeit“ Der Begriff Gehörlosigkeit wird in der Literatur von verschiedenen Standpunkten aus unterschiedlich definiert. Zenner (1997) legte als Kriterium zur Definition fest, ob ein Hörverlust auf beiden Ohren oder nur einem vorliegt. Seiner Ansicht nach spricht man von Gehörlosigkeit, wenn der Hörverlust beide Ohren betrifft. Boenninghaus (1993) dagegen spricht von Gehörlosigkeit, wenn der Hörverlust vor Erwerb der Sprache stattfindet. Er grenzt gleichzeitig die Gehörlosigkeit vom Begriff Taubheit ab, welche durch einen Hörverlust nach Spracherwerb gekennzeichnet ist. Eine klare begriffliche Einordnung gelang Probst, Grevers und Iro (2004). Sie bezeichneten Menschen als gehörlos, bei denen der Gehörsinn nicht ausgebildet ist und folglich die Hörfähigkeit fehlt. Auch bei Einsatz technischer Hörhilfen sind keine oder nur sehr begrenzte Höreindrücke vorhanden. Da die hier untersuchten Probanden der Definition von Probst et al. (2004) entsprechen, werden in der vorliegenden Arbeit alle hörgeschädigten Probanden unter dem Begriff „Gehörlose“ zusammengefasst. Des Weiteren muss, abhängig vom eintretenden Zeitpunkt, zwischen angeborener und erworbener Gehörlosigkeit unterschieden werden. Tritt die erworbene Hörschädigung vor der Sprachentwicklung ein, ist von prälingualen Gehörlosen die Rede. Bei Eintritt nach erfolgter Sprachentwicklung spricht man von postlingualen Gehörlosen (vgl. Internetadresse IV, Medicine worldwide, 2004). Hörschädigungen können mithilfe audiometrischer Untersuchungen in verschiedene Schweregrade eingeteilt werden. Bei einem Hörverlust von mehr als 110 dB (Dezibel) wird die betroffene Person als gehörlos eingestuft (vgl. Probst et al., 2004). 2.2 Epidemiologie der Gehörlosigkeit Aus Deutschland liegen derzeit keine gesicherten Angaben zur Prävalenz neonataler (= angeborener) Hörstörungen vor. Zum heutigen Zeitpunkt gibt es insgesamt circa 60.000 Gehörlose, das entspricht ungefähr 0,1% der Bevölkerung (vgl. Henke & Huber, 1998). Theorie 4 Die Inzidenz von Hörstörungen liegt bei einem von Tausend Neugeborenen pro Jahr. In den ersten Lebensjahren steigt die Anzahl der hörgeschädigten Kinder um 30-50%. Einer aktuellen Angabe von Probst et al. (2004) zufolge werden in Deutschland jährlich etwa 600 gehörlose Kinder mit vollständigem Hörverlust geboren. 2.3 Physiologische Leitung akustischer Stimuli über die Hörbahn Zunächst treffen akustische Stimuli in Form von Schallwellen auf das Außenohr. Von dort werden sie über das Trommelfell auf die Gehörknöchelchenkette des Mittelohres, bestehend aus Hammer, Amboss und Steigbügel, weitergeleitet. Durch den Kontakt des Steigbügels mit der Membran des ovalen Fensters der Cochlea werden Schwingungen nach Durchlaufen des Mittelohres auf das Innenohr übertragen. In der Folge werden zunächst Perilymphbewegungen und dann Endolymphbewegungen ausgelöst. Durch die Schwingungen der Endolymphe kommt es zur Entstehung von elektrischen Signalen an den äußeren Haarzellen, die zu den inneren Haarzellen weitergeleitet werden. Die weiteren Umschaltprozesse und -stellen, über die das entstandene Nervensignal in der Hörbahn zur primären Hörrinde weitergeleitet wird, sind der Abbildung 2.1 zu entnehmen. Der primär auditive Kortex steht in enger Verbindung mit der sekundären Hörrinde. In den letztgenannten Hirnarealen werden auditive Stimuli wahrgenommen und erfahren eine interpretative Weiterverarbeitung (vgl. Trepel, 1999). Die Leitung akustischer Reize über die eben beschriebene Hörbahn und ihre Wahrnehmung sowie die Interpretation laufen bei normal Hörenden ohne Einschränkungen ab. Bei gehörlosen Menschen dagegen liegen in den entscheidenden Entwicklungsstadien zur Ausbildung der Hörfunktionen Defizite vor, welche im Folgenden kurz umrissen werden sollen. Theorie Abbildung 2.1 5 Schematischer Überblick über den Verlauf der Hörbahn. Eingezeichnet sind die Bahnen eines Ohres (Quelle: Birbaumer & Schmidt, S. 242, 2003). 2.4 Ätiologie der Gehörlosigkeit Bei den Ursachen zur Entstehung von Gehörlosigkeit unterscheidet man genetisch hereditäre und erworbene Schädigungen. Die Tabelle 2.1 zeigt eine Übersicht der häufigsten Ursachen (vgl. Boenninghaus, 1993; Probst et al., 2004; Internetadresse IV, 2004). Theorie Tabelle 2.1: 6 Übersicht der häufigsten Ursachen von Hörschäden (Quelle: in Anlehnung an Boenninghaus, 1993; Probst et al., 2004; Internetadresse IV, 2004) Einteilung der Ursachen 1.1 sporadische 1 (rezessive) Schwerhörigkeit genetisch hereditäre 1.2 dominante Hörschäden (progressive) Ätiologie • • Risikofaktoren Entwicklungsstörungen im • Bereich: Schnecke, Hörnerven, zentrale Bahnen Entwicklungsstörungen im • Bereich: Schnecke beide Eltern als Träger der Erbanlage ein Elternteil als Träger der Erbanlage Schwerhörigkeit • Embryopathia rubeolosa • • Thalidomidschäden 1960/61 • • Connatale Lues • • Lueserkrankung der Mutter Toxoplasmose • Stoffwechselerkrankungen der Mutter (z. B. Hypothyreose) Alkoholabusus der Mutter Medikamenteneinnahme mit ototoxischer Wirkung, z. B. Antibiotika, Diuretika, Zytostatika 2.1 pränatal erworben (intrauterin) • • 2 erworbene Hörschäden • • Perinatale Hypoxie Kernikterus durch Hyperbilirubinämie bei Erythroblastosis fetalis • Rubellasyndrom • Labyrinthitis / Meningitis / • Enzephalitis Mumps, Masern, Zoster • oticus Schädelfrakturen • 2.2 perinatal erworben (Geburt) • 2.3 postnatal erworben (nach der Geburt) • • • chronische Mittelohrentzündung toxische Schäden Rötelnerkrankung der Mutter Einnahme des Medikamentes Contergan • • Geburtskomplikationen Rh-Inkompatibilität zwischen Mutter / Kind • Neugeborenen-Asphyxie • bakterielle / virale Infektionskrankheiten Infektionskrankheiten Stürze / mechanische Ursachen Streptomycin Theorie 7 2.5 Allgemeines zur Darstellung von Studien und Befunden zu Veränderungen der Hirnfunktionen und -strukturen bei gehörlosen Menschen Aufgrund der Fortschritte im Bereich von Hörimplantaten (z. B. Cochlea-Implantat = CI) wurden in den letzten Jahren gehäuft Untersuchungen und Studien mit Gehörlosen durchgeführt. Zahlreiche Forschungs- und Arbeitsgruppen befassten sich mit dieser sensorisch deprivierten Personengruppe und ihren Unterschieden bzw. Gemeinsamkeiten zu normal hörenden Personen. Durch Veränderung des akustischen Inputs bei gehörlosen Menschen stand immer wieder die Erforschung veränderter Sprach- oder Bildverarbeitung im Vordergrund. Dabei lag das Hauptinteresse nicht auf einem bestimmten Bereich des Gehirnes. Die Ergebnisse der bildgebenden Verfahren zielten häufig auf mehrere Hirnareale gleichzeitig ab, in denen sich Veränderungen bei der Verarbeitung dargebotener Stimuli bei Gehörlosen zeigten. Die Hirnareale werden dabei nach der Einteilung von Brodmann benannt. Der Berliner Neuroanatom und Psychiater Korbinian Brodmann definierte 1909 in seinem Standardwerk „Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde“ die nach ihm benannten Brodmann-Areale durchnummerierten Gebiete (= der BA). Abbildung 2.2 Großhirnrinde, zeigt welche seine nach fortlaufend zyto- und myeloarchitektonischen Gesichtspunkten eingeteilt wurden. Abbildung 2.2: Gliederung und Nummerierung der Rindenfelder nach Brodmann; laterale Ansicht der linken Großhirnhemisphäre (Quelle: Trepel, S. 178, 1999) Theorie 8 Da die Strukturen der einzelnen Felder in einer, wenn auch relativ groben, Beziehung zu bestimmten physiologischen Funktion stehen, und die Nummerierung der Rindenfelder international gilt, werden die Brodmann-Areale von zahlreichen Arbeitsgruppen zur Standardisierung der Lokalisation von Aktivitäten herangezogen und benutzt (vgl. Internetadresse III, Spektrum Akademischer Verlag, 2004). Bei der Darstellung der Grundlagen, Ergebnisse und Diskussionen der untersuchten bzw. aktivierten Areale werden die Brodmann-Areale genutzt, daher dient die Abbildung 2.2 als Orientierung. Im Folgenden werden alle für diese Studie interessierenden Hirnregionen mit den jeweiligen Befunden und Studien der Literatur sowie die Ergebnisse dargestellt und diskutiert.