Internationale Hochschulschriften Michael Custodis Musik im Prisma der Gesellschaft Wertungen in literarischen und ästhetischen Texten WA X M A N N © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Michael Custodis Musik im Prisma der Gesellschaft Wertungen in literarischen und ästhetischen Texten Waxmann 2009 Münster / New York / München / Berlin © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Buch entstand im Rahmen der Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 626 der Freien Universität Berlin „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“. Gedruckt wurde es mit der freundlichen Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Internationale Hochschulschriften, Bd. 520 Die Reihe für Habilitationen und sehr gute und ausgezeichnete Dissertationen ISSN 0932-4763 ISBN 978-3-8309-7085-9 Waxmann Verlag GmbH, Münster 2009 www.waxmann.com [email protected] Umschlaggestaltung: Christian Averbeck, Münster Umschlagbild: © Neliana Kostadinova – Fotolia.com Druck: Hubert und Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Für meine Familie © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. INHALT Konturen Bedingungen .......................................................................................................... 9 Wertungen ............................................................................................................ 19 Faktizität und Fiktionalität ................................................................................... 25 Gegenstände Komponisten als literarische Vorlagen ................................................................ 32 Rollen der Musikwelt: Interpret und Hörer .......................................................... 45 Wert von Werken und Instrumenten .................................................................... 65 Anwendungen Auf- und Abwertungen – Formen und Motive .................................................... 77 Vorstellungen von „Kunst“ und „Vergnügen“ ..................................................... 94 Klischees zur Musik ........................................................................................... 111 Mittler Verbreitungsstrukturen ....................................................................................... 127 Kritikeransichten ................................................................................................ 139 Verkettungen ...................................................................................................... 159 Diskurse Geschlechtsspezifische Ungleichheiten ............................................................. 171 Nationalistische Ressentiments .......................................................................... 194 Ausdrucksbilder ................................................................................................. 209 Mechanismen Konventionen ..................................................................................................... 228 Verhaltensnormen .............................................................................................. 245 Mitteilungen ....................................................................................................... 260 Schauplätze Individuum, Gruppe, Kollektiv .......................................................................... 274 Kulturelle Positionierung ................................................................................... 295 Vorbilder ............................................................................................................ 313 Akkumulat ................................................................................................................ 332 LITERATURVERZEICHNIS ........................................................................................ 346 PERSONENREGISTER ................................................................................................ 356 DANK .......................................................................................................................... 360 © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. KONTUREN Bedingungen Musik lässt sich als die Summe ihrer Konzepte und der auf sie übertragenen Denk- und Sichtweisen begreifen. So könnte eine mögliche Antwort auf Carl Dahlhaus’ und Hans Heinrich Eggebrechts (rhetorische) Frage „Was ist Musik?“ von 1985 lauten.1 Denn Musik ereignet sich zwischen unserem Geist und unserem Körper, im Wechselspiel von rationaler Abstraktion und körperlicher Perzeption. Natürlich braucht es biologische und physikalische Gegebenheiten, im Konkreten das Ohr und etwas, das vom Ohr ans Hirn als akustischer Reiz gemeldet wird. Ob dies aber Musik ist – oder nicht vielleicht Sprache, Lärm, Geräusch oder eine Mischung daraus – dies wird zwischen den Ohren entschieden, im Modus der komplexen, von vielen Faktoren abhängigen Verarbeitung der Sinneseindrücke. Diese Antwort ist natürlich nur vordergründig befriedigend und provoziert eine Fülle neuer Fragen, um zu verstehen, was im sprichwörtlichen Sinne „Musik in meinen Ohren ist“ oder prinzipiell formuliert, wie über Musik gedacht wird. Die Neugier an dem „wie“ ist dabei vom „wer“, dem Hörer, nicht zu trennen. Jedes Individuum ist mit seinen Gewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen, Fähigkeiten und Vertrautheiten in einen kulturellen, historischen und sozialen Kontext eingebunden, der es musikalisch sozialisiert. Eine Beschäftigung mit dem Denken über Musik in einer Gesellschaft hängt daher vor allem auch von der Beobachtungsperspektive ab. Dass diese Zusammenhänge in grundlegenden Bedingungen idealtypisch beschrieben werden können, lässt sich mit Hilfe einer Erinnerung aus der eigenen Schulzeit veranschaulichen. Wenn im Physikunterricht die optischen Eigenschaften eines Prismas (buchstäblich) vor Augen geführt wurden, war bei vielen Schülern die Faszination groß. Mit wenigen Handgriffen ließ sich das alltägliche Weiß des Lichts in einzelne Farben auffächern, die ihrerseits zwar alle vertraut waren, die man aber vorher noch nie so eng und klar voneinander abgegrenzt und dabei gleichzeitig ineinander übergehend beobachtet hatte. Darüber hinaus fügten sich die einzelnen, in ihrer Anordnung klar strukturierten Facetten nach demselben Prinzip ebenso einfach wieder zu einem Bündel zusammen, welches zudem in 1 Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht, Was ist Musik?, Wilhelmshaven 1985. Vgl. Ä 9, S. 11: „Music starts in the mind. A sense of music is as individual as the individual mind. Music is the name given to a certain kind of perception of events in the world of sound. To be aware of sounds is to be aware of oneself; to be aware of sounds as music is to experience something capable of being shared. An experience shared is one that can be verified.“ Vgl. Ä 8, S. 267: „Music, in its most common signification, designates a familiar art form, or the activities associated with it, or else the products of such activities. But what is this art form or sphere of culture, exactly? How shall we describe true instances of these activities, or characterize their products? This is the task faced by a philosophically adequate elucidation of the concept of music.“ (Siehe zur Auflösung der verschlüsselten Textnamen die Liste auf S. 16f.) Vgl. Robin Maconie, The Second Sense. Language, Music and Hearing, Lanham (Maryland) und London 2002, S. 221: „Understanding music is knowing that it isn’t noise. It’s the only definition – completely subjective.“ Vgl. auch Paul Griffiths, The Substance of Things Heard. Writings about Music, Rochester (New York) 2005, S. IX: „We cannot say what music is. Yet we are verbal creatures, and strive with words to cast a net around it, knowing most of this immaterial stuff will evade capture.“ © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 10 Konturen seinem strahlenden Weiß eine Summe ergab, die nach den einzelnen Farben zuvor nicht zu vermuten gewesen war. Und dies konnte, was den Effekt noch deutlich unterstrich, beliebig wiederholt werden, sobald man um die Eigenschaften des Prismas wusste. Jenseits solcher naturwissenschaftlichen Zusammenhänge wird gerne der Vergleich mit einem Prisma bemüht, wenn es gilt, dem ersten Blick verborgene Differenzierungen in Augenschein zu nehmen. So bietet sich auch im vorliegenden Fall das Bild eines Prismas an, um die Wechselwirkungen von Musik und Gesellschaft zu betrachten. Entsprechend dem Winkel, nach dem man das Prisma dabei ausrichtet, zeigen die musikalischen Phänomene und Objekte eine Fülle von sozialen, ästhetischen und historischen Facetten, die (in Anlehnung an das prismatische Prinzip) Rückschlüsse auf gesellschaftliche Zustände und Prozesse, also statische und dynamische Elemente, zulassen. Unter wissenschaftlichem Zugriff bewegen sich solche Überlegungen zwischen Ästhetik, Soziologie und Musikwissenschaft. Viele Dimensionen von Musik, beispielsweise ihr Gehalt, ihre Wirkung oder ihre Zweckhaftigkeit, sind einer direkten Beobachtung weitgehend unzugänglich, auch mit empirischen Methoden nicht fassbar und gaben Generationen von Philosophen und Ästhetikern bis heute Anlass zu immer neuen Konzepten. Im Fall eines auf überprüfbare Fakten gerichteten Erkenntnisinteresses ist es daher folgerichtig, nach solchen Gegenständen zu suchen, in denen künstlerische Prozesse und Ergebnisse sprachlich reflektiert werden. Dies könnte sich bei einer musikwissenschaftlichen Herangehensweise zunächst auf schriftliche Quellen wie Partituren oder andere Notationsformen beziehen, die aber erstens nur einige Aspekte von künstlerischen Produktionen abdecken und aus denen zweitens nur ein enger Bereich der Musikgeschichte eines eingeschränkten Kulturraums zu erschließen ist. Eine überzeugende Begründung, sich daher anderen Textarten wie beispielsweise der Lyrik zuzuwenden, lieferte Albrecht Riethmüller: Bei der Lektüre von Gedichten erweist es sich von Zeit zu Zeit, daß in ihnen Grundfragen der Musik reflektiert sind. Der Blick jedoch, mit dem Dichter in ihren Versen auf Musik schauen, ist in der Regel nicht der musikalischer Fachleute, die es verstehen, sich in diesem Medium zu bewegen und auszudrücken, dafür aber gelegentlich in der Immanenz steckenbleiben und sprachlos werden. Vielmehr ist es der neugierige, sprachmächtige Blick von außen, den das Akustische, das die Musik mit der Dichtung zu teilen hat, so wenig gleichgültig läßt wie das hier wie dort parallel laufende Geschäft der künstlerischen Produktion.2 Im Umgang mit Texten, die Musik zum Thema haben, zeigt sich bei der Einschätzung der aus ihnen zu gewinnenden Erkenntnisse eine elementare Schwierigkeit. Zum einen ist zu bedenken, dass zur Kommunikation über musikalische Erfahrungsprozesse die Fülle der somatischen und rationalen Eindrücke während der Versprachlichung in ein sukzessives Zeichensystem übertragen wird und diese somit einen ersten Transformationsprozess durchlaufen.3 Zum anderen findet die rezeptionstheoretische Diskussion über ästhe2 3 Albrecht Riethmüller, Gedichte über Musik. Quellen ästhetischer Einsicht, Laaber 1996, S. 7. Vgl. als weiterführenden interdisziplinären Ansatz, um die ästhetischen und soziologischen Dimensionen des Sprechens über und durch Kunst zu bestimmen, Heiko Hausendorfs umfangreiche Studie und das dort entwickelte Modell: Gibt es eine Sprache der Kunstkommunikation? Linguistische Zu- © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Bedingungen 11 tische Erfahrung, wie sie in anderen Kunstdisziplinen seit mehreren Jahrzehnten intensiv geführt wird, erst seit einigen Jahren Eingang in die Musikästhetik. Die Spezifik der Musik – als klangbasierter, nichtsprachlicher, sich in der Zeit entfaltender Kunst – steht aber einer direkten Übertragung von Erkenntnissen aus anderen Künsten im Wege. Bevor eine grundlegende Beschäftigung mit der ästhetischen Erfahrung von Musik möglich ist, müssen die Grundbedingungen der kommunikativen Versprachlichung beschrieben werden. Für eine solche Untersuchung sind Wertungen über Musik in besonderer Weise geeignet. Jede Auseinandersetzung mit Musik ist untrennbar durchzogen von Wertungen und Meinungen, die beim absichtsvollen oder unmotivierten Kontakt mit Musik einsetzen. Diese Wertungen und Meinungen beeinflussen und lenken die rationale Reflexion und interagieren mit subjektiven Dispositionen der Persönlichkeit (Assoziationen, Gefühle, Erinnerungen). Solche Vorlieben und Abneigungen unterliegen allerdings nur bedingt einer willkürlichen Kontrolle.4 Es ist daher auf den zuvor beschriebenen Umstand zurückzukommen, dass bei der bewussten Beschäftigung mit Musik die Transformation der Eindrücke, Gefühle, Gedanken und physiologischen Reaktionen in einen kommunizierbaren Modus beginnt. Mit diesem Prozess der Versprachlichung gehen wiederum weitere geschmackliche, sachliche und impulsive Entscheidungen und Wertungen einher. Die grundlegende Fragestellung dieser Studie lässt sich somit auf eine Untersuchung von Wertungen über Musik in Texten zuspitzen, um aus diesen Wertungen – es sei noch einmal an das Bild des Prismas erinnert – Erkenntnisse über gesellschaftliche Bedingungen und Funktionen von Musik zu gewinnen. Hierbei ist festzuhalten, dass erstens von den entsprechenden Personen, die Wertungen tätigen (im Fall der ausgewählten Texte von den konkreten Autoren), sowie zweitens von deren Absicht zur Verwendung einer Wertung zu abstrahieren ist.5 Drittens ist auch die inhaltliche Richtigkeit der Wertungen kein Analysekriterium. Wichtig für den musiksoziologischen Ansatz dieser Studie ist allein, dass die Wertungen erscheinen und welche Denkmuster über Musik sich aus ihnen herauslesen lassen. Diese Fokussierung bietet sich aus mehreren Gründen an: So, wie sich die ästhetische Erfahrung von Musik einer Repräsentation entzieht, wurzeln auch die damit verknüpften Wertungsprozesse auf einer vorsprachlichen Ebene, so dass sie, sobald sie sich versprachlichen, bereits mehrere Reflexions-, Beschreibungs- und Formulierungsebenen durchlaufen haben. In dem Augenblick, wo diese Wertungen öf- 4 5 gangsweisen zu einer interdisziplinären Thematik, in: Sprachen ästhetischer Erfahrung, hg. von Gert Mattenklott und Martin Vöhler, Berlin 2006, sowie Dirck Linck, Über das Verschwinden der ästhetischen Texterfahrung in konjunktiven Erfahrungsräumen, Beitrag zur Onlinepublikation Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, http://www.sfb626.de/index.php/veroeffentli chungen/online/artikel/93, Abschnitt 12. Vgl. auch entsprechende Beispiele in den Unterkapiteln Ausdruckbilder (S. 215) und Mitteilungen (S. 268) sowie die entsprechende Passage im Kapitel Akkumulat (S. 341). Dies führt beispielsweise in Bereiche der Vorurteilsforschung. Vgl. auch Hans J. Markowitsch, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns. Befunde aus der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung, in: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, hg. von Harald Welzer, Hamburg 2001. Bspw. untersuchte Friederike Worthmann Wertungen über Literatur auf die dabei involvierten Rezeptions- und Verstehensprozesse, in: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell, Wiesbaden 2004, S. 76. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 12 Konturen fentlich werden – sei es in Zeitungskritiken, Romanen oder wissenschaftlichen Publikationen – setzen sich alle, denen diese Publikationen zugänglich sind, in irgendeiner Form mit den darin enthaltenen Wertungen auseinander, unabhängig davon, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht, ob also – gemäß der Beispiele – die Zeitung verärgert oder gelangweilt beiseite gelegt, der Roman begierig verschlungen oder die These einer Dissertation in eigene Gedankengänge einfließen wird. Ab dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung ist allen diesen Schriftformen eine von ihrem Urheber losgelöste, unveränderliche Form gemein, so dass es vom Leser abhängt, welche Wirkung der jeweilige Text entfalten könnte. Was ein Leser allerdings mit den in den Texten enthaltenen offensichtlichen und unterschwelligen Wertungen anfängt, ob er sie bemerkt, ablehnt oder wieder vergisst, ist allgemein nicht zu beantworten und auch im Einzelfall – durch die bereits mehrfach angesprochene partielle Vorsprachlichkeit der Wertungen – nicht zu verfolgen. Die prinzipielle Zugänglichkeit der publizierten Texte ermöglicht es aber, diese als objektivierte Quellen aufzufassen und sie auf die in ihnen enthaltenen Wertungen hin zu untersuchen, um deren soziologische und musikologische Tiefe und Reichweite zu ermessen. Das dadurch vermiedene analytische Übergewicht einer stetigen Reflexion über die Präsenz und Funktion von Autoren in Texten (die den Blick vom Kern der Wertungen zu äußeren, sekundären Faktoren abgelenkt hätte), steht in der Nähe von Konzepten der Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser, die beide den Autor aus ihren Betrachtungen ausblendeten, um sich auf die Rezeptionsbedingungen von Literatur zu konzentrieren.6 Der von Jauß und Iser betonte autonome, vom Autor gelöste Status von Texten bildet das verbindende Element zur Methodik dieser Studie. In ähnlicher Weise bleibt die Perspektive des potenziellen Lesers ebenfalls ausgespart, da dessen Wahrnehmungen für den Gehalt der Wertungen unerheblich sind.7 Dies hat folgende Gründe: Vorab ist bedenken, dass nicht alle wertenden Aussagen über Musik Auskunft geben über die Absicht und die Bildung des Verfassers. Nicht zuletzt könnten 6 7 Jauß entfaltete erstmals in seinem 1977 erschienenen Buch Ästhetische Erfahrung und Literarische Hermeneutik (Frankfurt am Main 21997) die Idee des „Horizonts“, mit der – verkürzt gesagt – die ästhetischen und gesellschaftlichen Umstände eines Textes bei seiner Entstehung semantisch kontextualisiert werden. In der Konfrontation mit dem Horizont des Lesers sollen so Verschiebungen innerhalb der Rezeption beschreibbar werden. Vgl. hierzu auch die entsprechenden Passagen (S. 337) im letzten Kapitel Akkumulat. Vgl. Rainer Cadenbachs Auseinandersetzung mit Isers rezeptionstheoretischem Ansatz, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird: „Die Rezeptionsästhetik […] ist eine Theorie, die dem ästhetischen Objekt als dem Korrelat ihres eigentlichen Gegenstands, nämlich der ästhetischen Rezeption dieses Objekts, die Implikation wesentlicher ihrer eigenen Prämissen zudenkt: Das Objekt impliziert ein Rezeptionsinteresse des Autors, in letzter Konsequenz schließlich sogar noch einen ‚Hörer‘. Dies aber hat zur Folge, daß die Ausgangsfragen offen bleiben: Wie ist dieser beschaffen? Ist es ein zeitlosidealer Hörer ohne historisches Interesse, sozusagen ein ästhetisch reines Subjekt? Ist er als ein solches nun gebildet, als Nachschaffender vielleicht sogar ‚vom Fach‘? Handelt es sich um ‚die Menschheit‘, und wenn, ist sie es als Vielzahl oder als Inbegriff der Humanität? Diese und derartige Fragen wären ihrerseits doch wieder nur ‚autoritativ‘, durch historische und systematische Forschung zu entscheiden und keineswegs durch ästhetische Einfühlung, Adäquanz, Konkretisation, Rekonstruktion, durch den ästhetischen Nachvollzug, die Gefühlsantwort, das Betroffensein, durch Einfühlung oder wie sonst man die unterschiedlich akzentuierten Formen ästhetischer Rezeption nennen mag.“ Rainer Cadenbach, Der implizite Hörer? Zum Begriff einer ‚Rezeptionsästhetik‘ als musikwissenschaftlicher Disziplin, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwissenschaft, hg. von Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher, Laaber 1991, S. 159. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Bedingungen 13 auch ironische, verschleiernde und andere Motive im Spiel sein. Es ist nun aber aus der Perspektive einer Wertungsanalyse von Texten konkret nicht zu entscheiden, ob ein Leser mögliche taktische Manöver eines Autors bemerkt, so dass die Wirkung einer Wertung nicht abschätzbar ist. Was für den interessierten Laien vielleicht als wertvolle Information erscheint, ist für den Fachmann möglicherweise nicht mehr als ein Klischee.8 Und auch bei Autoren ist nicht immer sicher zu entscheiden, woher sie ihre Informationen zur Musik nahmen und ob ihnen diese nicht vielfach – so eine der zentralen Thesen dieser Studie – unbewusst als allgemein verbreitete Denkmuster in die Feder flossen; es wird auf diese Gedanken an verschiedenen Stellen zurückzukommen sein. Um daher einer Verwechselung der aus den Texten destillierten Wertungen mit den Meinungen der Autoren entgegenzuwirken, des Weiteren den Fokus der Analysen möglichst wertneutral auf die ausgewählten Textpassagen zu beschränken und dies zusätzlich noch optisch hervorzuheben, wurden die Titel aller Primärquellen im Haupttext und in den Anmerkungen mit Kürzeln versehen.9 Gleichwohl haben die für Literatur unverzichtbaren Instanzen von Autor und Leser auch in dieser Studie ihren Platz gefunden, übertragen in die entsprechenden musikalischen Rollen von Komponisten und Hörern. Damit ließen sich diese Akteure als eigene Untersuchungsgegenstände in den Analyseteil einarbeiten, um die bei ihnen anzutreffenden Wertungsmuster mit anderen Wertungen über Musik in Beziehung setzen zu können. Diese Entscheidung hängt auch mit der nur begrenzten Kompatibilität musikalischer Sachverhalte mit denjenigen Konzepten zusammen, die sich mit der Einschreibung von Wissensinhalten in Texte beschäftigen. Da sie für sprachbasierte Zusammenhänge entworfen wurden, lassen sich mit ihnen die nichtsprachlichen Anteile bei der Produktion und ästhetischen Erfahrung von Musik nur begrenzt erfassen. Auch Rainer Cadenbach steht bei seiner Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen Rezeptionsmodellen einer Übertragung speziell von Isers Konzept des „impliziten Lesers“ auf die Musik skeptisch gegenüber: Die Fiktionalität der Texte [...], mit Bezug auf welche Iser seinen Denkweg vom „impliziten Leser“ allein anwendet, mag die Literatur mit der Musik noch in einem Ausmaß teilen, daß ein Methodentransfer als sinnvoll erscheinen könnte. Beide „Medien“ entbehren eines gegenständlich gegebenen Korrektivs, an dem gleichsam „nachgemessen“ werden könnte, ob die in ihrer „Sprache“ jeweils zum Ausdruck gebrachten Fiktionen nun auch „zutreffen“. Und was für den empirisch-experimentellen Bereich gilt, trifft auch für den apriorisch-spekulativen zu: weder fiktionale Literatur noch auch Musik bedarf zum Erweis ihrer Stimmigkeit, sozusagen zu ihrer „Sinnkonstitution“, ja sogar hinsichtlich ihrer inneren Konsistenz, der Stützung durch erkenntniskritische Theoreme und auch keiner Legitimation durch gattungsspezifische Systematisierungen des Materials oder der Techniken seiner Anwendung bzw. Bearbeitung.10 8 Vgl. Cadenbach, Der implizite Hörer?, S. 157: „Die Entscheidung des rezipierenden Subjekts, inwieweit es – und ob es überhaupt – seinem Wissensstand über die geschichtliche Beschaffenheit der Werke auf seine ästhetische Rezeption Einfluß gewährt, ob es sich, grob gesprochen, von seinem kunstwissenschaftlichen Erkenntnisstand im ästhetischen Erleben befördern oder behindern läßt, unterliegt der abschließenden Verantwortung des Rezipienten selbst.“ 9 Die Liste der Primärquellen auf S. 15f. sowie der Literaturanhang geben hierüber Auskunft. 10 Ebenda, S. 139. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 14 Konturen Bei Harald Fricke findet sich ein weiteres, gewichtiges Argument, dass die Zeugenschaft von Autoren zur Bestimmung literarischer Wertungen in ihrer Aussagekraft begrenzt sein kann, abhängig von Fragestellung und Erkenntnisinteresse: Und schließlich ist hier noch in Rechnung zu stellen, daß wir auch bei anonymen Werken ohne Zögern eine wertende Einordnung vornehmen, obwohl wir ja hier einen zu beurteilenden Verfasser gar nicht haben. Niemand weiß, wer das „Nibelungenlied“ geschrieben hat; niemand aber zweifelt an seinem hohen dichterischen Rang. Literarische Werturteile beziehen sich also in ihren wirklich substantiellen Teilen nicht auf den Autor, sondern auf das Werk selbst. Was aber ist nun dieses ominöse „Werk selbst“? Nach verbreiteter und besonders im Zusammenhang rezeptionsästhetischer Literaturtheorien vertretenen Auffassung konstituiert sich ein literarisches Werk überhaupt erst im Bewußtseinsakt des Lesens. Aus der unregelmäßigen Ansammlung von schwarzen Farbteilchen auf einem flachgepreßten Holzprodukt wird erst im rezipierenden Erleben des Lesers schließlich Goethes „Faust“. So richtig dies ist, so vorsichtig sollte man doch mit dem sein, was man daraus folgert. Gewiß ergibt sich daraus so viel, daß wir einen Text gelesen haben müssen, um ihn besprechen und beurteilen zu können; daraus folgt aber nicht, daß das, worüber wir dann sprechen, unser Leseerlebnis oder der daraus resultierende Bewußtseinsinhalt ist.11 Musik stößt in Texten, speziell künstlerischen wie jenen der belletristischen Literatur, auf reges Interesse.12 Texte ermöglichen daher einen höchst interessanten Zugang, um sich dem Denken, Wissen und Sprechen über Musik anzunähern. Deshalb soll der analytische Ansatz noch einmal klar benannt werden: Zentraler Gegenstand der Untersuchung sind Passagen mit Wertungen über Musik. Diese sollen unbeeinflusst von allen an der Entstehung oder Verwendung der Texte Beteiligten betrachtet werden. Der methodische Ansatz ist hier deshalb, soziologisch gesprochen, idealtypisch angelegt, als Versuch einer möglichst präzisen Analyse des Umfangs und der Reichweite der Wertungen. Es ist dabei anzumerken, dass die Skepsis vor einer (soziologischen) Überinterpretation von literarischen Texten das ganze letzte Jahrhundert durchzieht und auf methodischen Differenzen zwischen einer dem Kunstwerk verpflichteten Literaturwissenschaft und einer die gesellschaftlichen Bezüge von Literatur reflektierenden Literatursoziologie beruht. Diesen Bedenken soll durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Textarten sowie die methodische Rahmung der Wertungsanalysen, gerade nicht textimmanent zu argumentatieren, Rechnung getragen werden.13 Des Weiteren soll der Eindruck vermieden werden, die musiksoziologisch motivierte Beschäftigung mit Texten maße sich literaturwissenschaftliche, philologische oder philosophische Kompetenzen an. Im Gegenteil soll ästhetischen Wertungen und Rastern in Texten nachgespürt werden, um dort allgemeine, gesellschaftlich konnotierte, nichtmu11 Harald Fricke, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981, S. 194f. 12 Vgl. hierzu Ursula Brandstätter, Musik im Spiegel der Sprache. Theorie und Analyse des Sprechens über Musik, Stuttgart 1990, S. 9. 13 Vgl. hierzu aus Helmut Kuzmics und Gerald Mozetič, Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz 2003, die Kapitel 3 Soziologische Methoden zwischen empiristischem Szientismus und textualistischer Herausforderung sowie aus Kapitel 11 Literatur als soziologisches Erkenntnismedium: Die Quintessenz unserer Untersuchungen die Abschnitte Warum uns das Realismus-Argument und der Einwurf der Literaturkritik nicht abhalten, Literatur soziologisch zu interpretieren und Ein ‚literaturfreundlicher‘ Soziologe: Norbert Elias. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Bedingungen 15 sikspezifische Denkmuster über Musik aufzudecken, die mit anderen Herangehensweisen bislang nicht so deutlich zu sehen waren. Versteht man daher die herangezogenen Texte als Reflektoren von kursierenden Ansichten über Musik, so kann mit dieser Methodik die Zirkulation der Ansichten nachgewiesen und deren Bedeutung für das Wechselverhältnis von Musik und Gesellschaft untersucht werden. Nachdem der analytische Rahmen mit Texten gesetzt ist, wäre zu benennen, mit welchen Textarten er ausgefüllt wird. Hauptgegenstand der Untersuchung sind ausgewählte Romane der vergangenen fünfundzwanzig Jahre, flankiert von musikästhetischen Schriften desselben Zeitraums. Der Vorteil gerade dieser Quellen ist, dass ihre Autoren üblicherweise keinen professionellen musikalischen Hintergrund haben, sondern aus einem künstlerischen bzw. philosophischen Blickwinkel auf Musik schauen. Das Wesentliche dieses Ansatzes ist, mit Hilfe dieser Schriften Einblicke in Musikanschauungen zu bekommen, die andere Schwerpunkte setzen und von anderen Interessen geleitet werden als jene von musikwissenschaftlichen Fachleuten. Ausgehend von den so gewonnenen Stichworten und Leitgedanken lassen sich die Analysen bei Bedarf mit den entsprechenden disziplinären Debatten in Beziehung setzen, um das entstehende Bild musikhistorisch abzurunden. Darüber hinaus ergänzen sich die beiden unterschiedlichen Textarten in vielen Aspekten – etwa im Umgang mit fiktionalen und realen Bezügen musikhistorischer Sujets und Personen (dies wird im Unterkapitel Faktizität und Fiktionalität ausführlich zur Sprache kommen) oder der Verwendung von analytischen und metaphorischen Stilistiken – und ergeben ein vielschichtiges Meinungsbild zur Musik. Zudem zeigen die ästhetischen Schriften (dies sei vorweggenommen) ganz ähnliche Wertungsmuster und -gegenstände wie die Romane, obgleich sie sich deutlich in ihrer Verbreitung, ihrer Auflagenhöhe, den vorausgesetzten Kenntnissen zur Musik, der Anbindung an Traditionen und Diskurse, der Form und Deutlichkeit der Argumentation sowie der Ausrichtung auf Leserkreise von der belletristischen Literatur unterscheiden. Da sie von ganz unterschiedlichen Bedingungen ausgehen und dennoch vergleichbare Wertungen transportieren, bieten sie sich als Kontrollgruppe in besonderem Maße an, wie nachzuweisen sein wird. Die Auswahl der einzelnen Beispiele erfasste 27 Romane und 13 selbstständige ästhetische Schriften, die nach ihrer alphabetischen Reihenfolge mit Kürzeln durchnummeriert wurden. Die Originalsprachen sind Deutsch, Englisch, Italienisch, Niederländisch, Norwegisch und Schwedisch, für die vorliegende Untersuchung wurden deutsch- und englischsprachige Ausgaben verwendet. Romane - (Kürzel) Alessandro Baricco, Novecento [1994], München 22004. Thomas Bernhard, Der Untergeher, Frankfurt am Main 1986. Lars Saabye Christensen, Yesterday [1984], München 21997. Jonathan Coe, The Rotters’ Club [2001], London 2002. Rainald Goetz, Rave [1998], Frankfurt am Main 2001. Maarten ’t Hart, Das Wüten der ganzen Welt [1993], München und Zürich 1998. Peter Härtling, Schubert. Roman [1995], München 102004. Nick Hornby, High Fidelity [1995], London 2000. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. (R 1) (R 2) (R 3) (R 4) (R 5) (R 6) (R 7) (R 8) 16 - - Konturen Elfriede Jelinek, Die Klavierspielerin [1983], Reinbek bei Hamburg 292004. Helmut Krausser, Melodien [1993], Reinbek bei Hamburg 2002. Dieter Kühn, Clara Schumann, Klavier [1996], Frankfurt am Main 1998. Paolo Maurensig, Spiegelkanon [1996], München und Zürich 2003. Margriet de Moor, Der Virtuose [1993], München 42003. Margriet de Moor, Kreutzersonate [2001], München 2004. Petra Morsbach, Opernroman, Frankfurt am Main 1998. Mikael Niemi, Populärmusik aus Vittula [2000], München 2004. Hanns-Josef Ortheil, Die Nacht des Don Juan [2000], München 32002. Bianca Maria di Palma, Römisches Requiem. Commissario Caselli hört Musik, Frankfurt am Main 2000. Ann Patchett, Bel Canto [2001], London 2002. Richard Powers, The Time of our Singing [2003], London 2004. Willy Russell, Der Fliegenfänger [2000], München 32002. Robert Schneider, Schlafes Bruder [1992], Leipzig 282004. Vikram Seth, An Equal Music, New York 1999. Lea Singer, Wahnsinns Liebe, München 22003. Hans-Ulrich Treichel, Tristanakkord [2000], Frankfurt am Main 2001. Urs Widmer, Der Geliebte der Mutter [2000], Zürich 2003. Wolf Wondratschek, La Mara, München 2003. Ästhetische Schriften - Allan Bloom, The Closing of the American Mind. How higher Education has failed Democracy and impoverished the Souls of Today’s Students, New York 1987. - Malcom Budd, Music and the Emotions. The Philosophical Theories, London et al. 1985. - Stephen Davies, Musical Meaning and Expression, Ithaca und London 1994. - Martyn Evans, Listening to Music, Houndsmill et al. 1990. - Lydia Goehr, The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music, Oxford 1992. - Theodore Gracyk, Rhythm and Noise. An Aesthetics of Rock, Durham und London 1996. - Peter Kivy, Music Alone. Philosophical Reflections on the Purely Musical Experience, Ithaca und London 1990. - Jerrold Levinson, Music, Art, and Metaphysics. Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca und London 1990. - Robin Maconie, The Concept of Music, Oxford 1990. - Simone Mahrenholz, Musik und Erkenntnis: eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart und Weimar 1998. - Leonard B. Meyer, Style and Music. Theory, History, and Ideology, Chicago und London 1984. - Edward W. Said, Musical Elaborations, New York 1991. - Roger Scruton, The Aesthetics of Music, Oxford 1997. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. (R 9) (R 10) (R 11) (R 12) (R 13) (R 14) (R 15) (R 16) (R 17) (R 18) (R 19) (R 20) (R 21) (R 22) (R 23) (R 24) (R 25) (R 26) (R 27) (Kürzel) (Ä 1) (Ä 2) (Ä 3) (Ä 4) (Ä 5) (Ä 6) (Ä 7) (Ä 8) (Ä 9) (Ä 10) (Ä 11) (Ä 12) (Ä 13) Bedingungen 17 Maßgebliches Kriterium zur Aufnahme eines Textes in den Quellenbestand war einzig die Aussagekraft der darin behandelten soziologischen und musikologischen Dimensionen von Musik. Die Beschränkung auf Literatur der letzten fünfundzwanzig Jahre ist dem Bemühen geschuldet, mit den darin enthaltenen Denkmustern möglichst weit bis zur Gegenwart vorzustoßen, um einen relativ aktuellen Eindruck zu gewinnen. Die sehr übersichtliche Anzahl von Schriften (gemessen an der zur Verfügung stehenden, kaum zu überblickenden Fülle besonders im Bereich der Romane) lässt sich damit rechtfertigen, dass an ihnen Prinzipien und Funktionen von Wertungen über Musik exemplifiziert werden sollen. Die verwendeten Texte haben daher stellvertretende Funktion. Sinn dieser starken Eingrenzung des Textkorpus ist es, alle Wertungsraster aus einer übersichtlichen Menge von Material zu schöpfen, damit sich viele Querverbindungen zwischen den Texten und den einzelnen thematischen Bereichen ergeben können, was nur bei einer stark eingeschränkten Literaturauswahl möglich ist. In gleicher Weise wurde auch die Zahl hinzugezogener musikhistorischer Beispiele möglichst klein gehalten, um eine enge, sehr vernetzte Argumentation über die ganze Studie hinweg zu ermöglichen und den gewählten Exempla möglichst viele Facetten abzugewinnen. Das Verhältnis der zwei Textarten ist so aufgeteilt, dass die Romane das Hauptmaterial der Wertungsanalysen bilden und an passenden Stellen um die Perspektive der ästhetischen Texte, als einer gerade nichtliterarischen Textart, ergänzt werden. Auch dies dient dem Nachweis, dass die festgestellten Wertungsmuster keine genrespezifischen Besonderheiten darstellen und daher verallgemeinert werden können. Eine weitere Prämisse der Analysen war, möglichst innerhalb der Primärquellen zu argumentieren und nur an unvermeidlichen Stellen Sekundärliteratur im Haupttext hinzuzuziehen. Anderenfalls hätte sich der alle Teile verbindende rote Faden der Wertungsraster zu oft in speziellen Detailfragen und daran anschließende Diskussionen innerhalb der Sekundärliteratur verloren; relevante Diskurse sind als ergänzende Literaturverweise im Anmerkungsapparat ausgewiesen. Da einige der zitierten Passagen, besonders aus Romanen, mitunter etwas länger ausfallen, wurden Zitate mit mehr als drei Zeilen Länge mit verringerter Schriftgröße als Textblock eingerückt. Die Studie strukturiert sich wie folgt: Die zwei anschließenden Teile dieses Kapitels, Wertungen und Faktizität und Fiktionalität, setzen sich mit terminologischen und methodischen Grundlagen auseinander, die für die Wertungsanalysen unverzichtbar sind. Das Gegenstände betitelte Kapitel gliedert sich nach Akteuren im Musikbetrieb. Gefragt wird danach, welche Rollen sie im Wertungsprozess einnehmen und welche Wertungen zu ihrer Beschreibung bemüht werden. Die Unterkapitel fokussieren dafür Künstler und spezifische Blickwinkel auf diese, Rollen von Interpreten und Hörern im Musikleben sowie den Wert von Werken und Instrumenten im ökonomischen wie im ästhetischen Sinn. Das Kapitel Anwendungen behandelt Wertungen, die spezifisch mit musikalischen Themen zusammenhängen. Dies betrifft zum einen Auf- und Abwertungen von Künstlern, Stilen und Genres, zum anderen inkludierende und exkludierende Vorstellungen von Musik als „Kunst“ oder „Vergnügen“, sowie spezifische Klischees und Topoi zur © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 18 Konturen Musik (wie Komponieren als brotlose Kunst, Instrumententypologien, Leiblichkeit und Sex). Das auf Mittler konzentrierte Kapitel umfasst den weiträumigen Bereich der Vermittlung und Verbreitung von Wertungen sowie deren Ausbreitungsebenen und -richtungen, beispielsweise durch den Einfluss und die Wirkung von Marktmechanismen und Medien, durch Kritikeransichten und die Verkettung von Wertungen. Viele gesellschaftspolitische Diskurse haben auch in der Musik eine lange Tradition, die sich im gleichnamigen Kapitel am Beispiel von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten und nationalistischen Ressentiments aufzeigen lässt. Zudem verhandeln diese Diskurse Musik in vielen Variationen als Ausdrucksmedium, was im dritten Unterkapitel nachgezeichnet wird. Die Mechanismen von Wertungen, Gegenstand des nächsten Kapitels, spielen sich in verschiedenen Regelsystemen auf unterschiedlichen Ebenen ab. Dies lässt sich an sozialen Funktionen im Umfeld der musikalischen Sozialisation, an Wertungen als Motor und Steuerung von Erwartungen, als Maßstab von Geschmack und damit verbundenen Konventionen sowie als Richtschnur von Handlungsnormen und Verhaltensanweisungen studieren. Das vorletzte, Schauplätze betitelte Kapitel des Analyseteils geht der sozialen Position von Wertungen nach und differenziert diese nach Abhängigkeitsverhältnissen von Individuen, Gruppen und Kollektiven, nach Motiven zur kulturellen Positionierung (in Form von Attraktions- und Distinktionsbestrebungen) sowie nach der besonderen Bedeutung von Vorbildern für die Ausprägung musikalischer Präferenzen und Identifikationsmuster. Das abschließende Kapitel skizziert das Modell des Akkumulats, das zur Systematisierung der analysierten Wertungen vorgeschlagen wird. Nach einer einführenden Erläuterung von parallelen Konzepten werden die zum Modell zusammengefügten Thesen entlang der Ergebnisse aus den vorangegangenen Kapiteln erörtert. Es ist zu bedenken, dass sich Wertungen zwar einzeln untersuchen lassen, aber nie in trennscharfen Differenzierungen anzutreffen sind. Die skizzierten Einteilungen, die innerhalb der Unterkapitel nach einzelnen Aspekten weiter untergliedert wurden, sollen der notwendigen Differenzierung der Wertungen über Musik dienen, um das schier unüberschaubare Ausmaß der Wechselwirkungen zwischen Musik und Gesellschaft aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. An vielen Stellen wird sich zeigen, dass bestimmte Phänomene und Zusammenhänge aus verschiedenen Perspektiven besprochen werden können, wobei sich die Rubrizierung eines solchen Aspekts nach der Qualität und Aussagekraft der zugrundeliegenden Beispiele richtete. An diesen Stellen wurden dem Text entsprechende Querverweise zu verwandten Wertungsrastern eingefügt. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Wertungen 19 Wertungen In den vergangenen Jahren war zu beobachten, dass in Politik und Öffentlichkeit wieder verstärkt über Werte moralisch diskutiert und über ihre Bedeutung zur Konstitution kultureller, religiöser und sozialer Identitäten gestritten wurde. Nicht zuletzt, und dies ist das Interessante an dieser Beobachtung, hoben Kommentatoren dieser Debatten abstrakt das wiederentdeckte Gewicht von Werten an sich besonders hervor14, während eine Konkretion der vertretenen Wertvorstellungen zumeist bewusst vermieden wurde. Auch in den Programmen aller großen deutschen Parteien zur Europawahl 2004, zur vorgezogenen Bundestagswahl 2005 sowie in Positionspapieren zur Europäischen Verfassung finden sich Stellungnahmen zu europäischen, nationalen, ethischen, demokratischen, freiheitlichen oder rechtstaatlichen Grundwerten.15 Der von SPD und PDS geführte Berliner Senat kündigte im Frühjahr 2005 sogar für das folgende Jahr Werte- und Ethikunterricht als neues Schulpflichtfach an, alternativ zum konfessionellen Religionsunterricht. Trotz hitziger Debatten religiöser und weltlicher Interessensgruppen bestätigte das Bundesverfassungsgericht im April 2007 die Rechtmäßigkeit des neuen Unterrichtsfachs. Setzt man diese Beobachtung ins Verhältnis zur realen Bedeutung von Werten im gesellschaftlichen Kontext – als zentrale Zielvorstellungen und Orientierungsleitlinien für menschliches Handeln und gemeinsames Zusammenleben16 –, mag es vielleicht erstaunen, dass die bewusste, moralisch und normativ konnotierte Wiederentdeckung von Werten zur Neuigkeit und als Streitfall taugt. Denn Wertungen, als Anwendung und Umsetzung dieser Leitlinien, bilden einen elementaren, sowohl absichtlich vorgenommenen als auch unbewusst geschehenen Bestandteil des Alltäglichen, um die Lebenswelt zu strukturieren, sich in ihr zurechtzufinden und sich mit und gegen Mitmenschen zu positionieren.17 14 Vgl. Peter von Beckers Artikel Mehr Wert. Gesellschaft und Moral auf der Titelseite der Silvesterausgabe 2005 des Berliner Tagesspiegel; vgl. auch Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 21999, S. 12: „In allen westlichen Gesellschaften gibt es heute große Debatten über Wertewandel und Werteverlust, die Chancen und Gefahren solcher Prozesse und die Notwendigkeit einer Wiederbelebung alter Werte oder der Suche nach neuen Werten.“ 15 Vgl. das Europawahlprogramm 2004 von Bündnis 90/Die Grünen; vgl. das auf dem außerordentlichen SPD-Parteitag am 21. März 2004 verabschiedete Manifest Deutschland 2010 – Werte und Ziele für unser Land sowie das Beschlusspapier des außerordentlichen Bundesparteitags der SPD am 31. August 2005; vgl. die vom Bundesvorstand der FDP 2002 eingesetzte Kommission Werte in der liberalen Bürgergesellschaft – Zukunftsorientierte Bildung und kulturelle Vielfalt im 21. Jahrhundert sowie die Programme der FDP zu den Bundestagswahlen 2002 und 2005; vgl. das gemeinsame sogenannte „Regierungsprogramm“ Deutschlands Chancen nutzen. Wachstum. Arbeit. Sicherheit von CDU und CSU zur Bundestagswahl 2005 sowie den Abschnitt Werte und Ziele der Union im Informationsblatt der deutschen Bundesregierung zur Europäischen Verfassung; vgl. das Memorandum für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden sichernde Europäische Union der Bundestagspartei Die Linke vom Januar 2007. 16 Vgl. Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 41994. Stichwort: Wert, S. 928. 17 Vgl. Gert Mattenklott, Ästhetische Wertung, in: Englisch-Amerikanische Studien 1 (1979), Heft 4, S. 468: „Eine wirklich freie Gesellschaft wäre amoralisch und unästhetisch. Sie würde es ihren Bürgern überlassen, im Zusammenleben zu entdecken, was ihnen guttut oder schadet. Sie würde sich nicht darum kümmern, aus welchen Gründen die Menschen etwas schön oder häßlich finden. In ihr gäbe es keine ästhetischen oder moralischen Aufsichts- und Ordnungsämter mit Prämien für geschmackliches und sittliches Wohlverhalten und Strafen für Abweichungen.“ Vgl. Gert Mattenklott, Am Allerwertesten. Thesen über ästhetische Urteile, in: derselbe, Nach links gewendet. Über neuere Literatur, Berlin © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 20 Konturen Um zu verstehen, weshalb Werte und Wertungen Schlüsselkategorien für gesellschaftliche Phänomene sind, wie man sie abbilden kann und welche Rolle sie bei der Untersuchung musikalischer Zusammenhänge spielen, müssen zunächst einige terminologische Bestimmungen vorgenommen werden. In vielen Disziplinen sind Werte ein intensiv behandelter, historisch weitläufiger Forschungsgegenstand.18 Da diese Abhandlung einen musiksoziologischen Schwerpunkt setzt, konzentriert sich die Begriffsbestimmung innerhalb der vielen, z.T. stark divergierenden disziplinären Konzepte vor allem auf gesellschaftswissenschaftliche Aspekte. Werte bündeln eine Vielzahl von Spielregeln, Entscheidungsschritten und Auswahlprozessen mit unterschiedlichen Reichweiten ihrer Gültigkeit und Relevanz.19 Sie sind, wie Karl-Heinz Hillmann festhält, „geschichtlich entstanden, kulturell relativ, wandelbar und somit auch bewußt gestaltbar.“ Aufgrund ihrer kulturspezifischen Typisierung haben sie maßgeblich Einfluss auf die „Prägung der Eigenart der jeweiligen Kultur“ und wirken – durch ihre Orientierungs- und Steuerungsfunktion – als „Standards selektiver Orientierung für die Richtung, Ziele, Intensität und für die Auswahl der Mittel des Handelns von Angehörigen einer bestimmten Kultur und Gesellschaft“20. Beginnend mit der Sozialisation werden Werte mit Normen, Rollenmodellen und anderen prägenden, gesellschaftlich vermittelten Einflüssen internalisiert und fügen sich zu persönlichen Wertvorstellungen zusammen. Da Individuen mit dem sie umgebenden Lebensumfeld in Wechselwirkung stehen, gelangen diese individuellen Wertmaßstäbe zurück in den gesellschaftlichen Kontext, wo sie als mögliche Einflussgrößen ihrerseits andere Einstellungen, Interessen und Präferenzen prägen können. Hillmann weist dabei auf den (zu großen Teilen vorrationalen und unbemerkten) Umgang mit Werten hin: Infolge dieser Internalisierung und Verflechtung ist sich der Einzelne gemeinhin nicht der Tatsache bewußt, daß seine eigenen individuell-subjektiven Zielvorstellungen und persönlichen Motivationen großenteils durch gelernte Werte geprägt worden sind. Aufgrund dieser 1980, S. 9: „Ästhetische Freiheit würde auch bedeuten, daß unter dieser Parole einmal nicht nur – wie noch bei jedem großen gesellschaftlichen Wandel – die Normen ausgewechselt, sondern daß auf sie verzichtet würde.“ Vgl. zur Bedeutung von gesellschaftlichem Konsens David Copp, Morality, Normativity, and Society, New York und Oxford 1995, S. 145f. und vom Autor, Der Beginn der neuen Musik in Schweden und ihr Bezug zur politischen Konsenskultur, in: Von Grenzen und Ländern, Zentren und Rändern. Der erste Weltkrieg und die Verschiebungen in der musikalischen Geographie Europas, hg. von Christa Brüstle, Guido Heldt und Eckard Weber, Schliengen 2006. 18 Vgl. A. Hügli, S. Schlotter, P. Schaber, A. Rust und N. Roughley, Artikel Wert, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 11, Basel 2001. Da Wertungen und Werte im Rahmen dieser Studie unabhängig von ihren Urhebern und Genesen als verselbstständigte Phänomene begriffen werden, sei bezüglich der dabei ausgesparten Dimensionen ausdrücklich auf Hans Joas verwiesen, dessen Titel Die Kreativität des Handelns (Frankfurt am Main 21996) und Die Entstehung der Werte die soziologischen Grundlagen der Thematik behandeln. In letzterer Schrift gibt Joas einen Überblick zur Bedeutung des Wertbegriffs bei Friedrich Nietzsche, William James, Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Scheler, James Dewey, Charles Taylor und Jürgen Habermas, um von dieser Auseinandersetzung seine eigene These abzuheben (S. 10): „Dieses Buch stellt eine klare Frage, nämlich: wie entstehen Werte und Wertbindungen? Und es versucht, eine klare Antwort auf diese Frage zu geben: Werte entstehen in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz.“ 19 Vgl. Wilhelm Weber, Hans Albert und Gerhard Kade, Artikel Wert, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 11, Stuttgart, Tübingen und Göttingen 1961, S. 639. 20 Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stichwort: Wert, S. 928. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Wertungen 21 weit verbreiteten lebensalltäglichen „Wertbewußtlosigkeit“ wird die tatsächliche Einfluß- und Steuerungskraft der Werte meistens unterschätzt oder ignoriert.21 Das Charakteristikum von Werten, unabhängig vom Grad einer verstandesgesteuerten Wahrnehmung alle möglichen Maßstäbe bezüglich Präferenzen, Bedeutungen, Motivationen und Überzeugungen zu umfassen, ist von entscheidender Bedeutung für die Konstitution, Anwendung, Ausbreitung und Reflexion von Wertungen. Dies lässt sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen, in dem alle Wertungszustände zusammenwirken: Die Vielzahl von Entscheidungen, die von Menschen tagtäglich getroffen werden und von kleinen und im Gesamtzusammenhang unwichtigen Dingen bis zu solchen mit langfristigen Folgen reichen, ist in ihrer Gesamtheit so ausufernd, dass der menschliche Verstand notwendigerweise viele dieser Entscheidungsprozesse internalisiert und automatisiert, um die Konzentration des Bewusstseins für wesentliche Dinge aufzusparen.22 So laufen beim Einkaufen viele Handgriffe ohne großes Nachdenken ab, da das Bewusstsein nicht alle Bewertungen, die im Bruchteil von Sekunden getroffen werden, vollständig reflektiert und wahrnimmt. Statt dessen ermöglichen erlernte Verhaltensregeln und verinnerlichte Produktvorlieben eine reflexartige Orientierung, um die Aufmerksamkeit eines Kunden in der Flut von Eindrücken und Sinnesreizen, die auf ihn in einem Supermarkt einströmen, für wesentliche Entscheidungen zu reservieren.23 In einer solchen Situation, wenn Wahlmöglichkeiten zu bewusstem Handeln führen, dienen alle bis zu diesem Augenblick internalisierten Wertvorstellungen und Erfahrungen den augenblicklichen Entscheidungen als Richtschnur.24 21 Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stichwort: Wert, S. 929. 22 Vgl. hierzu speziell Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, in: derselbe, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 71988, S. 561f.: „Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ‚gemeinten Sinns‘. Der Handelnde ‚fühlt‘ ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn wüßte oder ‚sich klar machte‘, handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. Nur gelegentlich, und bei massenhaft gleichartigem Handeln oft nur von Einzelnen, wird ein (sei es rationaler, sei es irrationaler) Sinn des Handelns in das Bewußtsein gehoben. Wirklich effektiv, d.h. voll bewußt und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität immer nur ein Grenzfall.“ Vgl. zum übergeordneten Zusammenhang von Werten und Handlungstheorien Hans Lenk, Handlungserklärung und Handlungsrechtfertigung unter Rückgriff auf Werte, in: Handlungstheorien interdisziplinär II. Handlungserklärungen und philosophische Handlungsinterpretationen, Zweiter Halbband, München 1979. Vgl. auch Ä 11, S. 70: „Both by nature and by nurture our finely tuned cognitive circuits filter and separate, connect and organize this haphazard input into understandable patterns and coherent processes.“ 23 Vgl. Markowitsch, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, in: Welzer, Das soziale Gedächtnis, S. 222: „Priming stellt ein unbewußt agierendes Gedächtnissystem dar, das dadurch zum Tragen kommt, daß man zu einem früheren Zeitpunkt wahrgenommene Reize später unbewußt mit einer höheren Wahrscheinlichkeit wieder wählt oder erkennt, als wenn man diese Reize noch nie wahrgenommen hätte. Das prozedurale Gedächtnis läuft ebenfalls unbewußt ab und beinhaltet vor allem die motorische Ebene. Hier geht es um Fertigkeiten, die hochgradig automatisiert ablaufen, das heißt, ohne bewußt reflektiert zu werden. Ein Beispiel wäre das Fahren eines Kraftfahrzeugs, bei dem ein bewußtes Reflektieren, was in welcher Sequenz zu tun ist, wenn man von einem in den nächsten Gang schalten will, eher hinderlich denn förderlich für den Verhaltensablauf wäre.“ 24 Wie dieses einfache Beispiel zeigt, können Wertungen als Form sozialen Handelns verstanden werden. Diesem Begriff hängt eine weitverzweigte Theoriedebatte von so einflussreichen Soziologen wie Peter Berger, Ralf Dahrendorf, Émile Durckheim, Jürgen Habermas, Hans Joas, Thomas Luckmann, Niklas Luhmann, George Herbert Mead, Talcott Parson, Alfred Schütz und Max Weber an, um stellvertretend nur die prominentesten zu nennen. Der Begriff des Handelns ist, wie Hans Haferkamp hervorhebt, wie andere auch „zunächst kein soziologischer Begriff, sondern ein Bestandteil der Alltags- © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 22 Konturen Wie weiter oben im Zusammenhang von Wertungen in Texten bereits ausgeführt wurde, ist bei ihrer Betrachtung von der Absicht, mit der sie getroffen werden, zu abstrahieren, da nicht endgültig zu klären ist, mit welcher Motivation Wertungen verbunden sind, wenn sie als augenblicklicher oder abgeschlossener Vorgang zu beobachten sind. Werden Wertungen im Fall einer rückblickenden Betrachtung mit einer ausführlichen Begründung versehen oder greift im Augenblick der Entscheidung die unzweifelhafte rationale Kontrolle des Verstandes ein, so wird – terminologisch gesprochen – die Grenze zum Urteil überschritten. Als Akte, in denen abstrakte Wertungsgrundlagen absichtsvoll umgesetzt werden, sind Urteile immer auch Wertungen. Nicht alle Wertungen haben aber den Rang, die Qualität und den Charakter von Urteilen. Der wesentliche Schritt von einer Wertung zum Urteil besteht somit im willentlichen, bewussten Vollzug des Latenzcharakters von Wertungen. Dies unterscheidet das Urteil auch in seiner juristischen Verwendungstradition von der Wertung, da die Begründung den wesentlichen Teil des Urteils ausmacht und dieses Element bei Wertungen nicht zwingend vorausgesetzt werden kann. Wertungen sind in der Begründungshierarchie eine Ebene tiefer angesiedelt, in ihrem Fall ist die Subjektivität und die Willkür des Entscheidungsaktes Teil des Vorgangs. Wird diese Subjektivität einer Wertung beispielsweise in einem Gespräch thematisiert, ist ein Übergang von der Wertung zum Urteil möglich, da nun der Wertungsvorgang reflektiert und somit vom Bewusstsein zur Kenntnis genommen wird. Werden allerdings rationale Begründungszusammenhänge bewusst unterdrückt und wird somit absichtsvoll an Irrationalitäten festgehalten, ließe sich von Vorurteilen sprechen.25 Die beiden Begriffe „Wertung“ und „Urteil“ erscheinen bis zu diesem Punkt eng verzahnt. Mit Hilfe von Immanuel Kants Definition, dass „Urteilen (nämlich objektiv) eine Handlung des Verstandes (als Obern Erkenntnisvermögen überhaupt)“26 ist, lässt sich eine wesentliche methodische Unterscheidung treffen, ohne damit in unlösbare Streitfälle zur Differenz von Urteil, Wertung und Werturteil in den verschiedenen beteiligten Disziplinen eingreifen zu wollen.27 Weshalb im Rahmen dieser Untersuchung der weiter ge- sprache. Er ermöglicht es uns als Teilnehmer der Alltagswelt, Wirklichkeit als auch ‚Handlungen‘ konstituiert zu erleben.“ (Hans Haferkamp, Soziologie als Handlungstheorie, Düsseldorf 1972, S. 12.) Da Aspekte des Handelns nicht für alle der getroffenen Wertungsdifferenzierungen von unmittelbarer Bedeutung sind (bspw. bezüglich der im Kapitel Gegenstände zusammengefassten Wertungsinhalte und -objekte), wurde die Beschreibung von Wertungen als Handlungen in einzelne Unterkapitel verlagert (siehe vor allem das Unterkapitel Verhaltensnormen). 25 Vgl. zur Spezifik von Vorurteilen als verhärtete Erwartungen Andreas Dorschel, Erwartung und Vorurteil in der Musik, in: Dem Ohr voraus. Erwartung und Vorurteil in der Musik, hg. von derselbe, Wien et al. 2004, des Weiteren zur fließenden Grenze einer Wertung zum Vorurteil Anm. 442, S. 164 im Unterkapitel Verkettungen sowie S. 204 im Unterkapitel Nationalistische Ressentiments. 26 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, darin: Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1974, S. 36f. Vgl. auch die ausführliche Besprechung der Problematik in: G. Gabriel, R. Ogorek und T. van Zantwijk, Artikel Urteil, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 11, Basel 2001. 27 Die Geschichte der Wertästhetik nahm vom 19. über das 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart eine weit verzweigte, mitunter auch politisch kritisch zu betrachtende Entwicklung (wie etwa im Fall des während der NS-Zeit eindeutig positionierten Philosophen Nicolai Hartmann, der ein eigenständiges „irreales“ Reich der Werte annahm, das „intuitiv“ erkannt werde). Vgl. zur Geschichte des Wertbegriffs und der daran geknüpften ästhetischen Theorien den ausführlichen Artikel Wert/Wertung von Jakob Steinbrenner, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 6, Stuttgart und Weimar 2005 sowie speziell zu Hartmanns Vita Wolfgang Fritz Haug, Nicolai Hart- © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Wertungen 23 fasste, soziologisch entwickelte Wertungsbegriff der philosophisch begründeten Kategorie des Urteils vorgezogen wird, ergibt sich aus der methodischen Zielsetzung sowie der analytischen Materialgrundlage. Machte man Kants Vorstellung vom Vermögen der Urteilsbildung als Akt der menschlichen Urteilskraft zur methodischen und terminologischen Grundlage, ließe sich nicht die vollständige Summe der getroffenen Einschätzungen erfassen, wie sie in den verwendeten Texten anzutreffen sind. Wie später am Modell des Akkumulats noch ausführlich zu diskutieren sein wird, zirkulieren Wertvorstellungen im virtuellen, nur theoretisch fassbaren Wissensschatz einer Gesellschaft und fließen auf unterschiedliche Weise in die individuellen Meinungen über musikalische Gegenstände ein. Auch in diesem Fall ist nicht abstrakt zu bestimmen, wie und inwieweit dies ein vom Verstand angeleiteter Prozess ist, da bereits durch die kindliche Sozialisation viele Einstellungen tief im individuellen Charakter angelegt werden. Es ist natürlich möglich und kommt auch häufig vor, dass Meinungen zur Musik ausgetauscht, Situationen der ästhetischen Erfahrung von Musik reflektiert und bisweilen auch wissenschaftlich untersucht, folglich einer rationalen Betrachtung unterzogen werden. Der überwiegende Teil des geprägten Musikgeschmacks fließt über alltägliche Redewendungen, Vorlieben, Vorurteile und Abneigungen aber unterschwellig und unbewusst in das Verhalten bezüglich Musik und Musikkonsum ein und transportiert, wie ausführlich zu zeigen sein wird, eine Fülle gesellschaftlicher Mechanismen, Strukturen und Funktionen. In welchem Verhältnis stehen diese Prämissen nun zur gewählten methodischen Vorgehensweise? Wertungen lassen sich als Handlungssituationen begreifen, in denen Werte – unabhängig vom Grad der bewussten Verarbeitung – zur Anwendung kommen. Dieser Blickpunkt bietet für die im Hauptteil folgenden Wertungsanalysen literarischer und ästhetischer Texte einen wichtigen Vorteil, da Wertungen keine zwingenden Aussagen über die Wahrheit oder Falschheit, sondern zunächst einfache Einschätzungen von Sachverhalten sind. Auch hierin lässt sich eine Abgrenzung zum Urteil festmachen, da dieses, „neben Aussage, Behauptung und Proposition zu denjenigen Gebilden [gehört], die nach traditioneller Auffassung wahr oder falsch sein können und damit Träger von Wahrheitswerten sind.“28 In besonderem Maße gilt dies für ästhetische Urteile, mit denen Einschätzungen über den Sinn, die Qualität und den Stellenwert von Kunst getroffen werden. Gerade das ästhetische Urteil erhebt „Anspruch auf Geltung über die bloße Subjektivität eines Sinneseindrucks hinaus, als ästhetisches Urteil wirft es die Frage nach der Möglichkeit der Begründung dieses Geltungsanspruchs auf. Ästhetische Kritik ist qua ästhetischem Urteil immer auch Prüfung und Rechtfertigung ihrer selbst.“29 Aber gerade dies ist weder der Anspruch noch die Absicht der Wertungsanalysen in dieser Untersuchung. Das hier angestrebte Erkenntnisziel ist nicht die Überprüfung, ob die über Musik getroffenen Aussagen wahr oder falsch sind, ob sie absichtsvoll getroffen oder unreflektiert auf andere Diskurse, Autoren oder Meinungen verweisen, sondern wie diese Aussagen strukturiert sind, manns Neuordnung von Wert und Sinn, in: derselbe (Hg.), Deutsche Philosophen 1933, ArgumentSonderband, Hamburg 1989. 28 G. Gabriels und R. Ogoreks Abschnitt des Artikels Urteil, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Sp. 436. 29 Vgl. F. A. Kurbacher-Schönborn, Artikel Ästhetisches Urteil, in: ebenda, Sp. 462. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 24 Konturen welche Wirkung sie entfalten können und mit welchen Mechanismen sie vermittelt werden.30 Bei der Analyse von Wertungen ist noch etwas anderes zu bedenken. Eine solche Vorgehensweise, Wertungen zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, trägt die Schwierigkeit in sich, unvermeidlich selbst Wertungen zu produzieren. Dies beginnt mit der Auswahl des Themas und des verwendeten Materials, unabhängig davon, wie objektiv und idealtypisch die Zielsetzung auch angelegt sein mag.31 Auch die analysierten Wertungen sind in einem Text nicht per se als solche gekennzeichnet, sondern erscheinen demjenigen, der die Untersuchung vornimmt, besonders aussagekräftig für eine genauere Betrachtung. Diese Problematik ist methodisch aber kein unüberwindliches Hindernis. Denn die dabei berührten Kernfragen zum wissenschaftlichen Umgang mit Wertungen waren bereits ausführlich Gegenstand im maßgeblich von Max Weber geführten Werturteilsstreit.32 Der von Weber postulierte Anspruch einer größtmöglichen Objektivität und methodischen Transparenz der eigenen Arbeitsweise bietet sich deshalb als Maßstab und Leitlinie für diese Studie an.33 Bei seiner Feststellung, „in welchem Sinn die Wertung, die der Einzelne zugrunde legt, eben nicht als ‚Tatsache‘ hingenommen, sondern zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Kritik gemacht werden könne“34, setzt diese Arbeit zu Wertungen über Musik an. 30 Vgl. hierzu auch den folgenden Abschnitt Faktizität und Fiktionalität. 31 Vgl. zur Spannung zwischen der Unvermeidlichkeit tatsächlich vorgenommener Wertungen und dem Anspruch auf objektives wissenschaftliches Denken und Handeln: Gunnar Myrdal, Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft, Bonn 1958, S. 152f.: „Der Eifer, mit dem man Wertungen beiseite zu drängen versucht, wurzelt im Rationalismus unserer westlichen Kultur. Sogar der Mann [...] will ‚objektiv‘ sein und jede Willkür meiden. Deshalb schafft er ‚Gründe‘ für seine Wünsche herbei, und er versucht, die Gründe als rein ‚sachliche‘ einzukleiden, so daß sie für jeden ‚einsichtigen‘ Menschen akzeptabel sind. Mit anderen Worten: Er will seine Wertungen als Wertungen verdrängen und sie statt dessen als die Ergebnisse einer rationalen Wirklichkeitsbetrachtung präsentieren.“ 32 Vgl. Max Weber, Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften [1917], in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, sowie ausführlich Heino Heinrich Nau, Der Werturteilsstreit. Die Äußerungen zur Werturteilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik (1913), Marburg 1996, S. 42: „Wir nehmen [...] immer schon in konkreter Weise subjektiv Stellung und verbinden die Kriterien unserer Stellungnahme zu einem Sollen, d.h. wir fällen Werturteile. Um mit Schmoller und Brentano zu sprechen, wir sind immer selbst ein Teil des Problems, welches wir untersuchen und erkennen wollen.“ Vgl. auch Gerhard Zecha, Der Wertbegriff und das Wertfreiheitspostulat, in: derselbe (Hg.), Werte in den Wissenschaften. 100 Jahre nach Max Weber, Tübingen 2006, S. 109. 33 Max Weber selbst erhob die „höchst triviale Forderung, daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des ‚wertenden‘ Verhaltens der von ihm untersuchten Menschen) und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen (einschließlich etwaiger zum Objekt einer Untersuchung gemachten ‚Wertungen‘ von handelnden Menschen) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, Stellungnahme auseinanderhalten solle, weil es sich dann einmal um heterogene Probleme handelt.“ Max Weber, in: Nau, Der Werturteilsstreit, S. 159. Vgl. auch Max Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904], in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 209f.: „Der Terminus Wert, ‚jenes Schmerzenskind‘ unserer Disziplin, welchem eben nur idealtypisch irgendein eindeutiger Sinn gegeben werden kann.“ Vgl. weiterführend René König, Einige Überlegungen zur Frage der ‚Werturteilsfreiheit‘ bei Max Weber, in: Werturteilsstreit, hg. von Hans Albert und Ernst Topitsch, Darmstadt 1979, S. 151f. 34 Weber, in: Nau, Der Werturteilsstreit, S. 160; vgl. auch Myrdal, Objektivität in der Sozialforschung, S. 59: „Die einzige Möglichkeit, durch theoretische Analyse ‚Objektivität‘ zu erreichen, ist, die Wertungen ans Licht zu bringen, ihnen Bewußtheit, spezifischen Charakter und verbale Genauigkeit zu verleihen und sie bestimmend an der theoretischen Forschung teilhaben zu lassen.“ © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Faktizität und Fiktionalität 25 Faktizität und Fiktionalität Die Auseinandersetzung mit Fakten und Fiktionen ist für Künstler von jeher eine reizvolle Angelegenheit und zugleich Ausgangspunkt für Verbindungen zur Lebenswelt bzw. zur Abgrenzung von dieser. Der Grad der Balance zwischen fiktionalen und faktischen Anteilen der künstlerischen Arbeit führte dabei in verschiedenen Zeiten zu ästhetischen Debatten, ob bestimmte Werke als Kunst zu bewerten wären. Mit Blick auf die Kompositionsgeschichte wurde diese Balance beispielweise in der Debatte um engagierte und dokumentarische Musik erörtert.35 Eine solche Gegenüberstellung von Faktizität und Fiktionalität zeigt an den vielen Spielarten von Realismus in den einzelnen Kunstsparten sowie den differierenden politischen Systemen unterschiedliche Ergebnisse. Besonders am fächerübergreifenden sozialistischen Realismus wird aber augenscheinlich, dass die Unabhängigkeit künstlerischer Konzepte eben keine rein ästhetische Fragestellung ist. Vielmehr fungiert der in vielen Fällen bis zur Ideologie gesteigerte Status von Fiktionalität und Faktizität als eine wesentliche Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft, was ihn zu einem zentralen Gegenstand der Beschäftigung mit Wertungsphänomenen macht. Gerade in der Bewertung von künstlerischen Dokumentations- und Reflexionsformen von Realität gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Denn die Wirkung einer Wertung wird immer auch davon bestimmt, vom wem sie mit welchen Konnotationen in welchem Zusammenhang wie ausgesprochen wird. Fakten und Fiktionen haben unterschiedliche gesellschaftliche Orte, Funktionen und Absichten und hängen in ihrer Wirkung, ihrer Bewertung und ihrem Stellenwert stark vom Kontext ab, in dem sie beobachtet und verwendet werden. Unser Alltag fußt auf Fakten und Faktenwissen und wird von Normen und Regeln strukturiert, die auf der Auslegung von Fakten aufbauen und zugleich auf andere Fakten reagieren. Fakten sind gegenständlich und real, idealtypisch sachlich überprüfbar und prinzipiell – auszunehmen ist höhere Gewalt durch Unfälle oder Naturkatastrophen – kontrollier- und beeinflussbar. Die Möglichkeiten zur Einflussnahme können zwar beschränkt sein, nicht zuletzt bildet aber das Wissen oder Nichtwissen von Fakten einen Schlüssel zu Macht und Einfluss.36 Prinzipiell sind Fakten – als Ergebnis von Prozessen, als neue Stufe einer Entwicklung – Ausdruck menschlichen Handelns und Wirkens. Auch Fiktionalität ist abhängig vom Kontext und Gegenstand der Betrachtung. Joachim Zelter fasst hierfür drei wesentliche Merkmale zusammen: 35 Vgl. zur Übersicht Otto Kolleritsch (Hg.), Musik zwischen Engagement und Kunst, Graz 1972. 36 Vgl. zum Zusammenhang von Wissen und Macht beispielsweise Philipp Blom, Encyclopédie. The Triumph of Reason in an Unreasonable Age, London und New York 2004, S. XIV; Karsten Weber, Technikregime und (Gegen-)Information – Warum es nicht ausreicht, die ‚richtige‘ Architektur zu haben, in: derselbe, Michael Nagenborg und Helmut F. Spinner (Hg.), Wissensarten, Wissensordnungen, Wissensregime. Beiträge zum Karlsruher Ansatz der integrierten Wissensforschung, Opladen 2002; vgl. die zahlreichen Zusammenhänge von Macht und Wertungen über Musik in den Unterkapiteln Komponisten als literarische Vorlagen (S. 36), Auf- und Abwertungen (S. 84), Klischees (S. 124f.), Verbreitungsstrukturen (S. 127), Kritikeransichten (S. 140, 142 und 146f.), Geschlechtsspezifische Ungleichheiten (S. 171, 185, 187ff.), Ausdrucksbilder (S. 219), Konventionen (S. 243f.), Verhaltensnormen (S. 249ff. und 254), Mitteilungen (S. 265), Individuum, Gruppe, Kollektiv (S. 286f., 289ff. und 294), Kulturelle Positionierung (S. 295) sowie im Kapitel Akkumulat (S. 342). © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 26 Konturen 1. Fiktion ist einmal der Oberbegriff für Vorstellungsgebilde, Aussagen oder Kennzeichnungen ohne Wirklichkeitsreferenz oder Wirklichkeitsübereinstimmung. Damit einher gehen Wertzuschreibungen wie die Lüge, die Täuschung, die Einbildung, das falsche Bewußtsein oder das gezierte und gekünstelte Gehabe eitler Menschen. 2. Fiktion bzw. fiction wird als – im angelsächsischen Raum geläufige – Kennzeichnung für literarische Texte verwendet, die von der sogenannten non-fiction, d.h. den Sachtexten mit Wirklichkeitsanspruch, antithetisch abgegrenzt werden. 3. Hinzu kommt die Fiktion als wissenschaftliche Methode, als hilfreicher „Durchgangspunkt des Denkens“ oder als „legitimierter Irrtum“ im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß.37 Hervorzuheben ist zunächst der erste Punkt, dass Irrealem und Fiktionalem, als hypothetische, erdachte Möglichkeit innerhalb eines gesetzten diskursiven Rahmens, ein zweifelhafter Beigeschmack anhaften kann. In Bereichen von Recht, Philosophie, Politik und Morallehre kann das absichtlich Erdachte, das sich nicht auf reale Gegenstände oder Bezüge zurückführen lässt, Eigenschaften der Täuschung, der Lüge und der Ideologie annehmen. Wenn Fakten zuvor als eine Grundlage von sinnstiftender Kommunikation geschildert wurden, an deren Status als abgesicherte, verlässliche Informationen bestimmte Entscheidungen geknüpft werden, wären Fiktionen demzufolge bewusst eingesetzte, falsche, sprich fiktive Fakten mit der Absicht einer gezielten, möglicherweise propagandistischen Fehlinformation. Damit wird diese Sorte von Fiktionen – als vorgebliche, vorgetäuschte Faktizität – zur moralisch verwerflichen, mitunter justiziablen Tat.38 Vorsätzliche Täuschung und Lüge sind im Bereich von belletristischen und ästhetischen Texten, wie sie hier Gegenstand der Analyse sein werden, zwar keine bei einem Autor zunächst anzunehmenden Intentionen. In der Wahrnehmung und Bewertung von Informationen, die in Texten transportiert werden, lassen sie sich dennoch nie ganz ausblenden, da die beiden Pole von Autor und Leser über unterschiedliche Wissens- und Meinungsbereiche verbunden und zugleich abgegrenzt sind. Wenn man sich nun die Frage stellt, was die Untersuchung von Wertungen in Texten aus der Diskussion von Fiktionalität und Faktizität gewinnen kann, wird man zunächst darauf zurückverwiesen, dass die Einschätzung, was ein Faktum und was eine Fiktion ist, in letzter Instanz von individuellen Wertungs- und Entscheidungsprozessen abhängt und 37 Joachim Zelter, Sinnhafte Fiktion und Wahrheit. Untersuchungen zur ästhetischen und epistemologischen Problematik des Fiktionsbegriffs im Kontext europäischer Ideen- und englischer Literaturgeschichte, Tübingen 1994, S. 16. 38 Als Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit wären zwei aufgedeckte Fälschungen zu nennen, die für einigen medialen Aufruhr mit juristischen Konsequenzen sorgten: Zum einen die vermeintlichen Tagebücher Adolf Hitlers, über die das Hamburger Magazin Stern exklusiv berichtete und die ihrem Verfasser Konrad Kujau eine mehrjährige Haftstrafe einbrachten. Zum anderen wäre der Fall von Binjamin Wilkomirskis Holocaust-Biografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt am Main 1995) zu nennen, die vom Schweizer Journalisten Daniel Ganzfried als Fälschung entlarvt und ihr Verfasser Wilkomirski als Pseudonym des Schweizers Bruno Dösseker enttarnt wurde. Vgl. auch den Artikel Spoof articles im New Grove Dictionary of Music and Musicians (London 2001) zu fingierten und erfundenen Musikerbiografien in musikwissenschaftlichen Lexika. Vgl. zu Wilkomirski im Zusammenhang von fingierten Holocaust-Erinnerungen Gertrud Koch, Affekt oder Effekt. Was haben Bilder, was Worte nicht haben?, in: Welzer, Das soziale Gedächtnis; vgl. allgemein zur Thematik auch Federico Di Trocchio, Der große Schwindel. Betrug und Fälschung in der Wissenschaft, Frankfurt und New York 21995. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Faktizität und Fiktionalität 27 eine deutliche Grenze zwischen fiktionalen und faktischen Textinhalten nicht immer klar zu erkennen ist.39 So ist es einerseits gängige Praxis und keine Schande für Autor und Leser, wenn aufgrund neuer Forschungsergebnisse ältere Annahmen – mögen sie auch unter noch so redlichen, werturteilsfreien Bedingungen formuliert worden sein – korrekturbedürftig werden und daher als Faktengrundlage von Wissenszusammenhängen zu relativieren sind. Andererseits wird gerade in wissenschaftlichen Kreisen eine als absichtsvoll nachgewiesene, fehler- und lückenhafte Darstellung von Ereignissen und Gegenständen scharf verurteilt.40 Vielleicht könnte eine trennscharfe Unterscheidung von Faktum, Interpretation und Fiktion bisweilen auch ungeeignet und irreführend sein. Möglicherweise, und dies wäre als Arbeitshypothese festzuhalten, sind Faktizität und Fiktionalität keine notwendigen Gegensätzlichkeiten, sondern vielmehr zwei Seiten einer Medaille, die unter bestimmten Umständen verschmelzen, abhängig von Absicht, Thematik, Methodik, Geschick und Zielgruppe des Autors. In diesem Sinne argumentiert etwa Wolfgang Iser bezüglich künstlerischer Textarten: Das Oppositionsverhältnis von Fiktion und Wirklichkeit würde die Diskussion des Fiktiven im Text um seine entscheidende Dimension verkürzen, denn offensichtlich gibt es im fiktionalen Text sehr viel Realität, die nicht nur eine solche identifizierbarer sozialer Wirklichkeit sein muß, sondern ebenso eine solche der Gefühle und Empfindungen sein kann. Diese gewiß unterschiedlichen Realitäten sind ihrerseits keine Fiktionen, und sie werden auch nicht zu solchen, nur weil sie in die Darstellung fiktionaler Texte eingehen.41 Die Überschneidung von Fakten und Fiktionen in Texten impliziert eine Überlagerung von Lebenswelt und Kunstdiskurs: Ausgedachte Themen spannen einen Rahmen fiktionaler Realität auf, innerhalb dessen bestimmte Entwicklungen möglich sein können (ob in der Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft), damit Handlung und Personen verstanden, eingeordnet und in die eigene Vorstellungswirklichkeit integriert werden können. In dem Augenblick nun, wenn Erdachtes bspw. in Form eines Textes in die Gesellschaft entlassen, dort als Möglichkeit der Deutung von Realität anerkannt und damit als poten39 Vgl. Maria E. Reicher, Einleitung, in: dieselbe (Hg.), Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Paderborn 2007, S. 8; Dieter Borchmeyer, Verdi contra Wagner. Franz Werfels Roman der Oper, in: Gabriele Brandstetter (Hg.), Ton – Sprache. Komponisten in der deutschen Literatur, Bern, Stuttgart und Wien 1995, S. 130: „Diese geniale Romanidee Werfels ist so suggestiv, daß es schwer fällt, sich von ihr bei der Betrachtung der wirklichen Biographie Verdis zu lösen – zumal alle Details seiner Vita wie derjenigen Wagners derart akribisch recherchiert sind, daß auch das frei Erfundene wie ein verbürgtes Faktum wirkt.“ Die Literaturwissenschaftlerin Jutta Müller-Tamm argumentiert ähnlich mit umgekehrtem Blickwinkel (bezüglich der Fiktionalität von Faktischem): Der Gegensatz von objektivitätsverpflichteter Wissenschaft und Fiktion sei nicht mehr uneingeschränkt haltbar, wodurch Wissenschaft und Literatur gleichwertige Diskursformen annehmen können. Vgl. Kunst als Gipfel der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1993. Vgl. als Beispiel, dass Fiktionalität auch zur Chiffrierung verfänglicher und geheimer Inhalte dienen kann, Gertrud Maria Rösch, Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur, Tübingen 2004. 40 Man erinnere sich des koreanischen Klonforschers Hwang Woo Suk, der vor wenigen Jahren der Manipulation von Forschungsergebnissen überführt wurde und damit weltweites Aufsehen innerhalb und außerhalb seiner Zunft erregte. 41 Wolfgang Iser, Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?, in: Dieter Henrich und Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven, München 1983, S. 122. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 28 Konturen zielle Spielart in diese Realität eingegliedert wird, kann Fiktionales Gegenstand und Faktum sein und als Maßstab, Beispiel und Vorbild eingesetzt werden. In diesem Sinn lassen sich Romanfiguren wie Don Quijote heranziehen, um menschliche Handlungen und reale Personen als Typus zu charakterisieren.42 Denn es ist unerheblich, ob diese referenzielle Romanfigur je gelebt hat. Es reicht aus, wenn genügend Menschen dieses Beispiel kennen, um die Anspielung auf die implizierten Wesenszüge und Charaktereingeschaften zu verstehen. Hierbei zeigt sich, dass es Gattungen und Genres gibt, in denen Fiktionalität nicht nur möglich und gestattet ist, sondern essenzieller Bestandteil der gesamten Konzeption. Dies führt in den von Joachim Zelter erwähnten Bereich des Vergnügens an Kunst. Die Wertschätzung von gelungenen Fiktionen hängt dabei auch von der Raffinesse und Geschicklichkeit ab, mit denen Fiktionalität geschaffen und vermittelt wird. Die gesellschaftlichen Hintergründe und Mechanismen, die in Fiktionen wirksam sind, rufen in Texten – abhängig vom Grad und der Präsenz der Fiktionalität – Interesse hervor und ermöglichen es, die literarisch verhandelten Zusammenhänge in die eigene Realität zu integrieren. Diese Wirkung ist unabhängig davon, ob und wie viele der fiktionalen oder faktischen Zusammenhänge erkannt und wie diese bewertet werden. Wichtig im Sinne der objektiv bestimmbaren Abhängigkeit von Ursache und Wirkung ist allein die Möglichkeit der Beeinflussung durch dieses Wissen, nicht der Grad oder die Qualität des Einflusses.43 Bei wissenschaftlichen Texten liegen die Maßstäbe und normativen Anforderungen, sich im Akt der Darstellung streng an die Fakten zu halten, anders und höher als in fiktionalen Zusammenhängen. Besonders interessant ist aber, wie fiktionale Darstellungen aufgrund ihrer üblicherweise viel größeren Verbreitung mit faktischer Kraft auf die Wissenschaft zurückwirken können. Die Experten müssen sich in solchen Fällen mit von außen gesetzten und an sie herangetragenen Meinungen auseinandersetzen, die für historische Fakten gehalten werden, anstatt dass die Fachleute die Deutungshoheit beanspruchen könnten. In diesem Sinne liegt Fiktionalem oftmals Faktisches zugrunde. Beispielsweise kann ein Film von historischen Begebenheiten ausgehen, diese mit künstlerischen Mitteln umdeuten und in Richtungen fortschreiben, die nicht den ursprünglichen, realen Bedingungen 42 Georg Lukács widmete Cervantes’ Roman (als Parodie mittelalterlicher Ritterromane und der Titelfigur des Don Quijote als gebrochenem Heldentypus) einen ausführlichen Abschnitt seiner Theorie des Romans [1916], Darmstadt und Neuwied 51979. Andreas Dörner und Ludgera Vogt vergleichen in ihrer Übersicht zur Literatursoziologie die Bedeutungen, die Max Weber und Georg Lukács der Bildung von Idealtypen bzw. literarischen Typen als Objektivierung bzw. Personifizierung gesellschaftlicher Bedingungen zumaßen. Andreas Dörner und Ludgera Vogt, Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur, Opladen 1994, S. 23f. Vgl. auch Kuzmics und Mozetič, Literatur als Soziologie, S. 28: „Bei der Suche nach gelegentlichen Verweisen auf Belletristik wird man in der neueren Soziologie relativ schnell fündig werden. Insbesondere im Rahmen von Interaktionsanalysen bietet sich eine ‚Garnierung‘ mit literarischen Zitaten an, die etwas soziologisch bereits Erkanntes veranschaulichen sollen, etwa durch die besonders prägnante Beschreibung eines Verhaltensmusters oder eines Rollenkonflikts.“ Vgl. Tom Sawyer als paralleles Beispiel bei Kendall L. Walton, Furcht vor Fiktionen, in: Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit, S. 95. 43 Vgl. hierzu auch Fricke, Norm und Abweichung, S. 195: „Man wird [...] sagen müssen, daß es dem literarischen Werk nicht wesentlich ist, gelesen zu werden – sondern nur, gelesen werden zu können. Das Wesentliche des Werks besteht in dem, was den Leseerlebnissen aller potentiellen Rezipienten gemeinsam ist und worüber sie sich verständigen können. Die Objektivität des literarischen Kunstwerks besteht in der Intersubjektivität möglichen Redens darüber.“ © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Faktizität und Fiktionalität 29 entsprechen. In solchen Fällen lässt sich sowohl über das ästhetische Gelingen der fiktionalen Ausdeutung streiten, als auch über die Richtigkeit oder Wahrheit der Ausführung.44 Als Beispiel kann Milos Formans Amadeus-Film von 1985 dienen, der mit seiner Fiktionalität das Mozartbild vieler Menschen ungeachtet aller wissenschaftlichen Einwände bis heute prägt. Die Folgen solcher faktisch wirkenden Fiktionen können so weit reichen, dass andere, etwa wissenschaftlich verifizierte Informationen möglicherweise wie Fiktionen wirken. Bezogen auf Formans Film betrifft dies die Dramatisierung von Mozarts Begräbnis oder dessen Beziehung zu Salieri. Die Frage nach der Richtigkeit oder Falschheit der vermittelten Eindrücke ist daher in diesem Fall eigentlich falsch gestellt, da die subjektive Überzeugung der Rezipienten vor allem auch davon abhängt, aus welchen Quellen sich der Stand des Wissens über Mozarts Leben und Werk als erstes speiste und wie hoch die Bereitschaft ist, die eigenen Ansichten an kontrastierenden Sichtweisen zu überprüfen (falls eine solche Gelegenheit eintritt). Dies bedeutet keineswegs, dass entsprechende Meinungen nicht wandelbar sind, sondern dient allein der Veranschaulichung, dass Faktisches nicht ohne Weiteres von Fiktivem zu unterscheiden ist. Im Anschluss an diese Überlegungen ist auf die Hypothese der Überlagerung von Faktizität und Fiktionalität zurückzukommen, womit sich das dabei implizierte terminologische Verständnis gegen literaturwissenschaftliche und philosophische Konzepte einer oppositionellen Begrifflichkeit von Wahrheit oder Lüge abgrenzt.45 Denn entsprechend der im vorherigen Abschnitt entwickelten Methodik der Wertungsanalysen steht nicht die Stimmigkeit der Fiktionen im Sinne von richtig oder falsch, von zutreffend oder täuschend zur Diskussion. Vielmehr sollen auch hierbei die gesellschaftlichen Hintergründe und Mechanismen, die in Fiktionen wirksam sind, Gegenstand sein. Denn diese Hintergründe und Mechanismen in Texten – unabhängig vom Grad ihrer Fiktionalität – rufen Interesse hervor und ermöglichen es, die in den Texten verhandelten Zusammenhänge in die eigene Realität zu integrieren, unabhängig davon, ob und wie viele der fiktionalen oder faktischen Zusammenhänge erkannt und wie diese bewertet werden. Wichtig ist allein die Möglichkeit der Beeinflussung durch dieses Wissen, nicht der Grad oder die Qualität des Einflusses. 44 In strittigen Fällen, wie der Dresdner Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Webern aus dem Jahr 2004, in der das Erschießen der Fernsehmoderatorin Sabine Christiansen diskutiert wurde, kann künstlerische Fiktion auch Gegenstand juristischer Streitigkeiten werden, als Christiansens Persönlichkeitsrechte gegen die Freiheit der Kunst abgewogen wurden und das Landesgericht Dresden ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abwies. Vgl. auch Riethmüllers Bemerkung zur nachhaltigen Rezeptionsverschiebung von Beethovens Neunter Sinfonie durch Stanley Kubricks Assoziation des Werkes mit Gewalttätigkeit in seinem Film A Clockwork Orange, in: Nach wie vor: Beethoven als Chauvinist, in: Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven, hg. von Cornelia Bartsch, Beatrix Borchard und Rainer Cadenbach, Bonn 2003, S. 105. 45 „Betrachtet man die historische Genese eines Fiktionsbewußtseins, so wird zweierlei deutlich. Mit dem Aufkommen eines solchen Bewußtseins koinzidiert zugleich eine zunehmende Differenzierung zwischen dem vorgeblich Wahren oder Wirklichen einerseits, dem Irrealen oder Illusionären andererseits. Die Geschichte des Fiktionsbewußtseins ist aufs engste mit der Herausbildung eines Wahrheitsbewußtseins verknüpft, wobei sich dieser Differenzierungsvorgang schnell zu der antithetischen Wertopposition von Wahrheit versus Fiktion verfestigte.“ Zelter, Sinnhafte Fiktion und Wahrheit, S. 17. Vgl. auch den historischen Abriss der philosophischen, historischen und religiösen Wurzeln der Fiktion durch Hans Robert Jauß, Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität, in: Henrich und Iser (Hg), Funktionen des Fiktiven. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. 30 Konturen Texte sind, wie alle Formen von kodifizierter Sprache, Teil und Ausdruck der Gesellschaft, aus ihr entstammen sie und tragen ihre Spuren. Die Faktizität des Fiktionalen kann über den Autor mit den von ihm bewusst oder unbewusst verwendeten Wertungen Spuren beim Leser und damit in der Welt hinterlassen. In welcher Intensität dieser Prozess einer Beeinflussung stattfindet, wie viel der Wertungen aufgenommen und fortgetragen wird, ist abstrakt nicht zu klären und für den Mechanismus des Prozesses unerheblich. Denn es geht, pointiert gesagt, nicht um die Realität von Fiktionalität oder die Balance von Wahrem und Erdachtem, sondern allein um das mögliche Verstehen, speziell um das unbewusste Auffassen der Informationen als Fakten. Wie bereits gesagt, haben gedruckte Texte (und auch andere, abgeschlossene Formate wie Filme) mit ihren expliziten und impliziten Wertungen normative Kraft und maßstabgebendes Potenzial. Es lässt sich daher als zweite Prämisse festhalten, dass fiktive Texte als Quellenmaterial dienen können, um deren Inhalte als mögliche Fakten zu untersuchen. Teil dieser Prämisse ist die Annahme, dass fiktive Quellen nicht per se ein „falsches“ Bild liefern. Vielmehr liegt ihre Stärke in einer anderen Sicht- und Vorgehensweise. Dass sich dabei – in Anbindung an die erste Hypothese – reale und imaginierte Inhalte überschneiden und absichtlich überlagert werden, lässt sich an Romanen über Musik zeigen.46 Denn in den Wertungsmustern, mit denen über Musik, Musiker und musikalische Zusammenhänge geschrieben wird, tritt die Faktizität im Fiktionalen besonders deutlich als Konstruktion und Arrangement von Möglichem hervor. Das wesentliche Element von Romanen als Quellen ist nicht, dass das in ihnen Verhandelte als unverfälschtes Faktum belegt wäre, da einerseits die Verarbeitung von faktischem Material bereits Wertungsprozesse impliziert und andererseits nicht immer zweifelsfrei beim Lesen des Romans bestimmt werden kann, wo und wie die poetischen Eingriffe des Autors stattfanden. Dies lässt sich vom Leser nur überprüfen, wenn er Fachliteratur hinzuzieht oder mit den verhandelten Zusammenhängen ohnehin vertraut ist. Belletristische Texte werden mit ihrer Veröffentlichung zu gesellschaftlichen Objekten, die aufgrund ihres poetischen Charakters als eigenständige Kunstwerke unabhängig von ihrem Urheber kursieren und kein Wissen über den Autor erfordern, um in der abgeschlossenen Form ihrer Geschichte auf Leser zu wirken. Es ist eine individuelle Frage und abstrakt nicht zu beantworten, welches Vorwissen ein Leser über Musik besitzt, wenn er in Berührung mit solchen Texten gerät, wovon natürlich der Grad möglicher Beeinflussung abhängt. Wie diese Wirkung stattfindet, wie die ästhetische Erfahrung von Literatur mit Reflexionen von Wertungen über Musik zusammenhängt, ist gleichfalls abstrakt nicht zu bestimmen und bleibt daher in diesem Zusammenhang ebenfalls ausgeklammert. 46 Vgl. zur literarischen Gattung des Musikerromans Borchmeyer, Verdi contra Wagner, in: Brandstetter, Ton – Sprache, S. 129: „Werfels Verdi ist ein bedeutender intellektueller und wohl fast der einzige spezifisch musikologische Roman vor Thomas Manns Doktor Faustus. Musikerromane haben für uns heute nicht ganz zu Unrecht einen schalen Geschmack, da sie meist von musikalischem Dilettantismus zeugen, zumindest das Metier des Komponierens kaum je adäquat zur Darstellung bringen […]. Der dominierenden Geringschätzung dieser Gattung – mit Ausnahme des Doktor Faustus – und darüber hinaus auch des Genres der Romanbiographie ist Werfels Verdi doppelt zum Opfer gefallen.“ Vgl. auch Oswald Panagl, Der Künstlerroman als psychohygienisches Verfahren. Symphonie Pathétique von Klaus Mann, in: ebenda, S. 171; vgl. Ruth Müllers Auseinandersetzung mit Pfitzners Vorarbeiten zu seinem Palestrina-Libretto: Was der Künstler träumt. Hans Pfitzners Palestrina-Tagebuch, in: ebenda, S. 99. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Faktizität und Fiktionalität 31 Es stellt sich abschließend die Frage, welche Erkenntnisse aus der faktischen Wirkung wertender Beschreibungen von Musik innerhalb fiktionaler Konzepte zu gewinnen sind. Das analytische Material der Untersuchung findet sich in den Gemeinplätzen, mit denen musikalische Zusammenhänge skizziert werden. Diese werden in Romanen als unhinterfragte Gegenständlichkeit und allgemein bekannt vorausgesetzt, um sie nach dem Muster von Bausteinen und Versatzstücken immer wieder für die Beschreibungen musikalischer Elemente einsetzen zu können. Hier werden Fakten kombiniert, die vor allem dem allgemeinen Konsens der Entstehungszeit der Romane entstammen und daher als geeignet vorausgesetzt werden können, um ungegenständliche Zustände wie Gefühle und Emotionen von Figuren zu modellieren. Die Art und Weise, wie dies geschieht, zeigt die Funktionsfähigkeit solcher Muster und ihrer Relevanz in der gesellschaftlichen Kommunikation über Musik. Die unhinterfragte Gegenständlichkeit musikalischer Fakten kann aber nur funktionieren, wenn sich Autor und Leser auf dieser grundsätzlichen Ebene der Verständigung einig sind. Die Selbstverständlichkeit, dass ein Konsens eben nicht erläutert werden muss, um wirksam zu sein, wird dabei leicht übersehen. Dies führt zurück zum zentralen Ansatzpunkt, der Existenz dieser verbindenden Meinungen. Diese gilt es auf die dabei wirkenden Wertungsmuster hin aufzuschlüsseln. Was gewinnt man aus der Beschäftigung mit fiktionaler Musikgeschichte in Romanen? Vermutlich erfährt man weniger über historische Quellen und faktische, analysierbare Materialgrundlagen. Der Erkenntnisgewinn liegt vielmehr jenseits dieser Fakten, nämlich im besseren Verständnis, wie in einer bestimmten Zeit über Musik gedacht wurde. Dies ist bei musiknahen narrativen Medien wie etwa Presseberichten und Konzertrezensionen seit längerem üblich und methodisch etabliert, hierauf baut ein großer Teil der musikalischen Sozialgeschichte auf. Der Vorteil der fiktionalen Primärquellen liegt nun darin, bereits bekannte Motive und Denkmuster exemplarisch in eine Tiefe verfolgen zu können, die vorgeblichen Tatsachenberichten nicht zu eigen sind, da die Romane als bewusst fiktional ausgegebenes Format ganz andere Freiheiten und Imaginationen in Anspruch nehmen. Der wissenschaftliche Mehrwert einer Beschäftigung mit fiktionaler Musikgeschichte kann daher in der Ergänzung faktisch gesicherter, analytisch überprüfbarer Materialien durch poetische Versprachlichungen gesehen werden, die ahnen lassen, was in Köpfen vor sich geht, wenn Musik entsteht und gehört wird. Ob man diese Sichtweisen annimmt oder nicht, ist eine individuelle Entscheidung, die wir bei allen Arten von Informationen fällen müssen. Auch hier sind Fakten und Fiktionen nur durch Wissensspielräume geschieden, auf denen wir unsere Überzeugungen aufbauen. Da keinem Menschen das gesamte Wissen zur Verfügung steht, gelangt er immer wieder an den Punkt, sich auf der augenblicklichen Grundlage seiner Fähigkeiten und Erfahrungen entscheiden zu müssen. Erst rückblickend kann er neue Erfahrungen aus diesen Entscheidungen gewinnen und daraus lernen. Bereits mit der Interpretation von Fakten beginnt der Spielraum für unterschiedliche Sichtweisen. Eine analytische, methodisch abgesicherte Durchdringung von möglichst vielen, divergenten Quellenarten ist daher von Gewinn, wenn man besser verstehen möchte, wie und in welchem gesellschaftlichen und historischen Kontext Musik geschaffen, wahrgenommen und geschätzt wird. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Gegenstände Komponisten als literarische Vorlagen Als außergewöhnliche oder erstaunlich gewöhnliche Menschen sind Komponisten ein spannendes und beliebtes Thema für Romane. An der Literarisierung ihrer hochindividualisierten Psychologien reizt viele Autoren, sich dem geheimnisumwitterten Prozess anzunähern, wie Kunstwerke entstehen, um darin Aspekte von Kreativität und Begabung fassbar zu machen, die sich analytischen oder philologischen Darstellungen entziehen.47 Dies soll im Folgenden anhand von vier Schwerpunkten zu Attributen und situativen Kontexten von Komponistenbildern nachgezeichnet werden. Mit den beiden dafür ausgewählten Beispielen spannt sich zugleich ein Bogen von der Fiktionalisierung einer historisch realen Persönlichkeit (Arnold Schönberg während der Jahre um 1906 in Wien) zu einer fiktiven Gestalt während der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Formen von Anerkennung Die Vorstellung vom armen, verkannten Künstler, der wider alle irdischen Umstände nur für das eigene Werk lebt und höchstens von einem kleinen Kreis Gleichgesinnter umgeben wird, ist so beansprucht, dass man vielleicht einen Augenblick zögert, sie zu erwähnen oder argumentativ zu erschließen. Dennoch hat sich gerade dieses Klischee tief bei Musikliebhabern und Musikern, Kritikern und Wissenschaftlern eingeprägt. Es wurzelt primär in den gesellschaftspolitischen Folgen der Französischen Revolution, von denen vor allem das Bürgertum profitierte, und begleitet den Weg der Künstler von abhängigen Beschäftigten zu selbstständigen Unternehmern. Wurde die ökonomische und geistige Einsamkeit des Poeten im Verlauf des 19. Jahrhunderts – trotz und wegen ihres Realitätsgehalts – noch romantisch verklärt, wuchs sie mit der gesellschaftlichen Randständigkeit der neuen Musik noch weiter und wird von einigen zeitgenössischen Komponisten bis heute konserviert. Die ästhetischen Schriften 11 und 5 gehen auf dieses fragile Abhängigkeitsverhältnis des Komponisten von der Welt um ihn herum mit unterschiedlichen Akzentuierungen ein. Der ästhetische Text 11 setzt hierfür beim „Mythos des opferbereiten Komponisten“, der für das Wohl der Menschheit leidet, ein und zeichnet den Blick des Publikums an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nach: What the myth of the suffering, sacrificing artist did was enhance the new audience’s belief in the sincerity of the composer’s inspiration and in the seriousness and value of the works of art he created. And such beliefs at once encouraged listeners to attend devotedly to the music and fostered receptivity and a tendency to respond affectively.48 47 Vgl. Gabriele Brandstetter, Vorwort, in: dieselbe (Hg.), Ton – Sprache, S. 1: „Etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, beginnend mit den Schriften Jean Jacques Rousseaus und Denis Diderots zum Verhältnis von Sprache und Musik, erlangt die Gestalt des Komponisten als Schöpfer eines anderen, die Schriftsprache transzendierenden ästhetischen Systems zentrale Bedeutung für das Selbstverständnis der Literatur.“ Die Kreativität von Komponisten und der geheimnisvolle Vorgang des Komponierens wird an mehreren Stellen wieder zur Sprache kommen, vgl. besonders die Unterkapitel Klischees und Mitteilungen. 48 Ä 11, S. 182. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch. Komponisten als literarische Vorlagen 33 Der ästhetische Text 5 nimmt diese Veränderungen aus der Perspektive des Komponisten in den Blick: What seemed to matter most to composers was their freedom from worldly demands. Their romantic role willingly adopted, composers enjoyed describing themselves and each other as divinely inspired creators – even as God-like – whose sole task was to objectify in music something unique and personal and to express something transcendent.49 Mit den berühmten und z.T. sehr wohlhabenden Stars vor allem aus dem Bereich der Oper differenzierten sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Bilder, die man sich von Komponisten machte. Die Vorstellung vom armen, verkannten Genie, das für seine ästhetischen Überzeugungen soziale und wirtschaftliche Einschränkungen in Kauf nimmt, blieb konstant – als nötiges Gegenbeispiel mehr oder minder sichtbar – und verfestigte sich mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts. Als prototypisches Beispiel diente vielen die Zweite Wiener Schule mit ihrem Vordenker Arnold Schönberg, was sich an Passage aus Roman 24 belegen lässt: Ärmlich zu wohnen, damit hat sie keine Probleme. Denn verglichen mit ihrer Kindheit ist das hier prächtig. Fließend Wasser, eine Toilette, die sie nur mit ihrem Bruder teilen, der Wand an Wand mit ihnen wohnt; es ist ihr angenehm zu wissen, daß sie beim Putzen der Schüssel nur mit den Spuren von Menschen zu tun hat, die ihr vertraut sind. Und dann liegt die Wohnung [...] im neunten Wiener Bezirk. Und der hat einen guten Ruf, der entschieden romantischer ist, als es Treppenhäuser mit Schwamm in der Wand, morsche Parkettböden und Zinkbadewannen in dunklen Küchen sind. Wer im Alsergrund haust, hat kein Geld, aber Einfälle heißt es. Kein Renomee und keine Posten, aber gute Aussichten auf Nachruhm. Jedenfalls wohnen hier Maler, Psychoanalytiker, Musiker, Schriftsteller, Journalisten, Theaterleute und eben auch Komponisten wie Zemlinsky und Schönberg. Wie immer hält sich Mathilde Schönberg auch an diesem Nachmittag heraus aus seinem Zimmer, aus seinem Kreis. Daß die Besucher sie übersehen wie einen Einrichtungsgegenstand, wie einen Ofen, der Wärme zu spenden, aber nicht aufzufallen hat, das macht ihr längst nichts mehr aus. Denn sie erbringen dafür eine Gegenleistung: Sie machen ihren Mann erträglich.50 Die diversen sozialen, ästhetischen und professionellen Hierarchien dieses Ausschnitts sind noch um die Ebene erweitert, Armut und soziale Randständigkeit weiblich zu personifizieren: „gut, sie sei eben mit Schönberg verheiratet, und trotz des chronischen Geldmangels und der Skandale – oder vielleicht gerade deswegen – sei ja wohl abzusehen, 49 Vgl. für parallele Strukturen in der Literatur: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Band 2 Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reiches, Darmstadt 1985, S. 43: „[E.T.A.] Hoffmann, der von Novalis stark beeinflußt wurde, verfolgt in einer Reihe von Erzählungen das gleiche, schon bald zum Klischee erstarrte Schema, wonach der Künstler als neuer Heiliger nur tapfer den Versuchungen der Lebensrealität, besonders allen Anfällen von Heiratslust, zu widerstehen hat, um die Vollendung im Tempel der Kunst zu finden. Aber in seinen bedeutenderen Werken emanzipiert sich unter der Konstruktion einer ebenfalls alles umgreifenden Identität von ‚Natur‘ und ‚poetischem Geist‘ die konkrete Lebensrealität so entschieden, daß ein schmerzhafter Antagonismus von Poesie und Leben, von Phantasie und Wirklichkeit den Helden bis zur Schizophrenie treibt.“ 50 R 24, S. 11. © Waxmann Verlag GmbH. Nur für den privaten Gebrauch.