Der grosse Dirigent Hermann Scherchen (1891 bis 1966) stand dem VPOD sehr nahe „Es lebe der Mensch!“ Auch wenn er heute nicht so populär ist wie Furtwängler oder Karajan - Hermann Scherchen gehört zu den grossen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Mit der Arbeiterbewegung und ganz besonders mit dem VPOD war er eng verbunden. Von Christoph Schlatter. „Dadadadaa! Dadadadaa!“ Beethovens fünfte Sinfonie beginnt mit dem berühmten, rhythmisch prägnanten Motiv in c-Moll, düster und dramatisch, und endet mit dem strahlenden, weit ausholenden, heroischen Finalsatz in C-Dur. So war es auch am 24. Mai 1946, am ersten VPOD-Verbandstag nach dem Zweiten Weltkrieg, der mit diesem Werk eröffnet wurde. Es spielte das Radioorchester Beromünster unter der Leitung von Hermann Scherchen. Scherchen dirigierte nicht nur (wie immer „von Hand“, ohne Taktstock), er liess die Delegierten auch mündlich wissen, was Kunst vermag: „Sie sind heute zu einer Tat zusammengekommen, und Sie haben ihr das Kunstwerk vorangestellt. Aus welchem Grund? Das könnte sein zur Verschönerung der Tagung. Hoffentlich ist das der Fall. Es könnte auch sein als Ausdruck der Machtposition der Gewerkschaft. Sicher ist das der Fall. Beides wäre aber nicht neu: Ähnliches hat die bürgerliche Gesellschaft auch immer getan.“ Symbol für Menschlichkeit Er habe die Einladung aus einem anderen Grund angenommen, sagte Scherchen: „Weil für mich das Kunstwerk mehr bedeutet als nur Verschönerung und Ausdruck gesellschaftlicher Machtposition, nämlich gleichzeitig ein Symbol für die Überwindung der Naturmächte und ein Symbol für wahres menschliches, das heisst gesellschaftliches „Sein.“ Scherchen erklärte auch, warum gerade Beethovens Meisterwerk an einem Gewerkschaftskongress seinen Platz habe, erwähnte eine Stelle im vierten Satz, bei welcher anlässlich der Pariser Erstaufführung von 1828 ein alter Napoleongardist „Vive l'empereur!“ geschrien habe. Scherchens Kommentar: „Das war seine einzige Sinngebung. Ich hoffe, dass die 5. Symphonie bei dieser Stelle ihnen das sage, weswegen Sie hier zusammengekommen sind: „Es lebe der Mensch!“ Es lebe der Mensch: Scherchens eigene Biografie spiegelt die Brüche und Risse des 20. Jahrhunderts. Als Bratschist spielte sich der 1891 in Berlin Geborene via Kaffeehaus-Orchester zu den Philharmonikern, Wechselte dann aber - anlässlich einer Tournee mit Schoenbergs „Pierrot lunaire“ - aufs Pult. Damit hatte er seine Bestimmung gefunden, in zweierlei Hinsicht: als Dirigent und als Anwalt der neuen Musik. Als Kapellmeister wirkte er zunächst in Riga, wo er vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht und als feindlicher Ausländer interniert wurde. Er nutzte die Zeit fürs Russischlernen, zum Komponieren und für das Studium sozialistischer Literatur. Das fand seinen Niederschlag etwa darin, dass Hermann Scherchen den deutschen Text zu einem Lied schuf, das zu einem der berühmtesten der Arbeiterbewegung wurde „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit / Brüder, zum Lichte empor. / Hell aus dem dunklen Vergang'nen / leuchtet die Zukunft hervor.“ Opfer des Kalten Krieges Ab 1937 wohnte Scherchen in der Schweiz, wo er schon seit den 192oer Jahren das Stadtorchester Winterthur in eine neue Dimension gehoben hatte - in Deutschland hatte es für ihn als bekennenden Sozialisten ab 1933 definitiv keinen Platz mehr. 1945 wurde er Chefdirigent beim neu gegründeten Studio-Orchester Beromünster in Zürich; er war auch bei der Gründung dieses Orchesters eine wichtige Figur. Das Orchester Beromünster ging hervor aus dem Konflikt des Radioorchesters Zürich mit der Radiogenossenschaft, bei welchem das bisherige Ensemble in das Tonhalleorchester überführt wurde, was eine Neugründung erforderlich machte - ein Orchester für alle drei Radiogenossenschaften der Deutschschweiz. Beide Chefposten legte Scherchen 1950 nieder offenkundig nicht freiwillig. Im Nachruf in der VPOD-Zeitung schrieb Hans Oprecht 1966: „Leider wurde Hermann Scherchen sowohl in Winterthur als auch beim Orchester Beromünster ein „Opfer des Kalten Krieges. Denn er hat immer wieder gewagt, auch im Osten die dortigen bekannten Orchester - so in Prag und in Leipzig zu dirigieren.“ Seine Beschäftigung mit neuer Musik (er setzte sich ein für Luigi Nono und Hans Werner Henze, dirigierte Uraufführungen von Igor Strawinsky und Bela Bartok) gipfelte in der Uraufführung von wichtigen Werken der Moderne, etwa dem Violinkonzert von Alban Berg (1936) und Teilen aus Schoenbergs einziger Oper „Moses und Aron“ (1951: Der Tanz um das Goldene Kalb), die er dirigierte (ein Wiedersehen mit diesem selten gespielten, weil schwierig zu besetzenden und zu realisierenden Werk ist ab Mitte Mai im Opernhaus Zürich möglich). Die Nachkriegsjahre galten neben internationalen Konzertverpflichtungen der Tätigkeit im Schallplattenstudio. Zahlreiche bedeutende Einspielungen sind überliefert und werden nach und nach auf CD wieder veröffentlicht; dabei beschränkte sich sein Repertoire keineswegs auf die Moderne und Beethoven; Scherchen dirigierte auch Bach und Händel, Mozart und Brahms, Dvorak und Offenbach. Heutige Kritiker loben indes vor allem seinen „modernen“ Beethoven, der nichts vom schwer schnaufenden Pathos romantischer Tradition besass, sondern mehr oder weniger den originalen, schnellen Tempoangaben folgte. Oder sein Mozart-Requiem; laut ZeitRezension „ein Fall für die Ewigkeit“: „Das Tuba mirum hört man mit einem Kloss im Hals. Das Rex tremendae zwingt einen nieder. Im Recordare wird man von Scherchen mit allem Trost, der Musik zu eigen sein kann, wieder aufgerichtet.“ Stets dem Neuen zugewandt Der letzte Wohnsitz Scherchens war im Tessin: in Gravesano (in der Nähe von Lugano) hatte er ein Bauernhaus umgebaut, nicht nur zu Wohnzwecken, sondern auch als Tonstudio. Was er als international nunmehr sehr gefragter Dirigent verdiente, floss zu einem grossen Teil in elektroakustische Experimente, mit denen neue Wirkungsmöglichkeiten der Musik erkundet werden sollten. Auch die Gravesaner Blätter, die der Neuem stets zugewandte Musiker herausgab, waren der Komposition, der Umsetzung, Aufzeichnung und Vermittlung von Musik gewidmet. In der Nummer 1 ging es beispielsweise um die Krise der seriellen Musik, um einen Lautsprecher ohne Membrane, um sichtbar gemachte Musik und um die letzten Entwicklungen in der Fernsehtechnik. In Gravesano liegt Hermann Scherchen auch begraben; bei einem Konzert, das er in Florenz dirigierte, erlitt er 1966 eine Herzattacke, an der er wenig später, kurz vor seinem 75. Geburtstag, starb. VPOD-Bulletin, März 2011. Personen > Scherchen Hermann 1891-1966.doc.