Weit verbreitet, wenig erforscht

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WISSENSCHAFT
KAUFSUCHT/PATHOLOGISCHES KAUFEN
Weit verbreitet, wenig erforscht
Pathologisches Kaufen dient den Betroffenen meist zur kurzfristigen Kompensation
unangenehmer Emotionen. Längerfristig stabilisiert sich jedoch die
negative Verstimmung. Soziale und familiäre Konflikte sind programmiert.
K
onsumieren im Übermaß führt
in vielen Fällen zur Verschuldung. Eine Ursache für den Drang,
über seine Verhältnisse zu leben und
mehr zu kaufen, als man sich eigentlich leisten kann, ist pathologisches
Kaufverhalten. Das Spektrum typischen pathologischen Kaufverhaltens ist breit gestreut. So wird von
täglichen und episodischen Kaufattacken, vom Kauf ganz spezieller
und multiplen Käufen gleicher Waren, vom Kauf unnötiger und sinnloser Dinge sowie vom Kauf von Geschenken für andere Personen, vor
allem für nahe Bezugspersonen, sowie von Selbstgeschenken berichtet. Beschrieben werden auch das
Kaufen und anschließende Horten
der Waren, die Rückgabe des Kaufguts oder seine Weitergabe an andere Personen. Mitunter werden die
Waren gar nicht benötigt und nach
dem Kauf nicht ausgepackt oder
verwendet.
Schuld- und Schamgefühle
Da sich bald nach den Kaufexzessen Schuld- und Schamgefühle einstellen, werden die Einkäufe verheimlicht und die Waren versteckt,
verschenkt oder vergessen. Dies
zeigt, dass es beim pathologischen
Kaufen nicht primär um den Gebrauch oder Verbrauch von Produkten, Gütern oder Dienstleistungen
geht, sondern um die Kaufhandlung
selbst. Dabei scheint es einen Zusammenhang zwischen Geschlecht
und bestimmten Warengruppen zu
geben. So präferieren weibliche Betroffene beispielsweise Kleidung,
Schuhe, Schmuck, Kosmetik, Lebensmittel, Haushaltswaren und
-geräte und Bücher. Männer favorisieren hingegen moderne Technikartikel, Sportgeräte, Handwerkerutensilien, Kleingeräte, Autozubehör und Antiquitäten.
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Einer Kaufattacke gehen häufig
Stresssituationen und unangenehme
Erlebnisse, Gefühle oder Spannungszustände voraus. Um sie abzubauen
oder zu kompensieren, begeben sich
die Betroffenen in ein Geschäft oder
Warenhaus. Während des Einkaufens erleben sie Anerkennung, Zuwendung, Befriedigung und andere
positive Gefühle bis hin zu Euphorie und können auf diese Weise relativ schnell negative emotionale Zustände überbrücken. Kaufen wird
dabei als Belohnung erfahren und
fortan als positiver Verstärker erlebt. Die negativen Folgen, etwa
Schulden, werden hingegen erst
später erlebt und wirken damit nicht
unmittelbar bestrafend. Auf diese
Weise wird Kaufen zum Lebensmittelpunkt mit entsprechenden Konsequenzen. Fast immer führt es zu finanziellen Problemen bis hin zu
ausgeprägter Verschuldung. Bisweilen folgen Anzeigen wegen Betrugs
oder nicht bezahlter Rechnungen,
Strafverfahren und Gefängnisstrafen. Das Horten der Waren füllt
bald alle Schränke, den Keller und
Dachboden und macht wertvollen
Wohnraum unbenutzbar. Da die Betroffenen das unkontrollierte Kaufverhalten aus eigener Kraft nicht
stoppen können, sind familiäre und
soziale Konflikte programmiert. Betroffene und Angehörige stehen daher unter einem enormen Leidensdruck.
Als eine Ursache des pathologischen Kaufens werden Funktionsstörungen der frontalen Hirnregion
und eine verminderte Aktivität des
Serotonin- und Dopaminsystems diskutiert. Darüber hinaus spielen möglicherweise Lernprozesse eine Rolle,
die dazu führten, dass pathologisches Kaufverhalten unter bestimmten Bedingungen erworben, aufrechterhalten und modifiziert wird.
Als Verstärker wirken dabei Affekte
und Emotionen, die mit dem Aufbau
und der Reduktion von Anspannung, mit dem Reiz des Risikos, mit
Anerkennung und Selbstbestätigung
einhergehen. Damit scheint pathologisches Kaufen unter anderem der
Affektsteuerung zu dienen. Negative
Emotionen provozieren ein extremes
Kaufverhalten, welches kurzfristig
zur Verbesserung der Gefühlslage
führt. Längerfristig stabilisiert sich
jedoch die negative Verstimmung.
Wenig Behandlungsangebote
Eine Studie, die an der Universität
Sussex durchgeführt wurde, zeigte
außerdem, dass die Überbetonung
materieller Werte in Elternhaus und
Gesellschaft eine Rolle spielt. Laut
dieser Studie neigen vor allem solche Personen zu pathologischem
Kaufen, die Konsumgüter als Zeichen von Erfolg und als Schlüssel
zum Glück sehen. Gerade in Konsumgesellschaften hat das Kaufen
jedoch eine ganz zentrale Bedeutung. Rund um die Uhr werden die
Bürger zum Konsumieren animiert
und mit sozialer Anerkennung belohnt, weil Konsum zeigt: „Man
kann es sich leisten“ und „man hat
es zu etwas gebracht“. Erleichtert
wird das Konsumieren zusätzlich
durch moderne Zahlungssysteme,
Kunden- und Kreditkarten und
durch Kreditangebote. Sanktioniert
oder kritisch hinterfragt wird der
Konsum, auch wenn er übermäßig
ist, hingegen nur selten. Das hat zur
Folge, dass pathologisches Kaufen
vonseiten der Gesellschaft tabuisiert
oder nicht ernst genommen wird
und die Betroffenen nur wenig
Verständnis und Behandlungsangebote vorfinden. „Obwohl circa
sechs bis acht Prozent der Bevölkerung kaufsuchtgefährdet zu sein
scheinen, wird das Problem immer
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⏐ Heft 10⏐
⏐ Oktober 2007
Deutsches Ärzteblatt⏐
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noch übersehen oder bagatellisiert“,
sagen Dr. Astrid Müller und Prof.
Dr. Martina de Zwaan von der Universität Erlangen.
Pathologisches Kaufen tritt in der
Regel gleichzeitig mit anderen psychischen Störungen auf, vor allem
mit affektiven Störungen, Angststörungen, Substanzabhängigkeiten,
Essstörungen, Störungen der Impulskontrolle und Zwangsstörungen. Aufgrund der hohen Komorbidität muss diagnostisch stets abgeklärt werden, welche Störung primär und welche sekundär ist. Dies
stellt in der klinischen Praxis oft ein
Problem dar, denn eine eindeutige
Klassifikation des pathologischen
Kaufens ist bisher noch nicht gelungen. Folgende Einordnungen und
Krankheitsmodelle werden zurzeit
diskutiert:
> Impulskontrollstörung: Nach
der ICD-10 (F63.9) kann pathologisches Kaufen als „nicht näher bezeichnete abnorme Gewohnheit und
Störung der Impulskontrolle“ diagnostiziert werden. Diese Einordnung des pathologischen Kaufens
als Impulskontrollstörung setzt voraus, dass Impulskontrollstörungen
als eigenständige Störungsgruppe
anerkannt und nicht als Variationen
oder Subgruppen anderer Erkrankungen angesehen werden.
> Zwangsspektrum: Pathologisches Kaufen wird auch dem Spektrum der Zwangserkrankungen zugeordnet. Dafür spricht, dass die
Betroffenen einen unwiderstehlichen Drang zum Kaufen verspürten,
gleichzeitig aber einen Kontrollverlust erleben, da der Impuls stärker
ist als der eigene Wille. Darüber hinaus gibt es ähnliche Auffälligkeiten
in neurobiologischen Untersuchungen, und es sind ähnliche Therapien
wirksam. Dagegen spricht unter anderem, dass das Kaufen oft als lustvoll, nicht immer aber als unsinnig
erlebt wird.
> Affektives Spektrum: Für eine Einordnung des pathologischen
Kaufens in das Spektrum affektiver
Störungen sprechen die Symptomprovokation in depressiven Episoden, ein Verlauf parallel zu affektiven Störungen und die Wirksamkeit
antidepressiver Medikamente. Dagegen spricht, dass pathologisches
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Kaufen häufig auch ohne begleitende affektive Störung auftritt.
> Sucht: Immer wieder wird pathologisches Kaufen mit „Kaufsucht“ (Oniomanie) gleichgesetzt.
Dafür sprechen ein ähnlicher Verlauf
mit Kontrollverlust, die Unfähigkeit
zur Abstinenz, der Drang zur Dosissteigerung, die Verleugnung, die
Schilderung von psychischen Entzugssymptomen, wie zum Beispiel
Nervosität und Angstzuständen, das
Erleben von Euphorie und rauschähnlichen Zuständen sowie Komorbidität und familiäre Belastung mit
Suchterkrankungen. Dagegen ist aufzuführen, dass es sich beim Kaufen
um keine Substanz handelt und
keine physische Abhängigkeit besteht. Außerdem können Therapieerfolge auch durch eine Therapie
anderer Konflikte ohne Abstinenzgebot wie bei der Suchttherapie erzielt werden.
> Allgemeines Neurosenmodell
oder Symptommodell: Schließlich
besteht auch noch die Möglichkeit,
die Symptome als unspezifischen
Ausdruck einer neurotischen Konfliktverarbeitung zu sehen. Dafür
spricht, dass häufige Konflikte auf
verschiedenen Ebenen vorhanden
sind und eine Therapie durch die unspezifische Konzentration auf Konflikte möglich ist. Allerdings liefern
diese Modelle keine Erklärung für
spezifische Impulskontrollstörungen.
Die Art der Behandlung mit Psychotherapie beziehungsweise Pharmakotherapie hängt maßgeblich von
der gewählten Klassifikation ab. Da
die Klassifikationsmöglichkeiten einen großen Spielraum lassen, wurden bisher ganz unterschiedliche
Therapien angewandt, beispielsweise Psychotherapie, wobei unter anderem psychodynamische Ansätze und
Psychoanalyse, Elemente der Suchttherapie sowie kognitiv-behaviorale
Verfahren eingesetzt wurden. Zu den
zentralen verhaltenstherapeutischen
Interventionen zählen graduierte Exposition mit Reaktionsverhinderung,
Erlernen von Selbstkontrolltechniken und Stimuluskontrolle sowie
Techniken der kognitiven Umstrukturierung. Der bisherige Forschungsstand lässt allerdings noch keine fundierten Schlüsse über die Wirksamkeit einzelner Psychotherapieverfah-
ren zu. Auch medikamentöse Behandlungen wurden durchgeführt,
wobei sich Erfolge mit Opiat-Antagonisten und Antidepressiva zeigten, vor allem mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern. Diese konnten in kontrollierten Studien
jedoch bisher nicht bestätigt werden.
Zurzeit kann daher weder eine psychotherapeutische oder medikamentöse Behandlung noch eine Kombination aus beiden als Methode der
ersten Wahl eingestuft werden. Aus
diesem Grund werden auch keine
spezifischen Therapiekonzepte angeboten. Die Betroffenen sind daher
gezwungen, verschiedene Behandlungen auszuprobieren. Unterstützung finden sie unter anderem in
Selbsthilfegruppen und durch Selbsthilferatgeber.
I
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
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Kontakt:
Dipl.-Psych. Dr. med. Astrid Müller, Abteilung für
Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Erlangen, Schwabachanlage 6, 91054
Erlangen, E-Mail: [email protected]
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