essa y N R. 1 • 2 0 1 1 10 E S S ay Die deutschen Wegbereiter der modernen Forschungsuniversität 1 Professor Walter Rüegg, Jahrgang 1918, ist emeritierter Ordinarius für Die von der Französischen Revolution und den Eroberungen Napoleons ausgelösten politischen Erdbeben verwandelten die europäische Universitätslandschaft in ein Ruinenfeld. 1789 gab es in Europa 143 Universitäten, 1815 nur noch 83. Die 24 französischen Universitäten waren aufgelöst und durch Spezialhochschulen und selbstständige Fakultäten ersetzt worden. 18 der 34 deutschen Universitäten waren verschwunden, und in Spanien blieben ganze zehn von den 25 übrig. Nach fünfzehn Neugründungen zählte Europa um 1840 also 98 Universitäten mit rund 80.000 Studenten und 5.000 Professoren. Hundert Jahre später unterrichteten an rund 200 Universitäten mehr als sechsmal so viele, nämlich 32.000 Professoren, es studierten 600.000, somit rund 650 Prozent mehr Studierende. Soziologie an der Universität Bern. Rüegg veröffentlichte zahlreiche Werke zur europäischen Bildungsgeschichte, -soziologie und -politik. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählt die im Verlag C.H. Beck erschienene vierbändige Reihe zur „Geschichte der Universität in Eu­ ropa“. Der vierte Band wurde am 20. Januar im Center for Advanced Studies (CAS) der LMU vorgestellt. In seinem Essay zeichnet Rüegg die Diese Expansion ist erstaunlich. Denn die Ablösung der Universitäten durch Spezialhochschulen entsprach dem Trend der Aufklärung, die Hochschulen auf die Vermittlung praktischer Kenntnisse und eine nützliche Berufsausbildung auszurichten. So kamen bis 1939 zu den 200 Universitäten etwa 300 militärische, polytechnische, human- und veterinärmedizinische oder land- und forstwirtschaftliche Hochschulen hinzu. Doch ersetzten sie die Universitäten nicht und wiesen eine vergleichsweise kleine Zahl von Studierenden auf. Genese der modernen Forschungsuniversität in Europa nach. In Frankreich wurden 1895 die Universitäten wieder errichtet. Die neuen Nationalstaaten gründeten in erster Linie Universitäten, was dem Begriff der Universität als europäischer Institution par excellence erst seine volle Bedeutung gab. Außerhalb Frankreichs erhielten die Spezialhochschulen in den Ländern deutscher Hochschultradition die korporativen Rechte und akademischen Titel der Universitäten oder wurden, wie in Großbritannien und Italien, in die Universitäten integriert. Auch außerhalb Europas sind die Universitäten die weltweit führenden Institutionen des höheren Un- terrichts geworden, während man dort zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Ausnahme Lateinamerikas nur Colleges, Collèges, Seminare und andere Einrichtungen zur Ausbildung der geistlichen, wissenschaftlichen und politischen Eliten kannte. Wie erklärt sich diese erstaunliche Renaissance und Expansion der Universität? Der Titel des Beitrags enthält die These, dass die deutsche, auf der Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre beruhende Universitätsidee in der Konkurrenz zum napoleonischen Modell staatlich gelenkter Spezialhochschulen der modernen Forschungsuniversität den Weg öffnete. Dies erfordert heute, wo fast nur von der Krise der deutschen Universität die Rede ist, eine eingehendere Erklärung. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts öffneten zwei neue Hochschulmodelle den Weg zu einer grundlegenden Reform der herkömmlichen Universität. Im französischen Modell unterwarf der Staat die zur Ausbildung höherer Beamter und Offiziere sowie staatlich kontrollierter wissenschaftlicher Berufe eingerichteten Spezialhochschulen einer rational geregelten Organisation und Kontrolle und setzte militärische oder militärähnliche Disziplin bei den Lehrenden und Lernenden durch ein ausgeklügeltes Disziplinarverfahren durch. Neue Hochschulmodelle Das Modell konnte auf der Tabula rasa der Französischen Revolution aufgebaut und von Napoleon systematisiert werden. Doch waren seine Grundlagen, der staatliche Zentralismus, die Isolierung der Fakultäten und die Errichtung von Spezialhochschulen, bereits früher angelegt worden. Das deutsche Universitätsmodell trägt den Namen der Humboldt-Universität. Es war das Verdienst des großen Staatsmanns und Privatgelehrten Wilhelm von Humboldt, den preußischen König, der das französische Modell bevorzugte, 1810 zu bewegen, in Berlin eine Universität gemäß den libera- E ssa y len Ideen des Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher zu gründen. Nach diesem ist es nicht die Aufgabe der Universität, anerkannte und unmittelbar anwendbare Kenntnisse und Fertigkeiten zu unterrichten, wie es die Schulen tun, sondern „die Idee der Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken, (…) so dass es ihnen zur Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu betrachten (…).“ Die Freiheit, die diesem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zugrunde liegt, umfasste für die Berliner Universitätsgründer ebenso die Freiheit des Studiums, der Lehre und Forschung wie die Beziehungen der Universität zu Staat und Kirche. Für Humboldt hatte der Staat ihr gegenüber nur zwei Aufgaben, ihre Unabhängigkeit zu sichern und ihre Professoren zu bestimmen. Verständlicherweise war ein derart liberales Modell nicht so leicht zu verwirklichen wie das dirigistische Napoleons. Humboldts Plan, die neue Universität zur Sicherung ihrer finanziellen Selbstständigkeit mit Staatsdomänen auszustatten, wurde von seinem Amtsnachfolger zunichtegemacht. Die akademische Rede- und Publikationsfreiheit fiel 1819 Zensur- und Kontrollmaßnahmen zum Opfer. Trotzdem trug die liberale Universitätsreform Früchte. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts Paris das Mekka der Gelehrten gewesen war, schickten die französischen Regierungen von 1830 an immer wieder Beobachter nach Deutschland, um sich über die Fortschritte der deutschen Hochschulen zu informieren. Französische, britische, später auch amerikanische Wissenschaftler bildeten sich an deutschen Hochschulen weiter, und um die Wende zum 20. Jahrhundert verkörperten diese international das Ideal der modernen Universität. Dazu trugen allgemeine Entwicklungen wie die Verweltlichung und Bürokratisierung bei. Trotz Aufklärung und Säkularisation waren die meisten Universitäten insofern kirchliche Institutionen geblieben, als sie entweder direkt von der jeweiligen Kirche überwacht wurden oder mit ihr durch die Bevorzugung von Mitgliedern der entsprechenden Konfession verbunden blieben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die staatlichen Universitäten überall zu weltlichen Einrichtungen. Gleichzeitig wurden sie immer mehr zum Gegenstand staatlicher Bürokratie und deren nationaler Bildungspolitik. Als Napoleon 1806 unter der Bezeichnung der Kaiserlichen Universität eine Beamtenschaft schuf, der allein die öffentliche Erziehung im ganzen Reich übertragen wurde, konnte sich der mit der Leitung beauftragte Grossmeister unmittelbar an den Kaiser wenden und erfreute sich weitgehender Unabhängigkeit. Zwei Jahre später war er von einer Zentralverwaltung umgeben, und diese wurde von der Monarchie beibehalten, ja ausgebaut und 1828 zum Erziehungsministerium erhoben. Humboldt war 1810 vor der Eröffnung der Universität Berlin als Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren zurückgetreten, weil der König seinen Antrag ablehnte, daraus ein eigenes Ministerium zu machen. Sieben Jahre später erfolgte dies in Preußen, und im Verlauf des Jahrhunderts entstanden überall auf dem europäischen Kontinent entsprechende Ministerien, um der wachsenden Bedeutung des öffentlichen Erziehungswesens im Rahmen von Politik und Budget Rechnung zu tragen. Wissenschaftliche Spezialisierung Die langfristig wichtigste Folge dieser Bürokratisierung war die Professionalisierung der akademischen Laufbahn. Auf dem europäischen Kontinent wurde der Professor Beamter des verweltlichten, bürokratisch verwalteten Staates. In den Hochschulsystemen des deutschen Universitätsmodells führte die Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen zu neuen Formen der Kommunikation, Identifikation und Reputation. Die Professoren begannen, ihre Gedanken und Arbeiten in Fachzeitschriften auszutauschen, sich auf Fachkongressen zu treffen und Fachvereine zu gründen. Diese Spezialisierung der wissenschaftlichen Fächer und die Veränderung ihrer Position in der akademischen und gesellschaftlichen Rangordnung kennzeichnen die moderne Forschungsuniversität. Institutionell wirkten sich die Neuerungen des französischen und des deutschen Modells auf die Hochschullandschaft Europas unterschiedlich aus. In den von Napoleon besetzten Ländern wurden die Universitäten, soweit sie nicht gänzlich aufgehoben worden waren, nach 1815 wiederhergestellt, behielten jedoch die Teilung zwischen der philosophisch-literarischen und der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät. Die technischen, pädagogischen oder landwirtschaftlichen Spezialhochschulen, die in diesen Ländern entstanden, erreichten nie das Niveau und den Rang der französischen Grandes écoles oder der deutschen wissenschaftlichen Hochschulen. Das französische Hochschulmodell hinterließ somit in den vorübergehend besetzten Ländern keine tief greifenden Spuren: Die zentralistischen Tendenzen waren das Erbe des aufgeklärten Absolutismus und hatten bereits im 18. Jahrhundert das Hochschulwesen in Frankreich, Spanien, Österreich und den italienischen Teilstaaten beeinflusst. Hin- N R. 1 • 2 0 1 1 11 essa y N R. 1 • 2 0 1 1 12 gegen war auf dem im deutschen Universitätsmodell vernachlässigten Gebiet der technischen Hochschulbildung das französische Modell wegweisend. Die École polytechnique, in der die Ingenieure und Offiziere der „gelehrten“ Waffengattungen, der Artillerie und der Genietruppen, ausgebildet wurden, beeinflusste durch ihre theoretische Grundausbildung in höherer Mathematik und Physik die Umwandlung der im 18. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa zur technischen Ausbildung von Staatsdienern gegründeten Militär-, Berg-, Tief- und Hochbauakademien in Technische Hochschulen. Allerdings übernahmen diese vom französischen Modell nicht die geschlossene Struktur einer staatlich gelenkten, militärischer Disziplin unterworfenen Anstalt zur Ausbildung von Staatsbeamten. Vielmehr bemühten sich die Technischen Hochschulen Deutschlands und Österreich-Ungarns um Struktur und Status der Universität, erkämpften zuerst die korporative Autonomie der internen Organisation, dann das Habilitations- und am Ende des Jahrhunderts das Promotionsrecht, womit sie den Universitätsstatus erreichten. Einer weit größeren Freiheit als alle Universitäten Kontinentaleuropas erfreuten sich diejenigen Großbritanniens, welche die mittelalterliche Struktur autonomer Korporationen fast unversehrt bewahrt hatten. Oxford, Cambridge und das Trinity College in Dublin verkörperten die klerikale Tradition, beruhend auf finanziell reich ausgestatteten Kollegien, in denen die Studenten lebten und von den ebenfalls dort wohnenden Tutoren eine humanistische Bildung erfuhren, wobei die Universität weitgehend auf die Funktion einer Graduierungsbehörde beschränkt blieb. Die beinahe unbeschränkte Autonomie erlaubte eine auf dem Kontinent unvorstellbare Offenheit und Flexibilität gegenüber Initiativen zur Gründung moderner Universitäten. Um die Jahrhundertwende hatten sich Oxford und Cambridge insofern dem deutschen Modell angeschlossen, als sie die Bedeutung der Forschung für die Lehre anerkannten. Der englische Universitätshistoriker Laurence Brockliss vertritt sogar die These, die Humboldtsche Idee der modernen Forschungsuniversität sei in Europa nirgends so gut verwirklicht worden wie in Oxford und Cambridge. Denn hier hätte sich die Struktur korporativer und kollegialer Autonomie ebenso erhalten, wie die Universitätsidee einer wissenschaftlichen, nicht berufsorientierten Bildung. Die Universitäten Kontinentaleuropas hingegen seien Staatsanstalten, dienten vor allem der Ausbildung von Ärzten, Juristen, höheren Lehrern und anderen akademischen Berufen. Sie erlaubten nur den begabtesten Studenten eine wissenschaftliche Bildung durch gemeinsam mit ihrem Professor unternommene Forschungen. Diese auf den ersten Blick verblüffende These verdient ernst genommen zu werden. Nicht umsonst hatte sich Humboldt bemüht, die finanzielle Autonomie der Universität Berlin durch die Stiftung von Staatsdomänen zu sichern, und heute berufen sich die berühmten angelsächsischen Forschungsuniversitäten auf Humboldt, während in Deutschland behauptet wird, die Humboldtsche Universität sei tot, erstickt durch die Masse der Studierenden. Das deutsche Modell als Vorreiter Die Wissenschaftsidee des deutschen Modells eroberte auch die Staatsanstalten des französischen Modells. Als sich in Frankreich von 1866 an die romanische Philologie mit Lehrstühlen, wissenschaftlichen Gesellschaften und Zeitschriften ausbreitete, wurde ein Professor der französischen Literatur in Paris nicht müde, diese „Schweinereien“ zu verurteilen, und 1892 beklagte sich die Revue des Deux Mondes: Man will aus uns Deutsche machen! Auch in Italien wurde das deutsche Modell zum Ideal der Universitätsbildung. Zusammenfassend ergibt sich aus diesen wie aus den anderen erwähnten Kriterien, der Einführung von Studenten in die wissenschaftliche Forschung in universitären oder parauniversitären Seminaren und Laboratorien, dem Aufkommen von Fachkongressen und Fachvereinen und last, but not least der Reaktion der Kollegen und der Öffentlichkeit auf die Neuerungen, dass sich die deutsche Wissenschaftsidee nach 1830 in den übrigen deutschsprachigen Ländern und um die Jahrhundertwende im übrigen Europa durchsetzte. Doch worauf lässt sich der Erfolg des deutschen Modells zurückführen? Der Vergleich mit dem französischen und dem britischen führt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die moderne Wissenschaftsidee setzte sich in dem Maße durch, in dem die nationalen Hochschulsysteme die korporative Autonomie der traditionellen Universität mit der Freiheit ihrer Mitglieder in Lehre, Studium und Forschung verbanden. Das große Verdienst Humboldts und seines Beraters Schleiermacher war es gewesen, den König zu veranlassen, statt der ursprünglich von ihm und seiner Regierung bevorzugten staatlichen Lehranstalt in Berlin eine Universität mit den durch die moderne Wissenschaftsidee neu begründeten korporativen Freiheitsrechten zu errichten und damit auf lange Sicht die staatlichen Einschränkungen der Freiheit von Forschung und Lehre abzubauen.