DIE DEUtSCHEN WEGBEREItER DER MODERNEN

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Die deutschen Wegbereiter der
modernen Forschungsuniversität
1 Professor Walter Rüegg, Jahrgang
1918, ist emeritierter Ordinarius für
Die von der Französischen Revolution und den
Eroberungen Napoleons ausgelösten politischen
Erdbeben verwandelten die europäische Universitätslandschaft in ein Ruinenfeld. 1789 gab es in
Europa 143 Universitäten, 1815 nur noch 83. Die
24 französischen Universitäten waren aufgelöst
und durch Spezialhochschulen und selbstständige
Fakultäten ersetzt worden. 18 der 34 deutschen
Universitäten waren verschwunden, und in Spanien
blieben ganze zehn von den 25 übrig. Nach fünfzehn
Neugründungen zählte Europa um 1840 also 98
Universitäten mit rund 80.000 Studenten und 5.000
Professoren. Hundert Jahre später unterrichteten an
rund 200 Universitäten mehr als sechsmal so viele,
nämlich 32.000 Professoren, es studierten 600.000,
somit rund 650 Prozent mehr Studierende.
Soziologie an der Universität Bern.
Rüegg veröffentlichte zahlreiche
Werke zur europäischen Bildungsgeschichte, -soziologie und -politik.
Zu seinen wichtigsten Publikationen
zählt die im Verlag C.H. Beck erschienene vierbändige Reihe zur
„Geschichte der Universität in Eu­
ropa“. Der vierte Band wurde am
20. Januar im Center for Advanced
Studies (CAS) der LMU vorgestellt.
In seinem Essay zeichnet Rüegg die
Diese Expansion ist erstaunlich. Denn die Ablösung der Universitäten durch Spezialhochschulen
entsprach dem Trend der Aufklärung, die Hochschulen auf die Vermittlung praktischer Kenntnisse
und eine nützliche Berufsausbildung auszurichten.
So kamen bis 1939 zu den 200 Universitäten etwa
300 militärische, polytechnische, human- und veterinärmedizinische oder land- und forstwirtschaftliche Hochschulen hinzu. Doch ersetzten sie die
Universitäten nicht und wiesen eine vergleichsweise kleine Zahl von Studierenden auf.
Genese der modernen Forschungsuniversität in Europa nach.
In Frankreich wurden 1895 die Universitäten wieder errichtet. Die neuen Nationalstaaten gründeten
in erster Linie Universitäten, was dem Begriff der
Universität als europäischer Institution par excellence erst seine volle Bedeutung gab. Außerhalb
Frankreichs erhielten die Spezialhochschulen in
den Ländern deutscher Hochschultradition die
korporativen Rechte und akademischen Titel der
Universitäten oder wurden, wie in Großbritannien
und Italien, in die Universitäten integriert. Auch
außerhalb Europas sind die Universitäten die
weltweit führenden Institutionen des höheren Un-
terrichts geworden, während man dort zu Beginn
des 19. Jahrhunderts mit Ausnahme Lateinamerikas nur Colleges, Collèges, Seminare und andere Einrichtungen zur Ausbildung der geistlichen,
wissenschaftlichen und politischen Eliten kannte.
Wie erklärt sich diese erstaunliche Renaissance
und Expansion der Universität? Der Titel des Beitrags enthält die These, dass die deutsche, auf der
Freiheit wissenschaftlicher Forschung und Lehre
beruhende Universitätsidee in der Konkurrenz zum
napoleonischen Modell staatlich gelenkter Spezialhochschulen der modernen Forschungsuniversität
den Weg öffnete. Dies erfordert heute, wo fast nur
von der Krise der deutschen Universität die Rede
ist, eine eingehendere Erklärung.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts öffneten zwei neue
Hochschulmodelle den Weg zu einer grundlegenden Reform der herkömmlichen Universität. Im
französischen Modell unterwarf der Staat die zur
Ausbildung höherer Beamter und Offiziere sowie
staatlich kontrollierter wissenschaftlicher Berufe
eingerichteten Spezialhochschulen einer rational
geregelten Organisation und Kontrolle und setzte
militärische oder militärähnliche Disziplin bei den
Lehrenden und Lernenden durch ein ausgeklügeltes Disziplinarverfahren durch.
Neue Hochschulmodelle
Das Modell konnte auf der Tabula rasa der Französischen Revolution aufgebaut und von Napoleon
systematisiert werden. Doch waren seine Grundlagen, der staatliche Zentralismus, die Isolierung
der Fakultäten und die Errichtung von Spezialhochschulen, bereits früher angelegt worden. Das
deutsche Universitätsmodell trägt den Namen der
Humboldt-Universität. Es war das Verdienst des
großen Staatsmanns und Privatgelehrten Wilhelm
von Humboldt, den preußischen König, der das
französische Modell bevorzugte, 1810 zu bewegen, in Berlin eine Universität gemäß den libera-
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len Ideen des Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher
zu gründen. Nach diesem ist es nicht die Aufgabe der Universität,
anerkannte und unmittelbar anwendbare Kenntnisse und Fertigkeiten zu unterrichten, wie es die Schulen tun, sondern „die Idee der
Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon
ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken, (…) so dass es ihnen zur
Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu
betrachten (…).“
Die Freiheit, die diesem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess zugrunde liegt, umfasste für die Berliner Universitätsgründer ebenso die
Freiheit des Studiums, der Lehre und Forschung wie die Beziehungen
der Universität zu Staat und Kirche. Für Humboldt hatte der Staat ihr
gegenüber nur zwei Aufgaben, ihre Unabhängigkeit zu sichern und
ihre Professoren zu bestimmen. Verständlicherweise war ein derart
liberales Modell nicht so leicht zu verwirklichen wie das dirigistische
Napoleons. Humboldts Plan, die neue Universität zur Sicherung ihrer
finanziellen Selbstständigkeit mit Staatsdomänen auszustatten, wurde von seinem Amtsnachfolger zunichtegemacht. Die akademische
Rede- und Publikationsfreiheit fiel 1819 Zensur- und Kontrollmaßnahmen zum Opfer. Trotzdem trug die liberale Universitätsreform
Früchte. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts Paris das Mekka
der Gelehrten gewesen war, schickten die französischen Regierungen von 1830 an immer wieder Beobachter nach Deutschland, um
sich über die Fortschritte der deutschen Hochschulen zu informieren.
Französische, britische, später auch amerikanische Wissenschaftler
bildeten sich an deutschen Hochschulen weiter, und um die Wende
zum 20. Jahrhundert verkörperten diese international das Ideal der
modernen Universität. Dazu trugen allgemeine Entwicklungen wie
die Verweltlichung und Bürokratisierung bei. Trotz Aufklärung und
Säkularisation waren die meisten Universitäten insofern kirchliche
Institutionen geblieben, als sie entweder direkt von der jeweiligen
Kirche überwacht wurden oder mit ihr durch die Bevorzugung von
Mitgliedern der entsprechenden Konfession verbunden blieben.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die staatlichen Universitäten überall zu weltlichen Einrichtungen. Gleichzeitig wurden sie
immer mehr zum Gegenstand staatlicher Bürokratie und deren
nationaler Bildungspolitik. Als Napoleon 1806 unter der Bezeichnung
der Kaiserlichen Universität eine Beamtenschaft schuf, der allein die
öffentliche Erziehung im ganzen Reich übertragen wurde, konnte
sich der mit der Leitung beauftragte Grossmeister unmittelbar an
den Kaiser wenden und erfreute sich weitgehender Unabhängigkeit.
Zwei Jahre später war er von einer Zentralverwaltung umgeben, und
diese wurde von der Monarchie beibehalten, ja ausgebaut und 1828
zum Erziehungsministerium erhoben. Humboldt war 1810 vor der
Eröffnung der Universität Berlin als Direktor der Sektion für Kultus
und Unterricht im Ministerium des Inneren zurückgetreten, weil der
König seinen Antrag ablehnte, daraus ein eigenes Ministerium zu
machen. Sieben Jahre später erfolgte dies in Preußen, und im Verlauf
des Jahrhunderts entstanden überall auf dem europäischen Kontinent entsprechende Ministerien, um der wachsenden Bedeutung des
öffentlichen Erziehungswesens im Rahmen von Politik und Budget
Rechnung zu tragen.
Wissenschaftliche Spezialisierung
Die langfristig wichtigste Folge dieser Bürokratisierung war die Professionalisierung der akademischen Laufbahn. Auf dem europäischen
Kontinent wurde der Professor Beamter des verweltlichten, bürokratisch verwalteten Staates. In den Hochschulsystemen des deutschen
Universitätsmodells führte die Spezialisierung der wissenschaftlichen
Disziplinen zu neuen Formen der Kommunikation, Identifikation und
Reputation. Die Professoren begannen, ihre Gedanken und Arbeiten in
Fachzeitschriften auszutauschen, sich auf Fachkongressen zu treffen
und Fachvereine zu gründen. Diese Spezialisierung der wissenschaftlichen Fächer und die Veränderung ihrer Position in der akademischen
und gesellschaftlichen Rangordnung kennzeichnen die moderne Forschungsuniversität. Institutionell wirkten sich die Neuerungen des
französischen und des deutschen Modells auf die Hochschullandschaft
Europas unterschiedlich aus. In den von Napoleon besetzten Ländern
wurden die Universitäten, soweit sie nicht gänzlich aufgehoben worden waren, nach 1815 wiederhergestellt, behielten jedoch die Teilung
zwischen der philosophisch-literarischen und der naturwissenschaftlich-mathematischen Fakultät. Die technischen, pädagogischen oder
landwirtschaftlichen Spezialhochschulen, die in diesen Ländern entstanden, erreichten nie das Niveau und den Rang der französischen
Grandes écoles oder der deutschen wissenschaftlichen Hochschulen.
Das französische Hochschulmodell hinterließ somit in den vorübergehend besetzten Ländern keine tief greifenden Spuren: Die zentralistischen Tendenzen waren das Erbe des aufgeklärten Absolutismus und
hatten bereits im 18. Jahrhundert das Hochschulwesen in Frankreich,
Spanien, Österreich und den italienischen Teilstaaten beeinflusst. Hin-
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gegen war auf dem im deutschen Universitätsmodell vernachlässigten
Gebiet der technischen Hochschulbildung das französische Modell
wegweisend. Die École polytechnique, in der die Ingenieure und Offiziere der „gelehrten“ Waffengattungen, der Artillerie und der Genietruppen, ausgebildet wurden, beeinflusste durch ihre theoretische
Grundausbildung in höherer Mathematik und Physik die Umwandlung der im 18. Jahrhundert in Mittel- und Osteuropa zur technischen
Ausbildung von Staatsdienern gegründeten Militär-, Berg-, Tief- und
Hochbauakademien in Technische Hochschulen. Allerdings übernahmen diese vom französischen Modell nicht die geschlossene Struktur
einer staatlich gelenkten, militärischer Disziplin unterworfenen Anstalt zur Ausbildung von Staatsbeamten. Vielmehr bemühten sich die
Technischen Hochschulen Deutschlands und Österreich-Ungarns um
Struktur und Status der Universität, erkämpften zuerst die korporative
Autonomie der internen Organisation, dann das Habilitations- und am
Ende des Jahrhunderts das Promotionsrecht, womit sie den Universitätsstatus erreichten.
Einer weit größeren Freiheit als alle Universitäten Kontinentaleuropas erfreuten sich diejenigen Großbritanniens, welche die
mittelalterliche Struktur autonomer Korporationen fast unversehrt
bewahrt hatten. Oxford, Cambridge und das Trinity College in Dublin
verkörperten die klerikale Tradition, beruhend auf finanziell reich
ausgestatteten Kollegien, in denen die Studenten lebten und von
den ebenfalls dort wohnenden Tutoren eine humanistische Bildung
erfuhren, wobei die Universität weitgehend auf die Funktion einer
Graduierungsbehörde beschränkt blieb. Die beinahe unbeschränkte
Autonomie erlaubte eine auf dem Kontinent unvorstellbare Offenheit und Flexibilität gegenüber Initiativen zur Gründung moderner
Universitäten. Um die Jahrhundertwende hatten sich Oxford und
Cambridge insofern dem deutschen Modell angeschlossen, als sie
die Bedeutung der Forschung für die Lehre anerkannten.
Der englische Universitätshistoriker Laurence Brockliss vertritt sogar
die These, die Humboldtsche Idee der modernen Forschungsuniversität sei in Europa nirgends so gut verwirklicht worden wie in Oxford
und Cambridge. Denn hier hätte sich die Struktur korporativer und
kollegialer Autonomie ebenso erhalten, wie die Universitätsidee einer
wissenschaftlichen, nicht berufsorientierten Bildung. Die Universitäten
Kontinentaleuropas hingegen seien Staatsanstalten, dienten vor allem
der Ausbildung von Ärzten, Juristen, höheren Lehrern und anderen
akademischen Berufen. Sie erlaubten nur den begabtesten Studenten
eine wissenschaftliche Bildung durch gemeinsam mit ihrem Professor
unternommene Forschungen. Diese auf den ersten Blick verblüffende
These verdient ernst genommen zu werden. Nicht umsonst hatte sich
Humboldt bemüht, die finanzielle Autonomie der Universität Berlin
durch die Stiftung von Staatsdomänen zu sichern, und heute berufen
sich die berühmten angelsächsischen Forschungsuniversitäten auf
Humboldt, während in Deutschland behauptet wird, die Humboldtsche
Universität sei tot, erstickt durch die Masse der Studierenden.
Das deutsche Modell als Vorreiter
Die Wissenschaftsidee des deutschen Modells eroberte auch die
Staatsanstalten des französischen Modells. Als sich in Frankreich von
1866 an die romanische Philologie mit Lehrstühlen, wissenschaftlichen Gesellschaften und Zeitschriften ausbreitete, wurde ein Professor der französischen Literatur in Paris nicht müde, diese „Schweinereien“ zu verurteilen, und 1892 beklagte sich die Revue des Deux
Mondes: Man will aus uns Deutsche machen! Auch in Italien wurde
das deutsche Modell zum Ideal der Universitätsbildung.
Zusammenfassend ergibt sich aus diesen wie aus den anderen erwähnten Kriterien, der Einführung von Studenten in die wissenschaftliche Forschung in universitären oder parauniversitären Seminaren
und Laboratorien, dem Aufkommen von Fachkongressen und Fachvereinen und last, but not least der Reaktion der Kollegen und der
Öffentlichkeit auf die Neuerungen, dass sich die deutsche Wissenschaftsidee nach 1830 in den übrigen deutschsprachigen Ländern
und um die Jahrhundertwende im übrigen Europa durchsetzte. Doch
worauf lässt sich der Erfolg des deutschen Modells zurückführen?
Der Vergleich mit dem französischen und dem britischen führt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die moderne Wissenschaftsidee setzte
sich in dem Maße durch, in dem die nationalen Hochschulsysteme
die korporative Autonomie der traditionellen Universität mit der Freiheit ihrer Mitglieder in Lehre, Studium und Forschung verbanden.
Das große Verdienst Humboldts und seines Beraters Schleiermacher
war es gewesen, den König zu veranlassen, statt der ursprünglich
von ihm und seiner Regierung bevorzugten staatlichen Lehranstalt
in Berlin eine Universität mit den durch die moderne Wissenschaftsidee neu begründeten korporativen Freiheitsrechten zu errichten und
damit auf lange Sicht die staatlichen Einschränkungen der Freiheit
von Forschung und Lehre abzubauen.
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