PRINZIPIEN ZU AUSGABE 2/10 READER ZUM THEMA THEATER PRAXIS PERSPEKTIVEN kultur THEATERSPIELEN READER ZUM THEMA Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V. READER ZUM THEMA THEATER 2 Der große Müller und die kleine Stadt Heiner-Müller-Stück an der Kulturbörse Gnoien THEMA Theaterspielen 3 K A R L N AU J O K S 6 Kultur bildet Persönlichkeit Zwölf Jahre Kinder- und Jugendkultur in Stroetmanns Fabrik Emsdetten E C K H A R D M I T T E L S TÄ D T K A L E I D O S KO P _ Kulturzentrum Grend e.V., Essen: Theater der Migranten _ LAG Soziokultur Schleswig-Holstein e.V.: Kindertheater des Monats, Theater for Youngsters _ Forum für Kunst und Kultur Heersum e.V.: Sommerspiele _ Kulturbörse Gnoien: Die Umsiedlerin (ausführlich S.12) _ E-Werk Freiburg und RadiX-O8: Eins auf die Fresse (ausführlich S. 16) _ Stadtteil- und Kulturzentrum MOTTE Hamburg-Altona: Die Ausgeschlossenen Vorwärts, und ... Der Greizer Theaterherbst Eins auf die Fresse Jugendtheater zum Thema Mobbing BARBARA HIRSCH 14 16 W O L F G A N G H E R B E RT IN ACTIO 8 Verrückte Ideen und ostfriesische Sturheit Ländliche Akademie Krummhörn 18 CHRISTINE SCHMIDT IN PERSONA 9 Ein Traum von Theater Gisela Höhne, Regisseurin und Schauspielerin 19 MAXI KRETZSCHMAR KARSTEN SCHAARSCHMIDT International, experimentell, aktuell EXPLOSIVE! Internationales Jugendtheater Festival 12 U L R I K E WAC H S M U N D, H A N N A H K A B E L KARSTEN SCHAARSCHMIDT Rap4Peace – Songs for Othello Ein Jugend-Tanz-Theater-Projekt in Augsburg soziokultur 2|10 10 Literaturtipps 20 soziokultur 2 |10 READER ZUM THEMA THEATER 3 T H E AT E R S P I E L E N E C K H A R D M I T T E L S TÄ D T D Jugendtheaterfestival EXPLOSIVE!, Bremen (oben) | Theater der Migranten, Essen | Siehe S. 8 Abb. : Blaumeier-Atelier (s. S. 6) | oben: CARMEN, Foto: Petersen | unten: BLAUMEIERS ZIMMERMÄDCHEN, Foto: M. Bause ie Theaterarbeit mit nichtprofessionellen Spielern hat ei­ne lange Tradition in Deutschland, und natürlich gibt es eine Vielzahl von Vereinen und Verbänden, die sich dem Theater in unterschiedlichen Kontexten widmen. Das reicht vom bald 120 Jahre alten Bund Deutscher Amateurtheater bis zum Bundesverband Theater in Schulen. Während der Letztgenannte den Ort, wo Theater gespielt werden soll, im Namen trägt, lassen ihn die anderen Verbände gern offen. Denn Theaterspiel ist nicht an das Theater als Ort gebunden, und auch unter den professionellen Theatern wird es immer beliebter, den ungewöhnlichen Spielort in den Mittelpunkt eines Inszenierungsvorhabens zu stellen. Warum also sollte man das Theaterspielen in den Mittelpunkt der kulturellen Arbeit eines soziokulturellen Zentrums stellen, wenn, wie unlängst ein Ministerialbeamter scherzhaft behauptete, das Staatstheater „das größte soziokulturelle Zentrum am Ort“ sei? Eine erste Antwort findet sich in der Geschichte der soziokulturellen Zentren. Einige von ihnen waren die ersten, die die Chancen des Theaterspielens erkannten und nutzten, Menschen einen Ort und die Mittel zu geben, anderen von ihrem Leben, von ihren Geschichten und ihrer Sicht auf die sie umgebende Welt zu erzählen. Vom Lehrlingstheater über Theater mit Migranten (die damals noch schnöde „Gastarbeiter“ genannt wurden) bis zum Theater mit ganzen Dorfgemeinschaften reichen die Beispiele aus den politisch bewegten 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, denen ihr soziokultureller Ursprung gemeinsam ist. READER ZUM THEMA THEATER 4 soziokultur 2|10 Ziel der soziokulturellen Zentren, denn Theater ist eine Gemeinschaftskunst und d i e soziale Kunstform schlechthin: Der Mensch sieht sich selbst zu und zwar in der Interaktion mit anderen Menschen, alles Handeln auf der Bühne geschieht auf der Grundlage menschlicher Beziehungen. Die Ausgeschlossenen, MOTTE Hamburg | siehe S. 8 Stellvertretend für viele solcher Projekte sei hier eines kurz beschrieben: Im Arbeiterstadtteil Gallus der eher als Bankenmetropole bekannten Stadt Frankfurt am Main traf Anfang der 80er Jahre eine Gruppe süditalienischer Jugendlicher auf Künstler und sozial engagierte Erwachsene, die mehr tun wollten, als ihnen einen Treffpunkt zu bieten. Sie begannen gemeinsam Theater zu spielen und nahmen zunächst die Geschichten dieser ersten Generation in Deutschland aufgewachsener Migranten als Grundlage der Theaterarbeit. Es entstanden einige sehr erfolgreiche Theateraufführungen, vor allem aber sorgte diese Arbeit für eine große Identifikation mit dem Ort ihrer Aktivitäten, dem Gallus Zentrum, ihrem Stadtviertel und dem Theaterspiel. Für einige blieb es eine schöne Episode in ihrem Leben, andere nutzten das schauspielerische Talent für die Berufswahl. Das gemeinsame Theaterspielen sollte in den sozial engagierten 80-er Jahren Identität stiften und die Jugendlichen zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft und ihrem Leben in Deutschland anregen. Darüber hinaus war die kulturelle Beschäftigung der Jugendlichen für das Gallus Zentrum ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber den damals weit verbreiteten Jugendzentren. Es ging um Teilhabe am kulturellen und politischen Leben für eine bestimmte – seinerzeit als defizitär betrachtete – gesellschaftliche Gruppe. Die Teilhabe durch künstlerische Selbsttätigkeit gehört bis zum heutigen Tag zu den Kernzielen der Arbeit soziokultureller Zentren. Das Theaterspiel als eine Möglichkeit der künstlerischen Selbsttätigkeit eignet sich besonders für dieses Das Theater hat immer den Standort und Standpunkt des handelnden Menschen und seine Beziehung zu den anderen Menschen und damit seine gesellschaftliche Rolle thematisiert. Im heutigen gesellschaftlichen Kontext sind durch Vereinzelung und zunehmende Individualisierung die sozialen Beziehungen vielleicht noch stärker in den Fokus gerückt, und so kommt dem Theater als einer Gemeinschaftskunst noch stärkere Bedeutung zu. Im Theaterspiel findet immer auch ein Probehandeln statt, werden Perspektiven und Grenzen menschlicher Beziehungen ausgelotet. Hierin liegt vielleicht eher die bildende Wirkung des Theaterspiels als in den gern zur Legitimation herangezogenen „Schlüsselkom­pe­ tenzen“, die der Einzelne erwerben kann. Soziokulturelle Zentren erkannten und nutzten als Erste die Chancen des Theaterspielens. Die Bildungswissenschaftlerin Kristin Westphal sieht hierin die besondere Qualität des Theaterspiels im Kontext der ästhetischen Bildung: „Im Unterschied zur sozialen Praxis, in der wir mehr oder weniger bewusst agieren und Haltungen einnehmen, experimentiert die theatrale Praxis mit diesen Haltungen bewusst. Sie werden beobachtet, reflektiert, neu konstruiert und in neue Zusammenhänge gestellt. Dabei wird die soziokultur 2 |10 Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung und Reflexion entwickelt. Über die Interaktion mit anderen entsteht Verständnis und Erkenntnis, wenn nämlich die Grenzen der eigenen Erfahrung erkundet, das Eigene mit dem Fremden verglichen und dabei gelernt werden kann, sich auszugrenzen oder anzuschließen [...]. Auf diese Weise wird es möglich, immer wieder neu eine Haltung bzw. Perspektive zur Welt zu gewinnen, in der man sich als Teil von ihr erkennt. Diese bildenden Wirkungen stellen eine Übertragung auf andere gesellschaftliche Praxen in Aussicht und wirken bestenfalls sogar auf sie ein, indem sie Wahrnehmungsmöglichkeiten schaffen.“1 READER ZUM THEMA THEATER 5 ver­bunden, die in der jeweiligen Einrichtung ar­­beiten. Zum Theaterspielen wird natürlich ein Raum benötigt. Und es gibt Menschen, die Theater spielen wollen und Menschen, die sie dabei unterstützen mit Ideen, Erfahrung und professionellem Können. Alles darüber Hinausgehende entscheidet sich an den tatsächlichen Gegebenheiten und Traditionen der Einrichtung sowie den Themen und Motiven, die als Grundlage gewählt werden. Unterschiedlichste Orte für die Theater- Anzumerken bleibt nur, dass Theater zu spielen untrennbar mit dem Sehen von Theater verbunden ist, dem Wechselspiel von Produktion und Rezeption. Die Aufführung des in der Einrichtung erarbeiteten Theaterstücks wird zum Ereignis auch für die anderen Besucher und somit zu einem Fest für das ganze Haus. Zum Theaterspielen gehört aber auch der Besuch von Theaterereignissen. Dies können die Aufführungen anderer Theatergruppen sein, aber auch der Besuch von Aufführungen aufführung gehören auch in der Arbeit mit nichtprofessionellen Akteuren längst zum Standard. Unter den vielfältigen möglichen Theaterformen soll hier nur auf die Performance hingewiesen werden, die längst zum Erscheinungsbild des Gegenwartstheaters gehört und mit ihrem Ereignis­ charakter und dem Einbeziehen der Zuschauer seit langem auch in die künstlerische Praxis der soziokulturellen Zentren Eingang gefunden hat. professioneller Theatergruppen, um auf einen Referenzrahmen für das eigene Theaterspiel zurückgreifen zu können. Da viele soziokulturelle Zentren ganzjährig Kulturprogramme veranstalten und mit anderen Kulturveranstaltern ihrer Region gut vernetzt sind, ist auch diese Rahmenbedingung für das Theaterspielen zumeist gegeben. Das Thea­ terspielen mit Menschen jeden Alters muss nicht im Mittelpunkt der Arbeit soziokultureller Zentren stehen, ein wichtiger Teil kann es allemal sein. Grenzen der eigenen Erfahrung werden erkundet, das Eigene mit dem Fremden verglichen. Die hier beschriebene bildende Wirkung des Theaterspiels ist keineswegs auf junge Menschen beschränkt, sondern bezieht sich auf alle Altersgruppen, unabhängig von ihrer sozialen oder nationalen Herkunft, auf die Zielgruppe der soziokulturellen Zentren also. Dadurch bietet sich zudem die Möglichkeit, in interkulturellen Theaterprojekten Gelegenheiten für ästhetische, soziale und thematische Begegnungen zu schaffen. Hier könnte in Zukunft ein gesellschaftlich wichtiger Schwerpunkt für das Theaterspiel in soziokulturellen Zentren liegen. Soziokulturelle Zentren eignen sich auch deshalb besonders als Ausgangspunkte zum Theaterspielen, weil die Teilnahme an den kulturellen Angeboten auf Freiwilligkeit basiert und die künstlerische Praxis keinen Bildungszielen (wie etwa in der Schule) unterworfen ist. Die Freiwilligkeit ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass sich die bildende Wirkung des Theaterspiels überhaupt entfalten kann, wie Vanessa-Isabelle Reinwand in ihrer Untersuchung zur biografischen Bedeutung aktiver Theatererfahrung abschließend feststellt: „Die Wirkung ästhetischer Lernprozesse auf das Individuum (ist) stark abhängig von der jeweiligen biographischen Situation und dem Willen des Subjektes sich eigene Lerndispositionen zu schaffen, selbst aktiv zu werden, d. h. sich selbst zu bilden.“ 2 Markenzeichen soziokultureller Zentren sind be­ kanntermaßen ihre vielfältigen Ausprägungen, die sich aus der Geschichte der jeweiligen Einrichtung heraus entwickelt haben. Und natürlich ist die Ausprägung auch mit den Menschen Interkulturelle Projekte schaffen ästhetische, soziale und thematische Begegnungen. 1 2 Das Theaterspielen in verschiedensten Formaten und Ausprägungen ist von jeher ein fester Bestandteil der Arbeit vieler soziokultureller Zentren. Das soziokulturelle Umfeld, wie es mitunter Stadt- und Staatstheater künstlich herstellen, um sich besser in ihrer Stadt zu etablieren und neue Interessenten für ihre künstlerische Arbeit zu gewinnen, ist in den soziokulturellen Zentren natürlich schon vorhanden, da es zum Selbstverständnis der Einrichtungen gehört. Kristin Westphal: Möglichkeitsräume im theatralen Spiel und ihre Bedeutung für Sinnstiftungsprozesse. In: Johann Bilstein, Matthias Winzen, Christoph Wulf, Anthropologie und Pädagogik des Spiels, Belzverlag Weinheim und Basel 2005, S. 119. Online lesbar unter books.google.de. Vanessa-Isabelle Reinwand: Ohne Kunst wäre das Leben ärmer. Zur biografischen Bedeutung aktiver Theater-Erfahrung. Kopaed-Verlag München 2008, S. 196 ECKHARD MITTELSTÄDT ist Ge­schäftsführer des Landes­ ver­bandes Freier Theater Niedersachsen. [email protected] soziokultur 2|10 READER ZUM THEMA THEATER 6 KALEIDOSKOP T H E AT E R D E R M I G R A N T E N K I N D E R T H E AT E R D E S M O N AT S DIE AUSGESCHLOSSENEN EINS AUF DIE FRESSE DIE UMSIEDLERIN SOMMERSPIELE Kulturzentrum Grend e.V. / Theater Freudenhaus, Essen THEATER DER MIGRANTEN Die zunehmende Bedeutung der Migration in unseren Großstädten hat das Theater Freudenhaus im Grend als Anlass genommen, ein dreijähriges interkulturelles Projekt auf die Beine zu stellen, dass insbesondere die türkischstämmigen EinwohnerInnen stärker in die Theaterarbeit des soziokulturellen Zentrums einbinden soll. Das Thema „Migration im Ruhrgebiet“ wurde hierfür von Autor Sigi Domke als Mundartkomödie inszeniert, um ein breit gefächertes Publikum zu erreichen. In der Produktion „Hochzeit alla turca“ ebenso wie in deren Nachfolge „Herr Scheitel sein Friseursalon“ nähern sich die DarstellerInnen, die zum Teil Migrationshintergrund haben, auf kritische und zugleich humorvolle Art und Weise dem oftmals mit Problemen und Hemmungen belasteten interkulturellen Dialog. Aber auch darüber hinaus, als Schultheater, in Verbindung mit theaterpädagogischer Arbeit zur nachhaltigen Aufarbeitung des Themas sowie als kulturelles Angebot für die türkischstämmige Bevölkerung wurde das Projekt 2006 ins Leben gerufen. LAG Soziokultur Schleswig-Holstein e.V. KINDERTHEATER DES MONATS / THEATER FÜR YOUNGSTERS Die Veranstaltungsreihen sind herausragende kulturelle Bildungsprojekte der LAG Soziokultur Schleswig-Holstein. Das „Kindertheater des Monats“ richtet sich mit jährlich 140 Aufführungen freier professioneller Theater an Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren. Seit Projektstart des Kindertheaters 1993 ist die Zahl der Koopera­ tionspartner von 11 auf 20 angestiegen, wurden 120 Tourneen organisiert, haben 215.000 Kids die 2.195 Theatervorstellungen besucht. LAG und örtliche Veranstalter stellen das Jahresprogramm gemeinsam zusammen. Die LAG kümmert sich um die Finanzierung, landesweite Öffentlichkeitsarbeit und organisiert für die ausgewählten sieben Theater pro Spielzeit eine landesweite Tournee. Die örtlichen Veranstalter sind für die Vorstellungen verantwortlich. So haben alle Kinder in Schleswig-Holstein die Möglichkeit, regelmäßig im Umkreis von 30 Kilometern qualitativ hochwertiges Theater zu erleben. Aufgrund der hohen Resonanz und des Wunsches nach Theaterstücken für ältere Kinder bietet die LAG Soziokultur seit 2008 mit dem „Theater für Youngsters“ eine zweite Reihe für die 8- bis 14-jährigen Kinder an, die in enger Zu­ sammenarbeit mit Schulen durchgeführt wird. Forum für Kunst und Kultur e.V., Heersum SOMMERSPIELE Jedes Jahr – und in diesem Jahr unter dem Jubiläumstitel „Der Himmel über Heersum“ bereits zum 20. Mal – bringt das FORUM für KUNST und KULTUR e.V. im Niedersächsischen Örtchen HolleHeersum mit seinen „Heersumer Sommerspielen“ Menschen zusammen und andere zum Staunen. Ehrliche Spielfreude verkörpern die meist theaterunerfahrenen Darsteller, die nicht nur aus unterschiedlichen Dörfern und Gemeinden der Region, sondern auch aus verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu einem einzigartigen Projekt zusammenkommen. Gemeinsam mit einzelnen Profis entwickeln die Bühnen-Laien fantasievolle Titel wie „Rübe Null“ oder „Aste Rix in Astenebeck“ – inspiriert von den ungewöhnlichen Aufführungsorten und den Geschichten seiner Bewohner. So werden keine Theatersäle bespielt, sondern der Reiz des lebensnahen Naturraumes genutzt, um Themen des ländlichen Alltags einem breiten Publikum möglichst authentisch zu präsentieren. Effekte soziokultur 2 |10 kommen nicht vom Tonband und der Beleuchtung bedarf es keiner Scheinwerfer – die Technik macht zum großen Teil die Natur selbst, inklusive einer unnachahmlichen Atmosphäre. Kulturbörse Gnoien DIE UMSIEDLERIN Eine Gruppe von Gnoie­ nerInnen um die Thea­ter­ pädagogin Bettina Ka­­ lisch erarbeitet zum Tag der Deutschen Einheit 2010 eine Inszenierung mit Texten des Dramatikers Heiner Müller. Der Titel des Projekts widerspiegelt den Sachverhalt, will aber auch Anstoß zum Nachdenken, zum Querdenken, zum „Bürsten gegen den Strich“ geben. Die Bühnen-Collage entsteht weitgehend frei im Theaterzirkel des soziokulturellen Zentrums Kulturbörse. Sie entlehnt Texte u. a. aus dem frühen Müller-Stück „Die Umsiedlerin“. Der darin verwendete Slogan „Die Kultur muss aufs Land“ bestimmt die Eröffnungsszene und gibt das Thema vor. Anhand heute vergessener Müller-Texte soll mit theatralischen Mitteln auf eine ausgegrenzte Region aufmerksam gemacht werden. Gnoien liegt tief im ländlichen Mecklenburg und hat 3.080 EinwohnerInnen. Die zehn DarstellerInnen, darunter der ehrenamtliche Bürgermeister, wollen eigene Lebenserfahrungen aus der DDR und dem vereinigten Deutschland einbringen. Premiere ist in der Woche nach dem 3. Oktober. Das Projekt wird aus dem Bundesprogramm „Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie” gefördert und von der LAG Soziokultur Mecklenburg-Vorpommern unterstützt. Ausführlich siehe Seite 12. E-Werk Freiburg und RadiX-08 EINS AUF DIE FRESSE Das E-Werk Freiburg und die Freiburger Theatergruppe RadiX-08 starte­ ten im Sommer 2009 das Modellprojekt NO GO mittendrin – schau hin, zur Förderung des Dialoges zwischen Kunst und Jugendkultur. Das Jugendtheaterstück Eins auf die Fresse handelt von Mobbing in der Schule – ein allgegenwärtiges Thema. In der Vor­arbeit für das Theaterstück wurden theaterund medienpädagogische Angebote mit künstlerisch-ästhetischen, sowie jugendkulturellen Ausdrucks- und Vermittlungsformen kombiniert. Die Premiere und weitere 20 Vorstellungen waren nahezu ausverkauft und wurden von etwa 4.500 Jugendlichen und jungen Erwachse- READER ZUM THEMA THEATER nen besucht. Erwähnenswert ist, dass drei Viertel der Jugendlichen aus dem Bereich der Hauptund Realschulen in der Region Freiburg kamen. Die Verbindung von Theaterstück und kulturellen Bildungsangeboten für Jugendliche macht die besondere Qualität des auf Prävention angelegten Vorhabens aus. Über Breakdanceworkshops und Castings wurden Jugendliche gewonnen, die eine Choreografie und die Songs für das Theaterstück erarbeiteten. Dafür konnten Jugendzentren und Schulen, vor allem aus dem eigenen Stadtteil, als Partner gewonnen werden. Ausführlich siehe Seite 16. Stadtteil- und Kulturzentrum MOTTE, Hamburg-Altona DIE AUSGESCHLOSSENEN Ausgangspunkt für das interkulturelle und internationale theaterpädagogische Projekt war es 2006, Jugendlichen die künstlerische Auseinandersetzung mit ihren Themen zu ermöglichen: Migration, Rassismus, Gewalt. Unter der Anleitung des Theaterpädagogen Mahmut Canbay entstand ein Stück rund um die „Heimat“. 2008 ging es mit der Gruppe nach Marseille – ein gemeinsamer Auftritt mit französischen Jugendlichen im Dome vor 4.000 ZuschauerInnen: ein Erlebnis, das für immer in Erinnerung bleiben wird. Danach fanden Jugendbegegnungen mit is­raelischen und türkischen Partnern statt. Gegenseitige Besuche eröffneten den Dialog. Die Jugendlichen überschreiten damit auch im übertragenen Sinne Grenzen. Denn für sie ist es gar nicht selbstverständlich, sich mit der deutschen Geschichte und dem Antisemitismus zu beschäftigen oder andere Religionen kennenzulernen. Im Juni erwarten die Altonaer Jugendlichen wieder Besuch aus Hakkari, einer kurdischen Stadt in der Osttürkei. Wie bereits 2009 werden sie gemeinsam an Workshops teilnehmen und ein Theaterstück erarbeiten – in diesem Jahr zum Thema Frieden. 7 KOLUMNE Mut zur Beratung Es geht uns nicht gut. Zum Teil, weil ein paar Banker das kleine Einmaleins des Menschlichen verlernt haben, woran wir nun gewöhnt sind. Aber das erklärt nicht alles. Wir werden außerdem von professionellen Amateurschauspielern regiert. In der perfektesten Aus­führung kann man ihren Stil als WWWPrinzip be­zeichnen. Langschriftlich heißt das Wildgeworde­ner­WesterWelle und geht so: Man betritt die Bühne der Politik, setzt sich in Szene und spielt mit den Kameras. Es gibt Gegenspieler und Statisten. Mitwirkende weit seltener. Die Zuschauer sind unbekannte Wesen. Irgendwo im Hinterland der Kameras, für die man im Lauf der Zeit Respekt erlernt. Dann begreift der professionelle Amateurschauspieler: Nicht er spielt mit den Kameras, sondern die Kameras machen Ernst mit ihm. Panik tritt ein. Die Komparsen tanzen auf den Tischen. Irrational zuckend werden die Gegenspieler zu angstvollen Beobachtern der sich selbst ins­zenierenden Groteske. Dass fast alle Fernsehzuschauer und Zeitungsleser Buh rufen, än­dert nichts an den merkwürdigen Ereignissen auf der Bühne der Politik. Vielleicht nennt man deshalb Politik lieber eine Profession als eine Kunst. Mit solchen Professionellen lässt sich wirklich nicht Staat noch Theater machen. Dabei wäre eine gute Show das Mindeste, was man erwarten darf, wenn gut bezahlte Regenten das Land an den Bettelstab bringen. Daraus ergibt sich für soziokulturell betriebe­ ne Amateurtheater eine Aufgabe. Sie sind geübt darin, ohne Geld mit großen Konflikten fertig zu werden. Sie locken aus Zuschauern Beteiligte. Die Leute gehen besser raus aus den Aufführungen, als sie hineingegangen sind. Ein wahrer Balsam für die arme geplagte Demokratie! Wer wäre besser geeignet, Spitzenpolitiker kom­petent zu beraten? Sie hören und sehen zu lehren? Reißen Sie sich also gefälligst ein paar minis­ teriale Beraterverträge unter den Nagel. Von den Honoraren könnten sie bestimmt eine Menge neuer Theater gründen. Mit ermunternden Grüßen Ihre Friede Nierbei soziokultur 2|10 READER ZUM THEMA THEATER 8 Vorwärts und ... Den Puppenstubencharakter verdankt Greiz seiner topografischen Lage: Umringt von bewaldeten Hügeln erhebt sich in der Mitte der ostthüringischen Stadt an der Weißen Elster der gut 60 Meter hohe Schlossberg, auf dem als Wahrzeichen das Obere Schloss thront. Weitere Schlösser, der Landschaftspark mit dem Sommerpalais und zahlreiche Gründerzeitvillen – vieles blitzt wieder frisch saniert in der ehemaligen Hochburg der Textilindustrie, von der leider nach der „Wende“ nichts geblieben ist. Heute haben die rund Der Greizer Theaterherbst S chon früh wollte Anna-Lydia Eddinghaus von Laßberg dem die Zukunft bedrohenden demografischen Wandel in Greiz etwas entgegensetzen, den BürgerInnen, vor allem den jungen, mit Kunst und Kultur wieder Selbstbewusstsein schenken, sie aktivieren zu künstlerischer Aktivität. Doch die anfängliche Skepsis war groß, als die Bonner Publizistin 1991 ihr soziokulturelles Projekt „Greizer Theaterherbst“ den Greizern auf den Tisch legte. 19 Jahre später – und schon längst in der Hand der Elsterstädter – ist das Projekt zu einem renommierten Festival gewachsen, das kontinuierlich und trotz manch durchschrittener Täler jährlich an Ausstrahlung und Reputation gewinnt. Die Erfolgsgeschichte des Greizer Theaterherbstes fußt zu einem Großteil auf dem Enga­ge­ ment des gleichnamigen Vereins, der das Fes­tival trägt und organisiert, aber nicht zuletzt auch auf seinem Konzept, das bundesweit wohl einzigartig ist. Denn hier werden nicht nur verschiedene Theatergruppen aus allen Landesteilen zusammengerufen, hier spielen die BewohnerInnen einer Stadt und ihrer Umgebung selbst Theater. Der Name „Theaterherbst“ ist dabei verwirrend, beginnt die Arbeit doch bereits im Frühsommer. Unter Leitung eines angesehenen Bühnenkünstlers und in Zusammenarbeit mit dem Vorstand des Vereins sowie eines Projektmanagers wird zum Mitwirken in verschiedenen Werkstattprojekten aufgerufen. Die ebenfalls von renommierten Theaterleuten aus ganz Deutschland geleiteten Werkstätten erarbeiten bis zur Festivalwoche, der dritten Woche im September, publikumsreife Inszenierungen, Performances und Kunstaktionen. Zwischen sieben und elf Werkstätten mit zehn oder mitunter sogar mehr als 60 (!) TeilnehmerInnen gehen dann an den Start. Das Spektrum der Inszenierungen ist dabei so vielfältig wie die Welt des Theaters selbst. Shakespeare, Büchner, Brecht, Dorst, Ripley sind nur einige Autoren, deren Stücke in den vergangenen 18 Jahren von den Greizern mit erstaunlicher, oft mehr als Semiprofessionalität erreichender Güte auf die Bühne gebracht wurden. Und als Spielort wird nicht nur das örtliche Theater genutzt, oft sind es alte Werkhallen, Plätze in der Stadt, der Park oder der Bahnhof, die zur Bühne umfunktioniert werden. Das Altersspektrum der Mitwirkenden in den Schauspiel-, Tanz-, Musik- oder Gestaltungswerkstätten reicht vom Vorschulkind bis zum Senior. Es sind Schüler und Abiturienten, die mitmachen, aber auch im Be­rufsleben stehende Erwachsene, Arbeitslose ebenso wie Asylbewerber. Der Bahnhof wird zur Bühne umfunktioniert. Die Festivalwoche im Herbst, die mit einem seit mehreren Jahren in eigener Regie erarbeiteten Theaterspektakel eröffnet wird, ist schließlich der Höhepunkt eines mehrmonatigen Arbeitsprozesses. Dann stehen nicht nur die Premieren auf dem Programm, zusätzlich präsentieren die Theaterherbstmacher dem Publikum Gastspiele herausragender nationaler und internationaler Ensembles. 3.000 bis 5.000 Zuschauer lockt der Theaterherbst in seiner Festivalwoche an und strahlt alljährlich weit über die Region Greiz hinaus. Apropos Ausstrahlung: Mit den besten Eigenproduk­tionen geht es nach der Festivalwoche auf Tour. Einladungen zu Festivals gehören dazu, aber auch Einzelauftritte, die jüngst bis nach Wien führten. Aus den besonders theaterbegeisterten Mitspielern hat sich eine feste, 26.000 EinwohnerInnen mit Arbeitslosigkeit und Abwanderung zu kämpfen. Abb.: Stelzenläufer des Greizer Theaterherbstes (oben), „Zeitreise-Reisezeit“, Regie: Sandra von Holn 2007 ganzjährig arbeitende Werkstatt formiert, die mit eigenen Stücken, aber auch als Stelzenläufer oder Pantomimen unterwegs sind. Dem Theaterherbst wird jährlich ein Motto vorangestellt. „Vorwärts und ...“ lautet es in die­sem Jahr, in dem der Berliner Regisseur Nico Dietrich erstmals das Zepter der künstlerischen Leitung übernommen hat. Stücke von Bertolt Brecht, Salman Rushdie oder Heiner Müller hat er mit den Leitern der Werkstätten ins Programm genommen, und in der Festivalwoche vom 10. bis 18. September erwarten das Publikum außerdem Gastspiele, z. B. des Maxim-Gorki-Theaters Berlin oder der italienischen Theaterschule Asti. Spätestens dann wird die „Puppenstube“ Greiz wieder zur (Theaterherbst-) Bühne. Übri­gens – aber das ist schon wieder eine andere Geschichte – organisiert der Verein Greizer Theaterherbst mit dem „Greizer JazzWerk“ jedes Jahr im Mai zudem ein internationales Jazz-Festival, das in diesem Jahr seine elfte Auflage erlebt hat und mittlerweile Jazz-Fans aus ganz Mitteldeutschland anlockt. www.theaterherbst.de Text und Fotos: KARSTEN SCHAARSCHMIDT, freier Wort- und Bildjournalist und Mitglied im Deutschen Journalistenverband. soziokultur 2 |10 READER ZUM THEMA THEATER 9 Rap4Peace – Songs for Othello Ein Jugend-Tanz-Theater-Projekt in Augsburg R ap for Peace“, ein Kooperationsprojekt zwischen dem Theater Augsburg, dem Kulturzentrum Kresslesmühle und dem Stadtjugendring leistet seit 2006 nachhaltig kulturpädagogische Jugendarbeit. KünstlerInnen des Theaters Augsburg erarbeiten mit Jugendlichen, die meist aus Familien mit Migrationshintergrund stammen, jährlich einen Theaterabend, der den virtuosen Street Dance der jungen Augsburger Hiphop-Szene mit dem Know-how der professionellen TheatermacherInnen kombiniert. Die Jugendlichen erfahren praktisch und eindrucksvoll einen gemeinsamen kreativen Arbeitsprozess, erleben unmittelbar den großen Erfolg der Aufführungen und erhalten abschließend ein Praktikumszeugnis, das ihnen die Ausdauer, Zuverlässigkeit und Teamfähigkeit bescheinigt, die ein solches Projekt erfordert. Im Rahmen des „Festivals der 1000 Töne“ initiierte Hans-Joachim Ruile, Geschäftsführer und künstlerischer Leiter des Kulturhauses Kressles­ mühle, die Zusammenarbeit: Gemeinsames Ziel war es, die jugendliche Hiphop-Szene Augsburgs mit den professionellen TänzerInnen des Ballett­ ensembles zusammenzuführen. Heute bli­cken wir auf die erfolgreichen Produktionen „Rap for Peace“ (2006), „Rap goes Romeo and Juliet“ (2007) und „Rap for Peace #3“ (2009) zurück, die den Jugendlichen und KünstlerInnen sowie dem begeisterten Publikum unvergessene Thea­ tererlebnisse bereitet haben. Für sein Engagement als künstlerischer Leiter der ersten beiden „Rap for Peace“-Produktionen erhielt Daniel Zaboj, Choreograf und ehemaliger Tänzer des Theaters Augsburg, 2007 den Bayerischen Kunstförderpreis. Mittlerweile ist das Interesse an Auftritten der „Rap for Peace“-Combo auch außerhalb des Theaters gefragt: Zum „Festival der Kulturen“ und zur Eröffnung der neuen Stadtbücherei Augsburg zeigten die Jugendlichen 2009 Ausschnitte aus den drei „Rap for Peace“-Projekten. Im Rahmen des „Festivals der 1000 Töne“ trat ein Teil der jungen TänzerInnen gleich zweimal mit dem Tanztheater „Rap for Peace – Body Talks“ in der Spielstätte Komödie auf. Seit Beginn dieses Jahres wird nun im Ballettsaal und auf den Probebühnen des Theaters wieder intensiv geprobt. Über 40 jugendliche Mitwirkende arbeiten gemeinsam an „Rap4Peace – Songs for Othello“, das am 7. Juni 2010 im Großen Haus des Theater Augsburg Premiere feiert. Der Weg ist das Ziel: In einem viel höheren Maße als dies bei normalen Theaterproduk­tio­ nen der Fall ist, liegt die Gewichtung auf dem Entstehungsprozess während der Probenzeiten. Die jugendlichen TeilnehmerInnen erfahren die Wichtigkeit von Werten wie Teamarbeit, Zuverlässigkeit, Toleranz sowie die konzentrierte, kontinuierlichen Beschäftigung mit einem Thema, von dem in den Vorstellungen erzählt werden soll. Künstlerischer Leiter und Choreograf Daniel Zaboj erarbeitet zusammen mit ihnen einen künstlerischen Rahmen, der ihnen die Aneignung wichtiger sozialer Kompetenzen, die Erweiterung der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten und ein Selbstbewusstsein für die eigene Geschichte ermöglicht. Erneut lässt sich Daniel Zaboj im nun in die vierte Runde gehenden „Rap4Peace – Songs for Othello“ von Shakespeares dramatischem Kosmos inspirieren. War es vor zwei Jahren die tragisch endende Liebe zwischen Romeo und Julia, bietet jetzt das Netz aus Intrigen, Neid, Hass und Vorurteilen, in dem sich der Außenseiter Othello verfängt, die Folie für eine moderne Ballett-Version. Wieder wird der vielseitige aktuelle Streetstyle auf ausgefeilte Modern-Dance-Choreografien treffen, so dass sich die rasende Eifersucht des Protagonisten in der rasanten Körpersprache der dynamischen Power-Moves seiner Mitstreiter und Kontrahenten spiegelt. Extreme Gefühlswelten, Vertrauensverlust, der Umgang mit Konflikten, die Menschen ins Chaos stürzen, aber auch die Chancen der Befreiung und Loslösung daraus bleiben so die brisanten thematischen Aspekte, für die Daniel Zaboj gemeinsam mit den vielen jugendlichen, hoch motivierten TänzerInnen aus der regionalen Hiphop- und Breakerszene explosiv performte Tanzsequenzen entwickelt. Kreativ musikalisch begleitet wird die Produktion, die wie im Vorjahr zweimal im Theater Augsburg gezeigt wird, auch in diesem Jahr von Deniz Khan, optisch soll diesmal der im Trend liegende MangaStil eine Rolle spielen. Selbstverständlich soll „Rap for Peace“ auch in den folgenden Jahren weitergeführt werden. Weder den künstlerischen Möglichkeiten noch den kreativen Impulsen der Jugendlichen sind zeitliche Grenzen gesetzt, und so wird das Thea­ter Augsburg auch in Zukunft das erfolgreiche Projekt fortsetzen. Die Mitwirkenden können somit nachhaltig über mehrere Jahre hinweg teilnehmen und ihre Kompetenzen ausbauen. READER ZUM THEMA THEATER 10 soziokultur 2|10 International, experimentell, aktuell EXPLOSIVE! 13. Internationales Jugendtheater-Festival im September in Bremen BARBARA HIRSCH 1994 wurde das erste Internationale Jugendtheater Festival EXPLOSIVE! ins Leben gerufen. Die Initiatoren haben nicht damit gerechnet, dass es die Jahrtausendwende überstehen würde. Die Finanzierung war mehr als ungewiß und die Recherche äußert schwierig, da wir mit dem Festival Neuland betraten. Mittlerweile hat sich das Festival etabliert, der Etat ist im Haushaltstitel unseres Kulturzentrums verankert und wir verfügen über ein Netzwerk von Kontakten, das über die ganz Welt verstreut ist. Intention des Festivals ist die Weiterentwicklung und Inspiration der heimischen Szene sowie der Austausch auf internationaler Ebene. Aktuelle Strömungen und Tendenzen in der internationalen Jugendtheaterszene werden verfolgt und diskutiert. Dabei wird die Besonderheit eines Festivals genutzt: Durch die zeitliche Begrenztheit werden Energien gebündelt und thematische Positionen zusammengebracht, die weit voneinander entfernt entstanden sind. Festivals haben es schwerer, Kontinuitäten herzustellen und Entwicklungen von Künstlern und Theatergruppen zu begleiten. Aber sie können für einen kurzen Zeitraum außergewöhnliche künstlerische und thematische Positionen sichtbar machen. Im Rahmen von EXPLOSIVE! im September 2009 kamen Produktionen aus Russland, Bel­ gien, Palästina, Brasilien, Finnland und natürlich aus Bremen auf die Bühne. Schauspielschüler­ Innen aus St. Petersburg interpretierten das Dschungelbuch mit beeindruckender körperlicher Präzision, junge PalästinenserInnen aus Jenin setzten sich mit ihrer Lebenssituation in einem Flüchtlingslager im Westjordanland auseinander. Mutige Amateure aus Turku und Antwerpen interpretierten die Probleme des Erwachsenwerdens auf ihre ganz spezielle Weise. 8- bis 14-jährige Kinder aus dem Produktionszentrums Victoria in Gent standen selbstbewusst auf der Bühne und schelten die Erwach- senenwelt mit Texten eines Theaterprofis wie Tim Etchells, an die sie sich ohne Hemmungen heranwagten. Daneben waren temperamentvolle BrasilianerInnen zu erleben, die stolz ihre eigene Kultur präsentierten und das Sterben des Regenwaldes anprangernten. Aber ein Festival kann nicht nur die zeitliche Begrenztheit kreativ nutzen, es kann auch Freiräume für Experimente schaffen. Ein solches Expe- soziokultur 2 |10 riment war der Intensiv-Workshop „Seven“ des niederländischen Regisseurs Jeroen Kriek: Harte schauspielerische Körperarbeit und eine einwöchige Abschottung vom Privaten waren die Voraussetzungen für die Teilnahme an diesem Projekt. Bei der Suche nach DarstellerInnen war es Regisseur Kriek wichtig, Jugendliche mit verschiedenem kulturellen Hintergrund zu finden. Er war sich sicher, dass die verschiedenen Kulturen, die verschiedenen Persönlichkeiten und Biografien das Stück prägen würden. Acht Bremer Jugendliche, die ihre Wurzeln in Kasachs­tan, Polen, China, der Türkei und Deutschland haben, wohnten und probten eine Woche zusammen und alles, was auf der Bühne zu sehen war, entstand in dieser Zeit. Die Gruppe arbeitete ausschließlich mit Themenkomplexen, die mit der Zahl sieben in Verbindung stehen. Der anschließenden Präsentation war die außergewöhliche Intensität der Probenzeit anzumerken. Enstanden war eine fantasievolle und manchmal auch skurrile Szenenfolge, die mit viel Spielfreude und Spaß vorgetragen wurde. Die Jugendlichen hatten unter professioneller Anleitung innovative Ausdrucksformen und neue darstellerische Wege gefunden und sich READER ZUM THEMA THEATER mit existenziellen Fragen der Jugend und gesellschaftlichen Problemen auseinandergesetzt. Das Publikum war begeistert und das Experiment gelungen. Neu in diesem Festivaljahr war auch das „Bremer Fenster“, das einen Blick auf die vielfältige Jugendtheaterszene unserer Stadt bot. Nachdem wir in den vergangenen Jahren nur jeweils eine Bremer Produktionen zeigen konnten, war es diesmal durch umfangreiche Kooperationen möglich, die Vielfalt unserer Jugendtheaterszene darzustellen. Von der Moks Theaterschule JUNGE AKTEURE über das integrative Projekt „Die Anderen“ des tanzwerks, der Theaterwerkstatt der Hochschule Bremen bis hin zum Hiphop-Projekt eines Bürgerhauses reichte dieses Spektrum. Durch diese Erweiterung kamen auch neue Aufführungsorte hinzu, was zu einer größeren Präsenz des Festivals in der Stadt führte. Viel Beachtung fand auch das von der Me­ dienwerkstatt des Schlachthofs produzierte EXPLOSIVE! Festival-TV. Es zeigte Ausschnitte aus den Aufführungen, Interviews mit Regisseuren und DarstellerInnen und den Ausblick auf die nächsten Produktionen und ergänzte damit gedruckte Programminformationen, persönliche 11 Statements, Kommentare, Hintergründe und Atmosphärisches vom Festival. Die jeweils 15-minütigen Magazine waren während des Festivals täglich im Foyer des Schlachthofs zu sehen. Radio Weser.TV zeigte die Sendungen im Kabelkanal oder als Livestream im Internet. Viele Jugendliche nutzten diese Möglichkeit, sich noch weitere Informationen über die Aufführungen und Gruppen zu holen. EXPLOSIVE! hat sich etabliert und hat seinen Radius erweitert. Es versucht immer wieder, den Blick zu schärfen für Neues, Aktuelles und Spannendes, was im Bereich Jugendtheater national und international passiert. Dieser Herausforderung werden wir uns auch im nächsten Jahr stellen, wenn EXPLOSIVE! wieder über die Bühne gehen wird. Fotos: Frank Scheffka, raum-atelier für fotografie, www.raum-fotografie.de www.explosive-info.de BARBARA HIRSCH ist Mitglied der Festivalleitung und Mitbegründerin des Festivals. soziokultur 2|10 READER ZUM THEMA THEATER 12 Der große Müller und die kleine Stadt Heiner-Müller-Stück an der Kulturbörse Gnoien KARL NAUJOKS A m Bühnenrand zupft ein Bassist gedankenverloren sein Instrument. Hinter dem Vorhang ruft eine kräftige Stimme: „Die Kultur muss aufs Land!“ Ein dickes rotes Buch erscheint, mal links, mal in der Mitte zwischen den Bahnen aus rotem Samt. Wieder muss die Kultur aufs Land, meint die Stimme aus dem Off. Der Kontrabassist schaut über­rascht von seinem Spiel hoch, als ihm das dicke rote Buch unter die Nase kommt. Als Nächstes torkelt eine weibliche Gestalt von der Bühne herunter. Zeitlos bekleidet. Die Assoziation findet eine Schublade: Hartz-IV-Empfängerin. So beginnt die Anfangsszene auf der kleinen Bühne des Familienzentrums Kulturbörse in der mecklenburgischen Kleinstadt Gnoien. Abermals wird an diesem Donnerstagabend am Stück gearbeitet. Ja, was denn? Der Anfangspart ist Heiner Müllers Drama „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ entlehnt. Ein früher Müller, 1961 uraufgeführt. Die Geschichte handelt von einer mutigen Frau. Aber ein kompakter und homogener Müller soll es gar nicht werden, meint die Theaterpädagogin Bettina Kalisch. Eher eine Art Collage aus Stücken, Texten und Interviews des Autors. Zugeschnitten auf 20 Jahre neues Deutschland und auf die Lebenserfahrungen der Protagonisten. Der Anstoß, sich mit Heiner Müller zu beschäftigen, kam zunächst von außen. Ein befreundeter Regisseur, nahebei wohnend, der viel für das Fernsehen arbeitet, wollte unbedingt einmal seinen Müller inszenieren. Kalischs Truppe ließ sich auf das Wagnis mit dem großen, ganz großen Müller ein. Wollte aber ihre eigenen Erfahrungen und Sehweisen mit eingebracht sehen. Also ein Wort mitreden. Anfangs klappte das auch ganz gut, erzählt Bettina. Aber mit der Einbeziehung war es dann doch nicht weit her. Von Mal zu Mal wuchs bei ihren Leuten das Misstrauen, dass der Regisseur sich doch nicht wirklich auf sie einlassen wollte und ihre Ideen, wie man in Gnoien schauspielen könnte. Auf einer großen Bühne mit Berufsspielern mag der Ansatz des Regisseurs zu verwirklichen sein. Nicht so in Gnoien auf dem Lande. Es kam zum Bruch mit dem Mann vom Fernsehen, erzählt Bettina ihren Protagonisten vor Probenbeginn. Man habe sich im Guten getrennt. Auf weitere Einzelheiten geht sie nicht ein. So etwa zur Hälfte steht die Inszenierung und es bleibt bei Heiner Müller und bei einer szenischen Zusammenstellung seiner Texte. Aber jetzt muss die Truppe allein weiter gehen. Wohin das am Ende führt? Das fertige Resultat, das Stück, wird um den Tag der Einheit herum sichtbar. Uraufführung natürlich im kleinen Saal der Kulturbörse, wahrscheinlich erst ein paar Tage nach dem 3. Oktober, weil da herum schon viel los ist, weiß Bettina Kalisch. Zupass käme es ihnen, wenn sie ihren Müller auch an anderen Orten und bei anderen Gelegenheiten aufführen könnten. Einer, der am 3. Oktober anderes zu tun haben wird als Theater zu spielen, ist Hans-Georg Schörner. Er ist in Gnoien Bürgermeister, ehrenamtlich, seit 1994. Schörner hat in zwei deutschen Armeen gedient, in der einen brachte er es bis zum Korvettenkapitän, in der anderen bis zum Kapitänleutnant, einen Rang niedriger. Als Techniker war er nach 1990 für eine Weiterbeschäftigung in der Bundesmarine unverfänglich. Der 64-jährige Schörner will vor allem Müller- soziokultur 2 |10 sche Texte und Interview-Antworten vortragen. „Sagen wir mal so rum, keine feste Rolle mit festem Text und Typ. Ich bin ja hier der Bürgermeister, und obwohl der auch in der ,Umsiedlerin’ vorkommt, spiele ich den nicht“, erzählt der Ex-Marineoffizier. Er will seiner Funktion als Amtsperson im realen Leben treu bleiben und keine Rollendiffusion entstehen lassen. An diesem Abend hat Hans-Georg Schörner seinen blauen Marinemantel mitgebracht und übergibt ihn Bettina in den Kostümfundus. Für immer. Die Messingknöpfe glänzen, der tiefblaue Stoff ist fusselfrei. Schörner will ihn nicht mehr auf dem Boden hängen haben. Dieses Stück Erinnerung an den Berufsalltag sei Vergangenheit. Für ihn abgeschlossen. Nun darf der Uniformmantel Theaterfiguren zieren. Schörners Begegnung mit Müller ist erst gegenwärtiger Art. Früher haben ihn Theater und Dramenliteratur oder gar der Müller selbst kaum interessiert, allenfalls, wenn er an das Laien­ theater seinerzeit in der Erweiterten Oberschule zurückdenkt (dem DDR-deutschen Pendant zum Gymnasium). Schörner hat sich extra für heute Abend mit einem Buch gewappnet, in dem andere über Müller schreiben und urteilen. „Das ist schon spannend“, sagt er. Der Bürgermeister (Gnoien hat 3.038 Einwohner) findet bei seinem Theaterspiel familiären Beistand. In der Inszenierung wirkt auch Schwiegertochter Astrid mit, die immer alles hübsch unter den Teppich kehrt und in der „Umsiedlerin“ d e n Flint gibt. Sohn Torsten Schörner wird den Monolog „Im Fahrstuhl“ sprechen. Ein Müller-Text von 1979, der schon das späte hochartifizielle Dramatikergenie ahnen lässt. Von einer simplen Paternoster-Situation verschlägt es den bang auf einen Chef-Termin Wartenden nach Peru, wo er nicht ermordet wird. Zum Jahrestag der Einheit wird man sehen und hören, was Bettina Kalischs Truppe daraus gemacht hat. READER ZUM THEMA THEATER Der Mann am Bass zupft sein Instrument gelegentlich bei Auftritten mit einer Band in der Schweiz. Wolfram Vogele ist 41 und verrichtet in der Kulturbörse so ziemlich viel, führt Filme vor usw. In der Inszenierung will er der Musiker sein. Eine richtige Rolle sei das wohl nicht, aber es ist das, was er gut einbringen kann, es soll ja auch mehr so eine Collage werden, da brauche es auch einen Musiker. Für Vogele war Heiner Müller weit weg im großen Berlin. „Ich habe ihn nicht gekannt. Ich selber würde so auch nicht rangehen, aber spannend ist das schon, wenn einem so etwas angetragen wird“, meint der Musikus. „Mit der Weile kommt die Einfühlung“, sagt er, „anfangs war es für mich ziemlich egal, ich bin schon länger dabei in der Kulturbörse, aber Theater zu machen, das war nicht unbedingt mein Traum.“ Was ihn da reize? „Es ist interessant, mit einer Gruppe etwas zu machen. Wir sind eine spannende Runde. Das ist ja auch ein Effekt, den wir anstreben: nämlich uns miteinander und sich selbst kennenzulernen dabei.“ „Junkerland in Bauernhand“ hieß eine Losung, in deren Geltungszeit Müller seine Theaterfigur der Umsiedlerin agieren lässt. Zu „Bauernland in Bonzenhand“ wurde in den wilden 90er Jahren der Spruch umgemünzt. Ob Bettina Kalisch mit ihrer Truppe soweit geht dies zu thematisieren, ist jetzt nicht abzusehen. Auf halber Wegstrecke angekommen muss die Gruppe jetzt erst mal ohne Regisseur als Chef und Alpha-Tier auskommen. Bettina greift den inhaltlichen Fragen voraus, die dann im gemeinsamen Spiel von allen konkretisiert werden. Kann man mit Müller-Texten heute noch etwas anfangen? Was heißt es, „die Kultur muss (oder geht) aufs Land“? Auf diese Weise soll Kultur als „Nahrungsmittel“ ver­standen werden und Lösungen bieten. „Menschen werden im aktiven Miteinander aus der Isolation geholt. Mit unserem Projekt wollen wir ebenso Menschen 13 auf den Geschmack von Kultur, die dringender denn je gebraucht wird, bringen. Das dient dann auch einer allgemeinen Gesundung, einer Gesundheit, die ansteckend wirken kann, wenn Menschen im positiven Sinne für sich und andere aktiv werden“, sagt Bettina. Noch wird es eine ganze Reihe donnerstäglicher Treffs in der Kulturbörse geben. Im August will Kalisch eine ganze Woche lang intensiv mit ihrer Truppe proben. Nachdem die Kulturbörse beim Fonds Soziokultur mit einem Förderantrag hinten heruntergefallen ist, hat sich Kalisch Geld über die Aktion „Vielfalt tut gut“ aus dem Bundesministerium geholt. Allgemeiner Projekt­ansatz ist es, etwas für Demokratie und Selbstbestimmung zu tun. Bis zur fertigen Inszenierung wird nun noch einiges Wasser die Warbel hinunterfließen. Diese sprachliche Wendung passt an diese Stelle, um zu ergänzen, wo denn Gnoien überhaupt liegt: an der Warbel, mehr ein Wiesenbach und weniger ein Fluss. Mitten im sanft hügeligen Mecklenburg auf halber Strecke zwischen den Städten Greifswald und Rostock. Auf dem Land also. Da wo die Kultur hingehen soll. Oder wo sie ist. Die Kulturbörse Gnoien, multifunktionales Familien­ zentrum, ist Mitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur in Mecklenburg-Vorpommern. Abb. linke Seite oben (v.l.n.r.): Anfangsszene; Wolfram Vogele, Grit Gesche, Ramona Ahnert Unten: Bettina Kalisch Rechte Seite (v.l.n.r.): Astrid Schörner, Bettina Kalisch (liegend), Hans-Georg Schörner, Bärbel Weber; Hans-Gorg Schörner; Bärbel Weber Fotos: Karl Naujoks KARL NAUJOKS ist Vorstandsmitglied bei der LAG Soziokultur Mecklenburg-Vorpommern. soziokultur 2|10 READER ZUM THEMA THEATER 14 Kultur bildet Persönlichkeit Zwölf Jahre Kinder- und Jugendkultur in Stroetmanns Fabrik Emsdetten U L R I K E W A C H S M U N D, H A N N A H K A B E L „You can change your life in a dance class“, sagt Royston Maldoom im vielfach ausgezeichneten Dokumentarfilm „Rhythm is it“ und bringt mit seiner zentralen Aussage die Vision der Kulturprojekte, die Stroetmanns Fabrik seit 1996 in Emsdetten veranstaltet, auf den Punkt: Kultur bildet Persönlichkeit. Die Begegnung mit Kultur auf hohem Niveau kann Menschen existenziell berühren. Ein kulturelles Schlüsselerlebnis kann Menschen in jedem Lebensalter für einen Moment, für Stunden, Tage oder sogar ein ganzes Leben zu neuen Sichtweisen auf das Leben und die eigene Lebenssituation führen. Dies ist vor allem für Kinder und Jugendliche von großer Bedeutung. Stroetmanns Fabrik geht es darum, ihnen die Chance zu jeder kleinen oder großen Begegnung mit Kunst und Kultur zu geben und den Grundstein für eine lebenslange Bindung an sie zu legen. Es geht um kleine, aber vielleicht wichtige Schritte in der Entwicklung von Selbstbewusstsein, Mut, Teamgeist und Leistungsbereitschaft. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass in den Kulturprojekten häufig gerade die Kinder durch besonderes Engagement und Kreativität auffallen, die im schulischen Alltag wenig in Erscheinung treten. Es sind meist die „stillen Vertreter“, selten die „Rudelführer“, die darstellerisch plötzlich Fähigkeiten und Potenziale zeigen, die im Schulalltag oder auch im Freizeitleben kaum nachgefragt werden. So kommt kultureller Bildung heute auch unter sozial-gesellschaftlichen Aspekten eine immer größere Bedeutung zu. Die Politik erkennt angesichts der großen Zahl von Jugendlichen, die ohne Lern- und Leistungsbereitschaft, ohne Ausbildungs- und Lebensper­ spektive heranwachsen, die Notwendigkeit und Chancen kultureller Bildung. In den vergangenen Jahren wurde begonnen, vermehrt in den Bereich Kinder- und Jugendkultur zu investieren. So unterschiedlich und einzigartig unsere Projekte in den vergangenen zwölf Jahren auch waren, es gab für alle ein gemeinsames Konzept durch genau beschriebene Rahmenbedingungen. Veranstaltungsform: Unsere Projekte sind immer als Workshops oder Werkstätten mit öffentlicher Abschlusspräsentation organisiert. Entscheidend ist dabei ein hoher Anspruch an die TeilnehmerInnen, durch den sie erfahren, was in ihnen steckt, wie viel man durch eigene Leistung erreichen kann und wie befriedigend die daraus resultierenden Ergebnisse sind. Wir geben Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, selbst künstlerische Erfahrungen zu machen, indem sie gestalten, schauspielern, tanzen, musizieren oder auch unterschiedliche kulturelle Lebenswelten durch eigenes Handeln und Gestalten entdecken. Durch das eigene Tun, das Fühlen, Denken und die Suche nach Ausdruck ist der ganze Mensch mit „Leib und Seele“ gefordert. Die Workshops ermöglichen eine sehr direkte Begegnung mit Kultur. Im Mittelpunkt steht das künstlerische Schaffen, weniger die Heranführung an Kulturrezeption. Dauer: Die Workshops laufen über fünf bis zehn Tage während der Sommerferien. Täglich wird acht bis zehn Stunden gearbeitet. Die Zeitintensität ermöglicht eine Arbeitsatmosphäre, die die Ernsthaftigkeit des Unternehmens unterstreicht und fördert. Der Tag beginnt zumeist mit einem gemeinsamen „warm up“, mit Einführungen in grundlegende Techniken des jeweiligen Genres. Anschließend wird rotierend in unterschiedlichen Gruppen gearbeitet, die spezifische Bereiche des Projektes aufgreifen. Außerdem gibt es Planungsund Reflexionsgespräche, Pausen, Austausch und auch Zeit für gemeinsames Essen. Die Abschlusspräsentation ist natürlich der Höhepunkt jedes Projektes, gekrönt von der „After-Show“-Party. Leitung: Die Workshops werden ausschließlich von hauptberuflich arbeitenden KünstlerInnen mit möglichst wenig oder ohne pädagogische Erfahrungen oder Qualifikationen geleitet. Ihre Persönlichkeit und künstlerische Arbeit entscheiden über den Erfolg der Projekte. Die intensive Zusammenarbeit mit den KünstlerInnen ermöglicht den Heranwachsenden, sich mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen auseinanderzusetzen. Sie lernen Menschen kennen, die sich mit großer Ernsthaftigkeit und Begeisterung einer Sache widmen und ganz darin aufgehen. Durch die Professionalität der KünstlerInnen werden besondere soziokultur 2 |10 Anforderungen an die Kinder und Jugendlichen gestellt. So erleben sie oft, dass keine Rücksicht darauf genommen wird, ob es gerade zu schwer, zu anstrengend, zu langwierig, zu nass, zu heiß oder zu ungewohnt ist. – Darum geht es einfach nicht, es geht allein um die notwendigen nächsten Schritte im Projekt. Durch diese Vorgaben lernen sie ihre Grenzen kennen, und sie lernen vor allem, dass es möglich ist, diese zu überschreiten, und dass sich dadurch ganz neue We­ge eröffnen. Anstrengung und Durchhaltevermögen sind eng mit künstlerischen Prozessen verbunden. Nur nach wirklicher Anstrengung erleben sie den App­laus des Publikums als verdient und als Lohn für ihre Bemühung um Ausdruck. Teilnehmer: Unsere Workshops finden außerhalb schulischer Zusammenhänge statt. In der Regel nehmen 20 bis 40 Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten teil. Die Altersunterschiede sind nicht READER ZUM THEMA THEATER größer als ein bis zwei Jahre, bzw. es werden Workshops für unterschiedliche Altersgruppen angeboten. Die Teilnahmegebühr kann durch Fördermittel niedrig gehalten werden, die Kinder werden voll verpflegt. In Absprache mit Institutionen der Familienhilfe können auch Kinder, deren Eltern die Gebühr nicht aufbringen können, kostenfrei teilnehmen. Betreuung: Für alle persönlichen Belange gibt es je nach Gruppengröße und Alter der TeilnehmerInnen ein bis zwei BetreuerInnen, die für all das zuständig sind, was sonst die Eltern regeln: Essen, Trinken, Auskünfte, Hilfen usw. usw. Die Kinder verstehen die Trennung zwischen Workshopleitung und Betreuung sofort. Für die künstlerischen Leiter sind die Betreuer eine große Entlastung. Veranstalter: Veranstalter und Veranstaltungsort ist bei allen Projekten das Sozio-kulturelle Zentrum Stroetmanns Fabrik in Emsdetten. In den Sommer­ferien sind die Säle und Seminar- 15 räume des Hauses weniger belegt, so dass eine Werkstatt­atmosphäre entsteht und die Projekte das Haus ganz „in Besitz“ nehmen können. Der Saal mit Bühne, Ton- und Lichttechnik, Garderoben und Requisitenräumen bietet alle Möglichkeiten, und die Kinder und Jugendlichen können „echte“ Bühnenerfahrung sammeln. Kultur im ländlichen Raum: Doch die Projekte haben auch eine kulturpolitische Bedeutung. In der öffentlichen Sicht auf Kultur stehen die Kultureinrichtungen der großen Metropolen im Mittelpunkt des Interesses. Dem ländlichen Bereich werden oft Laienkultur oder Brauchtumspflege zugeordnet. Hier wollen wir mit den innovativen Projekten gegensteuern, in der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit sorgen und Akzente setzen. Und die Reaktion des Publikums zeigt immer wieder, dass Interesse und Verständnis der Menschen für anspruchsvolle Kultur auch in der „Provinz“ vorhanden sind. Die Inhalte: Die Inhalte der Workshops umfassen nicht nur die klassischen Kultursparten Theater, Musik, Literatur und bildende Kunst, sondern auch Spartenübergreifendes und Experimentelles. Die Beschäftigung mit den Kulturen anderer Völker gehört ebenso zu den Workshop­ inhalten wie Alltagskultur in historischen Zusammenhängen, die Auseinandersetzung mit den eigenen Sinnen oder auch Medienprojek­te im Bereich Spiel- und Dokumentarfilm. Abb.: Theater von Sinnen, Projekt 2009 (oben) Projekt „Aquarius” mit dem Theater Titanick, 2008 (unten) Aus: Kultur bildet Persönlichkeit. 12 Jahre Kinder- und Jugendkultur in Stroetmanns Fabrik Emsdetten, Dokumentation von Stroetmanns Fabrik, Sozio-kulturelles Zentrum Emsdetten e.V., www.stroetmannsfabrik.de ULRIKE WACHSMUND und HANNAH KABEL, Theater Titanick. soziokultur 2|10 READER ZUM THEMA THEATER 16 Eins auf die Fresse Jugendtheater zum Thema Mobbing, nicht nur für Jugendliche, sondern mit ihnen D WOLFGANG HERBERT as E-Werk Freiburg und die Freiburger Theatergruppe RadiX-08 starteten im Sommer 2009 das Modellprojekt „NO GO mittendrin – schau hin“, zur Förderung des Dialoges zwischen Kunst und Jugendkultur. Das Jugendtheaterstück „Eins auf die Fresse“ handelt von Mobbing in der Schule – ein allgegenwärtiges Thema. In der Vorarbeit für das Theaterstück wurden theater- und medienpädagogische Angebote mit künstlerisch-ästhetischen, sowie jugendkulturellen Ausdrucksund Vermittlungsformen kombiniert. Die Premiere und weitere 20 Vorstellungen waren nahezu ausverkauft und wurden von etwa 4.500 Jugendlichen und jungen Erwachsenen besucht. Erwähnenswert ist, dass drei Viertel der Jugendlichen aus dem Bereich der Hauptund Realschulen in der Region Freiburg kamen. Die Verbindung von Theaterstück und kulturellen Bildungsangeboten für Jugendliche, die in Form von Workshops, Aktionen sowie erarbeiteter kreativer Produktionen stattfindet, macht die besondere Qualität des modellhaften – auf Prävention angelegten – Vorhabens aus. Über Breakdanceworkshops und Castings wurden Jugendliche gewonnen, die eine Choreografie und die Songs für das Theaterstück erarbeite- ten. Dafür konnten Jugendzentren und Schulen, vor allem aus dem eigenen Stadtteil, als Partner gewonnen werden. Eine weitere Gruppe Jugendlicher, die sich über Medienworkshops zusammenfanden, übernahm Werbung und Fotodokumentation und produzierte Podcasts mit allen Beteiligten, die ins Internet gestellt oder in lokalen Radiosendern gesendet wurden. Schulklassen konnten die öffentlichen Proben zur Vorbereitung ihres Unterrichtes besuchen. Außerdem gab es für Schulen das Angebot der Regisseurin und den Schauspielern, in den Unterricht zu gehen und die Lehrer bei der Vor- und Nachbereitung zu unterstützen. Im Anschluss an jede Aufführung fand eine Podiumsdiskussion zum Stück mit der Regisseurin und den Schauspielern statt. Das Jugendtheaterstück „Eins auf die Fresse“ von Rainer Hachfeld (UA Grips Theater Berlin) handelt von Gewalt auf dem Schulhof. Die Geschichte beginnt am Grab des Schülers „Matze“, der Selbstmord begangen hat. Auf der Suche nach den Motiven des Selbstmordes geraten vier Jugendliche in Konflikte – es geht ums Abziehen, ums Abzocken, um Erpressung und Mobbing, ums Wegschauen, Mitmachen und schließlich ums Sich-Wehren. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Kulturzentren wie das E-Werk Theaterproduktionen und Aufführungen in ihrem Programm haben, denn wenig andere Orte sind so nahe an ihrem Publikum und in der Lage, auch so authentisch Themen der Zeit aufzugreifen und umzusetzen. Sie bieten Räume mit einer niedrigen Hemmschwelle für alle Mitglieder unserer Gesellschaft. Gleichzeitig sind dies Arbeitsräume, in denen Theaterprofis mit Jugendlichen Produk­ tionen in hoher Qualität erarbeiten können. Das E-Werk wird die Theaterarbeit mit dem Theater RadiX-08 fortsetzen. Geplant wird ein Stück, das Jugendliche in Zusammenarbeit mit Theaterprofis selbst entwickeln und schreiben. Zum Schluss als Beispiel für die Szene im E-Werk ein Auszug aus dem Brief eines an der Produk­ tion beteiligten Jugendlichen: „Am Anfang war da nichts. Eine Woche später hatte ich die Geschichte gelesen, eine Idee im Kopf und die Beats ausgewählt. Es war eine gewagte Idee der Regisseurin, Rapper und Tänzer in das Stück zu integrieren. Ein Stück über Mobbing und Gewalt: „Eins auf die Fresse“. Die Regisseurin, sozusagen Träumerin des Stückes, hatte uns geholt, um es authentischer und realistischer zu gestalten. Wir waren nicht nur da, um das sehr ernste Stück immer wieder etwas aufzulockern, sondern auch um in der Umsetzung immer wieder ehrliche Meinungen einzubringen. soziokultur 2 |10 Es hatte Zeit gekostet, Stress gefordert und manchmal auch Schlaflosigkeit zur Folge gehabt. Aber wenn man nach gefühlten 16 geschriebenen Songs (bei denen man den Großteil der Lines undurchdacht zerrissen hat, bei denen einem nachts um 4 Uhr im Scheinwerferlicht auf der Kaiser-Joseph-Straße der letzte, perfekt passende Reim eingefallen ist oder die einem an einem wunderschönen Tag, der Sonne entgegen, verloren in den Worten, innerhalb von Minuten gekommen sind) rausgeht, ein bisschen Liebe in die Strophen packt und die Menschen zum Lächeln oder Nachdenken bringen kann, ist man einfach nur glücklich. In der Zeit der Aufführungen entwickelten wir uns zu einer kleinen Familie, man verbrachte irgendwann furchtbar gerne die Tage miteinander und am Ende war die große Hoffnung auf eine Wiederaufnahme das Einzige, was die etwas traurige Stimmung übertönte. Wir haben zusammen gegessen, die Tänzer rappten mit uns und READER ZUM THEMA THEATER zeigten uns die Choreografien, man fing an, sich Geschichten zu erzählen, über persönliche Dinge zu diskutieren, zusammen „Scheiße“ zu bauen. Ungefähr nach der dritten Aufführungen kam die Routine, man ging raus, machte sein Ding, voller Leidenschaft und einfach frei, wünschte den anderen Glück, hatte zusammen Spaß und merkte auch bei jedem Applaus, das man die Leute erreichte. Die Erfahrung war einmalig, denn am Applaus merkt man, dass die Menschen fühlen, was man sagt. Genauso ist Theater, es sind mehr als nur Worte, es sind verspielte, verschwendete Worte, die in einem Augenblick die Menschen fühlen Niklas Melcher, 15 Jahre lassen können.“ WOLFGANG HERBERT ist stellvertretender Geschäfts­ führer und verantwortlich für das Programm Musik und Theater im E-Werk Freiburg. 17 Das E-Werk ist das größte soziokulturelle Zentrum in Freiburg. Neben Projekten in Bereichen wie bildender Kunst und Musik liegen seine Schwerpunkte im Bereich der darstellenden Kunst bei Tanz- und Theaterproduktionen sowie bei den spartenübergreifenden Themen Migration und kulturelle Bildung. Das Theater RadiX-08 ist ein Zusammenschluss von acht erfahrenen freien Schauspielern, Tänzern, Regisseuren und Bühnenbildnern. Sie arbeiten bevorzugt mit jungen Absolventen der im E-Werk gelegenen Freiburger Schauspielschule zusammen, die am Anfang ihrer Professionalität sind und den Spielfiguren auf Grund ihres Alters und ihrer Disposition nahestehen. Diese Rollenfiguren sollen Identifikationsfiguren für die jugendlichen Zuschauer sein. www.ewerk-freiburg.de READER ZUM THEMA THEATER soziokultur 2|10 Fotos: Hartmut Berkau 18 IN ACTIO LÄNDLICHE AKADEMIE KRUMMHÖRN (LAK) Verrückte Ideen und ostfriesische Sturheit M anchmal sind es gerade die kuriosen Ideen, die begeistern können und zum Ziel führen. Für die Ländliche Akademie Krummhörn beginnt dies Prinzip schon mit der Gründung des Vereins. Vor 27 Jahren beschlossen einige Professoren des Fachbereiches Sozialwesen der Fachhochschule Ostfriesland in Emden, für die dort Studierenden ein sozial-kulturelles Erprobungsfeld zu erschließen. Die im Hinterland Emdens liegende Gemeinde Krummhörn bot mit ihrer großen Fläche, 19 zugehörigen Dörfern mit insgesamt nur 17.000 Einwohnern ein interessantes Betätigungsfeld. Zum Zeitpunkt der Ideenentstehung hatte wohl keiner der Professoren ahnen können, wie sich dieser Gedanke entwickeln würde. Die Krummhörner machten es ihren Kultureinwanderern nicht leicht. Viel Überzeugungsarbeit musste geleistet werden und ein gegenseitiges Hörnerstutzen war nötig, bevor die ersten Gruppen der LAK aktiv in die kulturelle Arbeit einstiegen. Dann jedoch war eine gemeinsame Sprache gefunden und etwas gewachsen, das bis heute Bestand hat. Rund 560 aktiv Mitmachende in 50 verschiedenen Gruppen zählt der Verein aktuell. Zwei Drittel davon sind Kinder und Jugendliche. Es wird musiziert mit Handglocken, Flöten, Xylophonen, Gitarren, Blasinstrumenten, Tonstäben (Chimes) und in Chören. Die bildenden Künstler malen, töpfern, gestalten mit Holz und mit Stoffen. Daneben gibt es noch zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene in den LAK-Theatergruppen. Das eingangs beschriebene Prinzip der kuriosen Ideen verwirklicht die LAK mit ihren großen kulturhistorischen Projekten. Dazu greift sie Themen aus der interessanten Geschichte Ostfrieslands auf und entwickelt daraus ein Musik-Theater, in dem dann fast alle Gruppen des Vereins mitmachen. Zum Beispiel „Achter de Sünn an“, ein Musical zur Auswanderergeschichte Ostfrieslands oder „Achter kolle Müren“ mit einer Betrachtung der Hexenverfolgung und „Heislahoizeiht“, wo Ostfriesen und Bayern aufeinander treffen. Präsentiert werden die Musicals allein von LaiendarstellerInnen der Ländlichen Akademie. Der tolle Effekt des Zusammenspiels von Theater, Musik und Gesang wird noch unterstützt durch den Austragungsort, eine eigens dafür eingerichtete Gulfhofscheune im Ostfriesischen Landwirtschaftsmuseum zu Campen. 2009 wagte die LAK ein grenzüberschreitendes Projekt in Kooperation mit den Niederlanden. Thema war die Cosmas-Damian Sturmflut vom 26. September 1509, die dem Dollart die größte Ausdehnung gab und mehr als 30 Dörfer in Ostfriesland und im deutsch-niederländischen Reiderland versinken ließ. Diese Sturmflut war aber nicht nur für Künstler interessant, auch Wissenschaftler, Klimaforscher und Historiker beschäftigten sich mit ihr. So entstand ein großes Netzwerk aus Akteuren, die entsprechend ihrer Interessenslage Veranstaltungen entwickelten. Ausstellungen, Lesungen, Vorträge, ein wissenschaftliches Symposium und Theater auf beiden Seiten des Dollarts wurden den BesucherInnen geboten. Mehr als 120 AkteurInnen waren allein an dem LAK-Musical „Dat lesde Lücht“ beteiligt, das rund 4.000 Menschen sahen. Höhepunkt des Projektes „Sturmflut 1509“ war ein Dollartevent direkt am Jahrestag, dem 26. September 2009. An drei Standorten rund um den Dollart kamen die Menschen zusammen und erlebten über ein Hörspiel die Geschichte des 26. September. Zum Abschluss erstrahlten Skybeamer an den Positionen der versunkenen Dörfer und ließen die Geschichte lebendig werden. Die Idee, sich diesem historischen Ereignis künstlerisch derart anzunähern und damit mehr als 5.000 Menschen zu erreichen und zu begeistern, brachte der LAK die Auszeichnung mit dem Innovationspreis 2009 des Fonds Soziokultur ein. Auf die Frage, was denn die herausragenden Eigenschaften wären, um solche Projekte erfolgreich werden zu lassen, antwortete die Projektleiterin Christine Schmidt anlässlich der offiziellen Preisverleihung: „verrückte Ideen, großes kreatives Potenzial und ostfriesische Sturheit, das wirklich umsetzen zu wollen.“ www.lak.de CHRISTINE SCHMIDT, Geschäftsführerin des Vereins Ländliche Akademie Krummhörn e.V. soziokultur 2 |10 READER ZUM THEMA THEATER 19 Gisela Höhne, geb. 1949 in Thü­­­­ringen, Schau­spielerin und Mitbegründerin des Vereins Son­nenuhr, ist seit 1991 als dessen Re­gisseurin und künstlerische Leiterin tätig. Sie erhielt das Bundesver­ dienst­kreuz (2009) und zahlreiche wei­tere Auszeichnungen für ihre integrative Theater­ arbeit. Das Theater RambaZamba feiert am 1. September 2010 mit dem FRIEDENS-FEST sein 20-jähriges Jubiläum. Wir gratulieren! IN PERSONA GISELA HÖHNE Regisseurin und Schauspielerin am Theater Ramba­Zamba, Berlin Ein Traum von Theater G isela Höhne ist eine kleine Frau. Sie grüßt mit festem Händedruck und strahlt mit ihrem Perlmuttohrring um die Wette. Wir treffen uns im Café des Theaters RambaZamba. Malereien, Grafiken und Keramiken, die in den Werkstätten des Trägervereins Sonnenuhr entstanden sind, schmücken die Wände. Das Ensemble trudelt ein. Es wird gegessen und das Neueste ausgetauscht, bevor das tägliche Training und die Proben für die Abendaufführung beginnen. Hier arbeitet Gisela Höhne. Gemeinsam mit Klaus Erforth und dem Ensemble hat sie in den letzten 20 Jahren „Deutschlands wichtigstes integratives Theater“ aufgebaut. Das Besondere: Geistig Behinderte machen das Gros der Gruppe aus und sind dabei auf der Bühne so authentisch, dass sie Schauspieler ohne Handicap an die Wand spielen. Das fasziniert Gisela Höhne bis heute, und sie weiß, dass diese schauspielerischen Fähigkeiten einzigartig sind. Wenn sie mit ihrem Ensemble probt, dann setzt sie auf die emotionale Intelligenz ihrer Bühnenkünstler, denn bei der Arbeit mit Behinderten werden Unklarheiten im Stück und in den Regieanweisungen sofort entlarvt. Um sich einem Stoff zu nähern, lässt die Regisseurin zu Beginn freie AsAus defizitär wahrgenomsoziationen zu – „Wildwuchs“, wie sie sagt –, um sich einen Überblick menen Wesen werden zu verschaffen und das Stück „aus Personen des öffentlichen den Schauspielern heraus“ zu entLebens. wickeln. Dann holt sie gärtnergleich das Beste aus den Spielern, und die Inszenierung wächst. Ihre Erfahrungen als Schauspielerin helfen ihr dabei sehr: „Man kriecht besser rein.“ Sowohl in die Rollen als auch in die Darsteller. Überhaupt ist Höhne eine absolute Praktikerin: Neben dem Leben auf der Bühne hat sie die Arbeit hinter der Kamera und als Regisseurin beim Film kennengelernt. Daneben hat sie studiert: Nach Verweigerung ihres Wunschstudienplatzes Psychologie wegen ideologischer Differenzen zur „Psychologie des Arbeiter- und Bauernstaates“ studierte sie Filmregie in Babelsberg, Schauspiel an der heutigen Ernst-Busch-Schauspielschule und Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Der praktischen Arbeit lässt sie dennoch den Vortritt. Und das ist gut so! Denn die Theaterarbeit fasst einerseits Höhnes Erfahrungen zusammen und ist so Ausdruck einer unerwarteten Kontinuität ih­res Lebens, andererseits ist sie auch Arbeit, Broterwerb. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder – Sohn Moritz hat das Downsyndrom – kehrte sie dem Theater vorerst den Rücken. Nach kurzer Zeit verhandelte sie ihre Erwartungen an Leben und Bühne neu und befand, dass sie die ex­treme Herausforderung annehmen und Menschen mit Behinderung ermöglichen will, mit ihrer Kunst gesehen zu werden. Dem inneren Kampf um die Erfüllbarkeit eigener und fremder Erwartungen und Maßstäbe bot die Reaktion von Ensemble und Publikum schnell Einhalt – die Schauspieler berühren darüber, wie sie Geschichten erzählen. Heute kann das Theater auf 21 Produktionen in Berlin, über 100 Gastspiele in ganz Europa, zahlreiche Workshops, Zirkusshows, Kunst- und Theaterfestivals zurückblicken. Für die Schauspieler stellt das Spiel auf der Bühne laut Höhne einen Durchbruch dar – sowohl gesellschaftlich als auch für die Akteure selbst. Von als defizitär wahrgenommenen Wesen entwickeln sie sich mit Betreten des Bühnenraums zu Personen des öffentlichen Lebens. Dabei ist Anschauen ausdrücklich erwünscht, denn die Schauspieler treten nicht umsonst vom Dunkel ins Licht. „Im Theater siehst du den Menschen, einen Besonderen, Gezeichneten.“ 2007 richtete der Verein geschützte Arbeitsplätze für die besonderen Theater- und Kulturschaffenden ein, seither ist ihre Zahl auf 30 angestiegen. Die Schauspieler sind stolz, einen privilegierten Job zu haben, wollen dabei einfach nur Schauspieler sein, keine Stars. Gisela Höhne und ihr Ensemble sind sich einig: „Alle Rollen sind wichtig.“ Sowohl auf der Bühne als auch im Alltag. Das Publikum wiederum erlebt die Inszenierungen als Kunst, nicht als Therapie. Die eigenen Vorurteile kollidieren mit dem Wahrgenommenen. Das Weltbild wird erschüttert und eine klassische Katharsis setzt ein. Höhne glaubt: „Wenn die Leute, besonders Kinder und Jugendliche, unsere Stücke sehen, gehen sie später anders mit der eigenen Zukunft und ihren Kindern um.“ In der Tradi­tion von Bertolt Brecht setzt sie ganz auf die gesellschaftsbildende Kraft von Theater. Und wenn Höhne fragt „Was bedeutet Theater?“, fragt sie gleichzeitig: „Was bedeutet Leben?“ MAXI KRETZSCHMAR, Kulturmanagerin und Kunstvermittlerin. LITERATUR SPECIAL THEATER IXYPSILONZETT – Das Ma­gazin für Kinder- und Jugendtheater | Berichte und Essays, Gespräche und Nachrichten, Dokumente und Kolumnen beschreiben die zeitgenössische deutsche und europäische Kinderund Jugendtheaterlandschaft. Das Magazin dokumentiert künstlerische, aber auch kulturpolitische Debatten, berichtet von Festivals, Projekten, Seminaren und Publikationen. | Erscheint 3x jährlich, Verlag Theater der Zeit, ISSN 0040-5418, 6,00 Euro, www.theaterderzeit.de double – Das Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekt­theater | Das 2004 gegründete Theatermagazin gibt der Reflexion unterschiedlichster Erscheinungsformen des zeitgenössischen Theaters mit Puppen, Figuren, Objekten und Material eine Plattform. Es informiert und diskutiert über ein „anderes“ Theater – das Theater der Dinge – in seinen praktischen, philosophischen, wissenschaftlichen und literarischen Aspekten. Informationen über deutsche und internationale Inszenierungen, Festivals, Projekte, Werkstätten, Ausstellungen, Publikationen. Enthält die aktuelle Festivalagenda. | Erscheint 3 x jährlich, Verlag Theater der Zeit, 40 Seiten, ISSN 0040-5418, 6,00 Euro, www.theaterderzeit.de Spiel und Bühne | Die auflagen­stärkste Fach- und Verbands­ zeitschrift im deutschsprachigen Raum, seit 1974 herausgegeben vom Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT), berichtet über das Amateurtheater im Kontext von Kunst, Kultur, Politik und Gesellschaft. | Erscheint 4 x jährlich, Heft 5,00 Euro, Jahresabo inkl. Versand 18,00 Euro, ISSN 1616-6809, www.bdat.info schultheater | Für alle, die sich in der schulischen Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen engagieren. Jede Ausgabe der Zeitschrift verknüpft Grundlagen des darstellenden Spiels mit pädagogischen und theaterwissenschaftlichen Aspekten. | Erscheint 4 x jährlich, Jahrespreis 48,00 Euro, Friedrich Verlag GmbH, www.friedrich-verlag. de, www.schultheater-online.de. künstlerische Basisarbeit. Hier wächst zusammen, was zu­sammengehört: Theaterbesuch und Theater als Schulfach, Theater für Kinder und Jugendliche sowie Theater mit ihnen. Das Buch untersucht Modelle der Zusammenarbeit, dokumen­tiert Ergebnisse einer exempla­ri­schen Studie in Hessen und erörtert, was Theater und Schu­­le voneinander erwarten. Ein kulturpolitisches Plädoyer für ein Programm zur kulturellen Bil­dung. | Transcript-Verlag 2009, 349 Seiten, ISBN-10: 3-8376-1072-1, ISBN-13: 978-3-8376-1072-7, 25,80 Euro NEU – die Rei­he Kölner Beiträge zur Theaterpädagogik: Survival Kit Freies Theater und Freier Tanz | „Wer dies Büchlein gelesen hat, kann vielen kleinen und größeren Katastrophen, die der künstlerischen Arbeit all­ zuleicht ein jähes Ende bereiten können, aus dem Weg gehen.” (Theater der Zeit) | 14,28 Euro (inkl. Versand), Bestellung der Printversion (8. Auflage!, Mai 2010) über den Bundesverband Freier Theater www.freie-theater.de/ publikationen/survivalkit/ | Die ständig aktualisierte, digitale Version gibt es nur bei Stefan Kuntz, Künstlerberatung | [email protected], Bestellformular auf www.kuenstlerrat.de Theater und Schule | Ein Handbuch zur kulturellen Bildung | Wolfgang Schneider (Hg.) | Kulturelle Bildung ist eine sowohl schulische als auch außerschulische Herausforderung. Vor allem die Insti­ tutionen Theater und Schule leisten auf diesem Feld pädagogische und Band 1: Vom Laienspiel zum Fachverband – die RAST | Josef Broich | Von der Arbeitsgemeinschaft Laienspiel und Laienthea­ter Köln zur heutigen Rhei­­­ni­­schen Arbeitsgemeinschaft Spiel und Theater Köln, der RAST – der Band geht der Entwicklung im Ringen um den eigenen Weg mit seinen Kanten und Widerständen nach. | Maternus Verlag Köln 2010, 128 Seiten, ISBN 978-3-88735-118-2, 19,95 Euro Band 2: Theaterpädagogik konkret | Ansichten, Projekte, Ausblicke | Josef Broich | Ein Theaterpädagoge – tätig an den Schnittstellen Schule, kulturelle Jugendarbeit und Amateurtheater – ersetzt weder Schauspieler noch Lehrer. Der Band geht praxisnah auf Entwicklung, Handicaps und aktuellen Facetten des Berufsfeldes ein. | Maternus Verlag Köln 2010, 128 S., ISBN 978-3-88735-119-9, 19,95 Euro, www.maternus-verlag.de