READER mit dem Thementeil der Ausgabe und weiteren Beiträgen

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PRINZIPIEN
ZU AUSGABE 2/10
READER ZUM THEMA THEATER
PRAXIS
PERSPEKTIVEN
kultur
THEATERSPIELEN
READER ZUM THEMA
Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V.
READER ZUM THEMA THEATER
2
Der große Müller und die kleine Stadt Heiner-Müller-Stück an der Kulturbörse Gnoien
THEMA
Theaterspielen 3
K A R L N AU J O K S
6
Kultur bildet Persönlichkeit Zwölf Jahre Kinder- und Jugendkultur in Stroetmanns
Fabrik Emsdetten
E C K H A R D M I T T E L S TÄ D T
K A L E I D O S KO P _ Kulturzentrum Grend e.V., Essen: Theater der Migranten
_ LAG Soziokultur Schleswig-Holstein e.V.:
Kindertheater des Monats, Theater for Youngsters
_ Forum für Kunst und Kultur Heersum e.V.: Sommerspiele
_ Kulturbörse Gnoien: Die Umsiedlerin (ausführlich S.12)
_ E-Werk Freiburg und RadiX-O8: Eins auf die Fresse
(ausführlich S. 16)
_ Stadtteil- und Kulturzentrum MOTTE Hamburg-Altona:
Die Ausgeschlossenen
Vorwärts, und ... Der Greizer Theaterherbst
Eins auf die Fresse Jugendtheater zum Thema Mobbing
BARBARA HIRSCH
14
16
W O L F G A N G H E R B E RT
IN ACTIO
8
Verrückte Ideen und ostfriesische Sturheit Ländliche Akademie Krummhörn
18
CHRISTINE SCHMIDT
IN PERSONA
9
Ein Traum von Theater Gisela Höhne, Regisseurin und Schauspielerin
19
MAXI KRETZSCHMAR
KARSTEN SCHAARSCHMIDT
International, experimentell, aktuell EXPLOSIVE! Internationales Jugendtheater Festival
12
U L R I K E WAC H S M U N D, H A N N A H K A B E L
KARSTEN SCHAARSCHMIDT
Rap4Peace – Songs for Othello Ein Jugend-Tanz-Theater-Projekt in Augsburg
soziokultur 2|10
10
Literaturtipps 20
soziokultur 2 |10
READER ZUM THEMA THEATER
3
T H E AT E R S P I E L E N
E C K H A R D M I T T E L S TÄ D T
D
Jugendtheaterfestival
EXPLOSIVE!, Bremen
(oben) | Theater der
Migranten, Essen |
Siehe S. 8
Abb. : Blaumeier-Atelier (s. S. 6) | oben:
CARMEN, Foto: Petersen | unten: BLAUMEIERS ZIMMERMÄDCHEN, Foto: M. Bause
ie Theaterarbeit mit nichtprofessionellen Spielern hat ei­ne
lange Tradition in Deutschland, und natürlich gibt es eine
Vielzahl von Vereinen und Verbänden, die sich dem Theater in unterschiedlichen Kontexten widmen. Das reicht
vom bald 120 Jahre alten Bund Deutscher Amateurtheater bis zum
Bundesverband Theater in Schulen. Während der Letztgenannte
den Ort, wo Theater gespielt werden soll, im Namen trägt, lassen
ihn die anderen Verbände gern offen. Denn Theaterspiel ist nicht an
das Theater als Ort gebunden, und auch unter den professionellen
Theatern wird es immer beliebter, den ungewöhnlichen Spielort in
den Mittelpunkt eines Inszenierungsvorhabens zu stellen.
Warum also sollte man das Theaterspielen in den Mittelpunkt
der kulturellen Arbeit eines soziokulturellen Zentrums stellen,
wenn, wie unlängst ein Ministerialbeamter scherzhaft behauptete, das Staatstheater „das größte soziokulturelle Zentrum am
Ort“ sei? Eine erste Antwort findet sich in der Geschichte der soziokulturellen Zentren. Einige von ihnen waren die ersten, die die
Chancen des Theaterspielens erkannten und nutzten, Menschen
einen Ort und die Mittel zu geben, anderen von ihrem Leben, von
ihren Geschichten und ihrer Sicht auf die sie umgebende Welt zu
erzählen. Vom Lehrlingstheater über Theater mit Migranten (die
damals noch schnöde „Gastarbeiter“ genannt wurden) bis zum
Theater mit ganzen Dorfgemeinschaften reichen die Beispiele aus
den politisch bewegten 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, denen ihr soziokultureller Ursprung gemeinsam ist.
READER ZUM THEMA THEATER
4
soziokultur 2|10
Ziel der soziokulturellen Zentren, denn Theater ist
eine Gemeinschaftskunst und d i e soziale Kunstform schlechthin: Der Mensch sieht sich selbst zu
und zwar in der Interaktion mit anderen Menschen, alles Handeln auf der Bühne geschieht auf
der Grundlage menschlicher Beziehungen.
Die Ausgeschlossenen, MOTTE Hamburg | siehe S. 8
Stellvertretend für viele solcher Projekte sei hier
eines kurz beschrieben: Im Arbeiterstadtteil Gallus
der eher als Bankenmetropole bekannten Stadt
Frankfurt am Main traf Anfang der 80er Jahre eine
Gruppe süditalienischer Jugendlicher auf Künstler
und sozial engagierte Erwachsene, die mehr tun
wollten, als ihnen einen Treffpunkt zu bieten. Sie
begannen gemeinsam Theater zu spielen und nahmen zunächst die Geschichten dieser ersten Generation in Deutschland aufgewachsener Migranten
als Grundlage der Theaterarbeit. Es entstanden
einige sehr erfolgreiche Theateraufführungen, vor
allem aber sorgte diese Arbeit für eine große Identifikation mit dem Ort ihrer Aktivitäten, dem Gallus
Zentrum, ihrem Stadtviertel und dem Theaterspiel.
Für einige blieb es eine schöne Episode in ihrem
Leben, andere nutzten das schauspielerische Talent
für die Berufswahl.
Das gemeinsame Theaterspielen sollte in den
sozial engagierten 80-er Jahren Identität stiften
und die Jugendlichen zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft und ihrem Leben in
Deutschland anregen. Darüber hinaus war die
kulturelle Beschäftigung der Jugendlichen für
das Gallus Zentrum ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber den damals weit verbreiteten Jugendzentren.
Es ging um Teilhabe am kulturellen und politischen Leben für eine bestimmte – seinerzeit als
defizitär betrachtete – gesellschaftliche Gruppe.
Die Teilhabe durch künstlerische Selbsttätigkeit
gehört bis zum heutigen Tag zu den Kernzielen
der Arbeit soziokultureller Zentren. Das Theaterspiel als eine Möglichkeit der künstlerischen
Selbsttätigkeit eignet sich besonders für dieses
Das Theater hat immer den Standort und Standpunkt des handelnden Menschen und seine Beziehung zu den anderen Menschen und damit
seine gesellschaftliche Rolle thematisiert. Im
heutigen gesellschaftlichen Kontext sind durch
Vereinzelung und zunehmende Individualisierung die sozialen Beziehungen vielleicht noch
stärker in den Fokus gerückt, und so kommt dem
Theater als einer Gemeinschaftskunst noch stärkere Bedeutung zu. Im Theaterspiel findet immer
auch ein Probehandeln statt, werden Perspektiven und Grenzen menschlicher Beziehungen
ausgelotet. Hierin liegt vielleicht eher die bildende Wirkung des Theaterspiels als in den gern zur
Legitimation herangezogenen „Schlüsselkom­pe­
tenzen“, die der Einzelne erwerben kann.
Soziokulturelle Zentren
erkannten und nutzten
als Erste die Chancen
des Theaterspielens.
Die Bildungswissenschaftlerin Kristin Westphal
sieht hierin die besondere Qualität des Theaterspiels im Kontext der ästhetischen Bildung: „Im
Unterschied zur sozialen Praxis, in der wir mehr
oder weniger bewusst agieren und Haltungen
einnehmen, experimentiert die theatrale Praxis mit diesen Haltungen bewusst. Sie werden
beobachtet, reflektiert, neu konstruiert und in
neue Zusammenhänge gestellt. Dabei wird die
soziokultur 2 |10
Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung
und Reflexion entwickelt. Über die Interaktion
mit anderen entsteht Verständnis und Erkenntnis, wenn nämlich die Grenzen der eigenen Erfahrung erkundet, das Eigene mit dem Fremden
verglichen und dabei gelernt werden kann, sich
auszugrenzen oder anzuschließen [...]. Auf diese
Weise wird es möglich, immer wieder neu eine
Haltung bzw. Perspektive zur Welt zu gewinnen,
in der man sich als Teil von ihr erkennt. Diese
bildenden Wirkungen stellen eine Übertragung
auf andere gesellschaftliche Praxen in Aussicht
und wirken bestenfalls sogar auf sie ein, indem
sie Wahrnehmungsmöglichkeiten schaffen.“1
READER ZUM THEMA THEATER
5
ver­bunden, die in der jeweiligen Einrichtung
ar­­beiten. Zum Theaterspielen wird natürlich ein
Raum benötigt. Und es gibt Menschen, die Theater spielen wollen und Menschen, die sie dabei
unterstützen mit Ideen, Erfahrung und professionellem Können. Alles darüber Hinausgehende
entscheidet sich an den tatsächlichen Gegebenheiten und Traditionen der Einrichtung sowie den
Themen und Motiven, die als Grundlage gewählt
werden. Unterschiedlichste Orte für die Theater-
Anzumerken bleibt nur, dass Theater zu spielen
untrennbar mit dem Sehen von Theater verbunden ist, dem Wechselspiel von Produktion und
Rezeption. Die Aufführung des in der Einrichtung
erarbeiteten Theaterstücks wird zum Ereignis auch
für die anderen Besucher und somit zu einem Fest
für das ganze Haus. Zum Theaterspielen gehört
aber auch der Besuch von Theaterereignissen. Dies
können die Aufführungen anderer Theatergruppen sein, aber auch der Besuch von Aufführungen
aufführung gehören auch in der Arbeit mit nichtprofessionellen Akteuren längst zum Standard.
Unter den vielfältigen möglichen Theaterformen
soll hier nur auf die Performance hingewiesen
werden, die längst zum Erscheinungsbild des Gegenwartstheaters gehört und mit ihrem Ereignis­
charakter und dem Einbeziehen der Zuschauer
seit langem auch in die künstlerische Praxis der
soziokulturellen Zentren Eingang gefunden hat.
professioneller Theatergruppen, um auf einen Referenzrahmen für das eigene Theaterspiel zurückgreifen zu können. Da viele soziokulturelle Zentren
ganzjährig Kulturprogramme veranstalten und
mit anderen Kulturveranstaltern ihrer Region gut
vernetzt sind, ist auch diese Rahmenbedingung
für das Theaterspielen zumeist gegeben. Das Thea­
terspielen mit Menschen jeden Alters muss nicht
im Mittelpunkt der Arbeit soziokultureller Zentren
stehen, ein wichtiger Teil kann es allemal sein.
Grenzen der eigenen
Erfahrung werden erkundet, das Eigene mit dem
Fremden verglichen.
Die hier beschriebene bildende Wirkung des
Theaterspiels ist keineswegs auf junge Menschen beschränkt, sondern bezieht sich auf alle
Altersgruppen, unabhängig von ihrer sozialen
oder nationalen Herkunft, auf die Zielgruppe der
soziokulturellen Zentren also. Dadurch bietet
sich zudem die Möglichkeit, in interkulturellen
Theaterprojekten Gelegenheiten für ästhetische,
soziale und thematische Begegnungen zu schaffen. Hier könnte in Zukunft ein gesellschaftlich
wichtiger Schwerpunkt für das Theaterspiel in
soziokulturellen Zentren liegen.
Soziokulturelle Zentren eignen sich auch deshalb besonders als Ausgangspunkte zum Theaterspielen, weil die Teilnahme an den kulturellen
Angeboten auf Freiwilligkeit basiert und die
künstlerische Praxis keinen Bildungszielen (wie
etwa in der Schule) unterworfen ist. Die Freiwilligkeit ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass
sich die bildende Wirkung des Theaterspiels
überhaupt entfalten kann, wie Vanessa-Isabelle
Reinwand in ihrer Untersuchung zur biografischen Bedeutung aktiver Theatererfahrung abschließend feststellt: „Die Wirkung ästhetischer
Lernprozesse auf das Individuum (ist) stark abhängig von der jeweiligen biographischen Situation und dem Willen des Subjektes sich eigene
Lerndispositionen zu schaffen, selbst aktiv zu
werden, d. h. sich selbst zu bilden.“ 2
Markenzeichen soziokultureller Zentren sind be­
kanntermaßen ihre vielfältigen Ausprägungen,
die sich aus der Geschichte der jeweiligen Einrichtung heraus entwickelt haben. Und natürlich ist die Ausprägung auch mit den Menschen
Interkulturelle Projekte
schaffen ästhetische,
soziale und thematische
Begegnungen.
1
2
Das Theaterspielen in verschiedensten Formaten
und Ausprägungen ist von jeher ein fester Bestandteil der Arbeit vieler soziokultureller Zentren. Das soziokulturelle Umfeld, wie es mitunter
Stadt- und Staatstheater künstlich herstellen,
um sich besser in ihrer Stadt zu etablieren und
neue Interessenten für ihre künstlerische Arbeit
zu gewinnen, ist in den soziokulturellen Zentren
natürlich schon vorhanden, da es zum Selbstverständnis der Einrichtungen gehört.
Kristin Westphal: Möglichkeitsräume im theatralen
Spiel und ihre Bedeutung für Sinnstiftungsprozesse. In: Johann Bilstein, Matthias Winzen,
Christoph Wulf, Anthropologie und Pädagogik
des Spiels, Belzverlag Weinheim und Basel 2005,
S. 119. Online lesbar unter books.google.de.
Vanessa-Isabelle Reinwand: Ohne Kunst
wäre das Leben ärmer. Zur biografischen
Bedeutung aktiver Theater-Erfahrung.
Kopaed-Verlag München 2008, S. 196
ECKHARD MITTELSTÄDT ist
Ge­schäftsführer des Landes­
ver­bandes Freier Theater
Niedersachsen. [email protected]
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KALEIDOSKOP
T H E AT E R D E R M I G R A N T E N
K I N D E R T H E AT E R D E S M O N AT S
DIE AUSGESCHLOSSENEN
EINS AUF DIE FRESSE
DIE UMSIEDLERIN
SOMMERSPIELE
Kulturzentrum Grend e.V. /
Theater Freudenhaus, Essen
THEATER DER MIGRANTEN
Die zunehmende Bedeutung der Migration
in unseren Großstädten
hat das Theater Freudenhaus im Grend als
Anlass genommen, ein
dreijähriges interkulturelles Projekt auf die
Beine zu stellen, dass insbesondere die türkischstämmigen EinwohnerInnen stärker in die
Theaterarbeit des soziokulturellen Zentrums
einbinden soll.
Das Thema „Migration im Ruhrgebiet“ wurde
hierfür von Autor Sigi Domke als Mundartkomödie inszeniert, um ein breit gefächertes Publikum zu erreichen. In der Produktion „Hochzeit
alla turca“ ebenso wie in deren Nachfolge „Herr
Scheitel sein Friseursalon“ nähern sich die DarstellerInnen, die zum Teil Migrationshintergrund
haben, auf kritische und zugleich humorvolle
Art und Weise dem oftmals mit Problemen und
Hemmungen belasteten interkulturellen Dialog.
Aber auch darüber hinaus, als Schultheater, in
Verbindung mit theaterpädagogischer Arbeit zur
nachhaltigen Aufarbeitung des Themas sowie
als kulturelles Angebot für die türkischstämmige
Bevölkerung wurde das Projekt 2006 ins Leben
gerufen.
LAG Soziokultur Schleswig-Holstein e.V.
KINDERTHEATER DES
MONATS / THEATER FÜR
YOUNGSTERS
Die Veranstaltungsreihen
sind herausragende kulturelle Bildungsprojekte der LAG Soziokultur
Schleswig-Holstein. Das
„Kindertheater des Monats“ richtet sich mit jährlich 140 Aufführungen
freier professioneller Theater an Kinder im Alter
von zwei bis sieben Jahren. Seit Projektstart des
Kindertheaters 1993 ist die Zahl der Koopera­
tionspartner von 11 auf 20 angestiegen, wurden
120 Tourneen organisiert, haben 215.000 Kids
die 2.195 Theatervorstellungen besucht. LAG und
örtliche Veranstalter stellen das Jahresprogramm
gemeinsam zusammen. Die LAG kümmert sich
um die Finanzierung, landesweite Öffentlichkeitsarbeit und organisiert für die ausgewählten
sieben Theater pro Spielzeit eine landesweite
Tournee. Die örtlichen Veranstalter sind für die
Vorstellungen verantwortlich. So haben alle Kinder in Schleswig-Holstein die Möglichkeit, regelmäßig im Umkreis von 30 Kilometern qualitativ
hochwertiges Theater zu erleben.
Aufgrund der hohen Resonanz und des Wunsches nach Theaterstücken für ältere Kinder
bietet die LAG Soziokultur seit 2008 mit dem
„Theater für Youngsters“ eine zweite Reihe für
die 8- bis 14-jährigen Kinder an, die in enger Zu­
sammenarbeit mit Schulen durchgeführt wird.
Forum für Kunst und Kultur e.V., Heersum
SOMMERSPIELE
Jedes Jahr – und in diesem Jahr unter dem Jubiläumstitel „Der Himmel
über Heersum“ bereits
zum 20. Mal – bringt das
FORUM für KUNST und
KULTUR e.V. im Niedersächsischen Örtchen HolleHeersum mit seinen „Heersumer Sommerspielen“
Menschen zusammen und andere zum Staunen.
Ehrliche Spielfreude verkörpern die meist
theaterunerfahrenen Darsteller, die nicht nur
aus unterschiedlichen Dörfern und Gemeinden
der Region, sondern auch aus verschiedenen
Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu einem einzigartigen Projekt zusammenkommen.
Gemeinsam mit einzelnen Profis entwickeln
die Bühnen-Laien fantasievolle Titel wie „Rübe
Null“ oder „Aste Rix in Astenebeck“ – inspiriert
von den ungewöhnlichen Aufführungsorten und
den Geschichten seiner Bewohner. So werden
keine Theatersäle bespielt, sondern der Reiz des
lebensnahen Naturraumes genutzt, um Themen
des ländlichen Alltags einem breiten Publikum
möglichst authentisch zu präsentieren. Effekte
soziokultur 2 |10
kommen nicht vom Tonband und der Beleuchtung bedarf es keiner Scheinwerfer – die Technik
macht zum großen Teil die Natur selbst, inklusive einer unnachahmlichen Atmosphäre.
Kulturbörse Gnoien
DIE UMSIEDLERIN
Eine Gruppe von Gnoie­
nerInnen um die Thea­ter­
pädagogin Bettina Ka­­
lisch erarbeitet zum Tag
der Deutschen Einheit
2010 eine Inszenierung
mit Texten des Dramatikers Heiner Müller. Der
Titel des Projekts widerspiegelt den Sachverhalt,
will aber auch Anstoß zum Nachdenken, zum
Querdenken, zum „Bürsten gegen den Strich“
geben. Die Bühnen-Collage entsteht weitgehend
frei im Theaterzirkel des soziokulturellen Zentrums Kulturbörse. Sie entlehnt Texte u. a. aus dem
frühen Müller-Stück „Die Umsiedlerin“. Der darin
verwendete Slogan „Die Kultur muss aufs Land“
bestimmt die Eröffnungsszene und gibt das Thema vor. Anhand heute vergessener Müller-Texte
soll mit theatralischen Mitteln auf eine ausgegrenzte Region aufmerksam gemacht werden.
Gnoien liegt tief im ländlichen Mecklenburg und
hat 3.080 EinwohnerInnen. Die zehn DarstellerInnen, darunter der ehrenamtliche Bürgermeister,
wollen eigene Lebenserfahrungen aus der DDR
und dem vereinigten Deutschland einbringen.
Premiere ist in der Woche nach dem 3. Oktober. Das Projekt wird aus dem Bundesprogramm
„Vielfalt tut gut. Jugend für Vielfalt, Toleranz und
Demokratie” gefördert und von der LAG Soziokultur Mecklenburg-Vorpommern unterstützt.
Ausführlich siehe Seite 12.
E-Werk Freiburg und RadiX-08
EINS AUF DIE FRESSE
Das E-Werk Freiburg und
die Freiburger Theatergruppe RadiX-08 starte­
ten im Sommer 2009
das Modellprojekt NO
GO mittendrin – schau
hin, zur Förderung des Dialoges zwischen Kunst
und Jugendkultur. Das Jugendtheaterstück Eins
auf die Fresse handelt von Mobbing in der
Schule – ein allgegenwärtiges Thema. In der
Vor­arbeit für das Theaterstück wurden theaterund medienpädagogische Angebote mit künstlerisch-ästhetischen, sowie jugendkulturellen
Ausdrucks- und Vermittlungsformen kombiniert.
Die Premiere und weitere 20 Vorstellungen
waren nahezu ausverkauft und wurden von
etwa 4.500 Jugendlichen und jungen Erwachse-
READER ZUM THEMA THEATER
nen besucht. Erwähnenswert ist, dass drei Viertel der Jugendlichen aus dem Bereich der Hauptund Realschulen in der Region Freiburg kamen.
Die Verbindung von Theaterstück und kulturellen Bildungsangeboten für Jugendliche macht
die besondere Qualität des auf Prävention angelegten Vorhabens aus. Über Breakdanceworkshops und Castings wurden Jugendliche gewonnen, die eine Choreografie und die Songs für
das Theaterstück erarbeiteten. Dafür konnten
Jugendzentren und Schulen, vor allem aus dem
eigenen Stadtteil, als Partner gewonnen werden.
Ausführlich siehe Seite 16.
Stadtteil- und Kulturzentrum MOTTE,
Hamburg-Altona
DIE AUSGESCHLOSSENEN
Ausgangspunkt für das
interkulturelle und internationale theaterpädagogische Projekt war es
2006, Jugendlichen die
künstlerische Auseinandersetzung mit ihren Themen zu ermöglichen:
Migration, Rassismus, Gewalt. Unter der Anleitung des Theaterpädagogen Mahmut Canbay
entstand ein Stück rund um die „Heimat“. 2008
ging es mit der Gruppe nach Marseille – ein
gemeinsamer Auftritt mit französischen Jugendlichen im Dome vor 4.000 ZuschauerInnen: ein
Erlebnis, das für immer in Erinnerung bleiben
wird. Danach fanden Jugendbegegnungen mit
is­raelischen und türkischen Partnern statt. Gegenseitige Besuche eröffneten den Dialog. Die
Jugendlichen überschreiten damit auch im übertragenen Sinne Grenzen. Denn für sie ist es gar
nicht selbstverständlich, sich mit der deutschen
Geschichte und dem Antisemitismus zu beschäftigen oder andere Religionen kennenzulernen.
Im Juni erwarten die Altonaer Jugendlichen wieder Besuch aus Hakkari, einer kurdischen Stadt
in der Osttürkei. Wie bereits 2009 werden sie
gemeinsam an Workshops teilnehmen und ein
Theaterstück erarbeiten – in diesem Jahr zum
Thema Frieden.
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KOLUMNE
Mut zur Beratung
Es geht uns nicht gut. Zum Teil, weil ein paar
Banker das kleine Einmaleins des Menschlichen verlernt haben, woran wir nun gewöhnt
sind. Aber das erklärt nicht alles. Wir werden
außerdem von professionellen Amateurschauspielern regiert. In der perfektesten
Aus­führung kann man ihren Stil als WWWPrinzip be­zeichnen. Langschriftlich heißt das
Wildgeworde­ner­WesterWelle und geht so:
Man betritt die Bühne der Politik, setzt sich
in Szene und spielt mit den Kameras. Es gibt
Gegenspieler und Statisten. Mitwirkende weit
seltener. Die Zuschauer sind unbekannte Wesen. Irgendwo im Hinterland der Kameras,
für die man im Lauf der Zeit Respekt erlernt.
Dann begreift der professionelle Amateurschauspieler: Nicht er spielt mit den Kameras, sondern die Kameras machen Ernst mit
ihm. Panik tritt ein. Die Komparsen tanzen
auf den Tischen. Irrational zuckend werden
die Gegenspieler zu angstvollen Beobachtern
der sich selbst ins­zenierenden Groteske. Dass
fast alle Fernsehzuschauer und Zeitungsleser
Buh rufen, än­dert nichts an den merkwürdigen Ereignissen auf der Bühne der Politik.
Vielleicht nennt man deshalb Politik lieber
eine Profession als eine Kunst. Mit solchen
Professionellen lässt sich wirklich nicht Staat
noch Theater machen. Dabei wäre eine gute
Show das Mindeste, was man erwarten darf,
wenn gut bezahlte Regenten das Land an den
Bettelstab bringen.
Daraus ergibt sich für soziokulturell betriebe­
ne Amateurtheater eine Aufgabe. Sie sind geübt darin, ohne Geld mit großen Konflikten
fertig zu werden. Sie locken aus Zuschauern
Beteiligte. Die Leute gehen besser raus aus
den Aufführungen, als sie hineingegangen
sind. Ein wahrer Balsam für die arme geplagte Demokratie!
Wer wäre besser geeignet, Spitzenpolitiker
kom­petent zu beraten? Sie hören und sehen
zu lehren?
Reißen Sie sich also gefälligst ein paar minis­
teriale Beraterverträge unter den Nagel. Von
den Honoraren könnten sie bestimmt eine
Menge neuer Theater gründen.
Mit ermunternden Grüßen
Ihre Friede Nierbei
soziokultur 2|10
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Vorwärts und ...
Den Puppenstubencharakter verdankt
Greiz seiner topografischen Lage: Umringt
von bewaldeten Hügeln erhebt sich in
der Mitte der ostthüringischen Stadt an
der Weißen Elster der gut 60 Meter hohe
Schlossberg, auf dem als Wahrzeichen das
Obere Schloss thront. Weitere Schlösser,
der Landschaftspark mit dem Sommerpalais und zahlreiche Gründerzeitvillen
– vieles blitzt wieder frisch saniert in der
ehemaligen Hochburg der Textilindustrie, von der leider nach der „Wende“
nichts geblieben ist. Heute haben die rund
Der Greizer Theaterherbst
S
chon früh wollte Anna-Lydia Eddinghaus
von Laßberg dem die Zukunft bedrohenden demografischen Wandel in Greiz etwas entgegensetzen, den BürgerInnen,
vor allem den jungen, mit Kunst und Kultur wieder Selbstbewusstsein schenken, sie aktivieren
zu künstlerischer Aktivität. Doch die anfängliche Skepsis war groß, als die Bonner Publizistin 1991 ihr soziokulturelles Projekt „Greizer
Theaterherbst“ den Greizern auf den Tisch legte.
19 Jahre später – und schon längst in der Hand
der Elsterstädter – ist das Projekt zu einem renommierten Festival gewachsen, das kontinuierlich und trotz manch durchschrittener Täler jährlich an Ausstrahlung und Reputation gewinnt.
Die Erfolgsgeschichte des Greizer Theaterherbstes fußt zu einem Großteil auf dem Enga­ge­
ment des gleichnamigen Vereins, der das Fes­tival
trägt und organisiert, aber nicht zuletzt auch auf
seinem Konzept, das bundesweit wohl einzigartig ist. Denn hier werden nicht nur verschiedene
Theatergruppen aus allen Landesteilen zusammengerufen, hier spielen die BewohnerInnen einer Stadt und ihrer Umgebung selbst Theater. Der
Name „Theaterherbst“ ist dabei verwirrend, beginnt die Arbeit doch bereits im Frühsommer. Unter Leitung eines angesehenen Bühnenkünstlers
und in Zusammenarbeit mit dem Vorstand des
Vereins sowie eines Projektmanagers wird zum
Mitwirken in verschiedenen Werkstattprojekten
aufgerufen. Die ebenfalls von renommierten
Theaterleuten aus ganz Deutschland geleiteten
Werkstätten erarbeiten bis zur Festivalwoche, der
dritten Woche im September, publikumsreife Inszenierungen, Performances und Kunstaktionen.
Zwischen sieben und elf Werkstätten mit zehn
oder mitunter sogar mehr als 60 (!) TeilnehmerInnen gehen dann an den Start.
Das Spektrum der Inszenierungen ist dabei so
vielfältig wie die Welt des Theaters selbst. Shakespeare, Büchner, Brecht, Dorst, Ripley sind nur einige Autoren, deren Stücke in den vergangenen 18
Jahren von den Greizern mit erstaunlicher, oft mehr
als Semiprofessionalität erreichender Güte auf die
Bühne gebracht wurden. Und als Spielort wird
nicht nur das örtliche Theater genutzt, oft sind es
alte Werkhallen, Plätze in der Stadt, der Park oder
der Bahnhof, die zur Bühne umfunktioniert werden. Das Altersspektrum der Mitwirkenden in den
Schauspiel-, Tanz-, Musik- oder Gestaltungswerkstätten reicht vom Vorschulkind bis zum Senior.
Es sind Schüler und Abiturienten, die mitmachen,
aber auch im Be­rufsleben stehende Erwachsene,
Arbeitslose ebenso wie Asylbewerber.
Der Bahnhof wird zur Bühne
umfunktioniert.
Die Festivalwoche im Herbst, die mit einem seit
mehreren Jahren in eigener Regie erarbeiteten
Theaterspektakel eröffnet wird, ist schließlich
der Höhepunkt eines mehrmonatigen Arbeitsprozesses. Dann stehen nicht nur die Premieren
auf dem Programm, zusätzlich präsentieren die
Theaterherbstmacher dem Publikum Gastspiele
herausragender nationaler und internationaler
Ensembles. 3.000 bis 5.000 Zuschauer lockt der
Theaterherbst in seiner Festivalwoche an und
strahlt alljährlich weit über die Region Greiz
hinaus. Apropos Ausstrahlung: Mit den besten
Eigenproduk­tionen geht es nach der Festivalwoche auf Tour. Einladungen zu Festivals gehören
dazu, aber auch Einzelauftritte, die jüngst bis
nach Wien führten. Aus den besonders theaterbegeisterten Mitspielern hat sich eine feste,
26.000 EinwohnerInnen mit Arbeitslosigkeit und Abwanderung zu kämpfen.
Abb.: Stelzenläufer des Greizer Theaterherbstes (oben),
„Zeitreise-Reisezeit“,
Regie: Sandra von Holn
2007
ganzjährig arbeitende Werkstatt formiert, die
mit eigenen Stücken, aber auch als Stelzenläufer oder Pantomimen unterwegs sind.
Dem Theaterherbst wird jährlich ein Motto
vorangestellt. „Vorwärts und ...“ lautet es in
die­sem Jahr, in dem der Berliner Regisseur Nico
Dietrich erstmals das Zepter der künstlerischen
Leitung übernommen hat. Stücke von Bertolt
Brecht, Salman Rushdie oder Heiner Müller hat
er mit den Leitern der Werkstätten ins Programm
genommen, und in der Festivalwoche vom 10. bis
18. September erwarten das Publikum außerdem
Gastspiele, z. B. des Maxim-Gorki-Theaters Berlin
oder der italienischen Theaterschule Asti. Spätestens dann wird die „Puppenstube“ Greiz wieder
zur (Theaterherbst-) Bühne. Übri­gens – aber das
ist schon wieder eine andere Geschichte – organisiert der Verein Greizer Theaterherbst mit dem
„Greizer JazzWerk“ jedes Jahr im Mai zudem ein
internationales Jazz-Festival, das in diesem Jahr
seine elfte Auflage erlebt hat und mittlerweile
Jazz-Fans aus ganz Mitteldeutschland anlockt.
www.theaterherbst.de
Text und Fotos: KARSTEN SCHAARSCHMIDT, freier
Wort- und Bildjournalist und Mitglied im Deutschen
Journalistenverband.
soziokultur 2 |10
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Rap4Peace – Songs for Othello
Ein Jugend-Tanz-Theater-Projekt in Augsburg
R
ap for Peace“, ein Kooperationsprojekt
zwischen dem Theater Augsburg, dem
Kulturzentrum Kresslesmühle und dem
Stadtjugendring leistet seit 2006 nachhaltig kulturpädagogische Jugendarbeit. KünstlerInnen des Theaters Augsburg erarbeiten mit
Jugendlichen, die meist aus Familien mit Migrationshintergrund stammen, jährlich einen Theaterabend, der den virtuosen Street Dance der jungen
Augsburger Hiphop-Szene mit dem Know-how
der professionellen TheatermacherInnen kombiniert. Die Jugendlichen erfahren praktisch und
eindrucksvoll einen gemeinsamen kreativen Arbeitsprozess, erleben unmittelbar den großen Erfolg der Aufführungen und erhalten abschließend
ein Praktikumszeugnis, das ihnen die Ausdauer,
Zuverlässigkeit und Teamfähigkeit bescheinigt,
die ein solches Projekt erfordert.
Im Rahmen des „Festivals der 1000 Töne“ initiierte Hans-Joachim Ruile, Geschäftsführer und
künstlerischer Leiter des Kulturhauses Kressles­
mühle, die Zusammenarbeit: Gemeinsames Ziel
war es, die jugendliche Hiphop-Szene Augsburgs
mit den professionellen TänzerInnen des Ballett­
ensembles zusammenzuführen. Heute bli­cken
wir auf die erfolgreichen Produktionen „Rap for
Peace“ (2006), „Rap goes Romeo and Juliet“
(2007) und „Rap for Peace #3“ (2009) zurück,
die den Jugendlichen und KünstlerInnen sowie
dem begeisterten Publikum unvergessene Thea­
tererlebnisse bereitet haben. Für sein Engagement
als künstlerischer Leiter der ersten beiden „Rap
for Peace“-Produktionen erhielt Daniel Zaboj,
Choreograf und ehemaliger Tänzer des Theaters
Augsburg, 2007 den Bayerischen Kunstförderpreis.
Mittlerweile ist das Interesse an Auftritten der
„Rap for Peace“-Combo auch außerhalb des Theaters gefragt: Zum „Festival der Kulturen“ und
zur Eröffnung der neuen Stadtbücherei Augsburg
zeigten die Jugendlichen 2009 Ausschnitte aus
den drei „Rap for Peace“-Projekten. Im Rahmen des „Festivals der 1000 Töne“ trat ein Teil
der jungen TänzerInnen gleich zweimal mit dem
Tanztheater „Rap for Peace – Body Talks“ in der
Spielstätte Komödie auf. Seit Beginn dieses Jahres
wird nun im Ballettsaal und auf den Probebühnen des Theaters wieder intensiv geprobt. Über
40 jugendliche Mitwirkende arbeiten gemeinsam
an „Rap4Peace – Songs for Othello“, das am
7. Juni 2010 im Großen Haus des Theater Augsburg Premiere feiert.
Der Weg ist das Ziel: In einem viel höheren
Maße als dies bei normalen Theaterproduk­tio­
nen der Fall ist, liegt die Gewichtung auf dem
Entstehungsprozess während der Probenzeiten.
Die jugendlichen TeilnehmerInnen erfahren die
Wichtigkeit von Werten wie Teamarbeit, Zuverlässigkeit, Toleranz sowie die konzentrierte, kontinuierlichen Beschäftigung mit einem
Thema, von dem in den Vorstellungen erzählt
werden soll. Künstlerischer Leiter und Choreograf Daniel Zaboj erarbeitet zusammen mit
ihnen einen künstlerischen Rahmen, der ihnen
die Aneignung wichtiger sozialer Kompetenzen,
die Erweiterung der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten und ein Selbstbewusstsein für die eigene
Geschichte ermöglicht. Erneut lässt sich Daniel Zaboj im nun in die vierte Runde gehenden
„Rap4Peace – Songs for Othello“ von Shakespeares dramatischem Kosmos inspirieren. War
es vor zwei Jahren die tragisch endende Liebe
zwischen Romeo und Julia, bietet jetzt das Netz
aus Intrigen, Neid, Hass und Vorurteilen, in dem
sich der Außenseiter Othello verfängt, die Folie
für eine moderne Ballett-Version. Wieder wird
der vielseitige aktuelle Streetstyle auf ausgefeilte Modern-Dance-Choreografien treffen, so
dass sich die rasende Eifersucht des Protagonisten in der rasanten Körpersprache der dynamischen Power-Moves seiner Mitstreiter und
Kontrahenten spiegelt.
Extreme Gefühlswelten, Vertrauensverlust,
der Umgang mit Konflikten, die Menschen ins
Chaos stürzen, aber auch die Chancen der Befreiung und Loslösung daraus bleiben so die
brisanten thematischen Aspekte, für die Daniel
Zaboj gemeinsam mit den vielen jugendlichen,
hoch motivierten TänzerInnen aus der regionalen Hiphop- und Breakerszene explosiv performte Tanzsequenzen entwickelt. Kreativ musikalisch begleitet wird die Produktion, die wie im
Vorjahr zweimal im Theater Augsburg gezeigt
wird, auch in diesem Jahr von Deniz Khan, optisch soll diesmal der im Trend liegende MangaStil eine Rolle spielen.
Selbstverständlich soll „Rap for Peace“ auch
in den folgenden Jahren weitergeführt werden.
Weder den künstlerischen Möglichkeiten noch
den kreativen Impulsen der Jugendlichen sind
zeitliche Grenzen gesetzt, und so wird das
Thea­ter Augsburg auch in Zukunft das erfolgreiche Projekt fortsetzen. Die Mitwirkenden
können somit nachhaltig über mehrere Jahre
hinweg teilnehmen und ihre Kompetenzen
ausbauen.
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soziokultur 2|10
International, experimentell, aktuell
EXPLOSIVE! 13. Internationales Jugendtheater-Festival im September in Bremen
BARBARA HIRSCH
1994 wurde das erste Internationale Jugendtheater Festival EXPLOSIVE! ins Leben gerufen.
Die Initiatoren haben nicht damit gerechnet,
dass es die Jahrtausendwende überstehen würde. Die Finanzierung war mehr als ungewiß und
die Recherche äußert schwierig, da wir mit dem
Festival Neuland betraten. Mittlerweile hat sich
das Festival etabliert, der Etat ist im Haushaltstitel unseres Kulturzentrums verankert und wir
verfügen über ein Netzwerk von Kontakten, das
über die ganz Welt verstreut ist.
Intention des Festivals ist die Weiterentwicklung und Inspiration der heimischen Szene sowie der Austausch auf internationaler Ebene.
Aktuelle Strömungen und Tendenzen in der internationalen Jugendtheaterszene werden verfolgt und diskutiert. Dabei wird die Besonderheit eines Festivals genutzt: Durch die zeitliche
Begrenztheit werden Energien gebündelt und
thematische Positionen zusammengebracht,
die weit voneinander entfernt entstanden sind.
Festivals haben es schwerer, Kontinuitäten herzustellen und Entwicklungen von Künstlern und
Theatergruppen zu begleiten. Aber sie können
für einen kurzen Zeitraum außergewöhnliche
künstlerische und thematische Positionen sichtbar machen.
Im Rahmen von EXPLOSIVE! im September
2009 kamen Produktionen aus Russland, Bel­
gien, Palästina, Brasilien, Finnland und natürlich
aus Bremen auf die Bühne. Schauspielschüler­
Innen aus St. Petersburg interpretierten das
Dschungelbuch mit beeindruckender körperlicher Präzision, junge PalästinenserInnen aus
Jenin setzten sich mit ihrer Lebenssituation
in einem Flüchtlingslager im Westjordanland
auseinander. Mutige Amateure aus Turku und
Antwerpen interpretierten die Probleme des Erwachsenwerdens auf ihre ganz spezielle Weise.
8- bis 14-jährige Kinder aus dem Produktionszentrums Victoria in Gent standen selbstbewusst auf der Bühne und schelten die Erwach-
senenwelt mit Texten eines Theaterprofis wie
Tim Etchells, an die sie sich ohne Hemmungen
heranwagten. Daneben waren temperamentvolle BrasilianerInnen zu erleben, die stolz ihre
eigene Kultur präsentierten und das Sterben des
Regenwaldes anprangernten.
Aber ein Festival kann nicht nur die zeitliche Begrenztheit kreativ nutzen, es kann auch Freiräume für Experimente schaffen. Ein solches Expe-
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riment war der Intensiv-Workshop „Seven“ des
niederländischen Regisseurs Jeroen Kriek: Harte
schauspielerische Körperarbeit und eine einwöchige Abschottung vom Privaten waren die
Voraussetzungen für die Teilnahme an diesem
Projekt. Bei der Suche nach DarstellerInnen war
es Regisseur Kriek wichtig, Jugendliche mit verschiedenem kulturellen Hintergrund zu finden.
Er war sich sicher, dass die verschiedenen Kulturen, die verschiedenen Persönlichkeiten und Biografien das Stück prägen würden. Acht Bremer
Jugendliche, die ihre Wurzeln in Kasachs­tan,
Polen, China, der Türkei und Deutschland haben,
wohnten und probten eine Woche zusammen
und alles, was auf der Bühne zu sehen war, entstand in dieser Zeit. Die Gruppe arbeitete ausschließlich mit Themenkomplexen, die mit der
Zahl sieben in Verbindung stehen.
Der anschließenden Präsentation war die außergewöhliche Intensität der Probenzeit anzumerken. Enstanden war eine fantasievolle und
manchmal auch skurrile Szenenfolge, die mit
viel Spielfreude und Spaß vorgetragen wurde.
Die Jugendlichen hatten unter professioneller
Anleitung innovative Ausdrucksformen und
neue darstellerische Wege gefunden und sich
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mit existenziellen Fragen der Jugend und gesellschaftlichen Problemen auseinandergesetzt.
Das Publikum war begeistert und das Experiment gelungen.
Neu in diesem Festivaljahr war auch das „Bremer Fenster“, das einen Blick auf die vielfältige Jugendtheaterszene unserer Stadt bot. Nachdem wir
in den vergangenen Jahren nur jeweils eine Bremer Produktionen zeigen konnten, war es diesmal
durch umfangreiche Kooperationen möglich, die
Vielfalt unserer Jugendtheaterszene darzustellen.
Von der Moks Theaterschule JUNGE AKTEURE
über das integrative Projekt „Die Anderen“ des
tanzwerks, der Theaterwerkstatt der Hochschule
Bremen bis hin zum Hiphop-Projekt eines Bürgerhauses reichte dieses Spektrum. Durch diese
Erweiterung kamen auch neue Aufführungsorte
hinzu, was zu einer größeren Präsenz des Festivals in der Stadt führte.
Viel Beachtung fand auch das von der Me­
dienwerkstatt des Schlachthofs produzierte EXPLOSIVE! Festival-TV. Es zeigte Ausschnitte aus
den Aufführungen, Interviews mit Regisseuren
und DarstellerInnen und den Ausblick auf die
nächsten Produktionen und ergänzte damit gedruckte Programminformationen, persönliche
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Statements, Kommentare, Hintergründe und Atmosphärisches vom Festival. Die jeweils 15-minütigen Magazine waren während des Festivals
täglich im Foyer des Schlachthofs zu sehen. Radio
Weser.TV zeigte die Sendungen im Kabelkanal
oder als Livestream im Internet. Viele Jugendliche
nutzten diese Möglichkeit, sich noch weitere Informationen über die Aufführungen und Gruppen
zu holen.
EXPLOSIVE! hat sich etabliert und hat seinen
Radius erweitert. Es versucht immer wieder, den
Blick zu schärfen für Neues, Aktuelles und Spannendes, was im Bereich Jugendtheater national
und international passiert. Dieser Herausforderung werden wir uns auch im nächsten Jahr stellen, wenn EXPLOSIVE! wieder über die Bühne
gehen wird.
Fotos: Frank Scheffka, raum-atelier für fotografie,
www.raum-fotografie.de
www.explosive-info.de
BARBARA HIRSCH ist Mitglied der Festivalleitung und
Mitbegründerin des Festivals.
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Der große Müller und die kleine Stadt
Heiner-Müller-Stück an der Kulturbörse Gnoien
KARL NAUJOKS
A
m Bühnenrand zupft ein Bassist gedankenverloren sein Instrument. Hinter
dem Vorhang ruft eine kräftige Stimme:
„Die Kultur muss aufs Land!“ Ein dickes rotes Buch erscheint, mal links, mal in der
Mitte zwischen den Bahnen aus rotem Samt.
Wieder muss die Kultur aufs Land, meint die
Stimme aus dem Off. Der Kontrabassist schaut
über­rascht von seinem Spiel hoch, als ihm das dicke rote Buch unter die Nase kommt. Als Nächstes torkelt eine weibliche Gestalt von der Bühne
herunter. Zeitlos bekleidet. Die Assoziation findet
eine Schublade: Hartz-IV-Empfängerin.
So beginnt die Anfangsszene auf der kleinen Bühne des Familienzentrums Kulturbörse in der mecklenburgischen Kleinstadt Gnoien. Abermals wird
an diesem Donnerstagabend am Stück gearbeitet.
Ja, was denn? Der Anfangspart ist Heiner Müllers
Drama „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem
Lande“ entlehnt. Ein früher Müller, 1961 uraufgeführt. Die Geschichte handelt von einer mutigen
Frau. Aber ein kompakter und homogener Müller
soll es gar nicht werden, meint die Theaterpädagogin Bettina Kalisch. Eher eine Art Collage aus
Stücken, Texten und Interviews des Autors. Zugeschnitten auf 20 Jahre neues Deutschland und auf
die Lebenserfahrungen der Protagonisten.
Der Anstoß, sich mit Heiner Müller zu beschäftigen, kam zunächst von außen. Ein befreundeter Regisseur, nahebei wohnend, der viel für das
Fernsehen arbeitet, wollte unbedingt einmal seinen Müller inszenieren. Kalischs Truppe ließ sich
auf das Wagnis mit dem großen, ganz großen
Müller ein. Wollte aber ihre eigenen Erfahrungen und Sehweisen mit eingebracht sehen. Also
ein Wort mitreden. Anfangs klappte das auch
ganz gut, erzählt Bettina. Aber mit der Einbeziehung war es dann doch nicht weit her. Von Mal
zu Mal wuchs bei ihren Leuten das Misstrauen,
dass der Regisseur sich doch nicht wirklich auf
sie einlassen wollte und ihre Ideen, wie man in
Gnoien schauspielen könnte.
Auf einer großen Bühne mit Berufsspielern mag
der Ansatz des Regisseurs zu verwirklichen sein.
Nicht so in Gnoien auf dem Lande. Es kam zum
Bruch mit dem Mann vom Fernsehen, erzählt
Bettina ihren Protagonisten vor Probenbeginn.
Man habe sich im Guten getrennt. Auf weitere
Einzelheiten geht sie nicht ein.
So etwa zur Hälfte steht die Inszenierung und
es bleibt bei Heiner Müller und bei einer szenischen Zusammenstellung seiner Texte. Aber jetzt
muss die Truppe allein weiter gehen. Wohin das
am Ende führt? Das fertige Resultat, das Stück,
wird um den Tag der Einheit herum sichtbar.
Uraufführung natürlich im kleinen Saal der Kulturbörse, wahrscheinlich erst ein paar Tage nach
dem 3. Oktober, weil da herum schon viel los
ist, weiß Bettina Kalisch. Zupass käme es ihnen,
wenn sie ihren Müller auch an anderen Orten und
bei anderen Gelegenheiten aufführen könnten.
Einer, der am 3. Oktober anderes zu tun haben wird als Theater zu spielen, ist Hans-Georg
Schörner. Er ist in Gnoien Bürgermeister, ehrenamtlich, seit 1994. Schörner hat in zwei deutschen Armeen gedient, in der einen brachte er
es bis zum Korvettenkapitän, in der anderen bis
zum Kapitänleutnant, einen Rang niedriger. Als
Techniker war er nach 1990 für eine Weiterbeschäftigung in der Bundesmarine unverfänglich.
Der 64-jährige Schörner will vor allem Müller-
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sche Texte und Interview-Antworten vortragen.
„Sagen wir mal so rum, keine feste Rolle mit
festem Text und Typ. Ich bin ja hier der Bürgermeister, und obwohl der auch in der ,Umsiedlerin’ vorkommt, spiele ich den nicht“, erzählt
der Ex-Marineoffizier. Er will seiner Funktion als
Amtsperson im realen Leben treu bleiben und
keine Rollendiffusion entstehen lassen.
An diesem Abend hat Hans-Georg Schörner
seinen blauen Marinemantel mitgebracht und
übergibt ihn Bettina in den Kostümfundus. Für
immer. Die Messingknöpfe glänzen, der tiefblaue Stoff ist fusselfrei. Schörner will ihn nicht
mehr auf dem Boden hängen haben. Dieses
Stück Erinnerung an den Berufsalltag sei Vergangenheit. Für ihn abgeschlossen. Nun darf der
Uniformmantel Theaterfiguren zieren.
Schörners Begegnung mit Müller ist erst gegenwärtiger Art. Früher haben ihn Theater und
Dramenliteratur oder gar der Müller selbst kaum
interessiert, allenfalls, wenn er an das Laien­
theater seinerzeit in der Erweiterten Oberschule
zurückdenkt (dem DDR-deutschen Pendant zum
Gymnasium). Schörner hat sich extra für heute
Abend mit einem Buch gewappnet, in dem andere über Müller schreiben und urteilen. „Das
ist schon spannend“, sagt er.
Der Bürgermeister (Gnoien hat 3.038 Einwohner) findet bei seinem Theaterspiel familiären Beistand. In der Inszenierung wirkt auch Schwiegertochter Astrid mit, die immer alles hübsch unter
den Teppich kehrt und in der „Umsiedlerin“ d e n
Flint gibt. Sohn Torsten Schörner wird den Monolog „Im Fahrstuhl“ sprechen. Ein Müller-Text
von 1979, der schon das späte hochartifizielle
Dramatikergenie ahnen lässt. Von einer simplen
Paternoster-Situation verschlägt es den bang auf
einen Chef-Termin Wartenden nach Peru, wo er
nicht ermordet wird. Zum Jahrestag der Einheit
wird man sehen und hören, was Bettina Kalischs
Truppe daraus gemacht hat.
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Der Mann am Bass zupft sein Instrument gelegentlich bei Auftritten mit einer Band in der
Schweiz. Wolfram Vogele ist 41 und verrichtet
in der Kulturbörse so ziemlich viel, führt Filme
vor usw. In der Inszenierung will er der Musiker sein. Eine richtige Rolle sei das wohl nicht,
aber es ist das, was er gut einbringen kann,
es soll ja auch mehr so eine Collage werden,
da brauche es auch einen Musiker. Für Vogele
war Heiner Müller weit weg im großen Berlin.
„Ich habe ihn nicht gekannt. Ich selber würde
so auch nicht rangehen, aber spannend ist das
schon, wenn einem so etwas angetragen wird“,
meint der Musikus. „Mit der Weile kommt die
Einfühlung“, sagt er, „anfangs war es für mich
ziemlich egal, ich bin schon länger dabei in der
Kulturbörse, aber Theater zu machen, das war
nicht unbedingt mein Traum.“ Was ihn da reize?
„Es ist interessant, mit einer Gruppe etwas zu
machen. Wir sind eine spannende Runde. Das ist
ja auch ein Effekt, den wir anstreben: nämlich
uns miteinander und sich selbst kennenzulernen
dabei.“
„Junkerland in Bauernhand“ hieß eine Losung,
in deren Geltungszeit Müller seine Theaterfigur
der Umsiedlerin agieren lässt. Zu „Bauernland in
Bonzenhand“ wurde in den wilden 90er Jahren
der Spruch umgemünzt. Ob Bettina Kalisch mit
ihrer Truppe soweit geht dies zu thematisieren, ist
jetzt nicht abzusehen. Auf halber Wegstrecke angekommen muss die Gruppe jetzt erst mal ohne
Regisseur als Chef und Alpha-Tier auskommen.
Bettina greift den inhaltlichen Fragen voraus, die
dann im gemeinsamen Spiel von allen konkretisiert werden. Kann man mit Müller-Texten heute
noch etwas anfangen? Was heißt es, „die Kultur
muss (oder geht) aufs Land“? Auf diese Weise
soll Kultur als „Nahrungsmittel“ ver­standen werden und Lösungen bieten. „Menschen werden im
aktiven Miteinander aus der Isolation geholt. Mit
unserem Projekt wollen wir ebenso Menschen
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auf den Geschmack von Kultur, die dringender denn je gebraucht wird, bringen. Das dient
dann auch einer allgemeinen Gesundung, einer
Gesundheit, die ansteckend wirken kann, wenn
Menschen im positiven Sinne für sich und andere
aktiv werden“, sagt Bettina.
Noch wird es eine ganze Reihe donnerstäglicher
Treffs in der Kulturbörse geben. Im August will
Kalisch eine ganze Woche lang intensiv mit ihrer
Truppe proben. Nachdem die Kulturbörse beim
Fonds Soziokultur mit einem Förderantrag hinten
heruntergefallen ist, hat sich Kalisch Geld über die
Aktion „Vielfalt tut gut“ aus dem Bundesministerium geholt. Allgemeiner Projekt­ansatz ist es, etwas
für Demokratie und Selbstbestimmung zu tun.
Bis zur fertigen Inszenierung wird nun noch
einiges Wasser die Warbel hinunterfließen. Diese sprachliche Wendung passt an diese Stelle,
um zu ergänzen, wo denn Gnoien überhaupt
liegt: an der Warbel, mehr ein Wiesenbach und
weniger ein Fluss. Mitten im sanft hügeligen
Mecklenburg auf halber Strecke zwischen den
Städten Greifswald und Rostock. Auf dem Land
also. Da wo die Kultur hingehen soll. Oder wo
sie ist.
Die Kulturbörse Gnoien, multifunktionales Familien­
zentrum, ist Mitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur in Mecklenburg-Vorpommern.
Abb. linke Seite oben (v.l.n.r.): Anfangsszene;
Wolfram Vogele, Grit Gesche, Ramona Ahnert
Unten: Bettina Kalisch
Rechte Seite (v.l.n.r.): Astrid Schörner, Bettina
Kalisch (liegend), Hans-Georg Schörner, Bärbel
Weber; Hans-Gorg Schörner; Bärbel Weber
Fotos: Karl Naujoks
KARL NAUJOKS ist Vorstandsmitglied bei der LAG
Soziokultur Mecklenburg-Vorpommern.
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Kultur bildet Persönlichkeit
Zwölf Jahre Kinder- und Jugendkultur in Stroetmanns Fabrik Emsdetten
U L R I K E W A C H S M U N D, H A N N A H K A B E L
„You can change your life in a dance class“, sagt
Royston Maldoom im vielfach ausgezeichneten
Dokumentarfilm „Rhythm is it“ und bringt mit
seiner zentralen Aussage die Vision der Kulturprojekte, die Stroetmanns Fabrik seit 1996 in Emsdetten veranstaltet, auf den Punkt: Kultur bildet
Persönlichkeit.
Die Begegnung mit Kultur auf hohem Niveau kann Menschen existenziell berühren. Ein
kulturelles Schlüsselerlebnis kann Menschen
in jedem Lebensalter für einen Moment, für
Stunden, Tage oder sogar ein ganzes Leben zu
neuen Sichtweisen auf das Leben und die eigene Lebenssituation führen. Dies ist vor allem für
Kinder und Jugendliche von großer Bedeutung.
Stroetmanns Fabrik geht es darum, ihnen die
Chance zu jeder kleinen oder großen Begegnung
mit Kunst und Kultur zu geben und den Grundstein für eine lebenslange Bindung an sie zu legen. Es geht um kleine, aber vielleicht wichtige
Schritte in der Entwicklung von Selbstbewusstsein, Mut, Teamgeist und Leistungsbereitschaft.
Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass in den
Kulturprojekten häufig gerade die Kinder durch
besonderes Engagement und Kreativität auffallen, die im schulischen Alltag wenig in Erscheinung treten. Es sind meist die „stillen Vertreter“, selten die „Rudelführer“, die darstellerisch
plötzlich Fähigkeiten und Potenziale zeigen, die
im Schulalltag oder auch im Freizeitleben kaum
nachgefragt werden. So kommt kultureller Bildung heute auch unter sozial-gesellschaftlichen
Aspekten eine immer größere Bedeutung zu. Die
Politik erkennt angesichts der großen Zahl von
Jugendlichen, die ohne Lern- und Leistungsbereitschaft, ohne Ausbildungs- und Lebensper­
spektive heranwachsen, die Notwendigkeit und
Chancen kultureller Bildung. In den vergangenen Jahren wurde begonnen, vermehrt in den
Bereich Kinder- und Jugendkultur zu investieren.
So unterschiedlich und einzigartig unsere
Projekte in den vergangenen zwölf Jahren
auch waren, es gab für alle ein gemeinsames Konzept durch genau beschriebene
Rahmenbedingungen.
Veranstaltungsform: Unsere Projekte sind immer als Workshops oder Werkstätten mit öffentlicher Abschlusspräsentation organisiert. Entscheidend ist dabei ein hoher Anspruch an die
TeilnehmerInnen, durch den sie erfahren, was in
ihnen steckt, wie viel man durch eigene Leistung
erreichen kann und wie befriedigend die daraus
resultierenden Ergebnisse sind. Wir geben Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, selbst
künstlerische Erfahrungen zu machen, indem
sie gestalten, schauspielern, tanzen, musizieren
oder auch unterschiedliche kulturelle Lebenswelten durch eigenes Handeln und Gestalten
entdecken. Durch das eigene Tun, das Fühlen,
Denken und die Suche nach Ausdruck ist der
ganze Mensch mit „Leib und Seele“ gefordert.
Die Workshops ermöglichen eine sehr direkte
Begegnung mit Kultur. Im Mittelpunkt steht das
künstlerische Schaffen, weniger die Heranführung an Kulturrezeption.
Dauer: Die Workshops laufen über fünf bis zehn
Tage während der Sommerferien. Täglich wird
acht bis zehn Stunden gearbeitet. Die Zeitintensität ermöglicht eine Arbeitsatmosphäre, die die
Ernsthaftigkeit des Unternehmens unterstreicht
und fördert. Der Tag beginnt zumeist mit einem
gemeinsamen „warm up“, mit Einführungen in
grundlegende Techniken des jeweiligen Genres.
Anschließend wird rotierend in unterschiedlichen
Gruppen gearbeitet, die spezifische Bereiche des
Projektes aufgreifen. Außerdem gibt es Planungsund Reflexionsgespräche, Pausen, Austausch und
auch Zeit für gemeinsames Essen. Die Abschlusspräsentation ist natürlich der Höhepunkt jedes
Projektes, gekrönt von der „After-Show“-Party.
Leitung: Die Workshops werden ausschließlich
von hauptberuflich arbeitenden KünstlerInnen
mit möglichst wenig oder ohne pädagogische Erfahrungen oder Qualifikationen geleitet. Ihre Persönlichkeit und künstlerische Arbeit entscheiden
über den Erfolg der Projekte. Die intensive Zusammenarbeit mit den KünstlerInnen ermöglicht
den Heranwachsenden, sich mit unterschiedlichsten Lebensentwürfen auseinanderzusetzen.
Sie lernen Menschen kennen, die sich mit großer
Ernsthaftigkeit und Begeisterung einer Sache
widmen und ganz darin aufgehen. Durch die Professionalität der KünstlerInnen werden besondere
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Anforderungen an die Kinder und Jugendlichen
gestellt. So erleben sie oft, dass keine Rücksicht
darauf genommen wird, ob es gerade zu schwer,
zu anstrengend, zu langwierig, zu nass, zu heiß
oder zu ungewohnt ist. – Darum geht es einfach
nicht, es geht allein um die notwendigen nächsten Schritte im Projekt. Durch diese Vorgaben
lernen sie ihre Grenzen kennen, und sie lernen
vor allem, dass es möglich ist, diese zu überschreiten, und dass sich dadurch ganz neue
We­ge eröffnen. Anstrengung und Durchhaltevermögen sind eng mit künstlerischen Prozessen
verbunden. Nur nach wirklicher Anstrengung erleben sie den App­laus des Publikums als verdient
und als Lohn für ihre Bemühung um Ausdruck.
Teilnehmer: Unsere Workshops finden außerhalb schulischer Zusammenhänge statt. In der
Regel nehmen 20 bis 40 Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen gesellschaftlichen
Schichten teil. Die Altersunterschiede sind nicht
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größer als ein bis zwei Jahre, bzw. es werden
Workshops für unterschiedliche Altersgruppen
angeboten. Die Teilnahmegebühr kann durch
Fördermittel niedrig gehalten werden, die Kinder werden voll verpflegt. In Absprache mit Institutionen der Familienhilfe können auch Kinder,
deren Eltern die Gebühr nicht aufbringen können, kostenfrei teilnehmen.
Betreuung: Für alle persönlichen Belange gibt es
je nach Gruppengröße und Alter der TeilnehmerInnen ein bis zwei BetreuerInnen, die für all das zuständig sind, was sonst die Eltern regeln: Essen,
Trinken, Auskünfte, Hilfen usw. usw. Die Kinder
verstehen die Trennung zwischen Workshopleitung und Betreuung sofort. Für die künstlerischen
Leiter sind die Betreuer eine große Entlastung.
Veranstalter: Veranstalter und Veranstaltungsort ist bei allen Projekten das Sozio-kulturelle
Zentrum Stroetmanns Fabrik in Emsdetten. In
den Sommer­ferien sind die Säle und Seminar-
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räume des Hauses weniger belegt, so dass eine
Werkstatt­atmosphäre entsteht und die Projekte
das Haus ganz „in Besitz“ nehmen können. Der
Saal mit Bühne, Ton- und Lichttechnik, Garderoben und Requisitenräumen bietet alle Möglichkeiten, und die Kinder und Jugendlichen können
„echte“ Bühnenerfahrung sammeln.
Kultur im ländlichen Raum: Doch die Projekte
haben auch eine kulturpolitische Bedeutung. In
der öffentlichen Sicht auf Kultur stehen die Kultureinrichtungen der großen Metropolen im Mittelpunkt des Interesses. Dem ländlichen Bereich
werden oft Laienkultur oder Brauchtumspflege
zugeordnet. Hier wollen wir mit den innovativen
Projekten gegensteuern, in der Öffentlichkeit
für Aufmerksamkeit sorgen und Akzente setzen. Und die Reaktion des Publikums zeigt immer wieder, dass Interesse und Verständnis der
Menschen für anspruchsvolle Kultur auch in der
„Provinz“ vorhanden sind.
Die Inhalte: Die Inhalte der Workshops umfassen nicht nur die klassischen Kultursparten
Theater, Musik, Literatur und bildende Kunst,
sondern auch Spartenübergreifendes und Experimentelles. Die Beschäftigung mit den Kulturen
anderer Völker gehört ebenso zu den Workshop­
inhalten wie Alltagskultur in historischen Zusammenhängen, die Auseinandersetzung mit
den eigenen Sinnen oder auch Medienprojek­te
im Bereich Spiel- und Dokumentarfilm.
Abb.: Theater von Sinnen, Projekt 2009 (oben)
Projekt „Aquarius” mit dem Theater Titanick, 2008
(unten)
Aus: Kultur bildet Persönlichkeit. 12 Jahre Kinder- und
Jugendkultur in Stroetmanns Fabrik Emsdetten, Dokumentation von Stroetmanns Fabrik, Sozio-kulturelles
Zentrum Emsdetten e.V., www.stroetmannsfabrik.de
ULRIKE WACHSMUND und HANNAH KABEL, Theater
Titanick.
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Eins auf die Fresse
Jugendtheater zum Thema Mobbing, nicht nur für Jugendliche, sondern mit ihnen
D
WOLFGANG HERBERT
as E-Werk Freiburg und die Freiburger
Theatergruppe RadiX-08 starteten
im Sommer 2009 das Modellprojekt
„NO GO mittendrin – schau hin“, zur
Förderung des Dialoges zwischen Kunst und Jugendkultur. Das Jugendtheaterstück „Eins auf
die Fresse“ handelt von Mobbing in der Schule
– ein allgegenwärtiges Thema. In der Vorarbeit
für das Theaterstück wurden theater- und medienpädagogische Angebote mit künstlerisch-ästhetischen, sowie jugendkulturellen Ausdrucksund Vermittlungsformen kombiniert.
Die Premiere und weitere 20 Vorstellungen
waren nahezu ausverkauft und wurden von
etwa 4.500 Jugendlichen und jungen Erwachsenen besucht. Erwähnenswert ist, dass drei Viertel der Jugendlichen aus dem Bereich der Hauptund Realschulen in der Region Freiburg kamen.
Die Verbindung von Theaterstück und kulturellen Bildungsangeboten für Jugendliche, die in
Form von Workshops, Aktionen sowie erarbeiteter kreativer Produktionen stattfindet, macht
die besondere Qualität des modellhaften – auf
Prävention angelegten – Vorhabens aus. Über
Breakdanceworkshops und Castings wurden
Jugendliche gewonnen, die eine Choreografie
und die Songs für das Theaterstück erarbeite-
ten. Dafür konnten Jugendzentren und Schulen,
vor allem aus dem eigenen Stadtteil, als Partner gewonnen werden. Eine weitere Gruppe
Jugendlicher, die sich über Medienworkshops
zusammenfanden, übernahm Werbung und Fotodokumentation und produzierte Podcasts mit
allen Beteiligten, die ins Internet gestellt oder in
lokalen Radiosendern gesendet wurden.
Schulklassen konnten die öffentlichen Proben
zur Vorbereitung ihres Unterrichtes besuchen.
Außerdem gab es für Schulen das Angebot der
Regisseurin und den Schauspielern, in den Unterricht zu gehen und die Lehrer bei der Vor- und
Nachbereitung zu unterstützen. Im Anschluss an
jede Aufführung fand eine Podiumsdiskussion
zum Stück mit der Regisseurin und den Schauspielern statt.
Das Jugendtheaterstück „Eins auf die Fresse“ von Rainer Hachfeld (UA Grips Theater
Berlin) handelt von Gewalt auf dem Schulhof.
Die Geschichte beginnt am Grab des Schülers
„Matze“, der Selbstmord begangen hat. Auf
der Suche nach den Motiven des Selbstmordes
geraten vier Jugendliche in Konflikte – es geht
ums Abziehen, ums Abzocken, um Erpressung
und Mobbing, ums Wegschauen, Mitmachen
und schließlich ums Sich-Wehren.
Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Kulturzentren wie das E-Werk Theaterproduktionen
und Aufführungen in ihrem Programm haben,
denn wenig andere Orte sind so nahe an ihrem
Publikum und in der Lage, auch so authentisch
Themen der Zeit aufzugreifen und umzusetzen.
Sie bieten Räume mit einer niedrigen Hemmschwelle für alle Mitglieder unserer Gesellschaft. Gleichzeitig sind dies Arbeitsräume, in
denen Theaterprofis mit Jugendlichen Produk­
tionen in hoher Qualität erarbeiten können.
Das E-Werk wird die Theaterarbeit mit dem
Theater RadiX-08 fortsetzen. Geplant wird ein
Stück, das Jugendliche in Zusammenarbeit mit
Theaterprofis selbst entwickeln und schreiben.
Zum Schluss als Beispiel für die Szene im E-Werk
ein Auszug aus dem Brief eines an der Produk­
tion beteiligten Jugendlichen:
„Am Anfang war da nichts. Eine Woche später
hatte ich die Geschichte gelesen, eine Idee im
Kopf und die Beats ausgewählt. Es war eine gewagte Idee der Regisseurin, Rapper und Tänzer in
das Stück zu integrieren. Ein Stück über Mobbing
und Gewalt: „Eins auf die Fresse“. Die Regisseurin, sozusagen Träumerin des Stückes, hatte uns
geholt, um es authentischer und realistischer zu
gestalten. Wir waren nicht nur da, um das sehr
ernste Stück immer wieder etwas aufzulockern,
sondern auch um in der Umsetzung immer wieder ehrliche Meinungen einzubringen.
soziokultur 2 |10
Es hatte Zeit gekostet, Stress gefordert und
manchmal auch Schlaflosigkeit zur Folge gehabt. Aber wenn man nach gefühlten 16 geschriebenen Songs (bei denen man den Großteil
der Lines undurchdacht zerrissen hat, bei denen
einem nachts um 4 Uhr im Scheinwerferlicht auf
der Kaiser-Joseph-Straße der letzte, perfekt passende Reim eingefallen ist oder die einem an einem wunderschönen Tag, der Sonne entgegen,
verloren in den Worten, innerhalb von Minuten
gekommen sind) rausgeht, ein bisschen Liebe
in die Strophen packt und die Menschen zum
Lächeln oder Nachdenken bringen kann, ist man
einfach nur glücklich.
In der Zeit der Aufführungen entwickelten wir
uns zu einer kleinen Familie, man verbrachte irgendwann furchtbar gerne die Tage miteinander
und am Ende war die große Hoffnung auf eine
Wiederaufnahme das Einzige, was die etwas
traurige Stimmung übertönte. Wir haben zusammen gegessen, die Tänzer rappten mit uns und
READER ZUM THEMA THEATER
zeigten uns die Choreografien, man fing an, sich
Geschichten zu erzählen, über persönliche Dinge
zu diskutieren, zusammen „Scheiße“ zu bauen.
Ungefähr nach der dritten Aufführungen kam
die Routine, man ging raus, machte sein Ding,
voller Leidenschaft und einfach frei, wünschte
den anderen Glück, hatte zusammen Spaß und
merkte auch bei jedem Applaus, das man die
Leute erreichte.
Die Erfahrung war einmalig, denn am Applaus
merkt man, dass die Menschen fühlen, was man
sagt. Genauso ist Theater, es sind mehr als nur
Worte, es sind verspielte, verschwendete Worte,
die in einem Augenblick die Menschen fühlen
Niklas Melcher, 15 Jahre
lassen können.“
WOLFGANG HERBERT ist stellvertretender Geschäfts­
führer und verantwortlich für das Programm Musik
und Theater im E-Werk Freiburg.
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Das E-Werk ist das größte soziokulturelle Zentrum in Freiburg. Neben Projekten in Bereichen
wie bildender Kunst und Musik liegen seine
Schwerpunkte im Bereich der darstellenden
Kunst bei Tanz- und Theaterproduktionen sowie bei den spartenübergreifenden Themen
Migration und kulturelle Bildung.
Das Theater RadiX-08 ist ein Zusammenschluss von acht erfahrenen freien Schauspielern, Tänzern, Regisseuren und Bühnenbildnern. Sie arbeiten bevorzugt mit jungen
Absolventen der im E-Werk gelegenen Freiburger Schauspielschule zusammen, die am
Anfang ihrer Professionalität sind und den
Spielfiguren auf Grund ihres Alters und ihrer
Disposition nahestehen. Diese Rollenfiguren
sollen Identifikationsfiguren für die jugendlichen Zuschauer sein.
www.ewerk-freiburg.de
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soziokultur 2|10
Fotos: Hartmut Berkau
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IN ACTIO
LÄNDLICHE AKADEMIE
KRUMMHÖRN (LAK)
Verrückte Ideen und
ostfriesische Sturheit
M
anchmal sind es gerade die kuriosen Ideen, die begeistern können und zum Ziel führen. Für die Ländliche Akademie Krummhörn beginnt dies Prinzip
schon mit der Gründung des Vereins. Vor 27 Jahren
beschlossen einige Professoren des Fachbereiches Sozialwesen der
Fachhochschule Ostfriesland in Emden, für die dort Studierenden
ein sozial-kulturelles Erprobungsfeld zu erschließen. Die im Hinterland Emdens liegende Gemeinde Krummhörn bot mit ihrer großen
Fläche, 19 zugehörigen Dörfern mit insgesamt nur 17.000 Einwohnern ein interessantes Betätigungsfeld. Zum Zeitpunkt der Ideenentstehung hatte wohl keiner der Professoren ahnen können, wie
sich dieser Gedanke entwickeln würde. Die Krummhörner machten
es ihren Kultureinwanderern nicht leicht. Viel Überzeugungsarbeit
musste geleistet werden und ein gegenseitiges Hörnerstutzen war
nötig, bevor die ersten Gruppen der LAK aktiv in die kulturelle Arbeit einstiegen. Dann jedoch war eine gemeinsame Sprache gefunden und etwas gewachsen, das bis heute Bestand hat.
Rund 560 aktiv Mitmachende in 50 verschiedenen Gruppen
zählt der Verein aktuell. Zwei Drittel davon sind Kinder und Jugendliche. Es wird musiziert mit Handglocken, Flöten, Xylophonen, Gitarren, Blasinstrumenten, Tonstäben (Chimes) und in Chören. Die bildenden Künstler malen, töpfern, gestalten mit Holz
und mit Stoffen. Daneben gibt es noch zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene in den LAK-Theatergruppen.
Das eingangs beschriebene Prinzip der kuriosen Ideen verwirklicht die LAK mit ihren großen kulturhistorischen Projekten. Dazu
greift sie Themen aus der interessanten Geschichte Ostfrieslands
auf und entwickelt daraus ein Musik-Theater, in dem dann fast
alle Gruppen des Vereins mitmachen. Zum Beispiel „Achter de
Sünn an“, ein Musical zur Auswanderergeschichte Ostfrieslands
oder „Achter kolle Müren“ mit einer Betrachtung der Hexenverfolgung und „Heislahoizeiht“, wo Ostfriesen und Bayern
aufeinander treffen. Präsentiert werden die Musicals allein von
LaiendarstellerInnen der Ländlichen Akademie. Der tolle Effekt
des Zusammenspiels von Theater, Musik und Gesang wird noch
unterstützt durch den Austragungsort, eine eigens dafür eingerichtete Gulfhofscheune im Ostfriesischen Landwirtschaftsmuseum zu Campen.
2009 wagte die LAK ein grenzüberschreitendes Projekt in Kooperation mit den Niederlanden. Thema war die Cosmas-Damian
Sturmflut vom 26. September 1509, die dem Dollart die größte
Ausdehnung gab und mehr als 30 Dörfer in Ostfriesland und im
deutsch-niederländischen Reiderland versinken ließ. Diese Sturmflut war aber nicht nur für Künstler interessant, auch Wissenschaftler, Klimaforscher und Historiker beschäftigten sich mit ihr.
So entstand ein großes Netzwerk aus Akteuren, die entsprechend
ihrer Interessenslage Veranstaltungen entwickelten. Ausstellungen,
Lesungen, Vorträge, ein wissenschaftliches Symposium und Theater
auf beiden Seiten des Dollarts wurden den BesucherInnen geboten.
Mehr als 120 AkteurInnen waren allein an dem LAK-Musical „Dat
lesde Lücht“ beteiligt, das rund 4.000 Menschen sahen. Höhepunkt
des Projektes „Sturmflut 1509“ war ein Dollartevent direkt am Jahrestag, dem 26. September 2009. An drei Standorten rund um den
Dollart kamen die Menschen zusammen und erlebten über ein Hörspiel die Geschichte des 26. September. Zum Abschluss erstrahlten
Skybeamer an den Positionen der versunkenen Dörfer und ließen
die Geschichte lebendig werden.
Die Idee, sich diesem historischen Ereignis künstlerisch derart
anzunähern und damit mehr als 5.000 Menschen zu erreichen
und zu begeistern, brachte der LAK die Auszeichnung mit dem
Innovationspreis 2009 des Fonds Soziokultur ein. Auf die Frage,
was denn die herausragenden Eigenschaften wären, um solche
Projekte erfolgreich werden zu lassen, antwortete die Projektleiterin Christine Schmidt anlässlich der offiziellen Preisverleihung:
„verrückte Ideen, großes kreatives Potenzial und ostfriesische
Sturheit, das wirklich umsetzen zu wollen.“ www.lak.de
CHRISTINE SCHMIDT, Geschäftsführerin des Vereins Ländliche Akademie
Krummhörn e.V.
soziokultur 2 |10
READER ZUM THEMA THEATER
19
Gisela Höhne, geb. 1949 in Thü­­­­ringen,
Schau­spielerin und Mitbegründerin
des Vereins Son­nenuhr, ist seit 1991
als dessen Re­gisseurin und künstlerische
Leiterin tätig. Sie erhielt das Bundesver­
dienst­kreuz (2009) und zahlreiche wei­tere
Auszeichnungen für ihre integrative Theater­
arbeit. Das Theater RambaZamba feiert am
1. September 2010 mit dem FRIEDENS-FEST
sein 20-jähriges Jubiläum. Wir gratulieren!
IN PERSONA
GISELA HÖHNE
Regisseurin und Schauspielerin am Theater
Ramba­Zamba, Berlin
Ein Traum von Theater
G
isela Höhne ist eine kleine Frau. Sie grüßt mit festem
Händedruck und strahlt mit ihrem Perlmuttohrring um
die Wette. Wir treffen uns im Café des Theaters RambaZamba. Malereien, Grafiken und Keramiken, die in
den Werkstätten des Trägervereins Sonnenuhr entstanden sind,
schmücken die Wände. Das Ensemble trudelt ein. Es wird gegessen und das Neueste ausgetauscht, bevor das tägliche Training
und die Proben für die Abendaufführung beginnen.
Hier arbeitet Gisela Höhne. Gemeinsam mit Klaus Erforth und dem
Ensemble hat sie in den letzten 20 Jahren „Deutschlands wichtigstes
integratives Theater“ aufgebaut. Das Besondere: Geistig Behinderte machen das Gros der Gruppe aus und sind dabei auf der Bühne
so authentisch, dass sie Schauspieler ohne Handicap an die Wand
spielen. Das fasziniert Gisela Höhne bis heute, und sie weiß, dass
diese schauspielerischen Fähigkeiten einzigartig sind. Wenn sie mit
ihrem Ensemble probt, dann setzt sie auf die emotionale Intelligenz
ihrer Bühnenkünstler, denn bei der Arbeit mit Behinderten werden
Unklarheiten im Stück und in den Regieanweisungen sofort entlarvt.
Um sich einem Stoff zu nähern, lässt
die Regisseurin zu Beginn freie AsAus defizitär wahrgenomsoziationen zu – „Wildwuchs“, wie
sie sagt –, um sich einen Überblick
menen Wesen werden
zu verschaffen und das Stück „aus
Personen des öffentlichen
den Schauspielern heraus“ zu entLebens.
wickeln. Dann holt sie gärtnergleich
das Beste aus den Spielern, und die
Inszenierung wächst. Ihre Erfahrungen als Schauspielerin helfen ihr
dabei sehr: „Man kriecht besser rein.“ Sowohl in die Rollen als auch
in die Darsteller. Überhaupt ist Höhne eine absolute Praktikerin: Neben dem Leben auf der Bühne hat sie die Arbeit hinter der Kamera
und als Regisseurin beim Film kennengelernt. Daneben hat sie studiert: Nach Verweigerung ihres Wunschstudienplatzes Psychologie
wegen ideologischer Differenzen zur „Psychologie des Arbeiter- und
Bauernstaates“ studierte sie Filmregie in Babelsberg, Schauspiel an
der heutigen Ernst-Busch-Schauspielschule und Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Der praktischen Arbeit lässt
sie dennoch den Vortritt. Und das
ist gut so! Denn die Theaterarbeit
fasst einerseits Höhnes Erfahrungen zusammen und ist so Ausdruck einer unerwarteten Kontinuität ih­res Lebens, andererseits
ist sie auch Arbeit, Broterwerb.
Nach der Geburt ihrer beiden Kinder – Sohn Moritz hat das Downsyndrom – kehrte sie dem Theater
vorerst den Rücken. Nach kurzer
Zeit verhandelte sie ihre Erwartungen an Leben und Bühne neu und
befand, dass sie die ex­treme Herausforderung annehmen und Menschen mit Behinderung ermöglichen will, mit ihrer Kunst gesehen zu
werden. Dem inneren Kampf um die Erfüllbarkeit eigener und fremder Erwartungen und Maßstäbe bot die Reaktion von Ensemble und
Publikum schnell Einhalt – die Schauspieler berühren darüber, wie sie
Geschichten erzählen. Heute kann das Theater auf 21 Produktionen
in Berlin, über 100 Gastspiele in ganz Europa, zahlreiche Workshops,
Zirkusshows, Kunst- und Theaterfestivals zurückblicken.
Für die Schauspieler stellt das Spiel auf der Bühne laut Höhne einen Durchbruch dar – sowohl gesellschaftlich als auch für die Akteure selbst. Von als defizitär wahrgenommenen Wesen entwickeln sie
sich mit Betreten des Bühnenraums zu Personen des öffentlichen Lebens. Dabei ist Anschauen ausdrücklich erwünscht, denn die Schauspieler treten nicht umsonst vom Dunkel ins Licht. „Im Theater siehst
du den Menschen, einen Besonderen, Gezeichneten.“ 2007 richtete
der Verein geschützte Arbeitsplätze für die besonderen Theater- und
Kulturschaffenden ein, seither ist ihre Zahl auf 30 angestiegen.
Die Schauspieler sind stolz, einen privilegierten Job zu haben, wollen dabei einfach nur Schauspieler sein, keine Stars. Gisela Höhne
und ihr Ensemble sind sich einig: „Alle Rollen sind wichtig.“ Sowohl
auf der Bühne als auch im Alltag. Das Publikum wiederum erlebt die
Inszenierungen als Kunst, nicht als Therapie. Die eigenen Vorurteile
kollidieren mit dem Wahrgenommenen. Das Weltbild wird erschüttert und eine klassische Katharsis setzt ein. Höhne glaubt: „Wenn
die Leute, besonders Kinder und Jugendliche, unsere Stücke sehen,
gehen sie später anders mit der eigenen Zukunft und ihren Kindern
um.“ In der Tradi­tion von Bertolt Brecht setzt sie ganz auf die gesellschaftsbildende Kraft von Theater. Und wenn Höhne fragt „Was
bedeutet Theater?“, fragt sie gleichzeitig: „Was bedeutet Leben?“ MAXI KRETZSCHMAR, Kulturmanagerin und Kunstvermittlerin.
LITERATUR SPECIAL THEATER
IXYPSILONZETT – Das Ma­gazin
für Kinder- und Jugendtheater |
Berichte und Essays, Gespräche und
Nachrichten, Dokumente und Kolumnen beschreiben die zeitgenössische
deutsche und europäische Kinderund Jugendtheaterlandschaft. Das
Magazin dokumentiert künstlerische,
aber auch kulturpolitische Debatten,
berichtet von Festivals, Projekten,
Seminaren und Publikationen. |
Erscheint 3x jährlich, Verlag Theater
der Zeit, ISSN 0040-5418, 6,00 Euro,
www.theaterderzeit.de
double – Das Magazin für Puppen-,
Figuren- und Objekt­theater | Das
2004 gegründete Theatermagazin
gibt der Reflexion unterschiedlichster
Erscheinungsformen des zeitgenössischen Theaters mit Puppen, Figuren,
Objekten und Material eine Plattform.
Es informiert und diskutiert über ein
„anderes“ Theater – das Theater der
Dinge – in seinen praktischen, philosophischen, wissenschaftlichen und
literarischen Aspekten. Informationen
über deutsche und internationale Inszenierungen, Festivals, Projekte, Werkstätten, Ausstellungen, Publikationen.
Enthält die aktuelle Festivalagenda. |
Erscheint 3 x jährlich, Verlag Theater
der Zeit, 40 Seiten, ISSN 0040-5418,
6,00 Euro, www.theaterderzeit.de
Spiel und Bühne | Die auflagen­stärkste Fach- und Verbands­
zeitschrift im deutschsprachigen
Raum, seit 1974 herausgegeben vom
Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT), berichtet über
das Amateurtheater im Kontext
von Kunst, Kultur, Politik und Gesellschaft. | Erscheint 4 x jährlich,
Heft 5,00 Euro, Jahresabo
inkl. Versand 18,00 Euro, ISSN
1616-6809, www.bdat.info
schultheater | Für alle, die sich
in der schulischen Theaterarbeit
mit Kindern und Jugendlichen
engagieren. Jede Ausgabe der Zeitschrift verknüpft Grundlagen
des darstellenden Spiels mit pädagogischen und theaterwissenschaftlichen
Aspekten. | Erscheint 4 x jährlich,
Jahrespreis 48,00 Euro, Friedrich
Verlag GmbH, www.friedrich-verlag.
de, www.schultheater-online.de.
künstlerische Basisarbeit. Hier wächst
zusammen, was zu­sammengehört:
Theaterbesuch und Theater als
Schulfach, Theater für Kinder
und Jugendliche sowie Theater
mit ihnen. Das Buch untersucht
Modelle der Zusammenarbeit,
dokumen­tiert Ergebnisse einer
exempla­ri­schen Studie in Hessen
und erörtert, was Theater und
Schu­­le voneinander erwarten.
Ein kulturpolitisches Plädoyer für
ein Programm zur kulturellen
Bil­dung. | Transcript-Verlag 2009,
349 Seiten, ISBN-10: 3-8376-1072-1,
ISBN-13: 978-3-8376-1072-7,
25,80 Euro
NEU – die Rei­he Kölner Beiträge zur Theaterpädagogik:
Survival Kit Freies Theater
und Freier Tanz | „Wer dies
Büchlein gelesen hat, kann vielen
kleinen und größeren Katastrophen,
die der künstlerischen Arbeit all­
zuleicht ein jähes Ende bereiten
können, aus dem Weg gehen.”
(Theater der Zeit) | 14,28 Euro (inkl.
Versand), Bestellung der Printversion (8. Auflage!, Mai 2010)
über den Bundesverband Freier
Theater www.freie-theater.de/
publikationen/survivalkit/ |
Die ständig aktualisierte,
digitale Version gibt es nur bei
Stefan Kuntz, Künstlerberatung |
[email protected], Bestellformular auf www.kuenstlerrat.de
Theater und Schule | Ein
Handbuch zur kulturellen
Bildung | Wolfgang Schneider (Hg.)
| Kulturelle Bildung ist eine sowohl
schulische als auch außerschulische
Herausforderung. Vor allem die Insti­
tutionen Theater und Schule leisten
auf diesem Feld pädagogische und
Band 1: Vom Laienspiel zum
Fachverband – die RAST | Josef
Broich | Von der Arbeitsgemeinschaft
Laienspiel und Laienthea­ter Köln
zur heutigen Rhei­­­ni­­schen Arbeitsgemeinschaft Spiel und Theater
Köln, der RAST – der Band geht der
Entwicklung im Ringen um den
eigenen Weg mit seinen Kanten
und Widerständen nach. | Maternus
Verlag Köln 2010, 128 Seiten, ISBN
978-3-88735-118-2, 19,95 Euro
Band 2: Theaterpädagogik konkret
| Ansichten, Projekte, Ausblicke |
Josef Broich | Ein Theaterpädagoge
– tätig an den Schnittstellen Schule,
kulturelle Jugendarbeit und Amateurtheater – ersetzt weder Schauspieler
noch Lehrer. Der Band geht praxisnah
auf Entwicklung, Handicaps und
aktuellen Facetten des Berufsfeldes
ein. | Maternus Verlag Köln 2010,
128 S., ISBN 978-3-88735-119-9,
19,95 Euro, www.maternus-verlag.de
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