Deutsches Ärzteblatt 1994: A-1210

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MEDIZIN
DIE ÜBERSICHT
Anorexia und Bulimia nervosa
im Jugendalter
Beate Herpertz-Dahlmann, Helmut Remschmidt
Die Anorexia nervosa ist eine meist bei pubertierenden
Mädchen auftretende Erkrankung, die Bulimia beginnt
häufig im späten Jugend- oder frühen Erwachsenenalter.
Beiden Erkrankungen ist eine intensive Furcht vor dem
Dickwerden sowie eine Störung der Körperwahrnehmung
gemeinsam. Die Anorexia ist darüber hinaus durch einen
erheblichen Gewichtsverlust und eine Amenorrhoe, die
Bulimia durch Heißhungerattacken und in vielen Fällen
selbstinduziertes Erbrechen gekennzeichnet. Sekundäre
somatische Veränderungen sind bei beiden Erkrankungen
D
ie Eßstörungen Anorexia
und Bulimia nervosa sind als
ein Ergebnis der Interaktion
einerseits organischer, andererseits psychischer Faktoren zu sehen, die nicht voneinander unabhängig betrachtet werden können und
sich gegenseitig beeinflussen und verstärken.
Definition
Die zur Zeit gebräuchlichen Klassifikationskriterien des amerikanischen Klassifikationsschemas DSMIII-R (APA 1987) und der ICD 10
(WHO 1991) weisen für die Krankheitsbilder der Eßstörungen keine wesentlichen Unterschiede auf (Tabelle 1
und 2).
Als Kernsymptom der Pubertätsmagersucht muß Kriterium 3, das
heißt die Körperschemastörung angesehen werden, welche die Anorexia nervosa mit der Bulimia gemeinsam hat. Hierunter versteht man eine
perzeptonische und konzeptionelle
Störung des eigenen Körperbildes:
Magersüchtige Patienten überschätzen ihren Körperumfang und halten
sich trotz Untergewicht für zu dick.
Die Körperschemastörung betrifft
bestimmte Körperpartien (beispielsA - 1210
häufig. An ätiologischen Faktoren werden biologische, psychologische sowie soziokulturelle Komponenten diskutiert.
Das Behandlungskonzept umfaßt Maßnahmen zur Normalisierung des Eßverhaltens und bei der Anorexia zur Gewichtsrehabilitation sowie psychotherapeutische Verfahren
in Form von Einzel- und Familientherapie. Ein Drittel der
magersüchtigen Patienten hat eine schlechte Prognose,
bei den bulimischen Patienten ist dieser Anteil wahrscheinlich noch größer. Nicht selten entwickeln die Patienten
in späteren Lebensaltern andere psychiatrische Störungen.
weise Bauch, Oberschenkel, Hüften)
mehr als andere (zum Beispiel Kopf,
Schultern) und bessert sich in der
Mehrheit der Fälle, aber nicht immer
mit zunehmendem Gewicht.
Die Kriterien für die Bulimia
nervosa gehen aus Tabelle 2 hervor.
Der Begriff „Bulimia" wurde mit
dem Zusatz „nervosa" versehen, um
bereits durch die Bezeichnung den
nosologischen Zusammenhang zur
Anorexia nervosa herzustellen. Die
Abbildung gibt Überlappung und
Grenzen beider Krankheitsbilder
wieder.
Epidemiologie
Die Prävalenzraten für die Anorexia und Bulimia nervosa schwanken je nach Strenge der angewandten
Kriterien. Nach einer zuverlässigen
Studie der Mayo-Klinik liegt die Erkrankungshäufigkeit an Magersucht
in der Gruppe der adoleszenten
Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren
bei 0,3 Prozent (20). Für bestimmte
Risikogruppen wie BallettschülerinKlinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Direktor: Prof. Dr. med.
Dr. phil. Helmut Remschmidt) der PhilippsUniversität Marburg
(38) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994
nen oder Models, die unter einem
hohen „Schlankheitsdruck" stehen,
erhöht sich die Prävalenz bis auf 5 bis
7 Prozent. Weitere besonders gefährdete Personengruppen gehen aus Tabelle 3 hervor.
In der Literatur besteht Uneinigkeit darüber, ob die Inzidenz der Magersucht tatsächlich angestiegen ist
oder nur die Häufigkeit der Behandlungsinanspruchnahme; die meisten
Studien sprechen aber dafür, daß die
Erkrankung bei den 15- bis 24jährigen in der westlichen Welt zugenommen hat, das heißt, daß diese Altersgruppe besonders vulnerabel ist (15).
Die Anorexia nervosa hat zwei Erkrankungsgipfel bei 14 und 18 Jahren.
Die Prävalenz für die Bulimie
liegt für junge Frauen bei 2 bis 4,5
Prozent; der Erkrankungsgipfel liegt
bei 18 Jahren und damit im Durchschnitt später als bei der Magersucht.
Symptomatik
Das klinische Bild der Anorexia
nervosa ist gekennzeichnet durch restriktives Diäthalten bis hin zur völligen Nahrungsverweigerung und ein
abnormes Eßverhalten. Die Patienten brauchen lange für geringste
DIZIN
DIE ÜBERSICHT
Nahrungsmengen, zerpflücken die
Speisen, essen unpassende Nahrungsmittel durcheinander und verzichten auf andere ganz (zum Beispiel auf fleischhaltige Kost). Sehr
häufig beginnt die Erkrankung mit
einer Überwachung der Nahrungsaufnahme anhand eines Kalorienplanes; viele Patienten weigern sich, an
den gemeinsamen Mahlzeiten der
Familie teilzunehmen. Neben dem
reinen Fasten oder Hungern können
auch noch andere Methoden zur Gewichtsreduktion angewandt werden,
wie selbstinduziertes Erbrechen oder
Laxanzienabusus. Bei fast allen Patienten besteht ein übermäßiger Bewegungsdrang (übermäßige Gymnastik, übertriebene sportliche Betätigung, ständiges Hin- und Herlaufen).
Psychisch sind die Patientinnen und
Patienten durch depressive Verstimmungen, Sthenizität, Leistungsehrgeiz sowie eine in der Regel durchschnittliche bis überdurchschnittliche
Intelligenz gekennzeichnet. Viele Patienten weisen Zwänge und Rituale
auf, die sich in der Regel auf das Eßverhalten beziehen, andere zeigen
eher hysterische Züge (24).
Die Heißhungerattacken bei der
Bulimia nervosa zeichnen sich durch
hastiges Hinunterschlingen von großen Nahrungsmengen, insbesondere
hochkalorischer, leicht eßbarer Nahrung, die keiner besonderen Zubereitung bedarf, aus. Fast alle Patienten
sind der Meinung, den Ablauf und
die Beendigung einer solchen Attakke nicht steuern zu können. Außerhalb der Heißhungeranfälle halten
viele eine Dauerdiät ein, bei der die
meisten Speisen, die während einer
Heißhungerattacke verzehrt werden,
verboten sind. Die Mehrzahl der bulimischen Patienten erbricht im Anschluß an die Heißhungerattacke
und/oder betreibt Laxanzienabusus,
ein Drittel nimmt Diuretika. Während die Heißhungerattacken zu Beginn der Erkrankung häufig durch
Streß provoziert werden, handelt es
sich bei längerfristigen Verläufen
meist um habitualisierte Vorgänge,
die in den Tagesablauf, etwa beim
Einkaufen, mit eingeplant werden.
Körperliche Veränderungen
Die wichtigsten medizinischen
Befunde gehen aus Tabelle 4 hervor
Tabelle 1: Kriterien für die Anorexia
nervosa nach ICD 10 (1991)
1. Körpergewicht mindestens
15% unterhalb der Norm beziehungsweise *QueteletsIndex 17,5
2. der Gewichtsverlust ist
selbst verursacht
3. Körperschemastörung und
„überwertige" Idee, zu dick
zu sein
4. endokrine Störung auf der
Hypothalamus-HypophysenGonaden-Achse
5. bei Erkrankungsbeginn vor
der Pubertät Störung der pubertären Entwicklung einschließlich des Wachstums,
die nach Remission häufig
reversibel ist
* Quetelets-Index =
Körpergewicht in kg
Körpergröße in m 2
Tabelle 2: Kriterien für die Bulimia
nervosa nach ICD 10
1. Andauernde Beschäftigung
mit Essen und Heißhungerattacken, bei denen große
Mengen Nahrung in kurzer
Zeit konsumiert werden
2. Versuche, dem dickmachenden Effekt des Essens durch
verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern,
zum Beispiel selbstinduziertes Erbrechen, Laxanzienabusus, restriktive Diät, etc.
3. krankhafte Furcht, zu dick
zu werden
4. häufig Anorexia nervosa in
der Vorgeschichte
(Herpertz-Dahlmann und Remschmidt 1988) (24). Magersüchtige
mit einem frühen Krankheitsbeginn
weisen oft einen Minderwuchs auf,
der bei chronischem Krankheitsver-
lauf auch irreversibel sein kann. In
jüngster Zeit wird der Entwicklung
einer Osteoporose bei jungen eßgestörten Patienten vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt (27). Ursächliche Faktoren sind der Östrogenmanget ein durch zu niedrige Kalziumzufuhr bedingter Hyperparathyreoidismus, Vitamin-D-Mangel, ein hoher Kortisolspiegel und eine Proteinmangelernährung. Verlaufsuntersuchungen zeigen, daß sich die Osteoporose trotz Gewichtszunahme in
vielen Fällen nur unzureichend zurückbildet (2). Es ist daher nicht geklärt, ob eine Osteoporose, die sich
bereits in der Adoleszenz entwickelt,
reversibel ist oder bereits frühzeitig
zu Komplikationen führt.
Ätiologie
Die Genese der Eßstörungen ist
durch ein Zusammenspiel biologischer, kultureller, familiärer und intrapsychischer Faktoren gekennzeichnet, die ohne Zweifel alle an der
Entstehung der Eßstörungen und zunehmenden Inzidenz beteiligt sind.
Genetische Befunde
Zwillingsuntersuchungen
bei
Anorexia nervosa konnten aufzeigen,
daß die Konkordanzrate für eineiige
Zwillinge etwa 50 Prozent beträgt,
während sie für dizygote Zwillingspaare unter 10 Prozent liegt (33). Bei
den Verwandten ersten Grades magersüchtiger Patienten findet sich eine hohe Erkrankungsrate an Anorexia nervosa, die achtmal höher liegt
als bei der Normalbevölkerung (31).
Hingegen ist in der Literatur umstritten, ob die Prävalenzrate affektiver
Erkrankungen in Familien magersüchtiger Patienten erhöht ist oder
nur bei denjenigen magersüchtigen
Patienten, die selbst an einer Depression leiden (31, 11). Ebenso
scheint die Alkoholismushäufigkeit
in Familien anorektischer Patienten
höher als in der Normalbevölkerung
zu sein.
Konkordanzuntersuchungen bei
bulimischen Zwillingen zeigen ebenfalls ein höheres Risiko bei monozygoten gegenüber dizygoten Paaren
(6). Auch das Risiko für depressive
Erkrankungen und Alkoholismus ist
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994 (41) A-1213
DIE ÜBERSICHT
bei Verwandten bulimischer Patienten erhöht.
Als soziokulturelle Komponente
für die Genese der Eßstörungen ist
der gesellschaftliche Druck in Richtung Schlanksein anzusehen, der seit
den fünfziger Jahren erheblich zugenommen hat. Nach amerikanisch-kanadischen Untersuchungen hat das
weibliche Schönheitsideal - gemessen an Mannequins und Schönheitsköniginnen - in den letzten 20 Jahren
sowohl an Gewicht als auch an Körperumfang erheblich abgenommen.
Entsprechend fand sich in sogenannten Frauenmagazinen ein signifikanter Anstieg an Beiträgen zum Thema
"Reduktionsdiät" (8). Mädchen und
Frauen sind dem Druck des Schlankheitsideals wesentlich mehr ausgesetzt als das männliche Geschlecht,
unter anderem eine Erklärung dafür,
daß Eßstörungen vorzugsweise bei
weiblichen Jugendlichen auftreten.
Auch der Wandel des Frauenbildes
in der Gesellschaft scheint zu dem
Anstieg der Eßstörungen beizutragen. In einer amerikanischen Untersuchung an 1800 Schülern fand man
heraus, daß acht- bis 15jährige Mädchen über ihr Geschlecht sehr viel
unzufriedener als gleichaltrige J ungen sind und weniger vertrauensvoll
bezüglich ihrer Schul- und Berufslaufbahn in die Zukunft blicken (29).
Während früher ausschließlich
familiäre Faktoren für die Entstehung einer Eßstörung verantwortlich
gemacht wurden, ist die Rolle der
Familie heute umstritten. Bereits Lasegue schrieb 1873: "Die Patientin
und ihre Familie sind als ein sehr eng
gestricktes Ganzes zu betrachten,
und wir erhalten ein falsches Bild von
der Erkrankung, wenn wir unseren
Blick nur auf die Patientin richten."
In jüngerer Zeit wurde insbesondere
postuliert, daß in den Familien eßgestörter Patienten emotionale Probleme in somatische transformiert würden (21,28). Minuchin entwickelte
das Konzept typischer Transaktionsmuster in anorektischen Familien:
Verschmelzung (enmeshment), Rigidität, Überbehütung und Konfliktvermeidung sowie geringes Konfliktlösungspotential. Die Arbeitsgruppe
um Stierlin (30) hob eine über mehrere Generationen hinweg bestehende Ideologie des Verzichtes, des
A-1214
Abbildung: Zusammenhang zwischen Anorexia
nervosa und Bulimie
Tobelle 3: Risikofoktoren für eine Eßstörung (noch Gorfinkel 1991)
~
Alter (um die Pubertät)
~
weibliches Geschlecht
~
hoher Druck in Richtung
Schlanksein (Fotomodelle,
Leistungssportler)
~
hoher Leistungsdruck (zum
Beispiel Medizinstudentinnen)
~
mangelnde Fähigkeit, den
eigenen Gefühlszustand
wahrzunehmen
~
familiäre Konfliktsitua tionen und zu enge Beziehungen
~
sehr frühe Pubertät
~
Zwilling
~
insulinabhängiger Diabetes
mellitus
Sich-Aufopferns und die Forderung
nach Selbstlosigkeit hervor. Obwohl
die familientheoretischen Überlegungen interessante Denkanstöße
für mögliche Entstehungsfaktoren
der Magersucht lieferten, gibt es fast
keine empirischen beziehungsweise
methodisch fundierten Studien, die
diese Betrachtungen durch Fakten
(42) Deutsches ÄrztebJatt 91, Heft 17, 29. April 1994
stützen können. Insbesondere stellt
sich die Frage, ob die beschriebenen
familiären Verhaltensmuster bereits
vor der Erkrankung des Patienten
bestanden oder aber eine Folge der
Erkrankung darstellen. Dieses Problem ist kaum zu lösen, da Familien
im allgemeinen erst nach Manifestation einer Erkrankung erfaßt werden.
In einer Untersuchung der belgischen Familienarbeitsgruppe um
Vandereycken (18) wurde das Konzept von Minuchin an 56 Familien
mit einem eßgestörten Patienten
überprüft. Dabei zeigte sich, daß das
Modell auf einige Familien zutraf,
auf andere überhaupt nicht; es fanden sich sogar entgegengesetzte Verhaltensweisen.
In jüngsten empirischen Studien
konnte nachgewiesen werden, daß
Familien von rein fastenden anorektischen Patienten andere Merkmale
aufweisen als die von bulimischen
Patienten (16). Familien bulimischer
Patienten schienen hierbei durch
mehr familiäres Leid als auch durch
eine nicht ausreichende elterliche
Betreuung und Zuwendung, mangelndes Verständnis und mangelnde
Empathie im Vergleich zu Familien
von gesunden Kontrollpersonen gekennzeichnet zu sein. Die Familienmitglieder magersüchtiger Patienten
verhielten sich untereinander feindseliger als sogenannte gesunde Familien, waren aber emotional stärker
beteiligt als Familien bulimischer Patienten. Zusammenfassend scheint
eine gestörte familiäre Interaktion in
Familien eßgestörter Patienten häufiger vorzuliegen als in normalen.
"Bulimische" Familien weisen größere Probleme und Störungen auf als
die anorektischer Patienten. Es muß
in weiteren Studien geklärt werden,
ob die familiären Verhaltensweisen
eine notwendige Bedingung für die
Entstehung der Erkrankung darstellen oder aber als ihre Folge anzusehen sind.
Neben genetischen, soziokulturellen und familiären Faktoren spielen auch individuelle Eigenschaften
eine bedeutende Rolle für die Genese einer Eßstörung. Eßgestörte Patienten zeigen während ihrer Entwicklung in Pubertät und Adoleszenz
Schwierigkeiten in ihrer Identitätsfindung und unzureichende Kompe-
ME•DIZIN
DIE ÜBERSICHT
tenz bei der Bewältigung alterstypischer Anforderungen. Insbesondere
anorektische Patienten haben ein
tiefverwurzeltes Gefühl der eigenen
Ineffektivität, Mißtrauen gegenüber
zwischenmenschlichen Beziehungen
und mangelnde Fähigkeiten, die eigene Befindlichkeit wahrzunehmen
(10), während bei bulimischen Patienten affektive Instabilität und
mangelnde Impulskontrolle als bedeutsame prädisponierende Faktoren angesehen werden. In einer epidemiologischen Untersuchung an
1 000 Londoner Schulmädchen entwickelten diejenigen ein Jahr später
eine Eßstörung, die besonders introvertiert waren und Schwierigkeiten in
ihren sozialen Beziehungen hatten
(23). Adoleszente Mädchen und Jungen, die sich häufig mit Figurproblemen und Reduktionsdiäten auseinandersetzten, zeigten stärkere Störungen des Selbstwertgefühls, depressivere Stimmungen und eine insgesamt ausgeprägtere Psychopathologie als ihre weniger „gewichtsbewußten" Altersgenossen (4).
Tabelle 4: Körperliche Veränderungen bei Anorexia und Bulimia nervosa
Inspektion
Trockene, schuppige Epidermis
Lanugobehaarung (A)
Akrozyanose, Cutis marmorata (A)
Haarausfall
Speicheldrüsenschwellung
ausgeprägte Karies (B*)
Schwielen an den Fingern oder Läsionen am
Handrücken (durch wiederholtes manuelles Auslösen des Würgereflexes)
Minderwuchs (A)
Labor
Blutbildveränderungen (Leukopenie, Anämie
und Thrombozytopenie) (A)
Elektrolytstörungen
Erhöhung von Transaminasen, Amylase und
harnpflichtigen Substanzen
Veränderungen im Lipidstoffwechsel
Erniedrigung von Gesamteiweiß und Albumin
Endokrinologie
Störung der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden-Achse,
Schilddrüsen-Achse und
Gonaden-Achse
Erhöhung des Wachstumshormons
Übrige
CT-Veränderungen (Pseudoatrophia cerebri)
Ösophagitis
EKG-Veränderungen
durch Laxanzienabusus induzierte Komplikationen (zum Beispiel Osteomalazie, MalabsortionsSyndrome, schwere Obstipation, hypertrophe
Osteoarthropathie), Osteoporose
Therapie und Verlauf
Nach Klärung der Diagnose wird
entschieden, ob ambulante oder stationäre Therapiemaßnahmen angemessen sind. Trotz gravierendem
Krankheitsbild fällt es vielen Patienten und ihren Eltern schwer, eine stationäre Behandlung zu beginnen.
Aus Tabelle 5 sind die Kriterien für
die Notwendigkeit einer stationären
Therapie bei Anorexia nervosa zu
entnehmen. Die Phasen einer stationären Behandlung, wie sie an unserer Klinik praktiziert wird, sind in Tabelle 6 wiedergegeben. Insbesondere
die erste Phase bezieht sich auf Patienten mit einer schweren Erkrankungsform, die eine intensive somatische Überwachung und Therapie erforderlich macht. In dieser Phase
sollte vor allem auf eine kontinuierliche, wenn auch nicht zu schnelle Gewichtszunahme geachtet werden.
Nach eigenen Untersuchungen ist ein
zu steiler Gewichtsanstieg prognostisch ungünstig und erschwert die
Verarbeitung der Veränderung (und
Normalisierung) des Körperbildes
(25). Darüber hinaus bewirkt die GeA 1216
-
* Symptome, die sich ausschließlich auf eines der beiden Krankheitsbilder beziehen, sind
mit dem jeweiligen Buchstaben (A oder B) gekennzeichnet.
wichtszunahme auch psychische Veränderungen:
Die extreme Einengung der Interessen auf Nahrung und Gewicht
und die im Zustand der Kachexie
häufig ausgeprägte depressive Stimmungslage normalisieren sich. Erst
Angebote wahrzunehmen. Diese
werden in der zweiten Phase verstärkt.
An unserer Klinik werden verhaltenstherapeutische Techniken mit
psychodynamischen kombiniert. In
den letzteren werden vor allem die
ausgeprägten Insuffizienzgefühle, die
Ablehnung der eigenen Person, das
niedrige Selbstwertgefühl sowie un-
bei der Bewältigung adoleszenter
Entwicklungsschritte angeboten. Die
therapeutische Betreuung des Patienten liegt in einer Hand. Evaluationsstudien haben den Nachweis erbracht, daß Familientherapie bei jüngeren anorektischen Patienten den
besseren Heilungserfolg gewährleistet (5). Bei älteren Patientinnen und
Patienten wird eine stärkere und
kontinuierliche Verselbständigung
angestrebt, jedoch auch im Einvernehmen mit der Familie Die Entlassung kann erst erfolgen, wenn der
Patient an sogenannten „Probewochenenden" bewiesen hat, daß er mit
der Alltagssituation außerhalb der
Klinik zurechtkommt und ein normales Gewicht aufrechterhalten kann.
zureichende Konfliktlösungspotentiale angesprochen und Hilfestellung
zweijährige Nachbetreuung erforder-
so werden viele Patienten erst in die
Lage versetzt, psychotherapeutische
(44) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994
Nach unseren Erfahrungen ist eine
MEDIZIN
DIE ÜBERSICHT
lich, um Rückfällen vorzubeugen.
Diese beinhaltet Ernährungsberatung, Integrationshilfen für Schule,
Beruf und Freizeit einschließlich des
Kontaktes zu Gleichaltrigen, Unterstützung beim Erwerb altersentsprechender Kompetenzen sowie Fortführung der psychotherapeutischen
Behandlung.
Bei der Bulimia sollte noch größerer Wert auf die Ernährungsberatung gelegt werden als bei der Magersucht. Ein vom Patienten geführtes Ernährungstagebuch kann wichtige Aufschlüsse geben: Es sollte die
Art der bisher eingehaltenen Diät
(inklusive der erlaubten und verbotenen Speisen, kalorische Höchstmengen) sowie die Frequenz, den Ablauf
und situative Besonderheiten von
Eßanfällen erfassen. Der Essensplan
sollte Haupt- und Zwischenmahlzeiten enthalten, wobei die Einhaltung
der Zwischenmahlzeiten den Zweck
hat, durch Hungergefühl provozierte
Heißhungerattacken zu vermeiden.
Wesentlich ist die stufenweise
Einführung der „verbotenen" Speisen, die der Patient sich selbst
versagt hatte. Dies mindert Gefühle
der Entbehrung und reduziert die
Wahrscheinlichkeit von Kontrollverlusten.
Psychotherapeutisch haben verhaltenstherapeutisch-kognitiv orientierte Methoden an Bedeutung gewonnen, die vor allem auf der Analyse dysfunktionaler und irrationaler
Überzeugungen bezüglich Figur und
Gewicht beruhen.
Prognose
Die Beurteilung des Heilungserfolges bei Magersucht erfolgt häufig
nach den weit verbreiteten Kriterien
von Morgan & Russell (22), die Gewicht und Menstruationsstatus zugrundelegen: Ein guter Heilungserfolg liegt dann vor, wenn das Gewicht
zwischen 85 und 115 Prozent des
Normbereiches liegt und die Menstruation regelmäßig ist; der Heilungserfolg wird mittelmäßig eingeschätzt, wenn das Gewicht stärkere
Schwankungen aufzeigt und/oder der
Zyklus unregelmäßig ist, und er wird
als schlecht angesehen, wenn das Gewicht dauerhaft unter 85 Prozent
liegt und/oder eine Amenorrhoe
oder nur sporadische Regelblutungen vorliegen. Katamnestische Beobachtungen nach einem mittleren
Zeitraum von vier bis fünf Jahren
weisen nach, daß etwa 40 Prozent anorektischer Patienten einen guten
Heilungserfolg nach den oben genannten Kriterien aufzeigen, jeweils
25 bis 30 Prozent haben einen mittelmäßigen oder schlechten Heilungserfolg. Studien mit sehr langen Beob-
zent (14). Lediglich in unserer eigenen Studie, die sich auf ein kinderund jugendpsychiatrisches Krankengut bezog und die Patienten durchschnittlich nach 11,7 Jahren nachuntersuchte, lag die Mortalitätsrate nur
bei 3 Prozent (24).
Nicht selten wird die Eßstörung
durch andere psychiatrische Erkrankungen abgelöst, wobei depressive
Erkrankungen, Zwangsstörungen
und Suchterkrankungen am häufig-
Tabelle 5: Kriterien zur stationären
Therapie der Anorexia nervosa
Tabelle 6: Stationäre Behandlung der
Anorexia nervosa
Medizinische Kriterien:
1. Phase:
„Anhebung des
Körpergewichtes"
— manchmal Sondierung
erforderlich
—manchmal „Ausschluß der
Familie" erforderlich
— kritischer Gewichtsverlust
(unter 75% des Normalgewichts)
— körperliche Folgeerscheinungen: Elektrolytverschiebungen, Exsikkose, Bradykardie
—depressive Verstimmung
mit Suizidgefahr
Psychosoziale Kriterien:
— festgefahrene familiäre
Interaktion
—soziale Isolation
— stark eingeschränkte
Leistungsfähigkeit
Psychotherapeutische
Kriterien:
—Scheitern beziehungsweise
Abbruch ambulanter Behandlungsversuche
- Fehlen einer erfolgversprechenden Alternative zur umfassenden Behandlung
durch ein erfahrenes Team
achtungszeiträumen demonstrieren
eine Genesung bei 60 bis 75 Prozent
aller magersüchtigen Patienten (24,
32). Als Faustregel gilt, daß das Verlaufsergebnis mit zunehmender
Katamnesedauer eindeutiger wird,
das heißt, daß sich die Patienten mit
mittelmäßigem Heilungserfolg auf
die beiden Kategorien mit gutem und
schlechtem Ergebnis verteilen.
Allerdings nimmt mit zunehmender Dauer der Erkrankung auch
die Mortalitätsrate zu: Während sie
nach vier bis fünf Jahren nur etwa 5
Prozent beträgt, liegt sie nach 20 bis
30 Jahren zwischen 15 und 20 Pro-
2. Phase:
„Fremdsteuerung der
Nahrungsaufnahme"
—Essensplan
— stärkere Einbeziehung der
Familie
— Psychotherapie (Einzel- und
Gruppentherapie)
— körperbezogene Therapien
3. Phase:
„Selbststeuerung der
Nahrungsaufnahme"
— Psychotherapie (Familien-,
Einzel-, Gruppentherapie)
— körperbezogene Therapien
4. Phase:
„Vorbereitung auf die
Entlassung"
— Schwerpunkt
Familientherapie
— zunehmende Integration in
alle Lebensbereiche
sten beobachtet werden. Zwischen 7
und 40 Prozent aller anorektischen
Patienten hatten während ihres
Krankheitsverlaufes bulimische Symptome. Während ein frühes Erkrankungsalter im allgemeinen als prognostisch günstiger Faktor gilt, hat
die sogenannte präpuberale Magersucht (Erkrankungsalter unter elf
Jahren) eine vergleichsweise sehr
Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994 (45)
A-1217
MEDIZIN
DIE ÜBERSICHT / FÜR SIE REFERIERT
schlechte Prognose. Viele dieser Kinder weisen dauerhafte psychische
Störungen auf (3).
Über den Verlauf der Bulimia
ist noch wenig bekannt, und die Ergebnisse sind widersprüchlich. Nach
einer Verlaufsstudie bei erwachsenen bulimischen Patienten waren
nach zweijähriger Beobachtungsdauer immer noch 41 Prozent von 247
Patienten an einer Eßstörung erkrankt, die die Kriterien des amerikanischen Klassifikationsschemas
DSM-III-R erfüllte. 34 Prozent wie-
sen eine affektive Erkrankung und 30
Prozent eine Suchterkrankung auf
(7). Entsprechende Studien bei jugendlichen Patienten liegen unseres
Wissens nach noch nicht vor. Von den
sieben Patienten zwischen 14 und 17
Jahren, die wir zwischen Anfang 1985
und Mitte 1987 behandelten, hatten
vier drei Jahre nach Entlassung immer
noch eine Bulimie (13).
Deutsches
Arzteblatt
91 (1994) A-1210-1218 [Heft 17]
Der „rubber elongation factor" ist das
Hauptallergen im Latex
Soforttypallergien gegen LatexArtikel (hergestellt aus dem vulkanisierten Milchsaft des Gummibaumes) nehmen im Krankenhausbereich in den letzten Jahren sprunghaft zu. Teilweise geht die Entwicklung parallel mit dem gestiegenen
Verbrauch von Gummihandschuhen.
Nach eigenen Untersuchungen beträgt der Anteil unter Beschäftigen
im Krankenhaus, der eine latexbedingte Kontakturtikaria entwickelt, 8
bis 10 Prozent. Etwa 25 Prozent dieser Personengruppe klagen gleichzeitig über allergische Erscheinungen
des Atemtrakts (Rhinitis, Asthmaanfälle) und/oder eine Konjunktivitis.
Letztere treten im Extremfall bereits
nach kurzem Aufenthalt in der Arztpraxis oder in Krankenhausräumen
auf, in denen Latex-Handschuhe verwendet werden (1) und gehen auf die
Übertragung des Latex-Allergens auf
den Handschuhpuder zurück. In entsprechenden Räumlichkeiten kann
bis zu 0,15 µg-Allergen pro Kubikmeter Luft nachgewiesen werden, wie
eigene Messungen ergaben.
Besonders gefährdet ist der Latex-Allergiker, wenn er sich einer
Operation unterzieht, da über den
Handschuh des Chirurgen das Allergen systemisch aufgenommen werden
kann. In den USA hat die Food and
Drug Administration (FDA) Warnhinweise herausgegeben, nachdem es
zu letal verlaufenden anaphylakti-
schen Schockzuständen unter anderem durch Gummi-Einlaufschläuche
gekommen war. Die Todesfälle betrafen Kinder mit Spina bifida und Urogenitalaffektionen, die häufig im
Krankenhaus waren und sich wiederholt Untersuchungen und chirurgischen Eingriffen unterziehen mußten.
Vor kurzem gelang die Identifizierung des ursächlichen Hauptallergens, das sich sowohl in der LatexMilch, im Handschuh als auch im Puder befindet (2). Es handelt sich um
ein 14 KD-Protein mit 137 Aminosäuren in einer ungewöhnlichen Zusammensetzung; das Molekül ist frei
von den Aminosäuren Cystein, Histidin, Methionin und Tryptophan. Ein
Strukturvergleich mit beschriebenen
Proteinen ergibt, daß es sich um den
bereits sequenzierten „rubber elongation factor" (REF) handelt. Dieses
Protein spielt eine entscheidene Rolle in der Biosynthese von Polyisoprenketten im Gummibaum; es hilft
nämlich, die cis-Isopreneinheiten aneinander zu heften, was zu der vorhergenannten Bezeichnung geführt
hat. In Anlehnung an die internationale Allergennomenklatur wurde von
uns die Bezeichnung Hev b I vorgeschlagen.
Die derzeitige Forschung konzentriert sich darauf, submolekulare
Abschnitte (Epitope) zu identifizieren, die von den menschlichen Immunglobulinen und von den Zellen
A- 1218 (46) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf
das Literaturverzeichnis im Sonderdruck,
anzufordern über den Verfasser.
Anschrift der Verfasser:
Priv.-Doz. Dr. med.
Beate Herpertz-Dahlmann
Prof. Dr. med. Dr. phil. Helmut
Remschmidt
Klinik und Poliklinik für Kinderund Jugendpsychiatrie der
Philipps-Universität Marburg
Hans-Sachs-Straße 6
35039 Marburg
des Immunsystems erkannt werden,
um genauere Kenntnisse über die ursächlichen strukturellen Charakteristika dieses aggressiven Allergens zu
erhalten. Die erste identifizierte antikörperbindende Sequenz stellt den
14 Aminosäuren umfassenden NTerminus dar. Eine Untersuchung
der Seren von 15 Latex-Allergikern
ergab in fast allen Fällen eine IgEAntikörperbindung an diesen.
In vielen Bereichen der Medizin,
aber auch des Alltags, sind latexhaltige Materialien aufgrund ihrer hervorragenden Materialeigenschaften
heute kaum noch wegzudenken. Latex wird beispielsweise für die Herstellung von Pflastern, Beatmungsbeuteln, Fingerlingen, Drainagen,
Schuhen, Teppichbodenunterlagen,
Radiergummis, Luftballons und Kondomen verwendet. Nach der Entdekkung des Latex-Hauptallergens wird
jetzt intensiv an Verfahren zu seiner
Inaktivierung gearbeitet. Erste erfolgversprechende Ergebnisse in dieser Richtung liegen bereits vor. bur
1. Baur, X.; J. Ammon, Z. Chen, U.
Beckmann, AB. Czuppon: Health risk in
hospitals through airbone allergens for
patients presensitised to latex. The Lancet 324 (1993) 1148-1149
2. Czuppon, AB.; Z. Chen, S. Rennert, T.
Engelke, HE Meyer, M. Heber, X. Baur:
The rubber elongation factor of rubber
trees (Hevea brasiliensis) is the major allergen in latex. J Allergy Clin. Immunol;
92 (1993) 690-697
Prof. Dr. med. Xaver Baur, Direktor des
Berufsgenoss. Forschungsinstituts für
Arbeitsmedizin, Ruhr-Universität Bochum, Gilsingstraße 14, 44789 Bochum
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