Krieg in Tschetschenien - Hanns-Seidel

Werbung
aktuelle analysen 18
Tanja Wagensohn
Krieg in Tschetschenien
Hanns
Seidel
Stiftung
Akademie für Politik und Zeitgeschehen
aktuelle analysen 18
Tanja Wagensohn
Krieg in Tschetschenien
ISBN 3 - 88795 - 206 - 5
© 2000 Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München
Akademie für Politik und Zeitgeschehen
Verantwortlich: Dr. Reinhard C. Meier-Walser
Redaktion: Wolfgang D. Eltrich M.A., Barbara Fürbeth M.A., Christa Frankenhauser,
Maria Irchenhauser
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
3
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung..............................................................................................................
5
1.
Einführung...................................................................................................
7
2.
Rahmenbedingungen...................................................................................
9
2.1
2.2
2.2.1
2.2.2
2.2.3
2.2.4
Die nordkaukasische Region...................................................................................
Tschetschenien......................................................................................................
Geographische Einordnung und demographische Entwicklung...............................
Historische und kulturelle Anmerkungen...............................................................
Wirtschaft.............................................................................................................
Innere Krise..........................................................................................................
9
10
10
11
13
14
3.
3.1
3.1.1
3.1.1.1
3.1.1.2
3.1.1.3
3.1.1.4
3.1.1.5
3.1.2
3.1.3
Vom ersten zum zweiten Krieg: Ereignisse und
Entscheidungsprozesse...............................................................................
Der erste Krieg (1994 - 1996)...............................................................................
Die politischen Entwicklungen zu Beginn der 90er-Jahre.......................................
Die tschetschenische Souveränitätserklärung von 1990..........................................
Der Moskauer Putschversuch von 1991 und die Folgen.........................................
Reaktionen............................................................................................................
Scheiternde Verhandlungen...................................................................................
Wachsende Gewaltbereitschaft..............................................................................
Eskalation im Dezember 1994...............................................................................
Die Vertagung der Problemlösung.........................................................................
16
18
18
19
20
22
23
25
26
31
3.2
3.2.1
3.2.2
3.2.3
3.3
Der zweite Krieg (seit Herbst 1999)......................................................................
Unruhen in Nordkaukasien: Ausgangspunkt Dagestan...........................................
Erneute Radikalisierung........................................................................................
Kriegsverlauf von Oktober 1999 bis Februar 2000.................................................
Krie g um Wählerstimmen? Zur Perzeption der Kriege in der Öffentlichkeit............
36
36
39
41
46
4.
4.1
4.1.1
4.1.2
4.1.3
4.2
4.2.1
4.2.2
4.2.3
Zur Komplexität einer Konfliktstruktur: Urs achen und Hintergründe
50
Entstehungsbedingungen im Vorfeld......................................................................51
Tschetschenien als Föderationssubjekt...................................................................
Kriminalität...........................................................................................................
Tschetschenische Identitätskonstruktion................................................................
Zur russischen Interessenlage:
geostrategische, ökonomische, ideologische Motive...............................................56
Wahrung der Einflusssphäre im Süden der Föderation...........................................
Russland als Spieler im "Great Game"...................................................................
Zur Rolle des Islam...............................................................................................
4.3
4.3.1
4.3.2
4.3.3
4.3.4
Militärische Gesichtspunkte...................................................................................
Der "nicht erklärte" Krieg.....................................................................................
Strategisch-taktische Faktoren..............................................................................
Fehleinschätzungen Moskaus................................................................................
Tschetschenischer Widerstand...............................................................................
63
63
65
68
71
5.
Fazit............................................................................................................
72
51
53
55
56
57
60
4
5
Zusammenfassung
Diese Analyse dokumentiert Vorgeschichte, Hintergründe und militärische Aspekte des Kriegs in
Tschetschenien, der nach den Auseinandersetzungen zwischen 1994 und 1996 im Herbst 1999
erneut aufgeflammt ist. Schauplatz im Süden der Russländischen Föderation ist Nordkaukasien,
ein Landstrich mit einer vielfältigen politischen, kulturellen und religiösen Geschichte. Die
Tschetschenen gehören zu den ältesten Völkern dieser Region und blicken auf Jahrhunderte der
Auseinandersetzung mit der russischen Kolonialmacht zurück. In der Sowjetzeit wurden sie unter
dem Vorwurf der Kollaboration mit den Nationalsozialisten nach Kasachstan deportiert, erst 1957
(teilweise) rehabilitiert. In dieser wechselvollen Geschichte haben die kaukasischen Völker eine
Vielzahl archaischer Muster in ihren gesellschaftlichen Strukturen bewahrt. Nach dem Ende der
Sowjetunion erlebte auch der jahrzehntelang unterdrückte Islam im Süden der Föderation eine
Renaissance.
In Tschetschenien entwickelte sich in den Jahren nach dem Ende der UdSSR eine massive innere
Krise, in der sich wirtschaftliche Probleme und wachsende Kriminalität wechselseitig bedingen.
Das Land leidet unter wachsender Gesetzlosigkeit, inneren Machtkämpfen und einer
Fragmentisierung der politischen und militärischen Macht. Bereits im Verlauf der Jahre 1990/91
kam es zur Konfrontation mit dem Moskauer Zentrum, als die Führung eines „tschetschenischen
Nationalkongresses“ die Unabhängigkeit von Russland erklärte. Die erste Auseinandersetzung
mündete im Dezember 1994 im Einmarsch russischer Truppen in Tschetschenien. Erst im August
1996 gelang die Unterzeichnung eines Friedensabkommens, das jedoch über den künftigen Status
Tschetscheniens wiederum schwieg. Der Konflikt blieb ungelöst und griff in der zweiten Hälfte
der 90er-Jahre auf Dagestan über. Tschetschenische Kämpfer überfielen im Sommer 1999
mehrere Grenzorte. Nach Sprengstoff-Attentaten auf russische Wohnhäuser, die tschetschenischen
Terroristen zugeschrieben wurden, entsandte der von Boris Jelzin im August eingesetzte
Ministerpräsident Wladimir Putin bis Ende September 1999 50.000 Soldaten zur Grenzsicherung
in die Region. Innerhalb weniger Wochen entbrannte ein zweiter Krieg, in dem die russländische
Armee mit einer ungeheuren Personal- und Materialschlacht die in Guerilla-Taktik agierenden
tschetschenischen Kämpfer aus den Städten und Ortschaften zu vertreiben sucht. Die Zahl der
russischen Soldaten stieg bis Februar 2000 auf 140.000 Mann, ihnen schlägt erbitterter
Widerstand entgege n.
Beide Kriege stehen im Zeichen eines vielschichtigen Konflikts zwischen Russen und
Tschetschenen, der auch nach einem Ende der Kampfhandlungen mittelfristig kaum lösbar sein
wird. Für Moskau ist der Austritt Tschetscheniens aus der Föderation nicht hinnehmbar: Zu viele
russische Interessen stehen auf dem Spiel. Es geht um die Wahrung der Einflusssphäre Moskaus
im Süden der Föderation ebenso wie um wirtschaftliche Aspekte - die Position Moskaus im
großen „Spiel“ um die Energievorräte im kaukasisch-kaspischen Raum trägt hierzu wesentlich
bei. Zudem wachsen die russischen Ängste vor einem militanten politischen Islamismus in dieser
Region. Offiziell begründet Moskau sein aktuelles Vorgehen in Tschetschenien mit einem Kampf
gegen Terroristen und „Banditen“, weswegen ein Großteil der russischen Bevölkerung den Krieg
nach wie vor befürwortet - die Tschetschenen gelten als Hauptverantwortliche für die wachsende
Kriminalität in Russland und werden rege lrecht dämonisiert. Dies wiederum bestätigt der
tschetschenischen Bevölkerung russisches Kolonia lverhalten und führt zu einem verstärkten
Wunsch nach Abgrenzung und Autonomie; gleichzeitig wird ein Konstruktionspr ozess nationaler
Identität reaktiviert.
6
7
1. Einführung
"Die Operation zur Befreiung Grosnys ist zu Ende", verkündete der russische Interimspräsident
Wladimir Putin am 6. Februar 2000 nach zwei Monaten heftiger Kämpfe in der tschetschenischen
Hauptstadt und fünf Kriegsmonaten in Tschetschenien. 1 Die Feldkommandanten Wacha Arsanow
und Schamil Bassajew, der bei den letzten Kämpfen schwer verletzt wurde, beantworteten Putins
Feststellung mit der Ankündigung von Krieg "auf dem ganzen Territorium Russlands" und der
Behauptung, sie besäßen genug Waffen und Kämpfer, um den Krieg gegen Russland "sogar noch
fünfzig Jahre fortzusetzen". 2 Starke Worte beider Parteien eines Kriegs, der bereits zwischen 1994
und 19963 viele Emotionen inner- und außerhalb Russlands hervorgerufen hat und in seiner
Neuauflage seit Herbst 19994 weiterhin auslöst. 5
Auf ein Ende des zweiten Kriegs in Tschetschenien am konfliktreichen Südrand der
Russländischen Föderation (RF) hoffen viele; vorläufig zeichnet sich jedoch allenfalls eine
Verlagerung des Schauplatzes von der Hauptstadt in die Berge im Süden ab. Sollten sich die
beiden Kriegsgegner nicht auf Verhandlungen einigen können, könnte ein solcher Krieg über
Jahre hinweg keine Sieger, sondern nur Verlierer hervorbringen. Der derzeitige und der erste
Krieg zwischen der RF und Tschetschenien sind Gegenstand dieser Untersuchung. Zu recht haben
Analysten bereits hinsichtlich des Kriegs der Jahre 1994 bis 1996 kritisiert, man habe den
Konflikt mit der "einfachen Formel ‘Unabhängigkeit versus Russischer Imperialismus’ (...) in
Leitartikeln und Nachrichtenmagazinen handlich konzeptualisiert"6. Vielfach stehen sich auch in
der aktuellen Diskussion und Perzeption nur zwei Formeln gegenüber, die in den ersten
Kriegsmonaten vorrangig auf "Bekämpfung tschetschenischer Terroristen" versus "Verletzung
von Menschenrechten" lauteten.
Doch das Geschehen ist komplizierter, der Konflikt hat eine komplexere Struktur. Daher birgt der
Versuch, die Frage nach den Ursachen dieser Konfrontation mit einem Schwarz-Weiß-Raster zu
beantworten, ein fundamentales Problem, das alle Antworten dieser Art in sich tragen: Wer die
"Guten" hier, die "Bösen" dort vermutet, übersieht eine Vielzahl an Grau-Abstufungen zwischen
beiden. Einfache Antworten sind auch in diesem Fall - wie so häufig - schlechter als ihr Ruf.
Die vorliegende Analyse versucht, Antwort auf vier Fragen zu geben:
1. Wie kam es zu den beiden Kriegen in Tschetschenien?
2. Welche Gründe bzw. Motive hatte Moskau für die militärischen Interventionen 1994 und
1999?
3. Worin liegen die Ursachen des russisch-tschetschenischen Konflikts?
4. Welche militärischen Aspekte prägen die beiden Kriege?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden offizielle russische Veröffentlichungen bzw.
Dokumentationen, internationale Agenturberichte und Beiträge in deutschen und russischen
Tageszeitungen und Zeitschriften sowie publizierte Interviews russischer und tschetschenischer
politischer Akteure und Beobachter herangezogen. Während der erste Krieg zwischenzeitlich sehr
1
Frankfurter Allgemeine Zeitung (im Folgenden FAZ), 7. Februar 2000.
2
Ibid.
3
Im Folgenden als erster (Tschetschenien-)Krieg bezeichnet.
4
Im Folgenden als zweiter (Tschetschenien-)Krieg bezeichnet.
5
Stellvertretend für viele emotional aufgeladene Kommentare Kerstin Holm: Putin ist der wahre Haider, in: FAZ,
7. Februar 2000.
6
So Christoph Zürcher: Krieg und Frieden in Tschetschenien: Ursachen, Symbole, Interessen. Arbeitspapiere des
Bereichs Politik und Gesellschaft des Osteuropa-Instituts der FU Berlin, Nr. 2, 1997, S. 3 (Internet-Version).
8
gut dokumentiert ist7, da eine Vielzahl von Journalisten und Organisationen aus der Kriegsregion
berichteten, ist eine einigermaßen objektive Nachzeichnung der Ereignisse der letzten Monate
weitaus schwieriger. Sie folgt in dieser Untersuchung weitgehend Agentur- und Presseberichten,
denen meist offizielle tschetschenische oder russische Quellen zugrunde liegen. Sie sind unter
dem Vorbehalt zu betrachten, dass sie häufig Propagandazwecken dienen, wie auch im Westen
gezeigtes Filmmaterial nicht unbedingt authentisch sein muss. Nachprüfbar ist dies derzeit nicht.
Russische Fernsehteams gibt es seit Sommer 1999 in Tschetschenien kaum, anders als im ersten
Krieg. Viele Journalisten fürchten die ständige Entführungsgefahr durch Rebellen; gleichzeitig hat
die russische Regierung - erneut anders als im ersten Krieg - einen strikten Informationsstopp für
die Medien verhängt und beschränkt sich auf propagandistische Erfolgsmeldungen und
Pressekonferenzen nach amerikanischem Vorbild, in denen hochrangige Militärs Luftaufnahmen
der Bombardierungen zeigen und Strategiepläne erläutern. Ausländische Kamerateams dürfen in
der Regel nicht in die Gebiete, in denen gekämpft wird. Bisher ist es nur wenigen gelungen,
Bilder zu liefern, die dann allerdings ein kaum vorstellbares Bild der Zerstörung zeigten. Die
meisten Informationen kommen über Korrespondenten, die auf inguschetischem Territorium mit
tschetschenischen Flüchtlingen sprechen, die von ihren Erlebnissen berichten. Insgesamt erhält
die westliche - wie die russische - Öffentlichkeit über die Ereignisse in Tschetschenien relativ
wenige zuverlässige Informationen. 8
Die vorliegende Untersuchung klärt zunächst die geographische Einordnung und die demographische Entwicklung der nordkaukasischen Region im Süden der Russländischen Föderation.
Einem kurzen (und somit zwangsläufig rudimentären) Überblick über die Geschichte und kulturelle Entwicklung der Region folgt ein Blick auf die tschetschenische Wirtschaft und die dortige
innere bzw. innenpolitische Situation. Ein zweiter Abschnitt dokumentiert die Ereignisse der
Kriege zwischen den tschetschenischen Kämpfern (russ. boeviki) und den föderalen Truppen9 der
Russländischen Föderation. Das Kapitel skizziert die Entwicklung der russisch-tschetschenischen
Auseinandersetzung seit Beginn der 90er-Jahre und untersucht abschließend die Perzeption der
beiden Kriege in der Öffentlichkeit. Die vorliegende Studie kann allerdings keine komplette
Untersuchung der Entscheidungsprozesse in be iden Kriegen liefern, sondern lediglich einige
Einflussfaktoren hinsichtlich dieses Aspektes andeuten. 10
Ein letzter Abschnitt analysiert die Hintergründe beider Kriege und des gesamten Konflikts,
dessen Struktur sich höchst komplex gestaltet. Folgende Fragen sollen dabei beantwortet werden:
Welche Entstehungsbedingungen für die Kriege spielten im Vorfeld eine Rolle? Warum
interveniert Russland in Tschetschenien? Welche Interessen und Motive sind relevant? Ab7
Für den ersten Krieg kann zwischenzeitlich auf einiges Sekundärmaterial v.a. deutscher und amerikanischer
Provenienz zurückgegriffen werden, über das Christoph Zürcher (vgl. Fn. 6) einen ausführlichen
ÜÜberblick gibt. Aktuell kommt hinzu: Markus Soldner: Russlands Èeènja-Politik seit 1993. Der Weg in den
Krieg vor dem Hintergrund innenpolitischer Machtverschiebungen, Hamburg 1999. Eine Monographie mit
mehreren Zeittafeln, allerdings weitgehend ohne Quellen-Nachweise, stammt von Hans Krech: Der russische
Krieg in Tschetschenien (1994 - 1996). Ein Handbuch. Berlin 1997. Vorrangig stützt sich die vorliegende
Analyse hinsichtlich des ersten Kriegs auf den 1997 in Moskau erschienen Quellenband: Rossija i Èeènja (1990 1997 gody). Dokumenty svidetel’stvujut.
8
Erste Analysen zum zweiten Krieg, auf die zu gegebenem Zeitpunkt zurückzukommen ist, stammen von Uwe
Halbach und dem Direktor des Moskauer Instituts für Kaukasus-Studien, Alexander Iskandarjan.
9
Die in diesem Text häufig gebrauchte Bezeichnung "russische Armee" ist eigentlich ungenau, da sie den
föderalen Charakter der Truppen (federal’nye voiska), die sich aus Soldaten aller Teile der RF zusammensetzt,
nicht berücksichtigt.
10
Zum ersten Krieg vgl. Eberhard Schneider: Die Moskauer Entscheidungen über den Tschetschenien-Krieg. Teil I:
Abläufe, Motive, Akteure. Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale
Studien (im Folgenden BIOst) Nr. 18, 1995; Teil II: Entscheidungsablauf und rechtlich umstrittener
Entscheidungsinhalt. Aktuelle Analysen des BIOst Nr. 19, 1995.
9
schließend sollen einige militärische Aspekte hinsichtlich Kriegsverlauf und Gefechtsführung
beider Kriegsparteien untersucht werden; dabei wird ein Vergleich der beiden Kriege versucht.
Die Ausführungen zu Gesichtspunkten der Gefechtsführung müssen jedoch bruchstückhaft
bleiben, da interne Dokumente über die russische Befehlsführung bislang unzugänglich sind.
2. Rahmenbedingungen
2.1 Die nordkaukasische Region
Die sich südlich an die osteuropäische Ebene anschließende Landenge zwischen Schwarzem und
Kaspischem Meer wird als Kaukasien (russ. kavkaz) bezeichnet und im Folgenden auch anstelle
der wörtlichen und meist gebrauchten Übersetzung "Kaukasus" benutzt, die eigentlich nur eine
der tektonischen Haupteinheiten dieser Region bezeichnet. Im Norden wird Kaukasien
naturräumlich durch die Kuma-Manytsch-Senke begrenzt; im Süden setzt das Transkaukasische
Hochland das Pontische Gebirge bzw. den Antitaurius fort und geht in östlicher Richtung in das
Hochland von Iran über. Von Norden nach Süden sind fünf naturräumliche Großeinheiten zu
gliedern: das nördliche Kaukasusvorland, der Große Kaukasus, die Transkaukasische Senke, der
Kleine Kaukasus und das Hochland von Armenien. Die beiden letzteren bilden zusammen das
Transkaukasische Hochland. 11
Das Vorgebirge und vor allem die Kubanregion gehörten zu den fruchtbarsten
landwirtschaftlichen Zonen der UdSSR: Früchte und Gemüse wachsen dort ebenso wie Weizen,
Mais, Reis oder Tabak. Erdöl- und Erdgas-Vorkommen verschafften der Region auch industrielle
Bedeutung. Der westliche Teil des Vorgebirges entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem
klassischen landwirtschaftlichen Kolonisierungsgebiet mit vielen Siedlern. Im östlichen Teil ist
das Klima strenger und die Böden sind weniger ertragreich - entsprechend niedriger ist die
Bevölkerungsdic hte.
In Kaukasien grenzt Europa an Asien. Dort lebt eine Vielzahl von Völkern, die mehr als 60
verschiedene Sprachen sprechen12 und auf eine vielfältige und verschiedenartige politische,
kulturelle und religiöse Geschichte zurückblicken. Das Kaukasus-Gebirge bildet die geographische Festlandgrenze zwischen beiden Kontinenten. Der Nordteil Kaukasiens gehört zur RF. Seine
Südgrenze folgt (bis auf einige kleine Abschnitte) im Westen und im Osten dem Hauptkamm des
Großen Kaukasus mit Erhebungen über 5000 Meter (Elbrus 5533 m, Kasbek
5047 m).
Nur wenige Teile der Erde besitzen ein so buntes Mosaik an ethnischen Gruppen wie die nordkaukasische Region: Die Völkerwanderungen brachten iranische Nomaden, Hunnen, Araber,
türkische Kiptschatvölker, Oghusen, Nogaier, Krimtataren, russische Kosaken und buddhistische
Kalmücken in die nordkaukasische Region. 13 Ethno-linguistisch besteht Kaukasien aus drei
Hauptgruppen: Kaukasische, indo-europäische und Altai-Völker. Die kaukasische Gruppe hat
viele Untergruppen: Eine nordwestliche mit einem abchasischen und einem tscherkessischen
Zweig, eine nordöstliche, die sich in einen wajnachischen Zweig (Tschetschenen, Inguschen) teilt,
und drei weitere Zweige mit Untergruppen. Die Altai-Gruppe besteht aus turksprachigen Völkern
wie den Karatschaiern, Balkaren, Nogaiern, Kumyken u.a. Zur indo-europäischen Gruppe
schließlich zählen iranische Völker wie Osseten oder Tat, sowie die slawische Bevölkerung
(Russen, Ukrainer).
11
Barbara Pietzonka: Ethnisch-territoriale Konflikte in Kaukasien: Eine politisch-geographische Systematisierung,
Baden-Baden 1995, S. 35.
12
Ibid.
13
Ausführlicher: Roland Götz/Uwe Halbach: Politisches Lexikon Russland. München 1994, S. 42 f.
10
Nordkaukasien zerfällt in einzelne Verwaltungseinheiten und nationale Gebietseinheiten. Am
Nor dabhang des Großen Kaukasus reihen sich sechs (autonome) Republiken aneinander:
Adygeja, Karatschajewo-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien, Nord-Ossetien, Inguschetien und
Tschetschenien. Zum Wirtschaftsrajon Nordkaukasus gehört zudem das Gebiet Rostow am Don.
Im Osten liegt die Republik Dagestan, die nach Süden bis an den Samur reicht und Teile des
Hochgebirges einschließt. Im eigentlichen Kaukasus-Vorland liegen die Regionen Stawropol und
Krasnodar. Südlich des Großen Kaukausus schließt sich das sog. Transkaukasien an, das keine
politische Einheit bildet, sondern sich in die drei selbständigen Staaten Armenien, Georgien und
Aserbaidschan gliedert. Nur drei historische Überlandverbindungen bestehen zwischen Nord- und
Transkaukasien: die georgische und die ossetische Heeresstraße sowie die von Suchumi.
2.2
Tschetschenien
2.2.1 Geographie und Demographie
Tschetschenien ist mit etwa 16.000 Quadratkilometern Fläche ungefähr so groß wie Schle swigHolstein. Es liegt im zentralen bis östlichen Abschnitt nördlich des Großen Kaukasus. Nördlich
des Gebirgsmassivs erstreckt sich die Niederung von Terek und Kuma, im Westen ein
Mittelgebirge zwischen Terek und Sunscha. Die Flüsse Terek, Sunscha, Argun und Assa gehören
zum Terek-Becken und entspringen der Gletscherregion. Die Wiesen und Schwarzerdeböden der
Niederung bieten fruchtbares, landwirtschaftlich nutzbares Gebiet. Die Republik produzierte bis
zu Beginn der 90er Jahre große Mengen an Getreide, Obst, Gemüse; es wurden Rinder, Schafe
und Geflügel gezüchtet.
Bis 1991 erstreckte sich die binationale Gebietseinheit Tschetscheno-Inguschetien auf eine Fläche
von 19.300 km2 und hatte 1,35 Mio. Einwohner, darunter 735.000 Tschetschenen, 164.000
Inguschen, 294.000 Russen und 15.000 Armenier. Bei der Trennung der beiden Republiken
entfielen etwa 83 Prozent des Territoriums und 11 von 14 Verwaltungseinheiten (rajony) auf den
tschetschenischen Teil; ein Verwaltungsgebiet am Fluss Sunscha ist zwischen beiden Republiken
umstritten. Seit der Abgrenzung der beiden Republiken und der verstärkten Emigration
insbesondere der russischen Bevölkerung aus dem Gebiet sind genaue demographische Angaben
schwierig geworden. Etwa 200.000 Menschen sollen die Republik seit 1991 verlassen haben. 14
Die Bevölkerung der heutigen tschetschenischen Republik schätzt man auf etwa 921.000 Menschen (zu Beginn der neunziger Jahre waren es noch etwa 1,2 Mio. Einwohner), diese sind zu
etwa 75 Prozent Tschetschenen, 20 Prozent Russen, 1 Prozent Armenier und 1 Prozent Ukrainer. 15
Darüber hinaus leben in Tschetschenien Angehörige verschiedener kaukasischer Völker, z. B.
Kumyken, Nogaier, Awaren und Osseten. Von insgesamt 957.000 Tschetschenen leben etwa drei
Viertel in der Tschetschenischen Republik, rund 58.000 in Dagestan, die übrigen in anderen
Teilen Nordka ukasiens und der RF. 16 Hauptstadt Tschetscheniens ist Grosny, das sich in
sowjetischer Zeit zu einem Zentrum der Erdölproduktion entwickelte. In Grosny lebten
hauptsächlich Russen, weniger als 10 Prozent der dortigen Industriearbeiter waren Tschetschenen
und Inguschen. Nach russischen Angaben waren 1989 in Grosny 50,6 Prozent der Einwohner
ethnische Russen, 30,6 Prozent Tschetschenen und 5,4 Prozent Inguschen. 17 Es gibt vier weitere
Städte: Gudermes, Argun, Schali und Urus-Martan (etwa 20 Kilometer südöstlich von Grosny).
14
Uwe Halbach: Russlands Auseinandersetzung mit Tschetschenien. Bericht des BIOst Nr. 61, 1994, S. 10.
15
Götz/Halbach, Politisches Lexikon Russland, S. 330 f.
16
Vgl. Götz/Halbach, ibid., S. 331.
17
Narody Rossii: Enciklopedija. Moskau 1994, S. 444.
11
2.2.2
Historische und kulturelle Anmerkungen
Die Tschetschenen sind eines der ältesten Völker Nordkaukasiens. Sie lebten in Siedlungen,
bauten Getreide in Flusstälern an und betrieben Viehzucht. 18 Ihre soziale Basis war und ist der
sog. tejp, eine Sippeneinheit mit zwei bis drei Siedlungen, die sich auf einen gemeinsamen Ahnen
zurückführt. Die gesellschaftlichen Strukturen waren weitgehend egalitär, es existierte kein Adel
und keine Fürstenherrschaft. Die politische Gewalt lag bei Volksversammlungen, die soziale
Organisation beruhte auf Clan- und Sippenstrukturen. Allerdings unterscheiden sich die ethnisch
heterogenen tejpy nach ihrer örtlichen Herkunft bzw. Basis nach Tal- und Gebirgssippen. Letztere
haben ein höheres Prestige. 19
Archaische Muster wie Blutrache (kanly) und Gastrecht (kunaklyk ) prägen die Gesellschaft bis
heute. In ihrer Gesamtheit ist die Rechtskultur der Tschetschenen stark von den Normen des Adat,
des Stammes-Gewohnheitsrechts, bestimmt. Dies hat sich nach dem Ende der Sowjetunion wieder
verstärkt. Die Bevölkerung identifiziert sich stark mit lokalen Gemeinschaften wie Sippe, Dorf
oder örtlichen religiösen Institutionen, aber kaum mit der Nation. Tschetschenen und Inguschen
gehören zur gleichen ethnischen und sprachlichen Gruppe der Wajnachen. Beide sind Teil des
Volks der "Nochtscho", im 19. Jahrhundert erhielten sie jedoch zwei verschiedene Namen. 20 Die
tschetschenische Sprache wurde erst im 20. Jahrhundert als Schriftsprache kodifiziert, zunächst
auf der Basis des arabischen, 1927 des lateinischen und 1938 des kyrillischen Alphabets. Sie blieb
für fast alle Me nschen bis heute Muttersprache und wurde durch das Russische nicht verdrängt.
Unter dem Einfluss Georgiens wurden die Tschetschenen zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert
zum Christentum bekehrt. Aus Dagestan im Osten und der Kabardei im Westen setzte sich seit
dem 16. Jahrhundert der Islam durch, der sich ab dem 18. Jahrhundert wegen des Widerstands
gegen die russische Kolonialmacht etablierte. Schon Mitte des 16. Jahrhunderts hatte es erste
Berührungen zwischen Russland und Nordkaukasien gegeben. So errichtete Russland 1559 die
Festung Tarki an der Sunscha und damit einen ersten Stützpunkt in Tschetschenien, 1587 entstand
eines der ersten Kosakenheere in der Region. Russische Kosaken und die Bergvölker (gorcy) in
Nordkaukasien lebten lange Zeit friedlich nebeneinander. Dies änderte sich erst Ende des 18.
Jahrhunderts: Die Kosaken-Siedlungen wurden größer, gegenseitige Überfälle nahmen zu, und die
militärische Durchdringung Kaukasiens durch die russische Armee wuchs. 1707 erhoben sich
tschetschenische Stämme erstmals gegen die Russen und zerstörten die Festung Tarki. Bereits
1785 bis 1791 kam es zum ersten Dschihad, zum Heiligen Krieg, gegen die russische Armee, bei
der Scheich Mansur Uschurma (heute als Nationalheld gefeiert) eine Gemeinschaft der
kaukasischen Bergvölker gegen die Russen anführte. 1818 legte der Oberkommandierende der
russischen Kaukasus-Armee, Jermolow, die Festung Grosny (russ. "die Schreckliche") an, die als
Stützpunkt für Strafexpeditionen gegen die kaukasischen Bergvölker diente.
Eine lange Phase russischer Kolonialpolitik und tschetschenischen Widerstandes folgte. Die
Tschetschenen beteiligten sich zwischen 1832 und 1859 am sog. Muridenkrieg unter Imam
Schamil, der in dieser Zeit eine Art stammübergreifenden "islamischen Staat" in Nordkaukasien
begründete. Nach der endgültigen Unterwerfung der Aufständischen durch die russische Armee
im Jahr 1865 verließ rund ein Fünftel der Tschetschenen seine Heimat; in den folgenden
Jahrzehnten emigrierten weitere. Eine tschetschenische Diaspora entstand in der Türkei, eine im
18
Vgl. Götz/Halbach, Politisches Lexikon Russland, S. 332 f.
19
Dazu Moskovskie Novosti Nr. 33, 1994, S. 11.
20
Zwei Stammesgruppen im Westen Tschetscheniens beteiligten sich nicht am Widerstand gegen die zaristische
Armee: die Russen nannten sie nach ihrer Hauptsiedlung Angusch "Inguschen". Der aufständische Rest der
Bevölkerung wurde nach der Siedlung " Tschetschen" benannt.
12
Nahen Osten. In Tschetschenien kam es auch in der Folgezeit zu Vertreibungen und Umsiedlungsaktionen, die von neuen Aufständen begleitet wurden. 21 Sie sind im Bewusstsein der
Menschen bis heute präsent.
Nach der Revolution 1917 wurde ein Scheich des Nakschbandi-Ordens, einer sufitischen Bruderschaft, zum Imam von Dagestan und Tschetschenien gewählt; ein anderer religiöser Führer
proklamierte ein "Nordkaukasisches Emirat". Die Bolschewiki unterstützten Projekte der
Staatenbildung zunächst; so kam es im Januar 1920 zur Gründung der "Gorskaja Respublika",
einer autonomen Sowjetrepublik der Bergvölker, die aber schnell wieder in ihre ethnischen
Bestandteile zerfiel. 1922 entstand ein tschetschenisches, 1924 ein inguschisches autonomes
Gebiet. Die beiden wurden 1934 vereinigt und zwei Jahre später als Tschetscheno-Inguschetische
Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) konstituiert.
In den 30er Jahren wurden die islamischen Institutionen in der UdSSR aufgelöst, der Islam
systematisch unterdrückt, die Moscheen weitgehend geschlossen. Bei Tschetschenen und
Inguschen stieß der Stalin-Terror aber auch wegen der Kollektivierung der Landwirtschaft auf
heftigen Widerstand. Ab 1929/30 begann der Kampf gegen die Rote Armee. Eine Verhaftungsund Hinrichtungswelle ab 1937, mit der der NKWD einen "Generalschlag gegen antisowjetische
Elemente" versuchte, trieb eine Vielzahl von Tschetschenen und Inguschen der Guerilla zu.
480.000 Angehörige der beiden Völker wurden 1944 unter dem Vorwurf der Kollaboration22 mit
den Nationalsozialisten kollektiv nach Zentralasien deportiert; viele von ihnen starben bereits auf
dem Weg dorthin, die Zurückgebliebenen fielen Vernichtungsaktionen zum Opfer. Die
Biographie der heute lebenden Tschetschenen und Inguschen ist noch von der Deportation
geprägt. Viele (unter ihnen auch Dschochar Dudajew und Ruslan Chasbulatow) wuchsen in
Kasachstan auf, wo ein Großteil der deportierten Familien angesiedelt worden waren.
1957 schließlich wurden beide Völker rehabilitiert und kehrten in ihre wiederum autonomisierten
Gebietseinheiten zurück. Allerdings blieb eine vollständige territoriale Rehabilitation aus: Teile
des ursprünglichen Republikterritoriums, die nach der Deportation anderen Gebietseinheiten
(Stawropol, Georgien, Dagestan, Nord-Ossetien) zugeschlagenen Abschnitte, blieben unter deren
Verwaltung. Verschiedene ehemalige Bergsiedlungen blieben gesperrt, einige wurden geräumt,
ihre Einwohner in die Täler umgesiedelt.
Nach Wiederherstellung der ASSR wurde mit sechs Moscheen und 20 registrierten Mullahs in
Grundzügen der "offizielle Islam" nur rudimentär wieder hergestellt. Entsprechend breiter war der
Wirkungskreis der islamischen Organisationen im Untergrund. Die archaischen Muster der
tschetschenischen Gesellschaft verknüpfen Sippen und religiöse Bruderschaften mit lokalen
Machtorganen - ein Prinzip, das bis heute die Gesellschaft organisiert und prägt.
Die kaukasischen Völker sind auch hinsichtlich der Intensität ihrer Religiosität heterogen. Uwe
Halbach verweist darauf, dass es bezüglich des Islam eine Art "Ost-West-Gefälle" gibt: zwischen
Dagestan, wo der Hochislam in arabischer Sprache bis in frühsowjetische Zeit hinein verwurzelt
blieb, und den westkaukasisch-adygejischen oder tscherkessischen Ethnien, die auch im religiös
begründeten Verteidigungskampf gegen Russland nicht zu strengen Muslimen wurden. 23
Tschetschenen und Inguschen sind Sunniten hanefitischer Rechtsschule. 1985 bestanden
angeblich 210 nichtregistrierte "Vereinigungen von Gläubigen" und über 20 lokale
21
Hierzu Moshe Gammer: Muslim Resistance to the Tsar. Shamil and the Conquest of Chechnya and Daghestan.
London 1994.
22
Vor der Schlacht von Stalingrad hatten sich Tschetschenen und Inguschen der deutschen Wehrmacht nicht
entgegengestellt, obwohl die tschetschenischen Ölfelder für die Sowjetarmee von entscheidender Bedeutung
waren.
23
Uwe Halbach: Der Islam in Russland. Bericht des BIOst Nr. 34, 1996, S. 27.
13
Niederlassungen sufitischer Orden. Beide standen stärker als andere vom Islam geprägte Völk er
unter dem Einfluss von Sufi-Organisationen und sog. "nichtregistrierten Mullahs". 24
2.2.3
Wirtschaft
Seit über 100 Jahren fördert Tschetschenien Erdöl. Höhepunkte der Förderleistung waren die
Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, später dann das Jahr 1970, als 20 Mio. Tonnen Erdöl gefördert
wurden. Ab Mitte der 80er-Jahre entwickelte sich vorrangig die Erdöl-, aber auch die
Erdgasförderung rückläufig. In den Jahren der hohen Fördermengen hatte man in Grosny
Raffinierie-Kapazitäten für bis zu 16 Mio. Tonnen aufgebaut, die in den 70er Jahren modernisiert
wurden. Das eigene Erdöl reichte zur Auslastung allerdings nicht mehr aus, so dass aus den
Gebieten Dagestan, Stawropol, Kuban und Tjumen geliefertes Öl verarbeitet wurde. Die
Lieferungen von dort gingen seit Beginn der 90er-Jahre kontinuierlich zurück. Die
petrochemische Industrie, die früher 90 Prozent des sowjetischen Flugbenzins raffinierte und auch
Russland bis Anfang der 90er versorgte, erhält seit Jahren keine russischen Aufträge mehr. Die
Erdölförderung und -verarbeitung als Hauptzweig der tschetschenischen Industrie besitzt nur
geringe Beschäftigungsmöglichkeiten. Der Produktionsrückgang der letzten Jahre hat diese noch
verringert. Breite industrielle Strukturen sind kaum vorhanden; so fällt die Industrie als
Arbeitgeber für die wachsende Bevölkerung aus. Nach Angaben der tschetschenischen Presse
erreichte die Republik Ende des Jahres 1994 den Produktionsstand von 1985, die KonsumgüterProduktion soll um 52 Prozent geschrumpft sein. 25 Arbeitslosigkeit trifft heute etwa zwei Drittel
der Menschen. Verwiesen sei darauf, dass in der Ölindustrie zu 75 Prozent Russen beschäftigt
waren. 26
Neben Betrieben zur Erdölverarbeitung waren auf sie spezialisierte Maschinenbau-Betriebe hier
angesiedelt, die Geräte für Öl- und Gasförderung und -verarbeitung herstellten. Ferner gab es
Lederverarbeitungs- und Textilindustrie, einige nahrungsmittelverarbeitende Betriebe sowie
Baumaterial-Hersteller. In Gudermes, einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt im Nordkaukasus,
existierten Fa briken zur Herstellung von Gummi und medizinischen Instrumenten. Die komplette
Industrie in Tschetschenien ist allerdings auf die Zulieferung von Rohstoffen, Metallen u.ä. aus
anderen Regionen Russlands angewiesen.
Seit einigen Jahren fehlen die für Produktion notwendigen Vorprodukte und Rohstoffe. Veraltete
bzw. im Krieg zerstörte Produktionsanlagen und Fabriken werden nicht mehr repariert; die
russischen Spezialisten verließen das Land in den 90er-Jahren wegen der wachsenden inneren
Krise. Das Bruttosozialprodukt ging schon vor dem ersten Tschetschenien-Krieg weit zurück: von
1992 gegenüber 1991 um 68 Prozent. Die Realeinkommen verringerten sich auf ein Viertel. Das
Ende der Sowchosen und Kolchosen hat chaotische Verhältnisse in der Landwirtschaft,
insbesondere im Hinblick auf den Besitz von Bodenflächen, zurückgelassen. Grosny, das zu den
am stärksten industrialisierten Städten im Nordkaukasus gehörte, wurde bereits Mitte der 90erJahre weitgehend zerstört und liegt nach der Bombardierung im Herbst/Winter 1999/2000 völlig
in Trümmern.
2.2.4
Innere Krise
In den vergangenen Jahren ist in Tschetschenien ein kaum zu durchbrechender Kreislauf wir tschaftlicher Krise und wachsender Kriminalität entstanden. Zivile Strukturen sind heute so gut
wie keine mehr vorhanden, Gesundheits- und Bildungswesen existieren in der Praxis nicht mehr.
24
Vgl. Götz/Halbach, Politisches Lexikon Russland, S. 335.
25
Vgl. Halbach, Russlands Auseinandersetzung mit Tschetschenien, S. 8, Anm. 10.
26
Vgl. Götz/Halbach, Politisches Lexikon Russland, S. 345.
14
Von russischer Seite wurde nach dem ersten Krieg Aufbauhilfe zugesagt, jedoch nicht bezahlt.
Die hohe Zahl an Auswanderern sowie die Isolation und Blockaden des Landes durch Russland
hatten massive Folgen für das wirtschaftliche Leben und demonstrierten gleichzeitig die enorme
Abhängigkeit der Republik vom Moskauer Zentrum. Insbesondere die Energiewirtschaft kam zum
Erliegen; Tschetschenien bezog noch nach seiner ersten Unabhängigkeitserklä rung von Russland
etwa 40 Prozent seines Energiebedarfs zum "Föderationspreis". 27
Seit dem Ende der UdSSR werden die Russen in Tschetschenien häufig bedroht, was dazu be igetragen hat, dass viele von ihnen die Republik verlassen haben. Der Exodus auch qualifizierter
russischer Fachleute und Experten hat ebenso zur Verschärfung der wirtschaftlichen Krise beigetragen. Zu den sozialen Folgen des wirtschaftlichen und finanziellen Niedergangs gehört seit
Jahren die häufig ausbleibende Auszahlung von Renten und Löhnen. Für eine Einmischung
Russlands bot sich hier immer Gelegenheit: Geld aus Moskau linderte dieses Problem in den AntiDudajew-Landesteilen wie dem Terek-Bezirk; gleichzeitig flossen Finanzhilfen zur Unterstützung
von Waffenkäufen an die Dudajew-Opposition. 28 Die problematische ökonomische Situation
verschärfte Mitte der 90er-Jahre die organisierte Banden-Kriminalität; diese wiederum schreckt
seriöse Unternehmer oder Investoren ab, in Tschetschenien Geschäfte abzuwickeln. Häufig wurde
über Wegelagerei, über die Plünderung von Passagier- und Lastzügen auf tschetschenischem
Gebiet berichtet. Russische offizielle Stellen bezifferten den daraus entstandenen Schaden 1994
auf 17 Milliarden Rubel. 29
Noch problematischer wird die Situation dadurch, dass im von Clan-Beziehungen und
-Loyalitäten geprägten Tschetschenien die Bereitschaft offizieller Stellen gering ist, Entführungen
und Verbrechen zu verfolgen. Beobachter gehen davon aus, dass den staatlichen Behörden in
Grosny (soweit solche existieren) die Hintergründe vieler Entführungen und Geiselnahmen
bekannt sind, diese aber nicht eingreifen bzw. Informationen bei Untersuchungen zurückhalten. 30
Häufig wurden in den letzten Jahren Geschäftsleute und Journalisten, aber auch Mitarbeiter des
Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) entführt. Aufgrund der hohen Gefahr für
ihre Mitarbeiter stellte u.a. die Organisation Médecins sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) Ende
November 1997 ihre Arbeit in Nordkaukasien ein. 31 Zu den Entführungsopfern der letzten Zeit
gehörte der von Russland in Tschetschenien eingesetzte Polizeivertreter, Generalmajor Gennadi
Schpigun, der am 5. März 1999 am helllichten Tag aus Grosny verschleppt wurde. 32
Nordkaukasien blieb nach dem Ende des ersten Tschetschenien-Kriegs 1996 die unruhigste
Region der RF. Die russische Invasion destabilisierte die Lage vollends: Heute sind die Banden
von einst gut bewaffnete, autonom agierende Gruppierungen. Bereits nach dem Friedensabkommen vom Septe mber 1996 und während des Abzugs der Truppen im Winter 1996/97 nahmen
Gewaltakte gegen Zivilpersonen in Tschetschenien zu. Im Dezember 1996 wurden sechs
Mitarbeiter des IKRK (fünf Krankenschwestern aus Norwegen, Spanien, Kanada, Neuseeland und
ein niederländischer Bauarbeiter) im Schlaf erschossen. Später berichteten Mitarbeiter, sie hätten
gewarnt sein müssen, da zwei Wochen vor dem Überfall Teile ihrer Ausrüstung und Geräte von
Unbekannten vernichtet und der zufällig hinzukommende Krankenhaus-Chef nie dergeschlagen
worden war. Das IKRK versuchte daraufhin, von den Behörden in Grosny bewaffneten Schutz für
27
Halbach, Russlands Auseinandersetzung mit Tschetschenien, S. 12.
28
Halbach, ibid., S. 13.
29
Izvestija, 14. September 1994.
30
Vgl. Neue Zürcher Zeitung (im Folgenden NZZ), 14. Januar 1998.
31
NZZ, 14. Januar 1998.
32
Spiegel Almanach. Weltjahrbuch 2000. Die Staaten der Erde. Zahlen, Daten, Analysen, S. 447.
15
das Krankenhaus und seine Zufahrtswege zu bekommen. Dies scheiterte an der tschetschenischen
Forderung nach Bezahlung dieses Schutzes. 33
Der amtierende tschetschenische Staatspräsident Aslan Maschadow trat sein Amt 1997 an. Auch
ihm gelang es nicht, die meist unabhängig voneinander agierenden Gruppen unter zentrale
Kontrolle zu stellen. Tschetschenien leidet unter wachsender Gesetzlosigkeit, inneren
Machtkämpfen und einer wachsenden Fragmentisierung der politischen und militärischen Macht.
33
AP, 20. Dezember 1996.
16
3. Vom ersten zum zweiten Krieg: Ereignisse und Entscheidungsproze sse
Die innenpolitischen Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Clans in Tschetschenien gehören
zu den wesentlichen Faktoren, die die Ereignisse und Entscheidungsprozesse der
Auseinandersetzung beeinflussen bzw. charakterisieren. Hervorstechendes Merkmal des ersten
wie des zweiten Kriegs auf russischer Seite war ein Wirrwarr der Kompetenzverteilung, in
politischer wie in militärischer Hinsicht. Nach außen deutlich wurde dies nicht zuletzt in den
Angaben über den Kriegsverlauf. Häufig wurden und werden russische Meldungen, bestimmte
Städte seien eingenommen, nachträglich wieder eingeschränkt oder völlig revidiert. Die
Berichterstattung des russischen Militärs ist häufig in sich widersprüchlich, jedoch ist sie die
einzige Nachrichtenquelle. Unabhängige Beobachter im Kriegsgebiet konnten und können oder
dürfen sich nicht frei bewegen; dies gilt für Vertreter internationaler Organisationen, etwa der
OSZE, ebenso wie für Journalisten und Fotografen.
Es sei darauf verwiesen, dass bei den Verfassungsrichtern der RF unterschiedliche Auffassungen
darüber herrschten, ob die Dekrete des russischen Präsidenten, mit denen er den ersten Einsatz der
föderalen Streitkräfte in Tschetschenien veranlasste, verfassungsgemäß waren. 34 Verschiedene,
zum Teil rivalisierende Akteure und Institutionen in Moskau konkurrieren im Hinblick auf das
Vorgehen in Tschetschenien. Zu ihnen gehören neben dem Präsidenten und dem
Ministerpräsidenten das Ministerium für Nationalitätenfragen, das Innen- und das Verteidigungsministerium. Probleme in der Kompetenz-Zuweisung und -Abgrenzung gehörten ebenso
zu den Folgen wie wechselnde Entscheidungsbefugnisse innerhalb der politischen und
militärischen Führungsebene. Die eingesetzten Truppen wurden und werden zum Teil vom Innen, zum Teil vom Verteidigungsministerium befehligt und erhielten im ersten Krieg oft
widersprüchliche Anweisungen.
Im Verlauf des ersten Kriegs traten verschiedene Konflikte zwischen und innerhalb der russischen
politischen und militärischen Führung auf, die eine Fragmentisierung der militärischen
Führungsspitze mit sich brachten. So wurden den Einmarsch kritisierende Generäle entlassen,
andere in den Ruhestand versetzt, die Zahl der stellvertretenden Verteidigungsminister von acht
auf fünf reduziert. 35 Jelzin wurde im Hinblick auf seine Entscheidungen von verschiedenen Seiten
spätestens Ende März 1996 kritisiert, als er seinen Friedensplan bekannt gab. Sein Sicherheitsberater Juri Baturin erklärte der Nachrichtenagentur Itar-Tass, es sei zu früh, um auf den
Einsatz militärischer Gewalt zu verzic hten. Den Friedensplan durchzusetzen sei sehr schwierig;
dieser Prozess dürfe nicht künstlich beschleunigt werden. Verteidigungsminister Pawel Gratschow
attackierte den Friedensplan, der von vielen Beobachtern als Wahlkampf-Instrument gesehen
wurde, vor dem Parlament, und auch der im Januar 1996 eingesetzte Oberkommandierende der
föderalen Streitkräfte in Tschetschenien, General Wjatscheslaw Tichomirow, äußerte sich
negativ. 36
Der als Falke bekannte Tichomirow erklärte gegenüber dem russischen Fernsehsender NTV, er
sei "kein Freund von Gesprächen"37. Ende Januar 2000, im zweiten Krieg, kehrte Tichomirow an
den Schauplatz des Kriegsgeschehens zurück, nachdem die russischen Truppen auch im zweiten
Anlauf des Sturms auf Grosny keinen entscheidenden Durchbruch erzielt hatten. Er löste General
34
Vgl. Jens Deppe: Das "Tschetschenien-Urteil" des Verfassungsgerichts der RF und das Sondervotum des
Verfassungsrichters Luèin, in: Osteuropa-Recht, Nr. 2, 1999, S. 109 – 135.
35
Vgl. Stefanie Babst: Krieg in Tschetschenien. Russland vor dem Zerfall? Beiträge zur Lehre und Forschung der
Forschungsakademie der Bundeswehr, Nr. 3, 1995, S. 17 ff.
36
Tichomirow war der Nachfolger von General Anatoli Schkirko (geb. 1947 in Grosny), der das Oberkommando
interimistisch innehatte, nachdem Anfang Oktober 1995 der Truppenkommandant Anatoli Romanow bei einem
Attentat ums Leben kam. Vgl. Schkirkos Interview mit Rossijskie Vesti, 10. Januar 1996; siehe auch NZZ, 6./7.
Januar 1996.
37
AP, 22. April 1996.
17
Owtschinnikow an der Spitze der Innenministeriumstruppen ab und tat sich einmal mehr durch
aggressive Töne hervor: Der heutige Konflikt in Tschetschenien sei die letzte Chance, die Ehre
der russischen Armee zu retten und Russlands strategische Interessen im Kaukasus zu wahren. 38
Andere Offiziere, etwa der Kommandant der russischen und dagestanischen Truppen in Dagestan,
Generalleutnant Gennadi Trogschin, hoffte - unter Verweis auf die gescheiterte Operation von
1994 bis 1996 - auf eine Lösung am Verhandlungstisch. 39
Eine weitere Entscheidungsinstanz, die einem häufigen personellen Wechsel unterworfen war,
setzte der russische Präsident mit dem Amt des Koordinators für die Tschetschenien-Politik ein.
Dieses Amt bekleidete zunächst der frühere stellvertretende Ministerpräsident Sergei Schachrau.
Jelzin ersetzte Schachrau bald durch den als Hardliner bekannten Nikolai Jegorow und machte ihn
von Ende Dezember 1994 bis Januar 1995 zum Ständigen Vertreter des Präsidenten in
Tschetschenien. Am 28. Januar löste Jelzin Nikolai Jegorow als Tschetschenien-Beauftragten
durch Nikolai Semjonow ab; ihm folgte in dieser Position ab 16. Februar 1995 der stellvertretende
Ministerpräsident Oleg Soskowez. Am 25. August ernannte Jelzin Oleg Lobow, den Sekretär des
Nationalen Sicherheitsrates, zum neuen Koordinator der Tschetschenien-Politik; ihm wiederum
folgte am 10. August 1996 Alexander Lebed, der bereits Mitte Juni 1996 zum neuen Sekretär des
Nationalen Sicherheitsrates ernannt worden war. Erst ihm gelang es, die tschetschenischen
Clanführer an den Verhandlungstisch zu bringen. Lebed musste sich bei den Verhandlungen mit
den Tschetschenen aber auch mit russischen Kritikern auseinandersetzen. So bauten Innenminister
Kulikow, der nach Auffassung Lebeds die Hauptverantwortung für das Blutvergießen in
Kaukasien trug 40, und General Wjatscheslaw Tichomirow weiterhin auf eine militärische Lösung
des Konflikts. Die persönliche Auseinandersetzung zwischen den dreien ging soweit, dass
Kulikow am 16. Oktober 1996 Lebed beschuldigte, einen Staatsstreich gegen Jelzin geplant zu
haben. Diese Behauptung musste er zwar auf gerichtliche Anordnung hin wieder zurücknehmen;
trotzdem entließ Jelzin Lebed am 17. Oktober 1996, nachdem dieser in Tschetschenien eine wenigstens vorübergehende - Einigung erzielt hatte.41
Relevant war und ist in den Entscheidungsprozessen beider Kriege der am 2. Juni 1992 in Moskau
als neues, extrakonstitutionelles Machtorgan konstituierte sog. Nationale Sicherheitsrat, den
wissenschaftliche Beobachter häufig als "Ersatz-Politbüro" charakterisiert haben. Er wird vom
Präsidenten geleitet und soll diesen u.a. dabei unterstützen, die Souveränität, Unabhängigkeit und
staatliche Integrität der RF zu wahren; gleichzeitig aber auch helfen, operative Entscheidungen
zur Verhinderung von Ausnahmesituationen aller Art vorzubereiten bzw. sie zu beseitigen. 42
Dieser Nationale Sicherheitsrat sollte bereits 1994 über die Tschetschenien-Politik entscheiden.
38
Zit. nach NZZ, 24. Januar 2000.
39
Manfred Quiring: Russland erwägt den Einsatz von Bodentruppen im Kaukasus, in: Die Welt, 27. September
1999.
40
Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien, S. 127. Lebed nannte im Oktober 1996 vor der
Duma die seiner Ansicht nach Hauptschuldigen für den erfolgreichen Sturm der
Tschetschenen auf Grosny: Innenminister Kulikow und seinen Stellvertreter Golubez, den
von Moskau eingesetzten tschetschenischen Präsidenten Sawgajew, General Nikolai
Koschman, russischer Regierungschef von Tschetschenien und General Konstantin
Pulikowski, den stellvertretenden Oberbefehlshaber der russischen Truppen in
Tschetschenien.
41
Lebeds Nachfolger als Koordinator der Tschetschenien-Politik und neuer Sekretär des Nationalen
Sicherheitsrates wurde Iwan Rybkin.
42
Vorsitzender des Sicherheitsrates ist der Präsident, ihm zur Seite steht ein Sekretär. Weitere Ständige Mitglieder
sind der Ministerpräsident, der Direktor des FSB, der Außen- und der Verteidigungsminister; andere Mitglieder
der Erste Stellvertretende Regierungschef, der Justiz-, Innen- und Finanzminister, die Minister für
Atomenergiewirtschaft, für Ausnahmesituationen und Katastrophenschutz, der Leiter des föderalen
Staatsschutzdienstes, die Direktoren des föderalen Grenzdienstes und der Auslandsaufklärung, der Leiter der
Präsidenten-Administration sowie der Präsident der Akademie der Wissenschaften.
18
Dieser Sicherheitsrat ist im zweiten Tschetschenien-Krieg seit dem Rücktritt Jelzins am
31. Dezember 1999 eher etwas in den Hintergrund getreten. Dennoch nutzt der amtierende
Präsident Wladimir Putin 43, zu dessen Karriere-Stationen auch der Posten als Sekretär des
Sicherheitsrates gehörte, dieses Gremium zur Abstimmung seiner Tschetschenien-Politik. Bei
einer Sitzung Mitte November 1999 war man sich dort einig darüber, dass das Resultat der Aktion
in Tschetschenien die Herstellung "normaler Bedingungen für das Leben des tschetschenischen
Volkes" sein sollte, man jedoch nur "mit gesunden Kräften in Tschetschenien" verhandeln
werde.44
3.1
Der ers te Krieg (1994 - 1996)
3.1.1
Die politischen Entwicklungen zu Beginn der 90er-Jahre
Mit dem Amtsantritt des letzten sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow im
März 1985 eröffnete sich den Völkern in der UdSSR der Weg zurück zu nationaler und
staatlicher Eigenständigkeit. Sehr früh zeichnete sich ab, dass die Tschetschenen sich vom
Moskauer Zentrum lösen wollten. Innerhalb weniger Jahre wurden die Versäumnisse der
sowjetischen Nationalitätenpolitik, die Gorbatschow nicht lösen konnte, deutlich. Insbesondere im
Süden der Sowjetunion schwelte eine Vielzahl von Konflikten. 45 Nach dem Ende der UdSSR und
der Gründung der GUS im Dezember 1991 häuften sich die Auseinandersetzungen.
Zu denen, die ihre staatliche Eigenständigkeit auch gewaltsam zurückgewinnen wollten, gehörte
die Tschetscheno-Inguschetische ASSR. Insbesondere die nordkaukasischen Republiken
unterstützten diese Unabhängigkeitsbewegung: Am 21./22. September 1991 fand in Grosny eine
"Versammlung der kaukasischen Bergvölker"46 mit Vertretern Dagestans, Kabardino-Balkariens,
Karatschai-Tscherkessiens und Abchasiens statt, die sich für die Aktionen des tschetschenischen
Nationalkongresses zur "Verwirklichung der Revolution" aussprachen. Im August 1992 eskalierte
der abchasisch-georgische Konflikt, an dem sich auf der Seite Abchasiens auch tschetschenische
Truppen beteiligten. Zu blutigen Auseinandersetzungen unter Beteiligung russischer Truppen kam
es im Oktober und November 1992 auch zwischen Osseten und Inguschen im nordossetischen
Bezirk Prig orodny.
3.1.1.1
Die tschetschenische Souveränitätserklärung von 1990
43
Putin, geb. 1952 in Leningrad, war seit Juli 1998 auch Direktor des FSB (i.e. die KGB-Nachfolgeorganisation).
Nach Abschluss eines Jura-Studiums war er für die Auslandsaufklärung des KGB, unter anderem in Deutschland,
tätig. Ab 1990 war er Mitglied der St. Petersburger Verwaltung, wo er 1994 zum Stellvertreter des
Oberbürgermeisters, des Reformers Anatoli Sobtschak, aufstieg. Nach seiner Rückkehr nach Moskau war er
Stellvertretender Leiter der Präsidenten-Administration. Am 29. März 1999 wurde Putin Sekretär des Nationalen
Sicherheitsrates.
44
Interfax, 13. November 1999. An der Sitzung unter Vorsitz Putins nahmen der Vorsitzende des Föderationsrates
Jegor Srojew, Katastrophenschutz-Minister Sergei Schojgu, Außenminister Igor Iwanow, Innenminister
Wladimir Ruschajlo, Verteidigungsminister Igor Sergejew, der Direktor des föderalen Grenzdienstes Konstantin
Tozki, FSB-Direktor Nikolai Patruschew, Oberstaatsanwalt Wladimir Ustinow, Finanzminister Michail
Kasjanow sowie der Leiter der Präsidentenadministration Alexander Woloschin und sein Stellvertreter Sergei
Prichodko teil; außerdem ein Vertreter der Massenmedien, Michail Lesin.
45
Ersten Unruhen in Kasachstan im Dezember 1986 folgten 1987/88 wachsende Streitigkeiten um das
überwiegend von christlichen Armeniern bewohnte Nagorny Karabach in Aserbaidschan. Es folgten
Auseinandersetzungen in der georgischen Hauptstadt Tiflis, im armenischen Erewan, außerdem in Tadschikistan.
Am 26. und 27. Oktober 1990 erklärten sich Kasachstan und Kirgisien souverän.
46
Assambleja gorskich narodov Kavkaza.
19
Der erste tschetschenische Nationalkongress in Grosny hatte bereits vom 23. bis 26. November
1990 stattgefunden. Das dabei gewählte Exekutivkomitee beschloss die Gründung eines una bhängigen Staates. Dieser Kongress wurde zur einflussreichsten politischen Kraft: In seinem
Zentrum standen etwa 60 Personen, darunter genügend Clanführer, um der Bewegung die
Unterstützung der Bevölkerung zu sichern. Der inguschetische Bevölkerungsteil war allerdings
nicht repräsentiert. 47
Bereits am 27. November 1990 wurde bei der vierten außerordentlichen Sitzung des Obersten
Sowjets der Tschetscheno-Inguschetischen Republik (TschIR) die "Erklärung über die staatliche
Souveränität der TschIR"48 angenommen. Als "Träger der Souveränität und Quelle der staatlichen
Macht" wurde in Artikel 3 das "multinationale Volk"49 bezeichnet. Garantiert wurde die
Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, unabhängig von Rasse, religiöser oder nationaler
Zugehörigkeit, Besitz, Bildung oder "politischer Ansichten" (Art. 4). Der Oberste Sowjet sollte als
höchstes Organ mit umfassenden Befugnissen ausgestattet sein und als einzige Institution für das
ganze Volk sprechen können (Art. 7). Die Verfügungsgewalt über die natürlichen Ressourcen auf
dem Territorium der TschIR sollte allein ihren ausschließlichen Besitzern, dem tschetschenischen
Volk, zustehen und die wirtschaftliche Grundlage für das ganze Land darstellen (Art. 11 und 12).
Zum Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Tschetschenischen Nationalkongresses 50 wurde am
1. Dezember 1990 Dschochar Dudajew gewählt, der zuletzt in Estland als Generalmajor der
Luftstreitkräfte der Roten Armee gedient hatte. 51 Sein erster Stellvertreter wurde Letschi
Umchajew, der die Arbeit des Komitees in der Praxis bis zum endgültigen Ausscheiden Dudajews
aus der Armee im März 1991 leitete.52 Im Mai 1991 erklärte Dudajew den Obersten Sowjet der
TschIR im Zusammenhang mit der Ausrufung der Souveränität für illegitim und verkündete, für
eine Übergangszeit werde das Exekutivkomitee des tschetschenischen Volkskongresses die Macht
übernehmen. Die Führer der nationalistischen Parteien und Bewegungen WDP, "Islamischer
Weg", Grüne Bewegung und "Kaukasus" unterstützten den Kurs Dudajews und des
Exekutivkomitees. Gegen sie stellten sich die demokratischeren Kräfte unter Ägide des früheren
Komitee-Vorsitzenden Umchajew. 53
Dschochar Dudajew und seine Anhänger begründeten mit einem Teil der Delegierten des
Nationa lkongresses Anfang Juni 1991 einen "nationalen tschetschenischen Volkskongress"
(abgekürzt OKTschN)54. Dieser proklamierte auf seiner zweiten Sitzung die "Tschetschenische
47
Vgl. dazu Suzanne Goldenberg: Pride of Small Nations. The Caucasus and Post-Soviet-Disorder. London, New
Jersey 1994, S. 184.
48
Deklaracija o gosudarstvennom suverenitete Èeèeno-Ingušskoj Respubliki, prinjata na vneoèerednoj èetvertoj
sessii Verchovnogo Soveta Èeèeno-Ingušskoj Respubliki 27 nojabrja 1990 goda, in: Rossija i Èeènja 1997, S. 7
ff.
49
russ. mnogonacional’nyj narod.
50
Ispolnitel’nyj komitet Èeèenskogo Nacional’nogo S’’ezda (Ispolkom ÈNS).
51
Dudajew wurde 1944 zur Zeit der Deportation geboren und lebte 13 Jahre in Kasachstan. Später besuchte er die
Hochschule für Militär-Luftfahrt in Tambow, dann die Akademie der Luftwaffe "Juri Gagarin". Als
Generalmajor der Luftwaffe diente er von 1987 bis 1990 als Kommandeur einer Bomberstaffel in Tartu.
52
Zu weiteren Stellvertretern wurden der Vorsitzende der Wajnachischen Demokratischen Partei (WDP) Selimchan
Jandarbijew und WDP-Mitglied Jusup Soslambekow gewählt. Im weiteren gehörten dem Präsidium dieses ersten
Exekutivkomitees, das von November 1990 bis Juni 1991 in dieser Zusammensetzung existierte, u.a. Chussein
Achmadow und Lema Usmanow, beide Mitglied im Obersten Sowjet der TschIR, der Vorsitzende der GrünenBewegung Dadasch Alijew sowie WDP-Mitglied Said-Chassan Abumuslimow an. Vorsitzender des Nationalen
Kulturfonds wurde der Schriftsteller Musa Achmadow.
53
Zu dieser Gruppe "Erklärung der 16" gehörten u.a. D. Gakajew, G. Elmursajewa, J. Elmursajew und A.
Bisultanow.
54
Obšèenacional’nyj kongress èeèenskogo naroda (OKÈN).
20
Republik Nochtschi-tscho" und erklärte die führenden Mitglieder des Obersten Sowjet der TschIR
zu "Usurpatoren". Dudajew wurde Vorsitzender des Exekutivkomitees des OKTschN, sein erster
Stellvertreter wurde Soslambekow, als weitere Vertreter kamen Jandarbijew und Achmadow. Im
Verlauf der Monate Mai bis August 1991 wuchs das Zentrum außerparlamentarischer radikaler
Opposition in Tschetscheno-Inguschetien; im August erklärte OKTschN-Mitglied Said-Emin
Ibragimow den nationalen tschetschenischen Volkskongress zum stellvertretenden Organ des
tschetschenischen Volkes.
3.1.1.2
Der Moskauer Putschversuch von 1991 und die Folgen
Während des Putschversuchs in Moskau vom 19. bis 21. August 1991, bei dem ein
selbsternanntes Notstandskomitee Gorbatschow abzusetzen suchte, avancierte der OKTschN zum
Zentrum der antiputschistischen und oppositionellen Kräfte in der Tschetscheno-Inguschetischen
Republik. Sowohl die tschetschenische KP und der Oberste Sowjet als auch die Regie rung waren
auf Seiten der Putschisten. Nach Niederschlagung des Putsches in Moskau entstand daraus eine
Bewegung gegen die kommunistisch-sowjetische Führung Tschetscheno-Inguschetiens, die später
den Namen "tschetschenische Revolution" annahm.
Das Exekutivkomitee des OKTschN erklärte Anfang September 1991 den Obersten Sowjet wegen
seiner Unterstützung der Putschisten für nicht mehr vertrauenswürdig und in der Konsequenz für
aufgelöst. Dudajew und WDP-Mitglied Soslambekow übernahmen die Macht. Sie setzten einen
Provisorischen Obersten Sowjet55 ein, übernahmen die Kontrolle über die Gebäude von
Fernsehen, Radio und die Verwaltung für politische Erziehung56 und erklärten die völlige
Unabhängigkeit Tschetscheniens von der RSFSR, die sie einer kolonialen Politik bezichtigten. 57
In den folgenden Tagen kam es zu Versammlungen, Demonstrationen und Zusamme nstößen. 58
Am 10. September entsandte der russische Präsident Jelzin eine Delegation unter Leitung von
Staatssekretär Gennadi Burbulis nach Grosny. Sie sollte sich mit offiziellen Vertretern und
Vertretern gesellschaftlicher Bewegungen treffen und "ein Maßnahme-Paket zur Stabilisierung
der Lage" durchsetzen. 59 Burbulis, der versuchte, einen Kompromiss zwischen dem
Exekutivkomitee des OKTschN und dem Obersten Sowjet der TschIR zu erzielen, scheiterte. Das
Übergangskomitee beschloss Präsidentschafts- und Parlamentswahlen für neue staatliche Organe
im November, als Kandidat für das Amt des tschetschenischen Präsidenten wurde Dschochar
Dudajew aufgestellt.
Am 8. Oktober verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der RSFSR die Entschließung
Nr. 1723-1 "Über die politische Situation in der TschIR". Darin wurde als einziges gesetzliches
Machtorgan auf dem Gebiet der TschIR bis zu den Wahlen eines neuen Obersten RepublikSowjets der Provisorische Oberste Sowjet erklärt, der sich nach dem Vorbild des früheren
Obersten Sowjet der TschIR zusammensetzen sollte. Daraufhin spitzte sich die Lage dramatisch
zu: Es kam zur ersten Machtprobe der Tschetschenen mit dem Moskauer Zentrum. Der OKTschN
wertete die russische Entschließung als "grobe, provokative Einmischung in die inneren
55
Vremennyj vysšij sovet (VVS).
56
russ. politprosvešèenie.
57
Postanovlenie Ispolkoma obšèenacional’nogo kongressa èeèenskogo naroda, 17. September 1991, in: Rossija i
Èeènja, S. 17.
58
So forderte etwa der Kommandierende der Schwarzmeerflotte den Obersten Sowjet und den Ministerrat der
TschIR auf, unverzüglich dafür zu sorgen, dass 28 illegal (von Tschetschenen) entwendete Armee-Fahrzeuge des
Flotten-Bataillons zurückgebracht würden: Diese Aktion trage einen "provozierenden, gegen die Verfassung
gerichteten Charakter". Telegramm vom 6. September in: ibid., S. 14.
59
Rasporjaženie Prezidenta RSFSR, 10 September 1991, in: ibid., S. 15.
21
Angelegenheiten der Tschetschenischen Republik" und gab die Mobilmachung aller 15- bis 55jährigen Männer bekannt, brachte die Nationalgarde in Gefechtsbereitschaft und rief zur
bewaffneten Machtergreifung auf. In Tschetschenien kalkulierte man nun auch eine kriegerische
Auseinandersetzung mit dem Ze ntrum. 60
Der Oberste Sowjet der RSFSR reagierte mit einer weiteren Entschließung (Nr. 1733-1) "Über die
Lage in der TschIR", in der dem Vizepräsidenten und dem Ministerrat vorgeschlagen wurde, "die
notwendigen Bedingungen für die Wiederherstellung der Gesetzlichkeit und Rechtsordnung in der
TschIR sicherzustellen". Neun Tage später, am 19. Oktober, wandte sich Jelzin persönlich an die
Führung des OKTschN und forderte sie auf, alle gesetzeswidrigen Handlungen zu unterlassen und
sich bedingungslos den Gesetzen zu fügen; darüber hinaus sollten sie innerhalb von 72 Stunden
die besetzten Gebäude verlassen und ihre Waffen abgeben. Jelzin schlug im weiteren vor, der
Provisor ische Oberste Sowjet sollte gemeinsam mit dem Obersten Sowjet über den staatlichen
Aufbau der TschIR entscheiden, allerdings unter Berücksichtigung der Gesetzgebung der
RSFSR. 61
60
Postanovlenie Prezidiuma Ispolnitel’nogo komiteta obšèenacional’nogo kongressa èeèenskogo naroda, in:
Rossija i Èeènja, S. 20 f.
61
Obrašèenie k lideram Ispolkoma obšèenacional’nogo kongressa èeèenskogo naroda, in: ibid., S. 22 f.
22
3.1.1.3
Reaktionen
Am 27. Oktober 1991 wurden in Tschetschenien Parlament und Präsident gewählt. Der Wahlsieger hieß Dschochar Dudajew.62 Er leistete seinen Amtseid als Präsident auf den Koran und
machte damit zum einen den wachsenden Wandel der innertschetschenischen gesellschaftlichen
Verhältnisse deutlich, zum anderen lieferte er seinen Moskauer Kritikern eine neuerliche Provokation. Dudajew unterzeichnete am 2. November sein erstes Dekret und proklamierte zum 1.
November 1991 die staatliche Souveränität der Tschetschenischen Republik. Der Volksdeputiertenkongress der RSFSR erklärte die Wahlen am gleichen Tag für ungesetzlich63, während der
dritte Kongress der Bergvölker, der vom 1. bis 3. November in Suchumi tagte, sich für eine
Konföderation der Bergvölker Kaukasiens aussprach. Die Reaktion aus Moskau auf die Ereignisse
in Tschetschenien erfolgte am 7. November 1991 in Form eines Dekrets über die "Einführung des
Ausnahmezustandes in der Republik Tschetschenien"64, das der Oberste Sowjet der RSFSR
allerdings nicht bestätigte 65. Dudajew erklärte Jelzins Dekret umgehend für ungesetzlich und
forderte den russischen Präsidenten auf, "innerhalb von 24 Stunden alle bewaffneten Einheiten
vom Territorium der souveränen Tschetschenischen Republik abzuziehen". 66
Formal war der Austritt Tschetscheniens aus der RSFSR aus Moskauer Sicht nicht rechtsgültig,
denn das Föderationsrecht der Verfassung von 1978 erlaubte den Austritt Autonomer Republiken
nicht. Über dieses Recht verfügten lediglich Unionsrepubliken. 67 Der stellvertretende Vorsitzende
des Obersten Sowjets der RSFSR wies Dudajew am 19. Dezember 1991 in einem Brief noch
einmal darauf hin, die Lösung des Problems könne nur durch friedliche politische Mittel erfolgen,
es müssten "unverzügliche Gespräche" aufgenommen werden. 68 Doch der Konflikt mit Moskau
war nicht mehr friedlich zu lösen. Anfang Februar wurde in Tschetschenien eine russische
Militärsiedlung zerstört, eine Serie von Überfällen auf die dort stationierten russischen ArmeeEinheiten folgte. Waffen, Munition und Kriegsgerät wurden gestohlen. Die Angehörigen der
russischen Soldaten verließen die Republik; zehn Menschen kamen ums Leben, 14 wurden
verletzt. 69
Parallel zu diesen Ereignissen sah sich Dudajew wachsender innertschetschenischer Kritik
gege nüber. Anfang März besetzten bewaffnete Dudajew-Gegner die Gebäude von Fernsehen und
Radio und forderten den Rücktritt Dudajews, die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen.
Dudajew selbst wertete dies als Umsturzversuch und forderte, die Schuldigen zur Verantwortung
zu ziehen.
Am 26. Mai 1992 begannen auf tschetschenische Initiative Gespräche von Dudajew-Anhängern
mit russischen Vertretern, um zu gegenseitig akzeptablen, umfassenden Verhandlungen für die
Regelung der tschetschenisch-russischen Beziehungen und über den Status Tschetscheniens zu
kommen. Doch die Positionen beider Seiten blieben starr und ließen sich auf keinen gemeinsamen
62
Nach Angaben des zentralen tschetschenischen Wahlkomitees nahmen 72 Prozent der Wahlberechtigten ihr
Recht auf Stimmabgabe wahr; für Dudajew stimmten 91,1 Prozent. Ibid., S.12.
63
Postanovlenie S’’ezda narodnych deputatov RSFSR: O priznanii nezakonnymi vyborov, provedennych 27
oktjabrja 1991 goda v Èeèeno-Ingušskoj Respublike, in: ibid., S. 24.
64
Ukaz Prezidenta RSFSR: O vvedenii èrezvyèajnogo položenija v Èeèeno-Ingušskoj Respublike, in: ibid., S. 29 ff.
65
Postanovlenie Verchovnogo Soveta RSFSR ob ukaze Prezidenta RSFSR ot 7 nojabrja 1991 g., 11. November
1991, in: ibid., S. 33.
66
Postanovlenie Parlamenta ÈR: O nezakonnosti ukaza Prezidenta RSFSR o vvedenii èrezvyèajnogo položenija na
territorii ÈR, in: ibid., S. 31 f.
67
Vgl. Dieter Heinzig: Hat sich Tschetschenien 1991 rechtswirksam von Russland losgetrennt? Aktuelle Analysen
des BIOst, Nr. 5, 1995, S. 5 und Kapitel 4.1.1 dieser Untersuchung.
68
Brief Nr. 2.4-32 vom 19. Dezember 1991, in: Rossija i Èeènja, S. 37.
69
Ibid., S. 40.
23
Nenner bringen. Moskau forderte weiterhin eine Eingliederung, Tschetschenien proklamierte
seine staatliche Unabhängigkeit. Dies bedeutete nicht nur eine Zuspitzung des Konflikts mit
Moskau, sondern hatte auch die Abspaltung des inguschischen Teils von der Republik zur Folge,
die am 4. Juni 1992 vertraglich fixiert wurde.
3.1.1.4
Scheiternde Verhandlungen
Moskau versuchte zunächst, das Dudajew-Regime zu destabilisieren bzw. zu stürzen, in der
Hoffnung, auf diesem Weg das widerspenstige Tschetschenien zurück in die Föderation zu
zwingen. Seit Mitte des Jahres 1992 hatten russische Stellen mindestens vier "verdeckte
Operationen" zu diesem Zweck in Tschetschenien initiiert. Dazu gehörte unter anderem eine
organisierte Massenflucht von Kriminellen aus tschetschenischen Gefängnissen. Diese Aktionen
brachten wenig Erfolg, stärkten aber statt dessen die Auffassung des Verteidigungsministeriums,
dass eine militärische Intervention die einzige Möglichkeit sei, den Verbleib der Republik in der
RF zu garantieren. 70 Moskau versuchte in der Folge trotzdem, durch eine Wirtschaftsblockade
Einfluss auf die Dudajew-Führung zu gewinnen, sperrte die Straßen und zivilen Luftwege nach
Tschetschenien, fror tschetschenische Gelder in russischen Banken ein und lieferte keine
Industrie-Ersatzteile mehr nach Grosny.
Am 10. November verkündete Dschochar Dudajew den Ausnahmezustand, nachdem Truppen der
RF sich im Konflikt zwischen Osseten und Inguschen um Prigorodny einmischten, und kündigte
die Mobilmachung der Landesverteidigung an. 71 Präsident Jelzin und der Vorsitzende des
Obersten Sowjets, Ruslan Chasbulatow, mahnten die Föderationssubjekte tags darauf ausdrücklich, den Prinzipien der Verfassung der RF und des Föderationsvertrags unbedingt Folge zu
leisten. 72
Anfang des Jahres 1993 schien sich allerdings tatsächlich ein Einlenken der Dudajew-Führung
abzuzeichnen. Der Vorsitzende des Nationalitätenrats des Obersten Sowjets der RF Ramasan
Abdulatipow, der stellvertretende Ministerratsvorsitzende Schachrai und der Vertreter des
Staatlichen russischen Nationalitätenkomitees Schujkow kamen am 14. Januar 1993 mit dem
tschetschenischen Parlamentsvorsitzenden Achmadow, dessen erstem Stellvertreter Meschikow,
dem Vorsitzenden des Komitees für Auslandsangelegenheiten Soslambekow und dem Vertreter
der Tschetschenischen Republik in Moskau Jusupow zusammen. Man betonte die unbedingte
"Notwendigkeit einer Normalisierung der Beziehungen" zur Erhaltung "eines Wirtschafts-,
Verteidigungs-, Informations- und Kulturraums" und bekannte sich zur Verpflichtung
gemeinsamer Anstrengungen im Kampf gegen das Verbrechen. Man wollte sich ausschließlich
friedlich und mit politischen Mitteln einigen. Beide Seiten sollten Arbeitsgruppen gründen, die bis
Ende Januar 1993 gemeinsam nach Lösungen suchen sollten. 73 Etwa zeitgleich wurde in Grosny
eine neue Offiziersschule der Tschetschenischen Streitkräfte eröffnet. 74
Schon am 19. Januar schlug die tschetschenische Führung vor, das Projekt eines Vertrags über die
Situation der Anerkennung Tschetscheniens als Subjekt des Völkerrechts und die Gewährung
seiner Souveränität aufzunehmen. Die Dudajew-Opposition sprach sich ab Februar dafür aus, ein
Programm zum Ausweg aus der politischen und wirtschaftlichen Krise anzunehmen und mittels
70
Babst, Krieg in Tschetschenien, S. 6 f.
71
Ukaz Prezidenta ÈR ob obrazovanii edinoj gosudarstvennoj mobilizacionnoj sistemy oborony, in: Rossija i
Èeènja, S. 48.
72
Zajavlenie Prezidenta RF, S’’ezda narodnych deputatov RF, 11. Dezember 1992, in: ibid., S. 50.
73
Protokol o rezul’tatach vstreèi delegacii RF i ÈR v g. Groznom, 14. Januar 1993, in: ibid., S. 52 f.
74
Itar-Tass, 14. Januar 1993.
24
eines Referendums die Form der Beziehung zu Russland festzustellen. 75 Mehr und mehr spitzte
sich die Situation zu. Die bilateralen Verhandlungen hatten keine weiteren Fortschritte gebracht;
in Grosny kam es zum Machtkampf zwischen Dudajew und dem von Moskau unterstützten
Parlament. In den folgenden Wochen gab es Demonstrationen und Veranstaltungen der DudajewGegner; das Parlament gründete eine Gegenregierung. Ende Mai wertete das Tschetschenische
Verfassungsgericht Dudajews Erklärung vom 19. Februar über eine neue Verfassung und die
Einführung einer präsidialen Republik als ungesetzlich. 76
Auf Befehl Dudajews stürmten seine bewaffneten Anhänger Anfang Juni das Gebäude, in dem
das Parlament sich aufhielt. Dabei kamen etwa 50 Menschen ums Leben. Das vom Parlament
geplante Referendum über das Vertrauen zu Präsident und Parlament fand nur im Terek-Bezirk
statt, wo 98 Prozent der Abstimmenden ihr Misstrauen gegenüber Dudajew äußerten. Der TerekBezirk erklärte seine Abspaltung von Tschetschenien. Am 17. Juni verlautete aus dem Nationalitätenrat des Obersten Sowjets der RF, es müssten notwendige Schritte zur Normalisie rung
der Lage in Tschetschenien, welche die Rechte und Freiheiten der Menschen verteidigen,
ergriffen werden.
Die tschetschenische Führung lehnte ab, an den Wahlen zur russischen Duma am 13. Oktober
teilzunehmen; ebenso erfolgte die Abstimmung über das Projekt einer neuen russischen
Verfassung, die am 12. Dezember 1993 angenommen wurde, ohne sie. In Artikel 65 der
Verfassung von 1993 sind die Subjekte der RF aufgelistet - unter ihnen auch Tschetschenien.
Ungeachtet dessen erklärte am 2. November 1993 das tschetschenische Außenministerium,
Tschetschenien habe "vom Standpunkt des Völkerrechts weder in den beiden letzten Jahren noch
früher zu Russland gehört". Am 16. Dezember 1993 verfügte der russische Präsident die
Schließung der Grenzen zur TschR und die Unterkontrollnahme aller durch Tschetschenien
führenden Eisenbahnlinien. 77
Dennoch hofften auch in Moskau viele auf eine politische Lösung. Der Präsident der Russischen
Föderalversammlung erklärte im Januar 1994, Grundlage für eine Regulierung der Beziehungen
Tschetscheniens zum Zentrum müssten freie demokratische Wahlen und Gespräche über die
Begrenzung der Machtbefugnisse sein. Allerdings wollte der Kreml nicht länger mit Dudajew
verha ndeln: Die russische Duma beschloss am 25. März, die Möglichkeit direkter Gespräche mit
Dudajew auszuschließen; für eine vertragliche Regelung forderte man Neuwahlen der
Machtorgane, sowohl innerhalb der Republik als auch ins russische Parlament, unter
internationaler Aufsicht. 78 Der russische Präsident schlug Anfang April erneut Konsultationen mit
den tschetschenischen Machtorganen und Vertretern der dortigen politischen Bewegungen vor,
um zu einer vertraglichen Regelung über die (Einschränkung der) Kompetenzen der
tschetschenischen Führung zu kommen. An die Spitze einer entsprechenden russischen Delegation setzte Jelzin Sergei Schachrai. 79
3.1.1.5
Wachsende Gewaltbereitschaft
75
Rossija i Èeènja, S. 51.
76
Interessante Anmerkungen zur politischen Situation in Tschetschenien im Frühjahr 1993 liefert aus westlicher
Warte Reiner Luyken: Auf dem Platz der Freiheit, in: Die Zeit, 7. Mai 1993.
77
Vgl. die Zeittafeln in Rossija i Èeènja und bei Swetlana Tscherwonnaja: Die Ethnopolitik Russlands im
Nordkaukasus und der Tschetschenienkrieg, in: Andreas Kappeler (Hg.): Regionalismus und Nationalismus in
Russland. Baden-Baden 1996, S. 145 - 162 (158 f.).
78
O politièeskom uregulirovanii otnošenii federal’nych organov gosudarstvennoj vlasti s organami vlasti ÈR, vgl.
Rossija i Èeènja, S. 60.
79
Ibid.
25
Im Verlauf des Sommers wuchs die Zahl der Auseinandersetzungen zwischen der DudajewFührung und deren Gegnern, die sich u.a. um Ruslan Labasanow scharten, einen früheren
Leibwächter Dudajews und nach einem Akt der Blutrache dessen Todfeind. Kämpfe und Gefechte
forderten Tote und Verletzte. 80 Anfang Juni bildete sich ein - ebenfalls in Opposition zu Dudajew
stehender - Provisorischer Oberster Sowjet unter Vorsitz von Umar Awturchanow, der in
Snamenskoje, in Urus-Martan und in Tolstoj-Jurt tagte und schnell auf Konfrontation ging.
Awturchanow rief Anfang August Moskau um Hilfe und bat darum, als einziges legitimes
Machtorgan Tschetscheniens betrachtet zu werden. 81
In Russland hatte man dafür ein offenes Ohr: Die Entführung eines mit 36 Passagieren besetzten
Busses in Mineralnye Wody durch tschetschenische Terroristen endete blutig, als russische
Spezialeinheiten den Bus stürmten. Die Verantwortung sah man bei der tschetschenischen Führung, die den Russen untersagt hatte, ohne schriftliche Erlaubnis über ihr Gebiet zu fliegen. So
konnte der Bus erst in Russland gestürmt werden. 82 Nach diesem Zwischenfall kam prompt Hilfe
für den Provisorischen Anti-Dudajew-Rat. Die RF erkannte den Provisorischen Rat de facto an,
sandte ihm 150 Mrd. Rubel und sicherte militärische Hilfe im Kampf gegen Dudajew zu. 83 Der
militärische Gürtel um die abtrünnigen Tschetschenen zog sich enger; Boris Jelzin erklärte in
einem Fernsehinterview am 11. August 1994: "Wir wollen keinen Aufstand im Kaukasus."84
Im Westen herrschte Verwirrung über den vermeintlichen Machtwechsel in Tschetschenien:
Während Itar-Tass meldete, ein oppositioneller Rat unter Führung Awturchanows habe die Macht
in Grosny übernommen, dementierte der tschetschenische Informationsminister Mowladi Udugow
dies vehement. Der Generalstaatsanwalt, hieß es, habe einen Haftbefehl und ein
Auslieferungsersuchen gegen Awturchanow erlassen. Dudajew arbeite weiterhin als Präsident und
befinde sich in seinem Büro. 85 Zwei Tage später gab dieser Korrespondenten der französischen
Presseagentur AFP ein Interview in Grosny und klagte, Russland würde auf sein Angebot, die
Krise zu lösen, nicht eingehen. Eine "Invasion" der Russen würde er allerdings als
"Kriegserklärung" werten. 86 Am 22. August reiste Ruslan Chasbulatow nach Grosny und
überbrachte Dudajew das letzte russische Ultimatum, in dem es hieß, dass er bis zum 25. August
zurücktreten solle. 87 Chasbulatow hatte wenige Tage zuvor den Vorsitz des Parlamentarischen
Rates übernommen und wurde zum Hauptge gner Dudajews.
Währenddessen formierten sich die innertschetschenischen Gegner auch militärisch. Mitte August
wurde Beslan Gantemirow Oberbefehlshaber der vereinten oppositionellen Kräfte, die
Auseinandersetzungen entwickelten sich im Verlauf der nächsten Wochen zum Bürgerkrieg. Es
kam zu Kämpfen im Gebiet von Urus-Martan, wo Gantemirow sein Hauptquartier hatte. Ungeachtet dessen war ein gewisser Solidarisierungseffekt der tschetschenischen Sippen mit
Dudajew erkennbar, als in Moskau die Pressekampagne gegen die abtrünnigen Tschetschenen,
denen eine Vielzahl krimineller Machenschaften zugeschrieben wird, sich verschärfte. 88 Die AntiDudajew-Bewegung scharte sich um Labasanow, Gantemirow, Obduchanow und Chasbulatow.
Sie erhielten Unterstützung aus Russland. Ende September beschossen bewaffnete Kräfte des
80
AP, 20. Juli 1994.
81
Rossija i Èeènja, S. 60.
82
AP, 28. Juli 1994.
83
Rossija i Èeènja, S. 60.
84
Zit. nach der Fernseh-Reportage von Sonia Mikich/Jörg Hafkemeyer: Zar Boris und die Brandstifter. WDR 1996.
85
AFP, 2. August 1994.
86
AFP, 4. August 1994.
87
Rossija i Èeènja, S. 61.
88
Hierauf verweist - ohne Angaben von Quellen - Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien.
26
Provisorischen Rates mit russischer Unterstützung den Flughafen von Grosny. Die Truppen des
Provisorischen Rates unter Awturchanow versuchen Ende November, unterstützt von russischen
Panzern, den Sturm auf Grosny, der jedoch sche iterte. Unter den Gefangenen waren junge
Soldaten aus Russland, um deren Freilassung sich Deputierte der russischen Duma bemühten.
Dudajew ließ sie Anfang Dezember frei.
3.1.2
Eskalation im Dezember 1994
Der russische Präsident forderte am 29. November alle Beteiligten des bewaffneten Kampfes in
Tschetschenien auf, innerhalb von 48 Stunden die Waffen niederzulegen und alle bewaffneten
Gruppierungen aufzulösen. Einen Tag später unterzeichnete Jelzin das Dekret Nr. 2137 "Über
Maßnahmen zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Gesetzlichkeit und Rechtsordnung
auf dem Territorium der Tschetschenischen Republik". Anschließend schickte er Nikolai Jegorow
als bevollmächtigten Vertreter des Präsidenten nach Tschetschenien. Er sollte die Koordination
aller Machtorgane für die Neuetablierung einer rechtsstaatlichen Ordnung in Tschetschenien
übernehmen. Eine Tschetschenien-Kommission, zu der neben Jegorow, Wiktor Jerin, Pawel
Gratschow, Sergei Stepaschin, Anatoli Kulikow und Sergei Juschenkow gehörten, sollte
erarbeiten, wie die bewaffneten Gruppierungen zu zerschlagen wären. 89
Wenige Tage später, am 9. Dezember, erließ Jelzin das Dekret Nr. 2166 "Über Maßnahmen zur
Unterbindung der Tätigkeit illegaler bewaffneter Verbände auf dem Territorium der Republik
Tschetschenien und in der Zone des Konflikts des ossetisch-inguschetischen Konflikts"90. Das
Dekret verweist auf die Verletzung von Art. 13 Abs. 5 der russischen Verfassung 91 durch die
tschetschenischen Gruppierungen. Unter Verweis auf Art. 80, gemäß dem der russische Präsident
Garant der Verfassung ist, beauftragte er die Regierung, Maßnahmen zu ergreifen, um die Art.
114 d92 und e 93 durchzusetzen.
Am gleichen Tag folgte außerdem die Regierungsverordnung Nr. 1360 "Über die Garantie der
staatlichen Sicherheit und territorialen Integrität Russlands, die Gesetzlichkeit des Rechts und die
Freiheit der Bürger, die Entwaffnung der ungesetzlichen bewaffneten Gruppierungen auf
tschetschenischem Territorium und den angrenzenden Regionen Nordkaukasiens"94. Verteidigungs- und Innenministerium sollten u.a. für die Entwaffnung der bewaffneten tschetschenischen
Gruppierungen sorgen und deren Luftwaffe, Panzertechnik und Artillerie zerstören. Gleichzeitig
sollten das Land und alle Straßen abgeriegelt bzw. die Durchfahrt(swege) kontrolliert werden.
Diese Verordnung bildete gemeinsam mit dem Dekret Jelzins vom gleichen Tag die Grundlage
für den Einsatz der Streitkräfte in Tschetschenien. Dem russischen Gesundheitsministerium
89
Rossija i Èeènja, S. 61.
90
Ibid., S. 78.
91
"Verboten sind die Bildung und Tätigkeit gesellschaftlicher Vereinigungen, deren Ziele oder Handlungen auf
eine gewaltsame Änderung der Grundlagen der Verfassungsordnung und eine Verletzung der Integrität der RF,
eine Untergrabung der Sicherheit des Staates, die Bildung von bewaffneten Formationen, das Entfachen sozialer,
rassischer, nationaler und religiöser Zwietracht abzielen." Verfassung der RF (Konstitucija Rossijskoj Federacii),
angenommen durch Volksentscheid vom 12. Dezember 1993.
92
"Die Regierung der RF (...) trifft Maßnahmen, um die Verteidigung des Landes und die Sicherheit des Staates zu
gewährleisten und die Außenpolitik der RF zu verwirklichen; (...)".
93
"Die Regierung der RF (...) trifft Maßnahmen, um Recht und Gesetz sowie die Rechte und Freiheiten der Bürger
zu gewährleisten, das Eigentum zu schützen, die öffentliche Ordnung zu wahren und die Kriminalität zu
bekämpfen; (...)".
94
Dekret in: Rossija i Èeènja, S. 78 ff.
27
wurden von der Regierung für die medizinische Grundversorgung tschetschenischer Flüchtlinge
30 Mrd. Rubel aus dem föderalen Budget zur Verfügung gestellt. 95
Dudajews Ankündigung am Tag darauf, er sei zu freien Wahlen innerhalb eines Monats bereit,
wenn Russland und die Weltgemeinschaft die Unabhängigkeit Tschetscheniens akzeptierten, kam
zu spät. Am 11. Dezember unterzeichnete Jelzin das Dekret zur "Entwaffnung ungesetzlicher
bewaffneter Formationen und die Wiederherstellung der Gesetzlichkeit in Tschetschenien". Letzte
Gespräche zwischen Vertretern der russischen Regierung und Abgesandten Dudajews über eine
freiwillige Entwaffnung scheiterten an den gegenseitigen Vorbedingungen. Aus Westen, Norden
und Osten bewegten sich Einheiten der russischen Armee und des Innenministeriums, insgesamt
40.000 Soldaten, auf Grosny zu. Das russische Verteidigungsministerium ging zu diesem
Zeitpunkt von 13.000 in Tschetschenien verstreuten bewaffneten Anhängern Dudajews aus. 96 Der
Einmarsch der russischen Truppen in Tschetschenien war die größte Militäraktion im gesamten
postsowjetischen Raum, nachdem nur fünf Jahre zuvor der Afghanistan-Krieg mit dem Abzug der
40. Armee endgültig beendet worden war. 97
Anfang Januar begann in Grosny der Häuserkampf. Etwa 400.000 Menschen flohen aus der Stadt
in Richtung Süden. Die tschetschenischen Kämpfer setzten sich nach Süden, in die ersten, rund 35
Kilometer entfernten Berge des Kaukasus ab; außerdem zogen sie nach Osten, in Richtung
Gudermes und Argun, wo Dudajew sein Hauptquartier aufschlug. Die Russen, obwohl
waffentechnisch überlegen, waren jedoch nicht in der Lage, dies zu verhindern. Anfang Februar
begannen russische Luftangriffe auf Argun und Schali und auf Dörfer, in denen Anhänger
Dudajews vermutet wurden. Erst am 9. Februar brachten die russischen Truppen Grosny offiziell
endgültig unter ihre Kontrolle. Ungeachtet dessen wurden russische Soldaten in Grosny noch im
März von Heckenschützen beschossen. Der damalige tschetschenische Stabschef Aslan
Maschadow gab bekannt, dass die Dudajew-Einheiten im ganzen Land einen Guerilla-Krieg nach
dem Vorbild Afghanistans beginnen würden, der zehn bis zwölf Jahre dauern werde. 98 Parallelen
zur Situation im Januar 2000 sind unübersehbar.
Am 18. Februar 1995 begann eine russische Großoffensive in südöstliche Richtung. Die russischen Truppen eroberten die Ebene mit allen größeren Städten und Ortschaften: am 23. März fiel
Argun, am 30. März Gudermes und am 31. März Schali. Jelzin setzte Ende März 1995 in
Tschetschenien ein Komitee der nationalen Einheit unter Umar Awturchanow ein, das aus 45
Mitgliedern bestehen und eine neue Verfassung erarbeiten sollte. 99 Anfang März versorgte das
Internationale Rote Kreuz in einem seiner größten Einsätze von Nasran (Inguschetien) und
Chasawjurt (Dagestan) 460.000 tschetschenische Flüchtlinge mit Hilfsgütern. Von der russischen
Regierung wurde am 7. April garantiert, eine freie Tätigkeit des IKRK zu unterstützen. 100 Das
Gesprächsangebot von Maschadow über einen Waffenstillstand lehnte der russische
Oberkommandierende Kulikow ab - man werde einem Treffen nur zustimmen, wenn der
Gegenstand der Gespräche die vollständige Abgabe der Waffen und die Auflösung der illegalen
bewaffneten Gruppierungen sei. 101
95
Rasporjaženie Pravitel’stva RF Nr. 1983-r ot 23 dekabrja 1994 g., in: ibid., S. 83.
96
FAZ, 16. Dezember 1994; Krasnaja Zvezda, 10. Januar 1995.
97
Siehe hierzu auch Kapitel 4.3 dieser Untersuchung.
98
Zeittafeln für die Ereignisse des Jahres 1995 bieten Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien, S. 50 ff., 64
ff., 79 ff., Rossija i Èeènja, S. 85 ff.
99
Dekret Nr. 309: O vremennych organov gosudarstvennoj vlasti v ÈR, 23. März 1995, in: Rossija i Èeènja, S. 106
f.
100
Rasporjaženie Pravitel’stva RF Nr. 473-r: Ob obespeèenii dejatel’nosti delegacii Meždunarodnogo Komiteta
Krasnogo Kresta, in: ibid., S. 107 f.
101
Rossija i Èeènja, S. 86.
28
Am 7./8. April fiel Samaschki; mit dem etwa 50 Kilometer südwestlich von Grosny gelegenen Ort
Bamut folgte nach drei Monaten harter Kämpfe am 19. April eines der wichtigsten Kampfziele
des russischen Oberkommandos. Die tschetschenischen Kämpfer verloren die meisten ihrer
schweren Waffen, viele kamen ums Leben. Die anderen zogen sich in die Berge zurück und
kämpften (wie jetzt auch) in Guerilla-Taktik weiter. Vermutlich waren die tschetschenischen
Einheiten den russischen Truppen im Gebirgskampf überlegen, wenngleich Beobachter darauf
hingewiesen haben, dass der Afghanistan-Krieg im Hinblick auf diese Art der Gefechtsführung ab
1990 Folgen für die Ausbildung der ordentlichen Truppen der UdSSR hatte.102
Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin bot Vertretern der Tschetschenen am 21. April Verhandlungen über eine Feuereinstellung ohne Vorbedingungen an und sicherte Kämpfern, die ihre
Waffen abgäben, Straffreiheit zu. Drei Tage später, am 24. April, vereinigten sich die DudajewGegner der Jahre 1991-1994 um Gantemirow in der Bewegung der "Kämfper für die
Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Gesetzlichkeit in der Tschetschenischen Republik". 103
Doch ungeachtet dessen und trotz der von Jelzin im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag
des Sieges über Hitler-Deutschland angekündigten Waffenruhe vom 28. April bis 12. Mai104
gingen die Kämpfe weiter. Nachdem Jelzin am 9. Mai das Ende des Kriegs verkündete, kündigte
Michail Jegorow, stellvertretender Innenminister, nur zwei Tage später die Wiederaufnahme der
Kampfhandlungen an. Am 5. Juni eroberten die Russen das ca. 100 Kilometer südöstlich von
Grosny gelegene Wedeno, am 12. Juni Schatoj und Noschaj-Jurt. Bis zum 13. Juni flogen
russische Flugzeuge Angriffe auf Bergdörfer im Süden Tschetscheniens; die Bevölkerung sollte
die Gebiete durch Sicherheitskorridore verlassen, viele starben. Auf beiden Seiten nahm die Härte
der Kriegführung zu. 105
Bis Mitte Juni blieben die Russen auf dem Vormarsch - dann veränderte sich die Situation. Es
kam zu einer qualitativen Wende im Krieg, als die tschetschenischen Kämpfer den Krieg nach
Russland hineintrugen. Schamil Bassajew, ehemaliger Leibwächter von Dudajew und nach
Maschadow der wichtigste Feldkommandant106, überfiel mit etwa 100 Gefolgsmännern - trotz
abgeriegelter Grenzen - mehrere Verwaltungsgebäude in der südrussischen Stadt Budjonnowsk
und verschanzte sich im dortigen Krankenhaus. Die Kämpfer nahmen 1000 Menschen als Geiseln
und nannten ihre ultimativen Forderungen: Ende der Bombenangriffe und direkte Verhandlungen
mit Dudajew. Dramatische Aktionen beider Seiten, bei denen viele Menschen ums Leben kamen,
folgten. Die vom russischen Innenministerium entsandte Spezialtruppe OMON scheiterte mit
zwei Befreiungsversuchen; erst Ministerpräsident Tschernomyrdin gelang es, im direkten
Telefongespräch mit Bassajew ein Ende der Geiselnahme auszuhandeln. Die Russen stellten am
Abend des 18. Juni das Feuer ein; die Tschetschenen ließen ihre Geiseln in mehreren Etappen frei.
Mit den letzten (freiwilligen Geiseln) fuhren sie in einem Bus zurück auf tschetschenisches
Gebiet, wo sie am 20. Juni in die Berge entkommen konnten. 123 Menschen wurden im Kontext
der Geiselnahme von Budjonnowsk getötet, mehr als 400 verletzt. Die meisten von ihnen waren
Budjonnowsker Bürger. In Moskau hatten diese Ereignisse eine Regierungskrise zur Folge. 107
102
Pierre Allan/Dieter Kläy: Zwischen Bürokratie und Ideologie. Entscheidungsfindungsprozesse in Moskaus
Afghanistankonflikt. Bern et al.1999, S. 485.
103
Rossija i Èeènja, S. 86.
104
Ukaz Prezidenta RF O dopolnitel’nych meroprijatijach po normalizacii obstanovki v ÈR, in: ibid.,
S. 108 f.
105
Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien, S. 63.
106
Seine Frau und seine sechs Kinder starben bei russischen Bombenangriffen.
107
Innenminister Wiktor Jerin, Nationalitätenminister Nikolai Jegorow und Geheimdienstchef Sergei Stepaschin
traten zurück; das Rücktrittsangebot von Verteidigungsminister Gratschow nahm Jelzin nicht an. Die Duma
forderte in einer Entschließung am 21. Juni den Rücktritt des Kabinetts wegen dessen Versagens bei der
29
Parallel dazu begannen in Grosny Friedensverhandlungen zwischen beiden Seiten, die nicht von
allen mitgetragen wurden. Immer wieder kam es zu Luftangriffen der Russen (unter Ägide
Gratschows) und neuen Anschlagsdrohungen der Tschetschenen (v.a. Bassajews). Trotzdem
gelang am 30. Juli in Grosny mit Vermittlung der OSZE die Unterzeichnung eines Militärabkommens, bei der die tschetschenische Delegation unter Maschadow die Stationierung von zwei
motorisierten Schützenbrigaden in Grosny und einem Verzicht auf volle Souveränität zustimmte.
Zudem vereinbarte man eine Truppenentflechtung, den Austausch von Gefangenen und
Straffreiheit, aber gleichzeitig auch die Entwaffnung der tschetschenischen Kämpfer und den
weitgehenden Abzug der russischen Truppen, der am 10. August beginnen sollte.
Über den endgültigen Status Tschetscheniens wollte man nach freien Wahlen entscheiden. Erneut
zeichneten sich die herrschenden Clan-Rivalitäten ab: Dschochar Dudajew lehnte das Abkommen
zunächst ab, unterstützte es dann bis Ende des Jahres Maschadow und stellte sich anschließend
wieder dagegen. Insgesamt hatten die einzelnen tschetschenischen Feldkommandanten sehr
unterschie dliche Auffassungen über die getroffenen bzw. zu treffenden Vereinbarungen. Auch die
russische Verhandlungsdelegation unter Leitung von Nationalitätenminister Wjatscheslaw
Michailow änderte ihre Position mehrfach: so wollte man Dudajew zunächst an Wahlen
beteiligen, lehnte dies aber bald wieder ab.
Am 7. August machte Präsident Jelzin den Termin für freie Wahlen in Tschetschenien von der
endgültigen Übergabe aller Waffen der Dudajew-Kämpfer abhängig. Aslan Maschadow verbürgte
sich persönlich für die Umsetzung des Abkommens und die Übergabe der Waffen - auch gegen
den Willen Dudajews. Allmählich begann der Austausch von Gefangenen, die Tschetschenen
übergaben unter militärischer Aufsicht beider Seiten Waffen. Völlige Ruhe kehrte in
Tschetschenien jedoch den ganzen Sommer über nicht ein, wenn auch viele Menschen in ihre
Städte, v.a. nach Grosny, zurückkehrten und versuchten, den Alltag wiederherzustellen. Am 21.
August kam es in Argun zu einer erneuten heftigen militärischen Auseinandersetzung, als sich
dort 250 Dudajew-Kämpfer verschanzten und vier Polizisten als Geiseln nahmen. Einen Monat
später entkam der Koordinator der russischen Tschetschenien-Politik, Oleg Lobow, ebenso wie
Anfang Oktober General Romanow, Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in
Tschetschenien, nur knapp einem Attentat. Am 4. Deze mber kam es zu einem
Sprengstoffanschlag auf die mostkautreue Gegenregierung in Grosny. Immer wieder gab es
russische Luftangriffe; außerdem wandelten die Russen den angekündigten Truppenabzug nur in
eine Umgruppierung der Truppen um. So lud sich die Situation im Verlauf des Herbstes 1995
wieder mehr und mehr auf. General Romanow und Stabschef Maschadow sahen sich neuen
Kriegsforderungen in ihren jeweiligen Lagern gegenüber. 108
Am 8. Dezember 1995 unterzeichnete der russische Ministerpräsident Tschernomyrdin ein
Abkommen über den Status von Tschetschenien mit der von russischer Seite dort eingesetzten
Regierung Sawgajews. Tschetschenien sollte Autonomie in den Bereichen Wirtschaft und Kultur
bekommen. Parallel zu den Duma-Wahlen wurden in Tschetschenien am 17. Dezember 1995
Präsidentenwahlen abgehalten, bei denen Ruslan Chasbulatow (der bald zurücktrat) und Doku
Sawgajew kandidierten. Beobachter werteten den Wahlsieg Sawgajews, der nach russischen
Angaben 65 Prozent der Wählerstimmen erhalten hatte, als nicht regulär. 109 Die DudajewGeiselnahme, woraufhin die Regierung am 1. Juli die Vertrauensfrage stellte. Zur Durchsetzung eines
Misstrauensvotums wären 226 Stimmen notwendig gewesen, allerdings stimmten nur 193 Abgeordnete gegen die
Regierung, 116 für sie. Die Fraktionen von JaBLoko und Wahl Russlands stellten sich - anders als die
Kommunisten - auf die Seite Jelzins.
108
Romanow erklärte Anfang August, es gebe "sowohl auf tschetschenischer als auch auf russischer Seite Kräfte, die
den Frieden nicht wollen". Zit. nach NZZ, 9. August 1995.
109
NZZ, 27. Dezember 1995.
30
Anhänger boykottierten die Wahlen erwartungsgemäß. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten sich
die tschetschenischen Feldkommandanten ebenso wie der russische Verteidigungsminister
Gratschow wieder auf eine militärische Konfliktlösung zurückorientiert. Am 20. Dezember 1995
begann eine russische Offensive auf die zweit größte tschetschenische Stadt Gudermes, bei der die
meisten Menschen seit dem Militärabkommen vom Juli starben. Fünf Tage später verließen die
OSZE-Vertreter Tschetschenien. Moskau lehnte weitere Gespräche mit Dudajew ab und übertrug
die Verhandlungen Doku Sawgajew. Innerhalb eines Jahres, zwischen Dezember 1994 und 1995,
waren bei den Auseinandersetzungen insgesamt etwa 50.000 Menschen getötet worden. 110
110
AFP, dpa, 12. Dezember 1995.
31
3.1.3
Die Vertagung der Problemlösung
Auch zu Beginn des Jahres 1996 zeichnete sich kein Ende des Krieges ab. Dschochar Dudajew
kündigte bei einem aus dem Untergrund geführten Interview an, man wolle den Krieg "so lange
wie möglich fortsetzen" und prophezeite, es würden "Tausende von Särgen nach Russland
kommen". 111 Die Gewaltspirale drehte sich weiter. Am 9. Januar 1996 überfiel eine Gruppe von
einigen hundert Kämpfern112 unter der Führung von Salman Radujew, Schwiegersohn Dudajews,
die dagestanische Stadt Kisljar, wo sie nach dem Vorbild der Budjonnowsk-Aktion ein
Krankenhaus besetzten und die Menschen darin als Geiseln nahmen. Der Unterschied zur Aktion
Bassajews ein halbes Jahr zuvor war nur, dass die Geiseln diesmal keine Russen, sondern
vorwiegend Kaukasier waren. Ansonsten lautete die Forderung Radujews ebenso auf Abzug der
russischen Truppen aus Tschetschenien. Einmal mehr hatten die tschetschenischen Kämpfer die
russischen Kontrollpunkte und Grenztruppen unbemerkt bzw. unbehelligt passiert. Für Moskau
war die Situation klar: am 10. Januar erhielten die russischen Truppen den Befehl zur
"Vernichtung der Terror isten" um jeden Preis.113
Im Kreml war es zu einer Sondersitzung gekommen, an der neben Ministerpräsident
Tschernomyrdin Verteidigungsminister Gratschow, Innenminister Kulikow, Nationalitätenminister Michailow, der Sekretär des Sicherheitsrates und Tschetschenien-Beauftragte Oleg Lobow
sowie der Chef des föderalen Sicherheitsdienstes FSB Michail Barsukow und der Chef der
Grenztruppen Andrei Nikolajew teilnahmen. Nach Angaben des präsidialen Pressedienstes sah
der Präsident die Schuld für die Ereignisse in Kisljar bei der Leitung der Grenz- und Innenministeriumstruppen. 114
Jelzin beauftragte Barsukow mit der Befreiung der Geiseln. Radujew verließ Kisljar mit 165 meist
freiwilligen Geiseln in elf Bussen und mehreren Lkws in Richtung tschetschenischer Grenze.
Russische Truppen stoppten den Konvoi beim Grenzort Perwomajskoje, schwere Artillerie und
Kampfpanzer waren in Stellung. Radujew, der schließlich mit dem russischen Ministerpräsidenten
Tschernomyrdin verhandelte, bot den sofortigen Austausch seiner 116 Geiseln (unter ihnen 30
russische Milizionäre) gegen Duma-Abgeordnete oder den moskautreuen tschetschenischen
Regierungschef Sawgajew an. Jelzin lehnte ab, obwohl sich sowohl die von Radujew
vorgeschlagenen Abgeordneten Grigori Jawlinski und Jegor Gaidar sowie der
Menschenrechtsbeauftragte Sergei Kowaljow zur Verfügung stellten. Am 15. Januar meldete der
russische Geheimdienst, Radujew habe alle Geiseln töten lassen. Aus anderen Quellen tauchten
ähnliche Meldungen auf, die allerdings von Radujew immer bestritten wurden. Für die russischen
Truppen reichten diese Indizien jedoch aus, die Geiselnehmer - einschließlich der Geiseln - unter
Feuer zu nehmen. Heftige militärische Auseinandersetzungen begannen: Artillerie, Panzer,
Infanterie und Kampfhubschrauber feuerten vier Tage lang auf die Stadt. Nach Angaben
Tschernomyrdins wurden 42 der über 100 Geiseln befreit, Jelzin sprach von 82. 115
Nachdem es Anfang Februar in Grosny zu Demonstrationen kam, bei denen immer lauter der Ruf
nach Unabhängigkeit artikuliert wurde 116, entstand weiterer Handlungsbedarf. Von Seiten der
111
Zit. nach NZZ, 6./7. Januar 1996.
112
Etwa 400 nach Rossija i Èeènja, S. 121; Andere Angaben lauten auf mindestens tausend, so nach NZZ, 10.
Januar 1996.
113
Rossija i Èeènja, S. 121.
114
Gemäß Presseverlautbarung soll Jelzin gesagt haben: "Wie soll ich das verstehen, Generäle? [sowohl der
Innenminister als auch der Grenztruppenchef haben Generalsrang] Es macht den Anschein, dass ihr mit euren
Truppen wie mit Spielzeug umgeht. Hat man aus der Lektion von Budjonnowsk nichts gelernt?" Zit. nach NZZ,
10. Januar 1996.
115
NZZ, 18. Januar 1996; NZZ, 19. Januar 1996.
116
NZZ, 9. Februar 1996.
32
Duma schlug man dem Präsidenten vor, eine "Staatliche Kommission zur Regelung der Krise in
der TschR" zu gründen. Am 20. Februar stellte eine Gruppe Duma-Abgeordneter 117 "Maßnahmen
zur Beilegung der Krise in Tschetschenien" vor 118, am gleichen Tag startete eine neue russische
Offensive auf die Siedlung Nowogrosnensk. Pläne zur Konfliktlösung, etwa der Vorschlag von
Ramasan Abdulatipow und Sergei Schachrai, eine Übereinkunft in vier Etappen zu realisieren,
wurden nicht umgesetzt.119
Zwischen 6. und 15. März begann eine neue Schlacht um Grosny: Die tschetschenischen
Widerstandskämpfer starteten eine Überraschungsoffensive auf die Hauptstadt, um sie ein Jahr
nach Einnahme durch die Russen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. 120 Die Russen meldeten
die Einnahme von Samaschki im Südwesten und kämpften auch weiterhin um den Ort Bamut im
Westen Tschetscheniens. 121
Als der russische Präsident am 31. März ein Programm zur Beilegung der Krise in Tschetschenien122 ankündigte und als Vermittler den kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew oder
den Präsidenten von Tatarstan, Mintimer Schaimijew, vorschlug 123, lehnte Dudajew zunächst
ab124. Jelzin kündigte das Ende aller Waffenhandlungen und einen teilweisen Truppenrückzug aus
den friedlichen Gebieten Tschetscheniens an; gleichzeitig sollte die tschetschenische Führung eine
Sicherheitszone verbreitern. Am wichtigsten sei nach wie vor die Sicherheit der Bürger
Russlands, daher werde man auf provozierende Akte "adäquat" antworten, erklärte Jelzin in einer
Fernsehansprache, aber man werde sich nicht von der politischen Entscheidung abringen lassen,
auf tschetschenischem Gebiet freie Wahlen abzuhalten. Die beiden Kammern der
Föderalversammlung sollten gemeinsam mit der russischen Regierung eine Kommission unter
Ministerpräsident Tschernomyrdin zur Beilegung der Krise gründen. Man wolle "ins Flussbett
eines friedlichen Dialogs über den Status Tschetscheniens" zurückkehren. 125 Ungeachtet der von
Jelzin verkündeten Feuereinstellungen gingen die russischen Luftangriffe im Südwesten weiter. 126
117
Darunter R. Abdulatipow, W. Borschtschew, S. Kowaljow, W. Lukin, M. Molostwow, L. Ponomarjow, Ju.
Rybakow, W. Schejnis und G. Jawlinski.
118
Rossija i Èeènja, S. 122.
119
In einem Beitrag für die Nezavisimaja Gazeta vom 13. März 1996, vgl. Rossija i Èeènja, S. 133.
120
Reuter, 6. März 1996.
121
NZZ, 28. März 1996.
122
Programm poetapnogo uregulirovanija krizisa v Èeèenskom Respublike; vgl. Ukaz Prezidenta RF Nr. 435 vom
31. März 1996: O programme uregulirovanija krizisa v ÈR, in: Rossija i Èeènja, S. 141 ff.
123
Im früheren Verlauf des Konflikts hatte Moskau stets Verhandlungen mit dem per Haftbefehl gesuchten Tataren
abgelehnt. Vgl. NZZ, 2. April 1996.
124
AP, 9. April 1996.
125
Wortlaut der Rede Jelzins in: Rossija i Èeènja, S. 144 ff.
126
Reuter, 3. April 1996.
33
Dudajew forderte dann aber am 16. April die Vermittlung des türkischen Präsidenten Demirel. 127
Nur wenige Tage später, am 21. April 1996, kam Dschochar Dudajew bei einem Attentat ums
Leben, nachdem bereits im Jahr 1995 mehrere Anschläge auf ihn verübt worden waren. Dudajews
Nachfolger wurde drei Tage später sein Stellvertreter, der zu diesem Zeitpunkt
44-jährige Selimchan Jandarbijew 128. Er forderte die tschetschenischen Kämpfer zum Kampf für
die Freiheit bis zum letzten Mann auf, erklärte aber kurz darauf bereits, "im Interesse der Rettung
von Menschenleben beider Seiten sind wir zu sofortigen Gesprächen bereit"129. Am
27. Mai 1996 - zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen in der RF - unterzeichnete er
dennoch in Moskau mit Ministerpräsident Tschernomyrdin einen Waffenstillstand. 130
Die Gespräche waren auf Vermittlung der OSZE unter Leitung des Schweizers Tim Guldimann
zustande gekommen. Jelzin reiste am Tag darauf nach Grosny, wo er die russischen Soldaten als
Sieger bezeichnete und wiederholte, Tschetschenien sei Teil der RF und Sawgajew der
rechtmäßige tschetschenische Präsident. 131 Parallel zu den russischen Präsidentenwahlen sollten
auch in Tschetschenien Wahlen stattfinden. Jelzin präsentierte einen von Sergei Schachrai
ausgearbeiteten Vertragsentwurf mit insgesamt 25 Artikeln. Die Tschetschenen sollten eine
eigene Verfassung bekommen und über ihre Exekutive, Legislative und Judikative selbst
entscheiden (Art. 2). Zudem sollte die Republik gem. Art. 19 selbständig über ihre internationalen
und außenwirtschaftlichen Beziehungen entsche iden können (wenn sie der Verfassung der RF
nicht entgegenstünden) sowie für die innere Sicherheit des Landes Verantwortung tragen. 132 Am
1. Juni 1996 herrschte - wenigstens auf dem Papier - Waffenstillstand. Ungeachtet dessen kam es
auf be iden Seiten erneut zu Provokationen.
Bereits wenige Tage nach Veröffentlichung des Vertragsentwurfs vom 30. Mai wurde
offensichtlich, dass das Jelzinsche Angebot eher propagandistisch zu verstehen war. Die
Demonstration russischen Großmachtanspruchs durch Jelzins Blitzvisite in Grosny provozierte
die Tschetschenen nachhaltig. Zum einen hatte man sie nicht über den Besuch informiert und so
gewissermaßen zu Statisten des Geschehens degradiert; zum anderen hielten sich Jandarbijew und
seine Männer in Moskau auf, waren also gewissermaßen Geiseln dafür, dass Jelzin nichts
passierte. So mussten sich die tschetschenischen Vertreter bei den Gesprächen über Waffenstillstand und Freilassung der Gefangenen mit untergeordneten russischen Beamten begnügen. 133
Die tschetschenischen Kämpfer stimmte diese Episode nicht unbedingt kompromissbereit. Sie
boykottierten die von russischer Seite angekündigten Parlamentswahlen134; zudem brachen beide
Seiten sofort wieder das Waffenstillstandsabkommen135. Mitte Juni verhandelten der russische
127
Interview Dudajews mit Interfax, 16. April 1996.
128
Er war seit April 1993 Stellvertreter Dudajews und Präsidiumsmitglied des Gesamtnationalen Kongresses des
tschetschenischen Volkes. Jandarbijew war Mitglied des sowjetischen Schriftstellerverbandes und wurde als
wichtigster Ideologe der Separatistenbewegung bezeichnet. Vgl. die Ausführungen von Christiane Hoffmann:
Ohne Hausmacht, in: FAZ, 29. Mai 1996.
129
AP, 2. Mai 1996.
130
Dogovorennost’ o prekrašèenii ognja, boevych dejstvij i merach po uregulirovaniju, vooružennogo konflikta na
territorii ÈR; dazu das am 28. Mai unterzeichnete Protokoll der Arbeitsgruppe, in: Rossija i Èeènja, S. 151 f.
131
NZZ, 29. Mai 1996.
132
Dogovor o razgranièenii predmetov vedenija i polnomo èij meždu organami gosudarstvennoj vlasti RF i organami
gosudarstvennoj vlasti ÈR (proekt), in: Rossija i Èeènja, S. 153 ff.; vgl. im weiteren auch Postanovlenie
Pravitel’stva RF Nr. 645: O merach po realizacii Ukaza Prezidenta RF ot 22 aprelja 1996 g. No. 597 "O porjadke
vydelenija finansovych sredstv, napravljaemych na vosstanovlenie ekonomiki i social’noj sfery Èeèenskoj
Respubliki i kontrole za ich ispol’zovaniem", 28. Mai 1996, in: Rossija i Èeènja, S. 139 f.
133
NZZ, 29. Mai 1996.
134
NZZ, 30. Mai 1996.
135
dpa, 2. Juni 1996; AP, 3. Juni 1996.
34
Minister für Nationalitätenfragen und föderale Beziehungen, Michailow, und der tschetschenische
Generalstabschef Maschadow in Nasran mit OSZE-Vermittlern über ein Ende der
Kampfhandlungen, den russischen Truppenabzug und einen Gefangenenaustausch. 136 Bis Ende
August sollten die russischen Truppen die Republik verlassen, zur selben Zeit sollten die
tschetschenischen Kämpfer ihre Waffen abgeben. 137
Am 19. Juni erklärte der Vorsitzende der Arbeitsgruppe der staatlichen Kommission für
Tschetschenien, E. Pain, die Ernennung von General Alexander Lebed zum Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates und zum Präsidentenberater für Fragen der nationalen Sicherheit könne die
Perspektive für eine Lösung des tschetschenischen Problems verbessern. Wenig später erklärte
allerdings Jelzin, die russischen Truppen würden erst abgezogen, wenn alle tschetschenischen
Kämpfer ihre Waffen abgegeben hätten. 138 Nach den Stichwahlen für das russische
Präsidentenamt gingen die russischen Streitkräfte erneut in die Offensive. Im ersten Halbjahr
1996 hatte die Intensität der Kämpfe wieder zugenommen. 14.000 Tschetschenen flüchteten nach
Dagestan, 45.000 nach Inguschetien.
Die russische Regierung verhandelte erneut mit den Tschetschenen, nachdem am 6. August 1996
unter dem Oberkommando von Aslan Maschadow tschetschenische Kämpfer 139 Grosny stürmten
und fast 7000 russische Soldaten in der Hauptstadt einkesselten. 140 Gleichzeitig griffen
tschetschenische Formationen Gudermes, Argun und weitere Städte mit Panzern und
Schützenpanzerwagen an. 141 Bei den russischen Truppen gab es immense Verluste.
Am 10. August ernannte Jelzin Lebed auch zum neuen Koordinator der Tschetschenien-Politik.
Bereits einen Tag nach seiner Ernennung traf sich Lebed in Starye Atagi mit Jandarbijew und
Maschadow zu Verhandlungen. Die Situation war seit Anfang August immer kritischer geworden.
Innerhalb von drei Wochen fielen in Grosny fast 400 russische Soldaten, mehr als 1200 wurden
verletzt, 130 als vermisst gemeldet. Jelzin stattete Lebed nur wenige Tage später mit
weitreichenden Sondervollmachten aus. Lebeds Verhandlungen mit Maschadow hatten Erfolg.
Sowohl Lebed als auch Maschadow waren ehemalige Offiziere der Sowjetarmee und sprachen
ganz offensichtlich die gleiche Sprache. 18 Stunden vor Ablauf eines Ultimatums von General
Pulikowski, der mit einem neuen Sturm auf Grosny drohte, reiste Lebed erneut nach
Tschetschenien und erreichte nach Gesprächen mit beiden Seiten, dass der Angriff abgewendet
wurde.142
Am 22. August unterzeichneten Lebed und der tschetschenische Generalstabschef Maschadow in
Chasawjurt ein Abkommen143 über das Ende aller Kampfhandlungen und den Abzug der
russischen Truppen. Von der Effektivität dieses Friedensabkommens waren auf russischer Seite
nicht alle überzeugt. In einem Interview Anfang September 144 äußerte Innenminister Kulikow die
Befürchtung, es könne in Analogie zu den Ereignissen in Afghanistan nach dem Abzug der
136
Gesprächsprotokoll in: Rossija i Èeènja, S. 166 f.
137
Reuter, 10. Juni 1996.
138
Ukaz Prezidenta RF Nr. 985, 25. Juni 1996, in: Rossija i Èeènja, S. 170.
139
Die Männer gehörten zu den Einheiten von Bassajew, Gelischanow und Sakajew. Die Zahlen variierten von
mehreren hundert bis zu 2000 Kämpfern. FAZ, 8. August 1996.
140
AP, 9. August 1996.
141
Reuter, 21. Juli 1996; AFP, 23. Juli 1996.
142
dpa, 22. August 1996.
143
Soglašenie o neotložnych merach po prekrašèeniju ognja i boevych dejstvij v g. Grozny i na territorii Èeèenskoj
Respubliki, 22. August 1996, in: Rossija i Èeènja, S.180 ff.
144
Kulikow im Interview mit Moskovskie Novosti, 10. September 1996.
35
sowjetischen Truppen zu einer "Tschetschenisierung des Konflikts" kommen. 145 Der russische
Innenminister verwies darauf, es könnte sich eine starke Opposition um irgendeine Führungsfigur
scharen; ein langer Bürgerkrieg könne die Folge sein. Kulikow nannte als mögliche Option für
eine langfristige Regelung der tschetschenischen Problematik ein Friedensabkommen nach dem
Vorbild von Dayton. 146
Das Abkommen vom 22. August sah vor, dass sich aus Grosny die bewaffneten Einheiten beider
Seiten entfernten. Unter anderem wurde in Ziffer 5 vereinbart, in der Hauptstadt fünf gemeinsame
Übergangs-Kommandanturen zu schaffen; eine zentrale mit 30 Vertretern, vier weitere im
gesamten Gebiet mit jeweils 60 Vertretern. Die Aufsicht über die Erfüllung des Abkommens
sollte in Übereinstimmung mit dem Nationalen Sicherheitsrat der RF eine Beobachterkommission
übernehmen. In einer gemeinsamen Erklärung am 31. August betonten beide Seiten ihr Streben
nach Schaffung von Voraussetzungen für eine politische Beilegung des bewaffneten Konflikts 147,
der in fast zwei Jahren etwa 80.000 Opfer gefordert hatte 148.
Die Verhandlungen über den zukünftigen Status Tschetscheniens wurden ausgesetzt. Darüber
sollte erst zum 31. Dezember 2001 entschieden werden. Bis Anfang Januar 1997 zogen alle
russischen Truppen aus Tschetschenien ab; die russische Regierung erkannte die Übergangsregierung Jandarbijew an. Zwischendurch kam es immer wieder zu Streitigkeiten und Querelen über
den Modus des Abzugs.149 Unter Kontrolle der OSZE fanden in Tschetschenien am 27. Januar
1997 freie Wahlen statt, bei denen sich Aslan Maschadow, zu diesem Zeitpunkt auch aus
Moskauer Sicht willkommener Kandidat, durchsetzen konnte. Maschadow übernahm auch das
Amt des Ministerpräsidenten; Schamil Bassajew wurde sein Stellvertreter. Mowladi Udugow
bekleidete das Amt des Außenministers.
Am 12. Mai 1997 unterzeichneten Jelzin und Maschadow in Moskau einen knappen
Friedensvertrag, der in fünf Punkten festlegte, alle Konflikte künftig auf dem Verhandlungsweg
nach den Regeln des Völkerrechts zu lösen. Dieser Vertrag sollte die Grundlage für alle weiteren
zu schließenden Verträge zwischen beiden Seiten sein. Der Status Tschetscheniens innerhalb der
RF blieb auch in diesem Dokument unerwähnt. 150
3.2
Der zweite Krieg seit Herbst 1999
3.2.1
Unruhen in Nordkaukasien: Ausgangspunkt Dagestan
145
Kulikow erklärte in diesem Interview, man habe es mit drei Gruppen in Tschetschenien zu tun. An der Spitze der
ersten stehe Maschadow, der etwa die Hälfte der Kräfte kontrolliere, die an den militärischen
Auseinandersetzungen beteiligt gewesen seien. Diese Gruppe verstehe, dass eine Fortführung des Krieges
unheilvoll sei. Eine zweite Gruppe schare sich um Schamil Bassajew und vermutlich auch Ruslan Gelajew. Sie
gehörten zur bewaffneten Opposition, hätten selbst Führungsambitionen und kein Interesse an Zusammenarbeit.
Ihre Forderungen lauteten nur auf vollständigen Truppenabzug aus der Republik und letztendlich eine völlige
Abtrennung Tschetscheniens von Russland. Schließlich gebe es eine dritte Gruppe, die sich aus einzelnen Banden
zusammensetze und nach Verschwinden des gemeinsamen Feindes wieder verbrecherisch agiere.
146
Kulikow im Interview mit Moskovskie Novosti, 10. September 1996.
147
Gemeinsame Erklärung in: Rossija i Èeènja, S.184.
148
Nach Angaben von Alexander Lebed. Vgl. dpa, 3. September 1996.
149
AFP, 12. September 1996.
150
Dogovor o mire i principach vzaimootnošenij meždu Rossijskoj Federaciej i Èeèenskoj Respublikoj Ièkerija, 12
maja 1997 g., in: Rossija i Èeènja, S. 5.
36
Im Sommer 1999 bestätigte Nordkaukasien seinen Ruf als Unruheherd der RF: In mehreren
Teilrepubliken gewannen alte Konflikte neue Intensität.151 Angedeutet seien an dieser Stelle nur
wenige Aspekte, um das Umfeld der Tschetschenien-Krise zu illustrieren: In der Hauptstadt der
Republik Karatschai-Tscherkessien beispielsweise kam es wegen der Annullierung der
Wahlergebnisse vom Mai 1999 durch die Moskauer Zentrale zu Protesten und Demonstrationen,
die neben dem Konflikt um die Führung der Republik ethnische Beiklänge hatte. 152 Jelzin setzte
seinen (russischen!) Kaukasus-Berater Wlassow als provisorischen Republikchef ein und stellte so
das Gebiet quasi unter Direktverwaltung. Das erste Demokratie-Experiment in der Geschichte
Karatschai-Tscherkessiens führte dazu, dass das bis zu den ersten Wahlen zum Republikchef
leidlich stabile Gebiet in einen gefährlichen (ethno-) politischen Strudel geriet.
Ein weiterer Konflikt, der schon seit Jahren schwelt, besteht zwischen Nord-Ossetien und
Inguschetien. Dabei geht es um den Distrikt Prigorodny bei Wladikawkas.153 Dieses Territorium
war ursprünglich inguschetisches Siedlungsgebiet, wurde aber während der Stalin-Zeit an die
Osseten übergeben. Krieg nach dem Ende der UdSSR löste die Problematik nicht, machte
allerdings zahlreiche inguschische Familien heimatlos. Die Flüchtlinge warten seit nunmehr
Jahren auf die Möglichkeit zur Rückkehr. Am 30. Juli 1999 erklärte der Präsident Inguschetiens,
Ruslan Auschew, die Verhandlungen mit den Nordosseten für unterbrochen, solange diese ihren
Verpflichtungen nicht nachkämen. Die Situation sei explosiv. Auschew forderte, dass Moskau entsprechend dem Beispiel in Tscherkessien - den Prigorodny-Distrikt unter Direktverwaltung
stelle. 154
Und auch in Tschetschenien verschärften sich die Spannungen Ende der 90er-Jahre erneut.
Deutlich wurde nun, wie schwierig sich eine Konsolidierung der inneren Souveränität nach dem
ersten Krieg gestaltete. Faktisch weitgehend unabhängig, erinnerten die innertschetschenischen
Machtkämpfe 1998 bereits wieder an die Situation von 1994, diesmal jedoch mit umgekehrten
Vorzeichen. 155 An die Stelle der Dudajew-Opposition stellte sich nun eine Koalition gegen die
"russlandfreundliche" Regierung von Aslan Maschadow. Dieser bildete 1997/1998 sein Kabinett
um und kündigte ein mit weitgehenden Kompetenzen ausgestattetes Innenministerium an. Er
ernannte den Geiselnehmer von Budjonnowsk, Schamil Bassajew, zum amtierenden
Ministerpräsidenten und versuchte auf diesem Weg, Vertreter des radikalen Lagers in die
Regierung einzubinden. Der Plan scheiterte: Regierungsmitglieder wie etwa Außenminister
Mowladi Udugow wechselten zur Opposition. 156
Vor dem Hintergrund wachsender Spannungen mit Moskau hatte Bassajew, der bei den ehemaligen Feldkommandanten in hohem Ansehen stand, am 13. Januar 1998 eine neue Regierung
151
Zum kaukasischen Kontext des Konflikts in Tschetschenien siehe Uwe Halbach: Regionale Dimensionen des
zweiten Tschetschenienkriegs. Teil I: Der kaukasische Kontext. Aktuelle Analysen des BIOst Nr. 1, 2000.
152
Die Menschen demonstrierten für die Einsetzung des Wahlsiegers Armeegeneral Semjonow
als Republikchef. Offensichtlich schloss sich ein beachtlicher Teil der karatschaischen
Minderheit den Protesten an. Die Karatschaier stellen etwa ein Drittel der 450.000 Einwohner
der Republik. Moskau agierte wenig konstruktiv, da es den tscherkessischen Forderungen
eher zuneigte und gegenüber den Karatschaiern eine Verzögerungstaktik an den Tag legte.
Die Tscherkessen dachten zu diesem Zeitpunkt erstmals laut über eine Abspa ltung ihrer
Siedlungsgebiete vom Rest der Republik nach. Vgl. NZZ, 2. August 1999.
153
Vgl. hierzu: Christiane Ho ffmann: Die Inguschen wollen den Russen weder Freund noch Feind sein, in: FAZ, 1.
April 1997.
154
Was kaum passieren dürfte, da Moskau in dieser Auseinandersetzung traditionell der nordossetischen Seite
zuneigt. Vgl. dazu NZZ, 2. August 1999.
155
Uwe Halbach: Die Tschetschenische Republik Itschkeria 1998. Aktuelle Analysen des BIOst Nr. 49, 1998.
156
Uwe Halbach: Der Weg in den zweiten Tschetschenien-Krieg. Osteuropa Nr. 1, 2000, S. 11 – 29.
37
vorgestellt. Die russische Nachrichtenagentur Interfax meldete, er habe die Zahl der Ministerposten von 47 auf 18 reduziert. Der Regierung gehörten viele der bisherigen Kabinettsmitglieder
an. Jeder Minister musste vom Parlament bestätigt werden. Bassajew versprach, die von Präsident
Maschadow vorgegebenen Ziele der wirtschaftlichen Stabilität und der Bekämpfung des
Verbrechens zu verfolgen. Maschadow hatte Bassajew als seinen Stellvertreter mit der
Regierungsbildung beauftragt, obwohl gegen ihn in Moskau ein Haftbefehl wegen Terrorismus
vorlag. 157 Auf Druck radikaler Politiker führte Tschetschenien im Februar 1999 schließlich das
islamische Recht ein. Am 21. März 1999 entging der heftig umstrittene Präsident und ehemalige
Oberkommandierende der tschetschenischen Widerstandskämpfer Maschadow in der Hauptstadt
Grosny nur knapp einem Bombenanschlag.
Nach dem Überfall tschetschenischer Kämpfer auf eine russische Militärbasis in Dagestan und der
Entführung von sieben einheimischen Polizisten Ende Dezember 1997 eskalierte die Situation
auch in dieser Teilrepublik. Nach Meldungen des russischen Fernsehens wurden die russischen
Truppen an der dagestanisch-tschetschenischen Grenze verdoppelt. Die Kriminalisierung
Tschetscheniens wirkte auch nach Dagestan und Inguschetien, wo Entführungen von Tschetschenen organisiert und durchgeführt werden; ihre Opfer bringen die Entführer anschließend über
die Grenzen. Auch in den beiden muslimischen Republiken Dagestan und Inguschetien greift die
russische Staatlichkeit kaum. Dagestan zahlt die wenigsten Steuern innerhalb der RF und besitzt
(wie Inguschetien) nur eine minimale Finanzkraft. Gleichzeitig weisen die beiden Republiken als einzige in der Föderation - einen Geburtenüberschuss auf. 158
In Dagestan, das mit 30 verschiedenen Volksgruppen nur schwierig zu innerer Balance findet,
waren die politischen Schaltstellen zu Beginn des Jahres 1998 auch weiterhin von
Altkommunisten besetzt, die nach Berichten von Beobachtern vor Ort offensichtlich eng mit der
örtlichen Mafia zusammenarbeiten. Viele von ihnen sehen ihr Amt ausschließlich als Chance, sich
zu bereichern. Morde, Mordversuche, Entführungen und Bombenexplosionen sind an der Tagesordnung. 159 Man befürchtete eine Störung des militärisch-strategischen Gleichgewichts in der
Region, als der Sekretär des dagestanischen Sicherheitsrates, Magomed Tolbojew, seine Pläne
ankündigte, eine 5000 Mann starke Miliz aufzustellen. In der Hauptstadt Machatschkala
begründete man dies damit, dass Tschetschenien versuche, die Vorherrschaft im Nordkaukasus zu
erringen. Tolbojew behauptete unter anderem, 50 Personen aus Dagestan würden in
Tschetschenien festgehalten und merkte an, auch in seinem Land habe man in diesem Metier
Erfahrungen.
Bereits im Verlauf des Sommers 1999 kam es mehrfach zu Scharmützeln an der russischtschetschenischen Grenze, bei denen im Gebiet Stawropol vier russische Polizisten, in der
russischen Republik Dagestan am 17. Juni 1999 sieben Soldaten starben. Der russische Regierungschef Sergei Stepaschin stellte zum Ausbau der Grenze 2,2 Mio. Rubel zur Verfügung und
ordnete die Schließung von 50 der 60 Grenzübergänge an. Soldaten des Innenministeriums griffen
im Juli mit Kampfhubschraubern und Raketen Stellungen tschetschenischer Rebellen an. Schwere
Kämpfe flammten Anfang August zwischen Einheiten der russischen Armee bzw. des
Innenministeriums und muslimischen Extremisten aus Tschetschenien in Dagestan auf.
Am 7. August 1999 kam es zu einem ersten Überfall dagestanischer Grenzorte in der Region um
Botlich durch tschetschenische Kämpfer, die einmal mehr Schamil Bassajew anführte. Nachdem
der russische Ministerpräsident Putin bereits am 13. August 1999 Luftschläge gegen
Tschetschenien angekündigt hatte, bombardierten russische Flugzeuge an den darauffolgenden
Tagen erstmals wieder Tschetschenien. Betroffen war russischen Angaben zufolge das
157
Zit. nach AP, 13. Januar 1998.
158
NZZ, 14. Januar 1998.
159
NZZ, 14. Januar 1998.
38
tschetschenische Dorf Kenchi nahe der dagestanischen Grenze, von wo aus die Rebellen ihren
Überfall auf die Nachbarrepublik lanciert hatten. Nachschubwege und Lager der eingedrungenen
Kämpfer sollten zerstört werden. Inwieweit dies verwirklicht werden konnte, war unklar. Die
nominelle tschetschenische Regierung in Grosny verhängte als Reaktion auf Putins Erklärung den
Ausnahmezustand mit nächtlicher Ausgangssperre und ein Produktionsverbot für alle Medien, mit
Ausnahme des Staatsfernsehens. Außerdem wurden die Grenztruppen in Alarmbereitschaft
versetzt. Da allerdings Präsident Maschadows Regime nicht einmal die ganze Hauptstadt
(geschweige denn die ganze Republik) kontrolliert, fanden seine Dekrete offensichtlich wenig
Beachtung. Auch auf die Ereignisse an der Grenze zu Dagestan hatte er praktisch wohl keinen
Einfluss.
Die staatlichen russischen Pressestellen boten schon Mitte August Erfolgsmeldungen: Die abgehörten Funkgespräche der Rebellen zeigten, dass der Gegner schwere Verluste erlitten habe und
in Panik geraten sei. Berichtet wurde außerdem, dass der Anführer der Aufständischen, Schamil
Bassajew, in seinen Heimatort Wedeno zurückgekehrt sei, um neue Kämpfer zu rekrutieren allerdings mit geringem Erfolg. 160 Westliche Beobachter bemerkten, dass die tschetschenischen
Rebellen zu diesem Zeitpunkt kleinlauter wurden. So sprachen der ehemalige tschetschenische
Übergangspräsident Jandarbijew zusammen mit Bassajew und dem ehemaligen Außenminister
Udugow, der zu den Hintermännern des Überfalls auf Dagestan gehörte, im Radio. Sie
appellierten an die kaukasische und muslimische Solidarität. Jandarbijew erklärte, es hänge von
jedem einzelnen ab, wann die russische Herrschaft im Kaukasus ende. Der Rebellensprecher
Mohammed Tagajew, der als "Ideologe" der dagestanischen Islamisten gilt und ein Buch über den
Heiligen Krieg verfasst hat, gab am 15. August 1999 den Verlust einer strategischen Position im
Gebirge zu und sprach von ununterbrochenen Attacken der russischen Luftwaffe.161
3.2.2
Erneute Radikalisierung
Doch die Situation spitzte sich radikal zu, als innerhalb einer Woche in Moskau mehr als 200
Menschen bei Bombenanschlägen ums Leben kamen, die tschetschenischen Terroristen zugeschrieben wurden. Bereits im ersten Tschetschenien-Krieg war es in Russland zu Anschlägen
gekommen, die der FSB ebenfalls tschetschenischen Attentätern zugeschrieben hatte. Unter
anderem kam es in der Endphase des ersten Kriegs, nachdem beide Seiten das Waffenstillstandsabkommen vom 1. Juni 1996 wieder gebrochen hatten, zu Attentaten. So gab es Sprengstoffanschläge auf Trolleybusse am 11. und 12. Juli in Moskau sowie auf einen Überlandbus bei
Naltschik in Nord-Ossetien. 162
Moskau beschuldigte die beiden mächtigsten tschetschenischen Feldkommandanten Bassajew und
Chatab163 der neuerlichen Anschläge. Zwar rief Präsident Aslan Maschadow bereits nach den
ersten russischen Bombenangriffen am 15. August den Notstand in Tschetschenien aus; ansonsten
kam es allerdings zu keiner offiziellen Reaktion der Regierung in Grosny. Beobachter führen dies
auf die starke Popularität Bassajews zurück, die wesentlich stärker als die Maschadows sein
dürfte.164 Die Aufforderung des russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin, die Terroristen
160
Zit. nach NZZ, 16. August 1999.
161
NZZ, 16. August 1999.
162
NZZ, 1. August 1996.
163
Chatab stammt aus Jordanien und leitet in Tschetschenien ein Ausbildungslager für Kämpfer. Er gilt als
Gefolgsmann von Bin Ladin.
164
NZZ, 7. September 1999.
39
auszuliefern, war von der offiziellen tschetschenischen Führung - selbst wenn sie es gewollt hätte
- vermutlich gar nicht zu erfüllen. 165
In der Nacht vom 4. auf 5. September 1999 explodierte in der Garnisonsstadt Buinaksk eine
weitere Bombe: 52 Menschen starben und 75 wurden verletzt, als ein Wohngebäude detonierte.
Eine zweite, in einem Lastwagen versteckte und in der Nähe einer Militärsiedlung deponierte
Bombe konnte noch in der gleichen Nacht von russischen Sicherheitskräften entschärft werden. 166
Am Tag darauf besetzten mehrere hundert tschetschenische Kämpfer unter Führung von Schamil
Bassajew acht dagestanische Ortschaften in der Nähe der Stadt Chasaw-Jurt. Nach Angaben von
Flüchtlingen wurden Frauen und Kinder vertrieben und Männer als lebendige Schutzschilde
missbraucht. Der dagestanische Staatsrat rief die Bevölkerung zur allgemeinen Mobilmachung
auf. Am 6. September konnten sich 40 Polizisten und Mitglieder einer Spezialeinheit des
Innenministeriums freikämpfen, die in einem Posten in Nowolakskoje eingekesselt waren. Nach
offiziellen russischen Angaben kamen dabei zehn russische Soldaten ums Leben, sieben wurden
verletzt. 167
Die Kampfhandlungen griffen nun verstärkt auf Tschetschenien über. Nach den BombenAnschlägen in Moskau, Wolgodonsk und Buinaksk ging es auf russischer Seite nicht länger um
Maßnahmen zur Schaffung von Sicherheit in den Grenzregionen. Nun war konstant von einer
"antiterroristischen Operation"168 und einer "vollständigen Vernichtung der Banden"169 in
Tschetschenien die Rede, mit der das "Krebsgeschwür des Terrorismus", in das laut Jelzin
Tausende ausländischer Söldner verwickelt seien170, beseitigt werden müsse.
Das russische Verteidigungsministerium äußerte sich nicht zu den Angaben des stellvertretenden
tschetschenischen Ministerpräsidenten Machaschew, fünf Orte an der Grenze zu Dagestan seien
von der russischen Luftwaffe angegriffen und dabei 43 Menschen getötet worden. 171 Ab Mitte
Septe mber wurde in Moskau offen zugegeben, dass die russischen Streitkräfte nicht nur gegen die
tschetschenischen Eindringlinge in Dagestan vorgingen, sondern auch Ziele in Tschetschenien
angriffen. 172 Am 20. September verlautete aus dem russischen Verteidigungsministerium, die
Armee errichte einen Sicherheitsgürtel entlang der Grenze und treffe Vorkehrungen, um
Terroristen am Eindringen nach Russland zu hindern und ihre Nachschubwege abzuschneiden.
Die russische Nachrichtenagentur RIA meldete unter Berufung auf Armee-Kreise in der
Grenzregion Nord-Ossetien, die Truppen seien in höchster Alarmbereitschaft. Es würden rund
10.000 Mann Verstärkung allein aus der Region Moskau erwartet. Im weiteren wurde gemeldet,
die 540 Kilometer lange Grenze zu Tschetschenien werde innerhalb einer Woche vollständig
abgeriegelt sein. 173 Insgesamt wurden bis Ende September etwa 50.000 Mann entsandt. 174
Gleichzeitig begannen Bombenangriffe auf Grosny. Beim Beschuss des Rundfunk-Sendeturms
wurden nach Angaben von Itar-Tass fünf Menschen getötet und mehr als 20 verletzt. Der
tschetschenische Präsident Maschadow forderte Moskau in einem Interview mit Interfax am 24.
165
NZZ, 16. September 1999.
166
AP, 5. September 1999.
167
NZZ, 7. September 1999.
168
So Putin, vgl. sein Interview in: Die Zeit, Nr. 47, 18. November 1999.
169
So Jelzin, zit. nach Markus Wehner: Russland tritt in Istanbul kämpferisch auf, in: FAZ, 19. November 1999.
170
Beim OSZE-Gipfeltreffen in Istanbul, vgl. NZZ, 19. November 1999.
171
NZZ, 7. September 1999.
172
NZZ, 16. September 1999.
173
Reuters, AFP, 20. September 1999.
174
Reuters, 27. September 1999.
40
September zu Verhandlungen und einer politischen Lösung auf und warf "gewissen Kreisen" in
Russland vor, in Tschetschenien eine "militärische Konfrontation und einen Bürgerkrieg"
provozieren zu wollen. 175 Maschadow forderte ein direktes Gespräch mit Jelzin; Putin hingegen
erklärte, die Bedingungen für Gespräche müssten stimmen. 176
Am 27. September kamen bei Luftangriffen nach offiziellen russischen Angaben 26 Menschen in
Tschetschenien und 24 in Dagestan ums Leben. Nach Berichten des Fernsehsenders NTW flohen
10.000 Tschetschenen in die Nachbarrepublik Inguschetien177. Nur wenige Tage später erklärte
ein Sprecher der inguschetischen Regierung, bereits 60.000 Tschetschenen hätten die Grenze
überschritten, möglicherweise kämen bis zu 100.000 178. Inguschetien rief das UNOFlüchtlingshilfswerk um Hilfe an. 179 Russische Flugzeuge bombardierten nach Angaben von
Interfax Industrieanlagen, eine Ölraffinerie, Ölvorratstanks und ein Umspannwerk in der Nähe
Grosnys. Parallel dazu erklärte Innenminister Ruschailo, man habe zwischenzeitlich 521 Tonnen
Sprengstoff entdeckt und insgesamt 16 Explosionen verhindert. 101 Personen seien im
Zusammenhang mit den Anschlägen auf Häuser in Moskau, Wolgodonsk und Buinaksk verhaftet,
17 tschetschenische Rebellenführer zur Fahndung (auch via Interpol) ausgeschrieben. 180
Ende September berichteten die - verschiedenen Mediengruppen zugehörigen - Tageszeitungen
Sewodnja und Nesawissimaja Gaseta unter Berufung auf militärische Quellen über Pläne,
Tschetschenien auf breiter Front anzugreifen und sich dabei auf die Eroberung der Ebenen im
Norden zu beschränken. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich ab, dass Russland sich auf
einen Winterkrieg im gebirgigen Süden eigentlich nicht einlassen wollte. Ein russischer Parlamentarier hatte nicht von ungefähr darauf hingewiesen, dass die Armee über keine einzige
einsatzfähige Gebirgsinfanterie-Division verfüge. 181
Ab der letzten September-Woche 1999 flogen russische Kampfflugzeuge täglich bis zu 50 Angriffe auf Tschetschenien. 182 Anfang Oktober hatte die russische Armee nach Angaben von
Ministerpräsident Putin etwa ein Drittel Tschetscheniens eingenommen und näherte sich dem
Fluss Terek, der natürlichen Grenze zwischen dem dünnbesiedelten Steppenland im Norden und
den schwerer zugänglichen Berggebieten im Süden. Die russische Armee kontrollierte nach
eigenen Angaben rund 30 tschetschenische Ortschaften. 183
Beim Versuch, eine Sicherheitszone mit drei gestaffelten Verteidigungslinien zu schaffen, um das
Eindringen bewaffneter Gruppen auf die angrenzenden südrussischen Gebiete zu verhindern,
wurden die russischen Streitkräfte in immer heftigere Gefechte verwickelt. Bald wiederholte die
russische Regierung politische Fehler des ersten Tschetschenien-Kriegs: So zog Wladimir Putin
die Legitimität des bisher von Moskau anerkannten tschetschenischen Präsidenten Maschadow
öffentlich in Zweifel und bezeichnete das 1996 "gewählte" Republikparlament als einziges legales
175
dpa, AP, 24. September 1999.
176
Zit. nach Reuters, 27. September 1999.
177
AFP, 27. September 1999.
178
Reuters, 28. September 1999.
179
dpa, 27. September 1999.
180
Reuters, 28. September 1999.
181
NZZ, 30. September 1999.
182
AFP, 30. September 1999.
183
Beide Angaben nach NZZ, 6. Oktober 1999.
41
Machtorgan in Tschetschenien; alle anderen Staatsgremien seien nicht nach russischem Gesetz
gewählt worden. 184 Einen Tag später verhängte Maschadow das Kriegsrecht in Tschetschenien. 185
3.2.3
Kriegsverlauf von Oktober 1999 bis Februar 2000
Wie bereits im September den Vorschlag zu Friedensverhandlungen wies der Kreml auch im
Oktober einen von Maschadow vorgelegten Friedensplan zurück. Danach sollten die Russen alle
Kampfhandlungen einstellen und sich aus den bereits eroberten Teilen Tschetscheniens
zurückziehen. Im Gegenzug versprach Maschadow, die abtrünnigen Rebellenführer zu bekämpfen
und ihre Macht zu brechen. Außerdem schlug er vor, die Grenzüberschreitungen illegaler Banden
zu verhindern. 186 Putin lehnte den Plan unter Verweis auf Maschadows Zusammenarbeit mit
Bassajew ab. 187 Nur wenige Tage später hieß es auf russischer Seite, russische Truppen hätten den
per Haftbefehl gesuchten Bassajew im Dorf Goragorski 50 Kilometer nordwestlich von Grosny
eingeschlossen; die Tschetschenen dementierten dies jedoch. 188 Gefasst wurde Bassajew
offensichtlich nicht, er gab nur wenige Tage später ein Interview, in dem er erklärte, die Russen
seien "keine ernstzunehmenden Gegner", man habe sie "damals" besiegt und werde sie wieder
besiegen. 189
Mitte Oktober wurde deutlich, dass die russischen Truppen sich nicht mit der Errichtung einer
Sicherheitszone im nördlichen Teil Tschetscheniens zufrieden geben, sondern ihre Kontrolle auch
auf die Gebiete südlich des Flusses Terek ausweiten wollten. Ab dem Wochenende vom 16./17.
Oktober besetzten russische Einheiten die Hügel außerhalb von Grosny und gruppierten Einheiten
um. Der russische Kommandeur Generaloberst Wiktor Kasanzew bezeichnete diese Aktionen als
zweite Phase des Kriegs; dessen erste Phase, die Schaffung einer Sicherheitszone im Norden, sei
abgeschlossen. 190 Laut tschetschenischen Quellen wurden mehrere Orte westlich von Grosny und
der Flughafen bombardiert; ein größeres Gefecht mit Bodentruppen wurde aus Bamut im Westen
geme ldet. 191
Jelzin setzte den stellvertretenden Verkehrsminister Generaloberst Nikolai Koschman als bevollmächtigten Vertreter Moskaus in Tschetschenien ein und beauftragte ihn mit dem Aufbau
russischer Verwaltungsorgane und der Infrastruktur in dem von russischen Truppen eingenommenen Gebiet. Koschman hatte von April bis November 1996 in Tschetschenien den Posten
des Regierungschefs in der von Moskau eingesetzten Regierung inne, die mit dem
Waffenstillstandsabkommen ihre Tätigkeit einstellte.192
Am 20. Oktober meldete Vize-Generalstabschef Waleri Manilow, seit Beginn der Kämpfe in
Dagestan im August und in Tschetschenien im Oktober 1999 seien 190 Soldaten des
Verteidigungsministeriums getötet und etwa 400 verletzt worden. Man habe in knapp drei
Monaten etwa 3000 Rebellen vernichtet. Auf tschetschenischer Seite wurden weitaus geringere
184
Zit. nach NZZ, 4. Oktober 1999. Maschadow war Anfang 1997 zum Präsidenten gewählt worden. Die Wahl war
laut OSZE legitim.
185
dpa, 5. Oktober 1999.
186
AP, 10. Oktober 1999.
187
Vgl. Markus Wehner: Moskau will nicht auf halbem Weg stehen bleiben, in: FAZ, 13. Oktober 1999.
188
dpa, 13. Oktober 1999.
189
AP, 17. Oktober 1999.
190
AP, 17. Oktober 1999.
191
NZZ, 18. Oktober 1999.
192
FAZ, 18. Oktober 1999.
42
eigene Verluste angegeben, auch sprach man von bis zu 2000 getöteten russischen Soldaten. 193
Nur drei Tage nach Veröffentlichung dieser Zahlen kamen bei Raketen-Explosionen auf einem
Markt in Grosny nach Korrespondenten-Angaben etwa 140 Menschen ums Leben, über 250
wurden verletzt. Die russische Armeeführung rechtfertigte den Angriff damit, dass auf dem Markt
"Waffen an Banditen und Terroristen" verkauft worden seien. 194 Ministerpräsident Putin schob die
Verantwortung rivalisierenden tschetschenischen Gruppen zu. 195
193
dpa, 20. Oktober 1999.
194
AP, 22. Oktober 1999.
195
NZZ, 23./24. Oktober 1999.
43
In der Nacht zum 23. Oktober riegelten russische Truppen die Grenze zu Inguschetien ab, wo sich
zwischenzeitlich 160.000 tschetschenische Flüchtlinge 196 aufhielten. Gleichzeitig wurden erneut
Bamut, Goragorski, Wedeno, Samaschki
und
Serschen-Jurt beschossen. 197 Am
26. Oktober meldete der russische Fernsehsender NTW, in der Nacht zuvor seien erstmals russische Soldaten in Vororte von Grosny eingedrungen: Aufklärungseinheiten hätten sich Gefechte
mit Rebellen in Perwomaiskoie und im Stadtteil Katajama geliefert. 198 Nach russischen Angaben
befanden sich die Truppen im Westen und Norden Grosnys zu diesem Zeitpunkt 7 bis 10
Kilometer vom Stadtrand entfernt, im Osten etwa 15 Kilometer. Sie hatten den Terek auch im
Osten überschritten und das Flachland im Bezirk des Eisenbahn- und Straßenknotenpunktes
Gudermes entlang der dagestanischen Grenze besetzt. 199 Raketen auf Grosny trafen offenbar das
Haus von Rebellenführer Bassajew, das als Kommandostab genutzt wurde. Mehrere seiner
Leibwächter kamen dabei ums Leben, er selbst hielt sich nicht dort auf.200 Die russischen Militärs
meldeten, Grosny sei bereits zu 80 Prozent eingekesselt, Gudermes zur Hälfte. 201
Am 11. November lehnte Moskau ein drittes Angebot des tschetschenischen Präsidenten Maschadow zu politischen Verhandlungen ab. Der russische Außenminister Igor Iwanow erklärte
dazu, die Militäraktion könnte "schon morgen" eingestellt werden, wenn sich die Rebellen ergäben. 202 Von den politischen Entscheidungsträgern in Moskau war dies allerdings nicht gewollt.
So erklärte Putin in einem Interview Mitte November, die Armee treffe "eigenständig keine
politischen Entscheidungen"203. Der stellvertretende russische Generalstabschef Schabdurassulow
räumte ein, dass in Tschetschenien auch Fehler gemacht würden: Dafür trage Russland "die
moralische Verantwortung"204.
Bei der Konferenz der OSZE-Staats- und Regierungschefs am 18./19. November 1999 in Istanbul
beharrte Moskau auf seinen nationalen Interessen und auf seinem Kurs in Tschetschenien. Es
lehnte Kritik der westlichen Staatschefs unter Verweis auf den Einsatz der NATO im Kosovo
kategorisch ab. Die NATO-Staaten hätten kein moralisches Recht mehr, Russland zu belehren,
erklärte be ispielsweise Duma-Präsident Gennadi Selesnjow. In Zeitungen des der Jelzin-Familie
nahestehenden Verlegers Boris Beresowski wurden Fotografien gezeigt, auf denen etwa ein von
der NATO getroffener Flüchtlingstreck im Kosovo zu sehen war; in Kommentaren wurde
aufgerechnet, wie viele unschuldige Opfer der Westen in Algerien, Vietnam oder Irak zu
verantworten habe. 205 Außenminister Iwanow drohte einen Boykott des Gipfels wegen der
"antirussischen Kampagne" des Westens an206, dennoch kam es am Abend des 18. November zu
einer Übereinkunft über die Europäische Sicherheitscharta und die Schlusserklärung von Istanbul,
die die Außenminister der USA, Deutschlands, Großbritanniens, Italiens, Frankreichs und
Russlands unterzeichneten. 207 Russland stimmte der darin geforderten politischen Lösung in
196
In Nord-Ossetien waren es zu diesem Zeitpunkt etwa 10.000, im Gebiet Stawropol und in Dagestan jeweils 4000.
Reuters, 26. Oktober 1999.
197
Reuters, 24. Oktober 1999.
198
Reuters, 26. Oktober 1999.
199
NZZ, 28. Oktober 1999.
200
FAZ, 29. Oktober 1999.
201
FAZ, 29. Oktober 1999.
202
Zit. nach AP, 11. November 1999.
203
Interview in: Die Zeit Nr. 47, 18. November 1999.
204
Zit. nach AP, 11. November 1999.
205
Das Bild erschien in der Novye Izvestija; vgl. hierzu NZZ, 18. November 1999.
206
Vgl. FAZ, 18. November 1999.
207
dpa, 18. November 1999.
44
Tschetschenien zu und erklärte sich außerdem bereit, die Rolle der OSZE bei der Suche nach
dieser politischen Lösung anzuerkennen, nahm diese Zusage am Tag darauf allerdings wieder
zurück: Man habe keine Vermittlungsbemühungen akzeptiert und beabsichtige auch nicht, dies zu
tun, erklärte Iwanow im russischen Fernsehen. 208
Nachdem die russischen Truppen am 12. November meldeten, man habe die zweitgrößte
tschetschenische Stadt Gudermes - ohne Sturmangriff - eingenommen209, begann Ende November
1999 eine neue Phase der Offensive. Der stellvertretende Generalstabschef Manilow erklärte, die
russischen Truppen sollten jetzt die Kontrolle über ganz Tschetschenien erkämpfen. 210 Luft- und
Artillerie-Angriffe auf Grosny wurden verstärkt. Im Stab des nordkaukasischen
Militärkontingents in Mosdok hieß es laut Interfax, Kampfflugzeuge und Hubschrauber hätten
innerhalb von 24 Stunden 112 Einsätze in Tschetschenien geflogen. Außerdem sei die Artillerie
zu einem massiven Beschuss gegnerischer Stellungen am Südrand der Hauptstadt übergegangen,
unter anderem mit Geschützen des Typs "Grad". 211
Ende November 1999 kontrollierten die russischen Streitkräfte nach achtwöchigen Bodenoperationen den Großteil des Tieflandes in der nördlichen Hälfte Tschetscheniens; die tschetschenischen Einheiten hielten jedoch weiterhin die Hauptstadt Grosny einschließlich der daran
angrenzenden Gebiete im Süden und Osten sowie die Gebirgstäler im Süden. Am 3. Dezember
wurde gemeldet, die russische Armee habe - nach mehreren Tagen Bombardierung - die dritte
größere Stadt Argun eingenommen. Nach Angaben des stellvertretenden russischen Armeechefs
Manilow wurden dabei bis zu 100 islamistische Rebellen und 34 russische Soldaten getötet. Etwa
500 Kämpfer und ausländische Söldner hätten Argun verteidigt. 212 Gleichzeitig kamen nach
Angaben des stellvertretenden inguschetischen Innenministers Ali Dudarow in Urus-Martan 250
russische Soldaten ums Leben, nachdem ihre Einheit von tschetschenischen Kämpfern
eingekesselt und dann überrannt wurde. 213 Urus-Martan gilt als Hochburg der Rebellen, dort
verschanzten sich nach russischen Angaben Ende November etwa 3500 schwerbewaffnete
Rebellen. 214 Darüber hinaus starben bei Bombardierungen der Straßen südlich von Grosny etwa
50 Zivilisten, als ein Flüchtlingskonvoi unter Feuer geriet.215
Das russische Ultimatum für den Sturm auf Grosny Anfang Dezember veranlasste vergleichsweise wenige Bewohner, die Stadt zu verlassen. Die militärischen Verantwortlichen erklärten, die
Kämpfer hinderten die Menschen am Verlassen der Stadt, um sie als lebendige Schutzschilder zu
missbrauchen. Andere Quellen berichten, die meisten Flugblätter seien im unbewohnten Sawodski
Rajon niedergegangen, so dass die Menschen gar nicht von dem Ultimatum erfuhren. 216
Bereits Mitte Dezember erklärten die russischen Befehlshaber die schwer zugänglichen Berge im
Süden zum nächsten Ziel der Operationen. Der russische Truppenkommandant Gennadi Troschew
gab an, die russischen Truppen seien umgruppiert und verstärkt worden. 217 Während die
208
Zit. nach dpa, 20. November 1999.
209
FAZ, 13. November 1999.
210
Reuters, 26. November 1999.
211
Vgl. NZZ, 29. November 1999.
212
Reuters, 3. Dezember 1999.
213
AP, 3. Dezember 1999.
214
dpa, 22. November 1999.
215
Dies meldete Itar-Tass, zit. nach dpa, 3. Dezember 1999.
216
Petr Akopov: Budet liždat’ armija?, in: Nezavisimaja Gazeta, 8. Dezember 1999.
217
AP, 17. Dezember 1999.
45
Militärführung in Grosny erklärte, der Vorstoß russischer Truppen am 15. Dezember ins
Stadtzentrum sei gescheitert, dementierten russische Ste llen dies. 218
Am 22. Dezember erklärte Ministerpräsident Putin, die Offensive gegen die tschetschenischen
Rebellen sei fast abgeschlossen, Russland werde sich aber nicht auf einen genauen Zeitpunkt
festlegen. Nach Meldung von Interfax sollten die russischen Kommandeure vor Grosny bereits
den Befehl für die Einnahme der Hauptstadt erhalten haben. 219 Ähnlich äußerte sich Verteidigungsminister Sergejew. Die "aktive Phase" der Operation in Tschetschenien nähere sich ihrem
Ende. Der Kampf um Grosny werde die letzte größere Auseinandersetzung des Krieges sein. 220
Doch auch nach mehreren Tagen fortgesetzten Artillerie-Beschusses konnten die russischen
Truppen kein Vorankommen bei der Einnahme von Grosny verzeichnen.
Die tschetschenischen Kämpfer leisteten stärkeren Widerstand als erwartet und festigten ihre
Positionen offensichtlich. So erklärte der Feldkommandant Aslanbek Abdul Hadschijew der
Nachrichte nagentur AP Ende Dezember 1999, die 3000 bis 5000 tschetschenischen Kämpfer
seien in der Lage, die Stadt zu halten. 221 Aus russischen Militärkreisen hieß es, die Tschetschenen
hätten im Norden der Stadt einen Tank mit Ammoniak und Chlorgas zur Explosion gebracht. 222
Der Großangriff auf Grosny war vermutlich bereits Ende Dezember festgefahren, als in den
offiziell als befriedet geltenden nördlichen Distrikten Naurski und Nadteretschni zwei
Kontrollposten und ein Polizei-Hauptquartier von Unbekannten beschossen wurden. In beide
Gebiete hatte man bereits wieder tschetschenische Flüchtlinge zurückgebracht. Die Informationen
aus Grosny blieben widersprüchlich; allerdings machten die Ereignisse klar, dass die russischen
Truppen in den zentralen Quartieren der Stadt nicht Fuß fassen konnten, sondern in den
Außenbezirken mühsame und vermutlich opferreiche Positionskämpfe ausfochten. 223
Anfang Januar 2000 starteten die tschetschenischen Kämpfer eine weitere Gegenoffensive.
Heftige Kämpfe um den südlichen Stadtbezirk Tschernoretschije und um die nahe Grosny
gelegene Ortschaft Alchan-Kala brachen aus. Ein Offizier der Sondertruppen des Moskauer
Innenministeriums sagte einem Korrespondenten der französischen Nachrichtenagentur AFP, auf
beiden Seiten habe es zahlreiche Tote und Verletzte gegeben; Dutzende russischer Soldaten seien
gefangengenommen worden. 224 Widersprüchlich erwiesen sich die Meldungen über den
Gefechtsverlauf: Während der russische Verteidigungsminister Sergejew erklärte, die Operation
verlaufe nach Plan, sprach ein Vertreter des tschetschenischen Präsidenten Maschadow von einer
Kehrtwende im Krieg; Maschadow selbst warf der russischen Seite vor, Chemie-Waffen
einzusetzen. Seinen Vorschlag einer dreitägigen Feuerpause in Grosny wies Moskau ebenso
zurück225 wie eine Woche später einen weiteren Vorschlag für die Aufnahme von
Friedensgesprächen226.
Ende Januar 2000 zeichnete sich ab, dass die russischen Verluste weitaus höher waren als bis
dahin angegeben. Auch in Gebieten, die von den russischen Truppen schon Wochen zuvor eingenommen worden waren, kam es nachts weiterhin zu Angriffen verbliebener tschetschenischer
218
AP, 17. Dezember 1999.
219
AP, 22. Dezember 1999.
220
AP, 29. Dezember 1999.
221
AP, 29. Dezember 1999.
222
Dies meldete Itar-Tass, allerdings unbestätigt. Zit. nach AP, 29. Dezember 1999.
223
NZZ, 31. Dezember 1999.
224
AFP, 5. Januar 2000.
225
Reuters, 5. Januar 2000.
226
AP, 12. Januar 2000.
46
Kämpfer auf russische Soldaten. Auch der einige Tage verschollene russische General Malofejew
wurde tot aufgefunden. Die Losung "Der Tag gehört den Russen, die Nacht den Tschetschenen"
machte die Runde. 227 Das Komitee der Soldatenmütter Russlands gab gegenüber Interfax am 14.
Januar 2000 an, dass bis zu diesem Zeitpunkt rund 3000 russische Soldaten aller
Truppengattungen gefallen und etwa 6000 verletzt worden seien. Demnach wären die Verluste
seit Beginn des Feldzugs Ende September 1999 um vieles höher als das russische
Verteidigungsministerium und andere Behörden offiziell eingestanden hatten. Das Verteidigungsministerium wies die Zahlen als "nicht der Wirklichkeit entsprechend und sogar absurd"
zurück. 228 Am 25. Januar 2000 meldete Interfax die offiziellen von Verte idigungs- und Innenministerium angegebenen Zahlen. Danach starben in Dagestan und Tschetschenien seit August
1999 insgesamt 1173 Soldaten der föderalen Streitkräfte; 3487 sollen verletzt worden sein. Die
Zahl der getöteten tschetschenischen Kämpfer liege - so die offizielle Angabe - bei 10.000. 229
3.3
Krieg um Wählerstimmen?
Zur Perzeption der Kriege in der russischen Öffentlichkeit
Viele russische Analysten sind der Auffassung, dass der zweite Tschetschenien-Krieg nur
begonnen wurde, um die Kontinuität der Macht der Jelzin-Treuen zu garantieren und Gesellschaft
und politische Eliten um den Wunsch-Nachfolger von Boris Jelzin, Wladimir Putin, zu
konsolidieren. 230 Tatsächlich stieg die Reputation des von Jelzin nach Tschernomyrdin, Kirijenko,
Primakow und Stepaschin Anfang August 1999 neu eingesetzten, weitgehend unbekannten
Ministerpräsidenten Wladimir Putin im Verlauf des Krieges geradezu kometenhaft.
Putins hartes Vorgehen gegen die "Banditen" in Tschetschenien, die man in Moskau für die
Bombenanschläge auf russische Wohnhäuser verantwortlich macht, fand breite Zustimmung. Auf
die Frage nach dem nächsten Präsidenten der RF nannten in einer Umfrage zwischen 23. und 25.
Oktober 1999 33,6 Prozent der Befragten Putin und 30,2 Prozent Jewgeni Primakow. Während
Primakow aber in den nächsten Tagen unter 20 Prozent sank, stiegen die Stimmen für Putin
schlagartig. Zwischen 30. Oktober und 1. November wollten ihn 39,9 Prozent als nächsten
russischen Präsidenten, zwischen 6. und 9. November bereits 51,2 und zwischen 13. und 15.
November 51,4 Prozent. Zwar fiel Putin anschließend wieder unter 50, nicht aber unter 48
Prozent. 231 Seine Popularität schlug sich in den Duma-Wahlen im Dezember 1999 in den
Stimmen für seine neugegründete Partei Edinstwo nieder. Die von vielen als "Kreml-Partei"
bezeichnete Gruppierung lag nur knapp hinter der stärksten Partei, den Kommunisten. 232
Auf der Beliebtheitsskala der russischen Politiker kletterte Putin bereits Mitte Oktober 1999 hinter
KP-Chef Sjuganow und überholte sogar den überaus beliebten früheren Ministerpräsidenten
Jewgeni Primakow, dessen Wahlbündnis mit dem Moskauer Oberbürgermeister Luschkow
ursprünglich gute Chancen hatte, stark aus den Wahlen hervorzugehen. 233 Putins harter Kurs
227
FAZ, 24. Januar 2000.
228
dpa, 14. Januar 2000. Die Opferzahlen wurden von den regionalen Komitees der Soldatenmütter
zusammengetragen.
229
Interfax, 25. Januar 2000.
230
Vgl. Alexander Iskandarjan: Postmodernistischer Krieg in Tschetschenien, in: Wostok Nr. 1, 2000,
S. 99–101.
231
Internet-Umfrage der Nezavisimaja Gazeta, 9. Dezember 1999.
232
Abgeschlagen folgten der Primakow-Luschkow-Wahlblock "Vaterland - Ganz Russland", die Reformer-Partei
Union rechter Kräfte (SPS), Schirinowskis LDPR und JaBLoko.
233
FAZ, 15. Oktober 1999.
47
verhalf ihm, am 26. März 2000 zum Präsidenten gewählt zu werden. Sowohl Jewgeni Primakow
als auch Wiktor Tschernomyrdin zogen ihre Kandidatur gegen ihn bereits im Febr uar zurück. 234
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Perzeption der beiden TschetschenienKriege in der russischen Öffentlichkeit, die völlig unterschiedlich ist. Diese unterschiedliche
Perzeption beeinflusste auf unterschiedliche Weise den Verlauf beider Kriege, hatte aber auch
Auswirkungen auf die Ergebnisse der Duma-Wahlen im Dezember 1999 und die Präsidentenwahl
im März 2000.
Der erste Krieg wurde in der russischen Bevölkerung von Anfang an klar abgelehnt. 235 Bereits zu
Beginn des Jahres 1995 zeigte sich Unmut und Wut in der russischen Bevölkerung im Hinblick
auf den Einsatz in Tschetschenien236, insbesondere bei Müttern junger Rekruten, die nichts über
das Schicksal ihrer Söhne wussten. 237 Viele von ihnen reisten ins Hauptquartier der russischen
Truppen nach Mosdok in Nord-Ossetien in der Hoffnung, etwas über ihre Kinder in Erfahrung
bringen zu können. 238 Am 8. März 1995 begann das gegen den Tschetschenien-Krieg kämpfende
Komitee der russischen Mütter einen Friedensmarsch nach Grosny; es wurde allerdings Ende
März an der Einreise nach Tschetschenien gehindert. 239 Immer wieder wurde der Vorwurf laut,
die russische Armee sei unverhältnismäßig auch gegen Zivilisten in Tschetschenien vorgegangen.
Fernsehberichten vom 16. Oktober 1996 zufolge sollen Menschen u.a. durch Vakuum-Bomben
getötet worden sein. 240 Diese Bomben implodieren durch Unterdruck und zerfetzen dabei
Trommelfelle und Lungen. 241
Fernsehen und Presse kritisierten im ersten Krieg die russischen Aktionen in Tschetschenien,
nannten Namen, zeigten Opfer. In der Duma einte die Aktion zur "Friedensstiftung" in Kaukasien
sogar Demokraten und Kommunisten. Die Versuche der Regierung im ersten Krieg, die
journalistische Berichterstattung aus Tschetschenien zu behindern bzw. Berichte zu zensieren,
bargen nach Auffassung russischer Analysten die Gefahr, "dass die Demokratie in Russland zum
ersten Opfer der Ereignisse in Tschetschenien" wurde"242. Doch die meisten Journalisten ließen
234
FAZ, 7. Februar 2000.
235
Ende Dezember 1994 sprachen sich in einer Umfrage 63 Prozent von 1367 Befragten gegen einen Militäreinsatz
in Tschetschenien aus, nur 20 Prozent waren dafür. 63 Prozent fürchteten einen längeren Krieg im Kaukasus, 67
Prozent hegten Misstrauen gegenüber Präsident Jelzin. Gegen ihn sprachen sich im Januar 1995 sogar 84 Prozent
von 1600 Befragten aus. Vgl. Babst, Krieg in Tschetschenien, S. 15, unter Verweis auf Segodnja.
236
Jelzin verlor bereits ab Mai 1995 den parlamentarischen Rückhalt für den Krieg in
Tschetschenien. Die Duma verabschiedete am 12. April mit 286 Ja-Stimmen gegen eine
Gegenstimme ein Gesetz, das den Einsatz der russischen Streitkräfte in Tschetschenien
verbot. Die von der Duma am 19. Mai 1995 geforderten Verhandlungen mit den
tschetschenischen Kämpfern lehnte Jelzin ab. Anfang Juni forderte die Duma erneut ein Ende
der russischen Militäraktion in Tschetschenien. Der Föderationsrat rief das
Verfassungsgericht an: es sollte die Rechtmäßigkeit des Streitkräfte-Einsatzes in
Tschetschenien prüfen.
237
Am 23. Februar 1995 jährte sich der Tag der Deportation des tschetschenischen Volkes durch Stalin zum 51.
Mal. Die Tageszeitung Segodnja ermittelte in einer Umfrage, 57 Prozent der Russen gaben Jelzin die Schuld für
den Krieg in Kaukasien, lediglich 26 Prozent Dudajew.
238
NZZ, 10. Januar 1995.
239
Vgl. Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien, S. 78.
240
dpa, 16. Oktober 1996.
241
Solche Bomben testeten die USA im Vietnam-Krieg; heute soll sie die russische Armee als einzige weltweit in
ihrem militärischen Arsenal haben.
242
V. Baranovskij: Rossija i ee bližajšee okrušenie: konflikty i usilija po ich uregulirovaniju, in: Mirovaja
Ekonomika i Meždunarodnye Otnošenija Nr. 1, 1996, S. 34 - 48 (39).
48
sich nicht entmutigen. Nach der Geiselnahme von Kisljar und den Kämpfen in Perwomaiskoje
Anfang Januar 1996 warf die Moskauer Tageszeitung Iswestija dem Kreml vor, man habe das
Ausmaß der Tragödie von Perwomaiskoje ebenso verbergen wollen wie das des Kampfes um
Grosny im Jahr zuvor. Man habe sich daran gewöhnt zu lügen, zumal es keine Augenzeugen gebe
und Journalisten oft gewaltsam gehindert würden, die Kampfhandlungen aus der Nähe zu
beobachten. Unter anderem hieß es, die Terroristen seien "zweifellos Verbrecher. Die Kriminalität
dieser Art ist aber gewöhnlich mit Fehlern in der großen Staatspolitik verbunden. Sie wurde von
einem wahrhaftig beispiellosen Terrorakt ins Leben gerufen, der auf Staatsebene geplant und
verwirklicht wurde - dem Krieg in Tschetschenien"243.
Der populäre politische Kommentator der Iswestija Otto Lazis trat aus Protest gegen die Aktion in
Perwomaiskoje aus dem Präsidentenrat aus, dem prominente Intellektuelle ehrenamtlich
angehörten. Lazis warf Jelzin in einem offenen Brief vor, er höre auf Leute, deren Ratschläge
einmal mehr die moralisch-politische Niederlage der Anhänger Dudajews in eine Niederlage für
Russland verwandelt hätten. Insgesamt zeigte sich Jelzin zu Beginn des Jahres häufig schlecht
informiert, wenn es bei öffentlichen Auftritten um die aktuellen Ereignisse in Tschetschenien
ging. Die russische Presse krit isierte den Präsidenten deswegen mehrfach. 244
Während des (auch während des ersten Kriegs stattfindenden Wahlkampfs) wurde Jelzin nicht
zuletzt von seinen politischen Konkurrenten attackiert. So forderte ihn JaBLoko-Chef Grigori
Jawlinski unmissverständlich auf, einen radikalen Kurswechsel zu vollziehen und Teile der
Regierung abzulösen. Jawlinski erklärte, er werde "auf keinen Fall und auf keinem Posten" in
einem Kabinett Jelzins arbeiten. Wer für Jelzin stimme, unterstütze eine Politik, "die zu
Massenmorden, Verletzungen der Menschenrechte, Verelendung eines Großteils der Menschen
und der Diskreditierung der Demokratie" geführt habe.245 Nicht zuletzt aufgrund der Ablehnung
des Kriegs in der Bevölkerung dürfte die russische Regierung unter Druck von Oppositionspolitikern ab Sommer 1996 einen gemäßigteren Kurs eingeschlagen haben. Mitte Mai 1996
fordert Grigori Jawlinski Jelzin auf, Verteidigungsminister Gratschow zu entlassen: dies sei die
Vorbedingung, wenn JaBLoko Jelzin bei den Präsidentschaftswahlen unterstützen solle. 246 Am
19. Juni 1996 entließ Jelzin Gratschow; zu seinem Nachfolger wurde Igor Rodionow ernannt.
Wenige Tage später mussten drei weitere Vertreter einer harten Linie gegenüber den
Tschetschenen ihren Hut nehmen: Geheimdienstchef Barsukow 247, der erste stellvertretende
Ministerpräsident Soskowez und Jelzins Chef-Leibwächter Alexander Korschakow. 248
Die Situation beim zweiten Einsatz der föderalen Streitkräfte seit Herbst 1999 gestaltet sich
anders. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die Berichterstattung. Ausländische Journalisten
werden nicht hinter die russischen Linien gelassen249; das Material russischer Berichterstatter,
243
Izvestija, 19. Januar 1996.
244
Elfie Siegl: Jelzin im Dickicht von Behauptungen und Widersprüchen, in: FAZ, 23. Januar 1996.
245
dpa, 27. Mai 1996.
246
Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien, S. 115.
247
Er wurde durch seinen Stellvertreter Nikolai Kowaljow, einen altgedienten KGB-Hardliner, ersetzt. NZZ, 10. Juli
1996.
248
Zu dessen Beziehung zu Jelzin seine Erinnerungen: Aleksandr Koržakov: Boris El’cin: Ot rassveta do zakata.
Moskau 1997
249
Ende Dezember nahmen russische Einheiten in der Nähe von Grosny vorübergehend sechs
westliche Journalisten fest, denen angeblich die Akkreditierung fehlte. Die in Moskau
registrierten Journalisten des Londoner Daily Telegraph, des Madrider El Pais, der
amerikanischen Zeitungen Boston Globe und Washington Post sowie zwei weitere
Mitarbeiter des spanischen Fernsehsenders Antena 3 wurden erst nach einigen Tagen wieder
freigelassen.
49
wird, sofern vorhanden, streng zensiert. (Fernseh-)Bilder toter russischer Soldaten aus den
Kampfgebieten gelangten in den ersten Kriegsmonaten nicht an die Öffentlichkeit; zu sehen
waren allenfalls in Schützengräben liegende schießende Soldaten oder einrückende Panzer und
Fahrzeugkolonnen. Auf westliche Kritik reagieren auch die liberalen Medien häufig mit Bildern
vom Krieg im Kosovo, die Tote und zerstörte Häuser zeigen. 250 Kritische Pressestimmen, die auf
die Situation der tschetschenischen Zivilbevölkerung aufmerksam machten, beschränkten sich in
den ersten Monaten des zweiten Kriegs weitgehend auf die westliche Berichterstattung. 251
Auch die verschiedenen politischen Lager waren im zweiten Krieg einig: "Jelzin-Feinde" wie der
kommunistische Duma-Präsident Selesnjow und der Moskauer Oberbürgermeister Juri Luschkow
stellten sich - wenigstens bis zu den Duma-Wahlen im Dezember 1999 - hinter die
Tschetschenien-Politik der Regierung. Ende September, als die russischen Luftangriffe auf
Tschetschenien zunahmen, wurde lediglich ein Einsatz von Bodentruppen diskutiert und sogar
mehrheitlich abgelehnt: sowohl von der Union der rechten Kräfte SPS um Ex-Regierungsmitglied
Boris Nemzow als auch vom früheren Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow. Er warnte
eindringlich vor einem Bodenkrieg und dessen Folgen: Man riskiere große Verluste in den
russischen Truppen und in der tschetschenischen Bevölkerung; außerdem werde so den
Separatisten noch mehr Auftrieb verliehen und Russland müsste sich ausländischer Kritik aussetzen. 252 Nachdem der JaBLoko-Vorsitzende Grigori Jawlinski Anfang Februar Verhandlungen
(unter kaum erfüllbaren Bedingungen) mit den Tschetschenen vorschlug, kam von Seiten des als
liberal geltenden Anatoli Tschubajs heftige Kritik: Er warf Jawlinski Verrat vor. In
Tschetschenien sei die Wiedergeburt der russischen Armee in Gange, und wer nicht so denke, sei
kein russischer Politiker. 253
Schließlich stand beim zweiten Einsatz in Tschetschenien auch die russische Bevölkerung hinter
der Intervention. Mitte November 1999 wurde bei einer Umfrage ermittelt, dass nur sieben
Prozent der Bevölkerung die Kriegsführung in Tschetschenien für übertrieben hart hielt, die
Hälfte hieß sie gut, ein knappes Drittel forderte sogar größere Härte und Entschiedenheit. 254
Prominente Vertreter der Intelligenzija, unter ihnen der Schriftsteller und LiteraturNobelpreisträger Alexander Solschenyzin, verteidigten die russischen Angriffe mit dem Verweis
darauf, dass "der Terror" im Nordkaukasus nicht weiter geduldet werden müsse.255
Allerdings begann parallel zu bzw. nach den Wahlen ein allmählicher Stimmungsumschwung, der
sich nach Jelzins Rücktritt am 31. Dezember 1999 verstärkte. Zum ersten Mal zeigten
regierungskritische russische Fernsehsender Ende November auch Bilder gefallener russischer
Soldaten; die Organisation der Soldatenmütter warf den Militärs vor, Opferstatistiken zu
fälschen. 256 Auch aus anderen politischen Lagern, die vor den Parlamentswahlen wohl aus Angst
vor Stimmenverlusten die Regierungspolitik befürworteten, regt sich seit Ende Dezember Kritik.
Am 27. Dezember 1999, eine Woche nach den russischen Duma-Wahlen, erklärte etwa
Präsidentschaftskandidat Grigori Jawlinski, seine Fraktion JaBLoko werde nach Wegen suchen,
den Krieg in Tschetschenien zu beenden. 257 Jawlinski hatte gemeinsam mit Jegor Gaidar auch
250
Etwa Nezavisimaja Gazeta, 7. Dezember 1999.
251
Stellvertretend sei genannt: Tomas Avenarius: Der Tod auf dem Schulhof, in: Süddeutsche Zeitung,
12. Oktober 1999.
252
Zit. nach NZZ, 4. Oktober 1999.
253
Vgl. NZZ, 18. November 1999.
254
Vgl. NZZ, 18. November 1999.
255
AFP, 22. November 1999.
256
Vgl. NZZ, 29. November 1999.
257
Interview des russischen Fernsehens, Auszüge in der ARD-Tagesschau am 27. Dezember 1999 um
20 Uhr.
50
Anfang Februar 1996 eine Initiative von Boris Nemzow, dem Gouverneur von Nischni
Nowgorod, unterstützt, der versucht hatte, mit Unterstützung des Komitees der Mütter Russlands
zehn Millionen Unterschriften gegen den Krieg in Tschetschenien zu sammeln. 258 Seit Ende
Dezember 1999 gelingt es russischen und ausländischen Journalisten immer häufiger, ins
Kriegsgebiet zu gelangen und von dort zu berichten. 259
4. Zur Komplexität einer Konfliktstruktur: Ursachen und Hintergründe
Beide Tschetschenien-Kriege stehen im Zeichen eines vielschichtigen Konflikts zwischen Russen
und Tschetschenen. Neben den historischen Erblasten der Beziehung sind in den vergangenen
Jahren viele gegenseitige Ressentiments gewachsen, die mittelfristig wohl kaum einfach zu
beheben bzw. zu klären sind. Mehrere der Entstehungsbedingungen der Auseinandersetzung sind
bereits im Vorfeld der Kriege angesiedelt und wurden durch die bewaffneten
Auseinandersetzungen
noch
verstärkt.
Dazu
gehört
die
tschetschenische
Unabhängigkeitserklärung, die Moskau mit Verweis auf die Verfassung der RF nicht akzeptiert.
Moskau beharrt auf die Zugehörigkeit Tschetscheniens zur Föderation und will eine Sezession mit
allen Mitteln unterbinden. Zu den weiteren konfliktbildenden Faktoren des russischtschetschenischen Verhältnisses gehören die wachsende Kriminalität in der RF und ein in
Wechselwirkung damit stehender Identitätskonstruktionsprozess der tschetschenischen
Gesellschaft.
Moskau hat verschiedene Gründe, in Tschetschenien zu intervenieren. Hierzu gehören geostrategische, ökonomische und ideologische Motive. Die russische Führung ist mit verschiedenen
explosiven Konflikten am Südrand der RF konfrontiert und sieht in der Intervention dort die
einzige Möglichkeit, die territoriale Integrität des Staates aufrechtzuerhalten. Dies hat nicht
zuletzt handfeste wirtschaftliche Gründe, die eng mit dem Energiereichtum der kaspischen Region
verknüpft sind. Schließlich hat Moskau auch ideologische Motive: Ängste vor einem radikalen
Islam im Süden der RF sind nicht neu, wachsen aber zunehmend.
Abschließend betrachtet dieses Kapitel militärische Gesichtspunkte und versucht einen Vergleich
beider Kriege im Hinblick auf das russische Vorgehen und die tschetschenische Gegenwehr.
Moskau hat sein Vorgehen in Tschetschenien nie offiziell als Krieg erklärt, sondern deklariert es
als Kampf gegen Terroristen und Banditen. Diese Aktion hat jedoch eine weitaus größere
Dimension als etwa die sowjetische Intervention in Afghanistan und übertrifft auch den ersten
Einmarsch in Tschetschenien um vieles. Zu Beginn des zweiten Kriegs warf Moskau über ein
Drittel seiner verfügbaren Truppen in den Krieg, d.h. de facto 36 Prozent seiner operational
verfügbaren Truppenstärke. Im Vergleich mutet diese Zahl gigantisch an: beim ersten Krieg in
Tschetschenien waren es lediglich 7 Prozent, bei der Afghanistan-Intervention (noch zur Zeit der
Roten Armee) nur 2 Prozent der verfügbaren Truppen. 260
4.1
Entstehungsbedingungen im Vorfeld
4.1.1
Tschetschenien als Föderationssubjekt
Zu den Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen des Konflikts, die sich bereits im Vorfeld
der Kriege herausbildeten und maßgeblich zur Eskalation der Situation beitrugen, gehört der
tschetschenische Wunsch nach Unabhängigkeit und Abtrennung von der RF, den Moskau nicht
258
Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien, S. 107.
259
Vgl. NZZ, 31. Dezember 1999.
260
Vgl. Halbach, Regionale Dimensionen des zweiten Tschetschenienkriegs, S. 1.
51
zulassen will. Am 12. März 1992 nahmen die Tschetschenen eine eigene Verfassung an. Den
Föderationsvertrag mit Russland, der das Verhältnis zwischen Russland und den autonomen
Gebieten und Republiken auf eine neue rechtliche Grundlage stellt, unterzeichnete Tschetschenien
am 31. März 1992 261 nicht - dies hat es bis heute nicht getan. Es bestand auf seinem souveränen
Status außerhalb der RF. Völkerrechtlich wurde die Republik bis vor Kriegsausbruch von Estland,
Litauen, Iran und der Türkei anerkannt. Am 7. Juni 1996 wandte sich der Nationalkongress der
Tschetschenischen Republik Itschkerija an die Vereinten Nationen und stellte den Antrag, die
Republik als Subjekt des Völkerrechts anzuerkennen und als eigenstä ndigen Staat zu
betrachten. 262
Die Verfassung der früheren RSFSR sah für die Autonomen Republiken kein Recht auf Austritt
vor. Die Autonome Republik hätte allenfalls den Anspruch darauf erheben können, wenn ihr die
"innere Selbstbestimmung" verweigert worden wäre; dies war aber nicht der Fall. Das russische
Verfassungsgericht hat darauf verwiesen, dass der Status eines Föderationssubjekts nach dem
Verfassungsrecht nur im gegenseitigen Einvernehmen der RF mit dem betreffenden Subjekt
geändert werden kann. Außerdem führte das Gericht aus, dass das Selbstbestimmungsrecht der
Völker "nicht als Ermächtigung oder Ermunterung zu Maßnahmen verstanden werden kann,
welche die territoriale Unversehrtheit oder die politische Einheit souveräner und unabhängiger
Staaten, die sich in ihrem Verhalten von dem Grundsatz der Gleichberechtigung und
Selbstbestimmung der Völker leiten la ssen, teilweise oder vollständig auflösen oder beeinträchtigen würden". 263
Im Kontext mit dem tschetschenischen Unabhängigkeitsstreben wird immer wieder die sog.
Tatarstan-Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 13. März 1992 angeführt. Gem. Art. 78 der
Verfassung der RF von 1993 können die Exekutivorgane der RF und die jeweiligen Föderationssubjekte übereinkommen, gegenseitig einen Teil ihrer Vollmachten zu übertragen, sofern
dies nicht der Verfassung und den föderalen Gesetzen widerspricht. 264 Moskau schloss bisher 35
solcher sog. Kompetenzabgrenzungsverträge mit neun Republiken (Tatarstan, KabardinoBalkarien, Baschkortostan, Nord-Ossetien-Alanija, Jakutien (= Sacha), Burjatien, Udmurtien,
Komi und Tschuwaschien), 24 Gebieten und zwei Autonomen Kreisen. Tatarstan erhielt dabei
den höchsten Grad an wirtschaftlicher und politischer Selbständigkeit.
Im "Tatarstan-Urteil" wurde hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechts der Völker eine Passage
der "Friendly-Relations-Declaration" zitiert, mit der sich begründen lässt, dass ein Volk (auch
ohne Völkerrechtssubjekt zu sein) im Ausnahmefall einer unzumutbaren Diskriminierung das
Recht hat, sich vom unterdrückenden Staat abzuspalten. Das "Tatarstan-Urteil“ macht deutlich,
"dass das russische Verfassungsgericht das Selbstbestimmungsrecht der Völker als starkes, unter
Umständen vielleicht sogar zu rechtmäßigen Unabhängigkeitsforderungen führendes Recht
ansieht"265. Tatarstan, das den Föderationsvertrag ebenso wie Tschetschenien nicht
unterzeichnete, wurde ein zweiseitiges Abkommen mit der RF zugestanden, das der Republik
einen besonderen Status innerhalb der Föderation zubilligen würde, solange der grundsätzliche
Vorrang der russischen Verfassung von 1993 und der föderalen Gesetze in Fragen gemeinsamer
oder föderaler Zuständigkeit unangetastet bliebe. Zu einem ersten Vertrag über die Delegierung
261
Neben Tschetschenien unterzeichnete auch Tatarstan nicht, allerdings erkennen die Tataren an, dass ihre
Republik Teil der RF ist.
262
Rossija i Èeènja, S. 124.
263
Zit. nach Deppe, Das "Tschetschenien-Urteil", S. 118.
264
Einen Überblick über die Zuständigkeiten von Zentrum und Regionen bietet Eberhard Schneider: Das politische
System der Russischen Föderation. Opladen 1999, S. 130 ff.
265
Deppe, Das "Tschetschenien-Urteil", S. 120.
52
föderaler Vollmachten an die Republik Tatarstan kam es im Februar 1994. 266 Im Vergleich mit
dieser Entscheidung zu Tatarstan betonte das russische Verfassungsgericht in seinem Urteil zu
Tschetschenien die eigene staatliche Souveränität und das Gewalt verbot wieder stärker. 267
Die westlichen Staaten wissen um die völkerrechtliche Situation hinsichtlich einer Sezession
Tschetscheniens. So wurde bisher nie gefordert, eine Unabhängigkeit der Republik anzuerkennen.
Moskau wurde gemahnt, es dürfe den Terrorismus bekämpfen, aber nur in Übereinstimmung mit
den internationalen Konventionen über Menschenrechte. Ein Ausschluss aus dem Europarat oder
Sanktionen gegen die RF erfolgten nicht. 268 Allenfalls könnte der Westen (wie er dies schon im
ersten Krieg hätte tun können) Tschetschenien als unabhängigen Staat mit der Begründung
anerkennen, dass es diesen Statuts faktisch schon erlangt habe, da Moskau auf dessen Gebiet
keine wirkliche Herrschaft mehr ausübe und 1992 von dort seine Truppen zurückgezogen habe.
Andere Staaten hätten auch anerkennen können, dass Tschetschenien ein Gebiet unter fremder
bzw. kolonialer Herrschaft sei, und daher bewaffneter Widerstand gegen Russland einen
gerechten, den Schutz der Staatengemeinschaft verdienenden Befreiungskampf darstelle. 269
Beides erfolgte bisher nicht.
4.1.2
Kriminalität
Zu den offiziellen Gründen Moskaus für das Vorgehen in Tschetschenien gehört der Kampf gegen
Kriminelle. In der russischen Bevölkerung wird dies goutiert, denn viele Bürger fühlen sich von
der wachsenden (organisierten) Kriminalität, an der tschetschenische Gruppierungen maßgeblich
beteiligt sind, bedroht. Aus russischer Sicht ist ein Vorgehen gegen die sog. "TschetschenenMafia" una bdingbar. Tschetschenische kriminelle Gruppierungen erpressten vor allem zu Beginn
der 90er-Jahre in Moskau vielfach große Unternehmen, vorzugsweise Banken und ausländische
Firmen. Zwar erklärte der Chef der Sondereinheit OMON im Oktober 1995, die meisten
tschetschenischen Mafia-Mitglieder seien zu Beginn des Kriegs 1994 in ihre Heimat
zurückgekehrt, um an der Seite Dudajews gegen die russischen Truppen zu kämpfen. Doch
unterstützen die in Moskau und St. Petersburg zurückgebliebenen "Paten" den Widerstand in
Tschetschenien finanziell. 270
Das Geld dafür stammt nach russischen Angaben hauptsächlich aus Geldwäsche-Operationen,
Fahrzeug-Diebstahl und Schmuggel. Die tschetschenischen Banden haben offensichtlich Macht
über die staatlichen Strukturen Tschetscheniens, was ein Vorgehen der tschetschenischen
Regierung gegen sie ausschließt und Operationen via tschetschenische staatliche Stellen, etwa die
dortige Staatsbank, ermöglicht. Auf solchen Wegen fließen immer häufiger gewaschene Gelder in
legale russische Unternehmungen, was einen nicht geringen Anteil der tschetschenischen Clans an
der gesamten Wirtschaftskriminalität ausmacht. Steigender Einfluss der tschetschenischen
Gruppierungen zeigt sich in zunehmenden Auseinandersetzungen mit georgischen, armenischen
und aserbaidschanischen Gruppierungen, die von Tschetschenen offenbar mehr und mehr unter
266
Gem. Art. 78 Abs. 2 der Verfassung der RF können deren Exekutivorgane einen Teil ihrer Vollmachten auf die
Föderationssubjekte übertragen, sofern dies nicht der Verfassung oder den föderalen Gesetzen widerspricht.
267
Vgl. Deppe, Das "Tschetschenien-Urteil", S. 119.
268
Vgl. die Aussage des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Lord David RussellJohnston, beides sei unwahrscheinlich. Zit. nach FAZ, 21. Januar 2000.
269
Siehe Theodor Schweisfurth: Tatarstan könnte Vorbild für Tschetschenien sein. Russland, Kaukasus,
Selbstbestimmung, Sezession, in: FAZ, 20. Januar 1995; vgl. auch Alfred Verdross/Bruno Simma: Universelles
Völkerrecht. Theorie und Praxis. Berlin, 3. Aufl., 1984, S. 227 ff.
270
Vgl. Ulrich Schmid: Gnadenlose Bruderschaften. Aufstieg der russischen Mafia. Paderborn 1996, S. 53.
53
Druck gesetzt werden. 271 Viele russische Bürger fühlen sich von dieser "post-kommunistischen"
Kriminalitätsspirale, durch die etwa in Moskau wöchentlich oft mehrere Personen umkommen,
immens bedroht.
Zu einem Höhepunkt der im russischen Zentrum perzipierten Bedrohung wurden die Bombenangriffe auf Wohnhäuser in Moskau, Wolgodonsk und Buinaksk, die - bislang unbewiesen islamischen Fundamentalisten aus Tschetschenien zugeschrieben werden. Die Angst vor Terror
führte in den großen russischen Städten zur Gründung von Nachbarschaftswachen und zivilen
"Selbstschutz-Organisationen", die Keller nach Sprengstoff durchsuchten und Eingänge in
wechselnden Schichten bewachten, um sich vor möglichen Attentätern zu schützen. 272 Am 29.
Dezember meldete der FSB, in Zusammenhang mit den Anschlägen auf Wohnhäuser im Sommer
seien acht Personen festgenommen worden. Der für die Terrorismus-Bekämpfung zuständige
Beamte Wladimir Koslow erklärte laut Interfax, die drei mutmaßlichen Haupttäter würden in
Tschetschenien vermutet. 273
Viele der politischen Entscheidungsträger in Russland haben im Zusammenhang mit beiden
Kriegen in Tschetschenien diese Ängste instrumentalisiert. Tschetschenien wird als "schwarzes
Loch" in Kaukasien bezeichnet, wo Kriminalität sich breit macht und durch dessen Gebiet Drogen
und Waffen nach Russland kommen. 274 Der Terrorismus in Tschetschenien sei um so
scheußlicher, erklärte Präsident Jelzin im März 1996 in einem Interview, als er vor allem die
Schutzlosen und Schwachen treffe. Von "Plötzlichkeit, Verrat und Brutalität", mit der die
Tschetschenen vorgingen, habe man sich in Budjonnowsk und Kisljar überzeugen können. 275 Mit
diesem Argumentationsmuster wurde von russischen offiziellen Stellen in beiden Kriegen gezielt
argumentiert. Die Ereignisse in Tschetschenien seien von Anfang an "ein terroristischer Krieg,
entfesselt von Banditen, die Unterschlupf gefunden haben in Tschetschenien, einer besonders
kriminell-terroristischen Enklave"276.
Die russische Regierung versuchte in den vergangenen Jahren der Angst der Bevölkerung vor der
steigenden Kriminalität mehrfach mit groß angelegten Aktionen zu begegnen, die ein hartes
Vorgehen gegen Kriminelle aller Art spiegeln sollten. Während Wirtschaftskriminelle dabei
weitgehend verschont bleiben, wird auf Straßen, Plätzen und in U-Bahn-Stationen Entschlossenheit demonstriert. Gegen Menschen aus den südlichen Republiken ist das behördliche Vorgehen dabei vergleichsweise aggressiv, Vorurteile sind allgegenwärtig. Menschen mit kaukasischem Aussehen, dunkler Haut und schwarzem Haar werden weitaus häufiger als alle anderen von
der Polizei des Innenministeriums aufgehalten und kontrolliert. Die Reaktionen auf die abschätzig
als "Schwarze" (èernyje) Bezeichneten reichen auch unter der Zivilbevölkerung von unhöflich bis
feindselig. Ein wachsender Rassismus ist in den großen russischen Städten nicht zu übersehen. 277
271
Leonid L. Fituni: Das organisierte Verbrechen in Russland, in: Reinhard C. Meier-Walser et al. (Hg.):
Organisierte Kriminalität. Bestandsaufnahme, transnationale Dimension, Wege der Bekämpfung. München 1999,
S. 244 – 277.
272
Kerstin Holm: Nebelwände, Marodeure, in: FAZ, 22 September 1999.
273
AP, 29. Dezember 1999.
274
Kulikow im Interview mit Moskovskie Novosti, 10. September 1996.
275
Jelzin im Interview mit ORT, Wortlaut in: Rossija i Èeènja, S. 143 - 150 (147).
276
So der von Mai bis August 1999 amtierende Ministerpräsident Sergei Stepaschin: Droht ein neuer Krieg in
Tschetschenien, Herr Stepaschin? Interview in: Die Welt, 27. September 1999.
277
Unlängst warnte das Föderationsrats-Mitglied Titow, Gouverneur der vergleichsweise reformfreudigen und
erfolgreichen Region Samara, vor einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit. Personenkontrollen nach südlichem
Aussehen seien eine Verletzung der Menschenrechte, warnte Titow. Zit. nach Reuters,
28. September 1999.
54
Insbesondere die hohe Zahl der Auftragsmorde in Russland wird den Tschetschenen
zugeschrieben. 278
Der historische Topos von der "Bedrohung aus dem Süden" (russ. južnaja ugrosa) erlebt in
Russland eine wilde Renaissance. Dazu tragen russische offizielle Stellen bewusst bei, indem sie
Ressentiments, insbesondere gegen die Tschetschenen, schüren. So wird in einer Broschüre des
russischen Innenministeriums aus einem Brief der Terek-Kosaken an ihre Atamane zitiert, in dem
es heißt, dass die Tschetschenen zusammen mit den Feinden Russlands die Russen und die
Kosaken vernichtet hätten: Die Geschichte habe "bewiesen, dass die Tschetschenen einen
eingeborenen pathogenen Hass gegen das russische Volk besitzen; das menschenwürdige
Zusammenleben mit uns ist für sie weder möglich noch wünschenswert". 279
Das offizielle Vorgehen gegen die Kaukasier in den großen russischen Städten wird von nationalistischen Presseerzeugnissen häufig gestützt. Dabei werden alte Feindbilder aufgegriffen und
für aktuelle Zwecke modernisiert. Als 1991 die Erinnerungen des russischen "KaukasusBezwingers" aus dem frühen 19. Jahrhundert, General Alexei Jermolow, neu aufgelegt wurden,
erfreute sich ein Zitat besonderer Beliebtheit:
"Am Terek leben die Tschetschenen, die bösesten Räuber, die unsere Linie überfallen. Ihre
Gemeinschaft war von ziemlich geringer Größe, vermehrte sich jedoch während der letzten Jahre
außerordentlich, dass die verbündeten Bösewichte aus allen anderen Völkern aufgenommen
wurden, die wegen der begangenen Verbrechen ihre Heimatländer verlassen mussten. Hier fanden
sie Komplizen, die bereit waren, Rache für sie zu üben oder Raub zu treiben (...) Tschetschenien
kann man zurecht das Nest aller Räuber nennen."280
4.1.3
Tschetschenische Identitätskonstruktion
Diese Dämonisierung der Tschetschenen steht für viele von ihnen im Widerspruch zur von
Moskau offiziell proklamierten Föderation unter Einschluss all ihrer Subjekte. Zu den gravierendsten Momenten, die in der Folge eine Konfliktlösung von tschetschenischer Seite erschweren
und in nächster Zeit auch verhindern werden, gehört die Tatsache, dass die Haltung der
tschetschenischen Separatisten und der Zivilbevölkerung von einem Konstruktionsprozess
nationaler Identität begleitet und geprägt wird. 281 Seit dem Ende der Sowjetunion wurde die
tschetschenische Geschichte in zunehmendem Maße neu- und uminterpretiert. Dabei tritt die
Sowjetzeit hinter die Zeit der Vorfahren des 19. Jahrhunderts zurück, deren Kampf zunehmend
glorif iziert wird.
Es setzte sich die Überzeugung durch, die Tschetschenen seien seit Jahrhunderten im Krieg mit
den gottlosen Russen, die ihr Land seit Sowjetzeiten lediglich wegen Erdöl und -gas ausbeuteten.
In einer Art "diskursiven Wechselwirkung zwischen den Küchentischphilosophen, patriotischen
Medien und den Propagandisten aus den nationalistischen Parteien"282 entstand daraus eine
Haltung, die eine Abgrenzung von den anderen, insbesondere den Russen, rechtfertigt und fordert.
Die 1994 und 1999 begonnenen Kriege beweisen den Menschen in Tschetschenien russisches
Kolonialverhalten, das nur auf ihre Unterdrückung ausgerichtet ist.
278
Beobachtungen und Gespräche der Autorin in Moskau und St. Petersburg.
279
Zit. nach Boris Choumiatski: Der Fall Tschetschenien. Thesen zur Konstruktion nationaler Identität. Hg. vom
Institut für Internationale Politik und Regionalstudien der FU Berlin. Materialien und Dokumente zur Friedensund Konfliktforschung, Nr. 26, 1996, S. 32.
280
Zit. nach Choumiatski, ibid., S. 33.
281
Vgl. zum Folgenden Choumiatski, Der Fall Tschetschenien.
282
Ibid., S. 16.
55
Eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen und der Schrecken der Kriegserfahrungen sorgen
dafür, dass die Zugehörigkeit zur Föderation mit ewiger Unterjochung gleichgesetzt wird: "Der
Tschetschene oder die Tschetschenin hat schon im Uterus der Mutter die Sehnsucht nach Freiheit,
und diese Sehnsucht wird durch das Blut der Mutter an unsere Nachkommen weitergegeben",
beschreibt die Kriegsbeobachterin Irena Brežná in ihrer Reportage "Gesang der Wajnachinnen"
dieses Gefühl. 283 Bereits im Verlauf der Deportationen der Stalin-Zeit in Gang gesetzte
identitätsbildende Mechanismen wurden wiederbelebt. Man grenzt sich ab von "Fremden", die
noch wenige Jahre zuvor keine Fremden waren; die Menschen besannen sich verstärkt auf
archaische Muster wie die Sippen und sehen in diesen die einzigen funktionierenden
gesellschaftlichen Organisationsstrukturen. Verständlicherweise erklärte der seit Juni 1999
amtierende tschetschenische Außenminister Ilias Achmadow, es sei "unmoralisch, nach zwei
furchtbaren Kriegen von den Tschetschenen zu verla ngen, russische Staatsbürger zu sein". 284
Sergei Kowaljow, früherer Vorsitzender des Duma-Komitees für Menschenrechte und ab 1994
Menschenrechtsbeauftragter in Tschetschenien, äußert in seinen Erinnerungen die Überzeugung,
viele Menschen in Tschetschenien wären zu Beginn der 90er-Jahre zunächst vermutlich bereit
gewesen, sich formell dem fernen Moskau unterzuordnen, wenn diese Unterordnung freiwillig
und ohne Gewalt verlaufen wäre. Kowaljow gewann den Eindruck, dass Dudajews Versuche,
einen Staat zu schaffen, unter dessen Kontrolle dann alle Clans gestanden wären, auf relativ wenig
Gegenliebe stießen. 285 Für viele wurde Dudajew offenbar erst nach seinem Tod zum Symbol des
Widerstandes und damit gewissermaßen der Nachfolger von Scheich Mansur und Imam Schamil,
den bewunderten Anführern im Kampf gegen die verhassten russischen Okkupa nten. 286
Diese Entwicklungen der letzten Jahre sind mittelfristig kaum rückgängig zu machen. Die
Überzeugung, die russischen Feinde wüteten ziel- und planlos und hätten nur ein Ziel, nämlich die
Unterwerfung der Menschen in Tschetschenien, schlägt sich auch in Verschwörungstheorien
nieder. Offizielle tschetschenische Stellen bezichtigen die KGB-Nachfolgeorganisation FSB, für
die Bombenattentate auf Wohnhäuser in Moskau und anderswo selbst verantwortlich zu sein. Für
sie sind diese - ebenso wie die Gefechte in Dagestan - Teil eines Plans, die Lage in
Tschetschenien zu destabilisieren und Putin den Weg zum Präsidentenamt zu ebnen. 287 Im
Zentrum der RF nehmen politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit diesen
Identitätskonstruktionsprozess wiederum mit wachsendem Misstrauen wahr.
4.2
Zur russischen Interessenlage: geostrategische, ökonomische, ideologische Motive
4.2.1
Wahrung der Einflusssphäre im Süden der Föderation
Aus Moskauer Sicht konnte (und kann) eine Abtrennung Tschetscheniens nicht geduldet werden,
da dies anderen, nach Autonomie strebenden Gebieten und Regionen, signalisieren würde, es den
Tschetschenen gleichzutun. In Moskau fürchtet man eine Welle von Unabhängigkeitserklärungen
und will daher keinen Präzedenzfall schaffen. Bereits im ersten Krieg erklärte Präsident Jelzin
283
Irena Brežná: Die Wölfinnen von Sernowodsk. Reportagen aus Tschetschenien. Stuttgart 1997, S. 141 ff.
284
Im Interview mit dem Vorsitzenden der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft in Berlin, Ekkehard Maas.
"Westlicher Druck ist unsere einzige Hoffnung", in: NZZ, 24. November 1999.
285
Sergej Kowaljow: Der Flug des weißen Raben. Von Sibirien nach Tschetschenien. Eine Lebensreise. Aus dem
Russischen von Barbara Kerneck. Berlin 1997, S. 177.
286
Alle drei fanden sich auf den ersten Briefmarken der Tschetschenischen Republik Itschkerija. Vgl. Uwe Halbach:
Von Mansur zu Dudajew? Widerstandstraditionen der nordkaukasischen Bergvölker, in: ders. / Andreas Kappeler
(Hg.): Krisenherd Kaukasus. Baden-Baden 1995, S. 196 - 216 (196).
287
So der Vorwurf von Mairbek Watschgajew, offizieller Vertreter der Tschetschenischen Republik Itschkerija in
Moskau. Zit. nach NZZ, 1. Oktober 1999.
56
mehrfach explizit, kein Land habe das Recht auf einen Austritt aus der Föderation. 288
Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin deklarierte einen möglichen Austritt als Verletzung der
territorialen Integrität Russlands.289 Auch die Wahrung der Interessen der russischen Bevölkerung
in Tschetschenien stand auf dem Spiel. Jelzins ehemalige Versicherung, er fürchte nicht, dass
auch andere Republiken nach Selbständigkeit streben könnten, da er sich jeder Republik und jedes
Präsidenten sicher sein könne 290, mag gerade angesichts der instabilen Situation im Süden der RF
wenig überzeugen. Auch sein Innenminister Kulikow nannte den Erhalt der territorialen Integrität
des Landes explizit als einen entscheidenden Faktor.291
Doch bereits der erste Versuch, eine Abtrennung Tschetscheniens militärisch zu verhindern, hatte
hinsichtlich dieses Aspekts eher gegenteilige Wirkung und vergrößerte die Gefahr einer
Fragmentisierung der Föderation. So trafen sich bereits im Verlauf des ersten Kriegs Anfang
Januar 1995 in Tscheboksarach die Führer von sieben Föderationsrepubliken und schlugen vor,
einen Kongress der russischen Völker einzuberufen. 292 Viele der Föderationsrepubliken fühlen
sich vom Zentrum außen vor gelassen und suchen andere Kooperationsmöglichkeiten.
Moskau benötigt im Norden Kaukasiens auch dringend stabilere Verhältnisse, will es seine
Interessen in Transkaukasien nur halbwegs wahren. Der russische Einfluss dort schwindet zusehends; Russlands Ausgrenzung aus dem Gebiet gefährdet nach Auffassung vieler Analysten die
"lebensnotwendigen Interessen" des Staates.293 Vor allem die USA sind an diesem Gebiet der
ehemaligen UdSSR interessiert und haben in den vergangenen Jahren zum einen die Türkei
unterstützt, zum anderen ihre Kontakte - insbesondere zu Georgien und Aserbaidschan - intensiviert. Die Präsidenten Alijew und Schewardnadse besuchten Washington; hohe Beamte des
State Department, des amerikanischen Wirtschafts- und des Verteidigungsministeriums reisten
nach Baku und Tiflis und brachten Senatoren, Kongressabgeordnete und Geschäftsleute mit. Aus
russischer Sicht haben die USA bereits ein dichtes Netz von NGOs und privaten Fonds in der
Region gesponnen. Von 801 Mio. US-Dollar Finanzhilfe Washingtons an die GUS, die für den
Zeitraum von Oktober 1998 bis September 2000 vorgesehen waren, entfielen allein 228 Millionen
auf die drei südkaukasischen Staaten. Unter anderem soll dieses Geld auch für die Regelung der
Konflikte um Abchasien und Berg-Karabach verwendet werden. Auf Seiten Washingtons dienen
diese Kontakte nicht zuletzt auch einer weiteren Eindämmung des Iran. Moskau sieht seine
geostrategische Bedeutung schwinden und muss die Regelung der zwischen- bzw.
innerstaatlichen Konflikte in Kaukasien zunehmend an westliche oder internationale Staaten bzw.
Organisationen abtreten. 294
4.2.2
Russland als Spieler im "Great Game"
Zu den wichtigsten konfliktbildenden Faktoren im russisch-tschetschenischen Konflikt, der mit
den eben genannten Aspekten eng verknüpft ist, gehört der Energiereichtum der kaukasischkaspischen Region 295, die heute zum Schauplatz einer Renaissance klassischer Geopolitik
288
Etwa Krasnaja Zvezda, 29. Dezember 1994.
289
Krasnaja Zvezda, 18. Januar 1995.
290
So im Interview mit ORT, Wortlaut in: Rossija i Èeènja, S. 143 - 150 (150).
291
Im Interview mit Moskovskie Novosti, 10. September 1996.
292
Baranovskij, Rossija, S. 39, unter Verweis auf Nezavisimaja Gazeta vom 10. Januar 1995.
293
Vgl. u.a. Andranik Migranjan: Rossija v poiskach identiènosti. Moskau 1997, S. 340.
294
Vgl. Uwe Halbach: Moskaus Südpolitik. Bericht des BIOst Nr. 30, 1999, S. 16 f.
295
Zur kaukasisch-kaspischen Region werden die fünf Anrainer des Kaspischen Meeres, die RF, Aserbaidschan,
Kasachstan, Turkmenistan und der Iran, im weiteren Georgien, Armenien und die Türkei gezählt.
57
geworden ist. 296 Russland ist einer der Spieler in diesem Raum, dessen Öl- und Gasvorräte äußerst
lukrative Gewinne versprechen. Nach Schätzungen des amerikanischen State Department liegen
im Kaspischen Becken ca. 5 Prozent der wahrscheinlichen Welt-Ölressourcen, außerdem rund 6
Prozent der gesicherten Welt-Erdgasreserven. In dieser Region geht man von etwa 70 bis 90
Milliarden Fass Öl aus; im Vergleich verfügt der Iran über gesicherte Ressourcen von 93
Milliarden Fass, Kuwait über 94 Milliarden und der Irak über 112 Milliarden Fass. Insgesamt
liegen die gesicherten Weltreserven bei etwa 1040 Milliarden Fass. 297
Der Transport des Erdöls und Erdgases in dieser Region ist allerdings ein besonderes Problem,
denn die Kaspische Region hat keinen Zugang zum offenen Meer. Dies ist um so schwerwiegender, als alle an die Region angrenzenden Nachbarn eine wenig stabile politische Situation
aufweisen und eine langfristige Kooperation mit ihnen sich schwierig gestalten könnte. Investitionsentscheidungen für Pipeline-Projekte setzen stabile Bedingungen voraus - diese können die
an die Region angrenzenden Nachbarn Georgien, Russland, China, Afghanistan und der Iran nicht
garantieren. 298
Dies ist auch eine Frage von nationaler Sicherheit, die in Russland seit dem Ende der Sowjetunion
nicht mehr nur vorrangig außenpolitisch konzeptualisiert wird: Innere Faktoren, die aus der
Wirtschaftskrise entstanden sind, geben dem Faktor "nationale Sicherheit" eine neue Dimension. 299 Nach Auffassung des russischen Nationalen Sicherheitsrates und des Ministeriums für
Rohstoffe und Energie ist die Energiefrage ein Hauptfaktor der Sicherheit Russlands. Dies wurde
im September 1996 in einem Strategiepapier explizit festgehalten. 300
Die wirtschaftlichen Verluste, die Russland wegen der Bedeutung Tschetscheniens als
Verkehrsknotenpunkt hinnehmen muss - durch das Gebiet verläuft die bedeutendste Überlandverbindung nach Transkaukasien, die Eisenbahnlinie von Rostow über Mineralnye Wody, Grosny
und Machatschkala nach Baku - sind im Vergleich dazu eher marginal301, wenngleich man die
geographischen Gegebe nheiten der Region nicht übersehen sollte: Eine Neuetablierung der
Seidenstraße, des alten Verbindungswegs zwischen Europa und Asien, dürfte für alle Staaten der
Region eine wünschenswerte Option sein. Insgesamt aber lässt sich festhalten, dass insbesondere
das Erdöl und -gas im kaspischen Raum von enormer Bedeutung für die russische wirtschaftliche
Entwicklung der kommenden Jahrzehnte sind.
Bis zum Ende der UdSSR hatten sich die Sowjetunion und der Iran die kaspischen Ölfelder
geteilt 302, danach ist die Zahl der Anrainerstaaten gestiegen. Während die RF und der Iran einer
sektoralen Aufteilung des Meeres unter den Anrainerstaaten noch nicht zugestimmt haben, hat
Aserba idschan mit amerikanischer Unterstützung bereits mit der Erdölförderung in Meereszonen
296
Vgl. Walter Schilling: Die Wiederkehr der Geopolitik im Kaukasus und in Zentralasien, in: Außenpolitik Nr. 2,
1998, S. 45 - 51; Zbigniew Brzezinski: A Geostrategy for Eurasia, in: Foreign Affairs Nr. 7, 1997, S. 50 - 64;
Charles Clover: Dreams of the Eurasian Heartland. The Reemergence of Geopolitics, in: Foreign Affairs Nr. 2,
1999, S. 9–13.
297
Friedemann Müller: Ökonomische und politische Kooperation im Kaspischen Raum, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte B 43-44, 1998, S. 26 - 36, hier Tabellen 1 und 2.
298
Hintergründe bei Müller, ibid.
299
Ausführlicher zur Konzeption von Sicherheit aus russischer Sicht nach dem Ende der Sowjetunion Tanja
Wagensohn: Von Gorbatschow zu Jelzin. Moskaus Deutschlandpolitik (1985 - 1995) im Wandel. Baden-Baden
2000, Kapitel V; siehe auch das neue Sicherheitskonzept Putins von Mitte Januar 2000, Auszüge in: OsteuropaArchiv Nr.3, 2000, S. A88-A107.
300
Vgl. Halbach, Moskaus Südpolitik, S. 31.
301
Bis zum 5. September 1994 gingen über Grosny täglich acht Passagierzüge in beide Richtungen.
302
Sowjetunion und Iran unterzeichneten 1921 und 1940 entsprechende Verträge. Vgl. dazu Henri-Jüri Uibopuu:
Das Kaspische Meer und das Völkerrecht, in: Recht in Ost und West Nr. 7, 1995, S. 201 - 206.
58
begonnen, die Turkmenistan und der Iran beanspruchen. Streit um Bohrrechte gibt es auch
zwischen Russland und Kasachstan. 303
Der wachsende Energiebedarf des 21. Jahrhunderts lässt die Anrainer zum Spielball der Großund Regionalmächte werden. Interessiert sind neben den USA, Russland und China in absehbarer
Zeit wohl auch die EU, darüber hinaus Indien, Pakistan sowie die anderen GUS-Staaten, aber
auch Bulgarien, Rumänien und die Slowakei. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Zeitfaktor: Bei
schneller Förderung sind die Ölvorräte der Anrainer des Kaspischen Meeres in 20 bis 25 Jahren
erschöpft. Profitieren wird demnach, wer rasch fördert und die notwendige Infrastruktur für den
Export und Verkauf des Öls bereitstellt. 304
Die Situation in dieser Region hat viele Facetten. So hat das von den USA unterstützte Aserbaidschan die Möglichkeit, Öl und Gas über georgisches Territorium zur Schwarzmeerküste zu
le iten. Der andauernde armenisch-aserbaidschanische Krieg um Nagorny Karabach wirkt sich
dabei auf die Haltung Bakus aus: So verstärkten die armenischen Truppen mit entsprechender
russischer (auch militärischer) Unterstützung immer dann den Druck auf Aserbaidschan, wenn
dort Verhandlungen mit westlichen Partnern vor dem Abschluss standen. Mittlerweile sieht sich
Baku mit etwa einer Million Flüchtlingen konfrontiert; Armenien besetzt seit 1997 etwa 20
Prozent des aserbaidschanischen Territoriums. Georgien wiederum ist ebenfalls schlecht auf die
russische Regierung zu sprechen, die die separatistische Bewegung in Abchasien unterstützt, die
bereits die Abspaltung eines Teilgebietes und Hunderttausende Flüchtlinge zur Folge hatte.305
Diese wenigen Hinweise deuten die geostrategische Relevanz Tschetscheniens am Südzipfel der
RF für die Politik Moskaus an. Tschetschenien zu verlieren, würde automatisch bedeuten, dass
Russlands Einflusssphäre auf dieses rohstoffreiche Gebiet anderen zufällt und seinen Anspruch,
auch weiterhin als Großmacht Weltpolitik zu betreiben306, noch empfindlicher beeinträchtigt, als
dies ohnehin bereits der Fall ist. Eine Abtrennung Tschetscheniens würde der russischen
Wirtschaft immensen Schaden zufügen. Der frühere russische Präsident gab die Bedeutung
Tschetscheniens hinsichtlich der Ressourcen im Kaspischen Meer in einem Interview Ende März
1996 unumwunden zu. Diese wären - gemeinsam mit den existierenden Pipelines - für die in
Tschetschenien agierenden Banden, die mit Drogen und Waffen handelten, "ein fetter Bissen"307,
bemerkte Jelzin.
Tschetschenien hat eine exponierte Rolle als Transitland für Erdöl aus dem Kaspischen Meer in
Richtung Westen. Eine Pipeline führt von Baku an Grosny vorbei quer durch Tschetschenien zum
russischen Hafen Noworossisk am Schwarzen Meer. Durch diese Pipeline laufen jährlich rund 10
Mio. Tonnen. 308 Nach dem ersten Krieg in Tschetschenien verfolgte Moskau die Strategie,
wenigstens Öl-Pipelines und Landtransportwege über Dagestan umzuleiten. Wegen der Aktionen
303
Siehe hierzu u.a. Friedemann Müller: Der Energiereichtum der kaukasisch-kaspischen Region als struktur- und
konfliktbildender Faktor, in: Akteure und Interessen in der Krisenregion Kaukasus. Stiftung Wissenschaft und
Politik, Ebenhausen 1995; Jahrbuch Nahost 1995. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Nordafrika und dem
Nahen und Mittleren Osten. Hg. von Thomas Koszinowski und Hanspeter Mattes. Opladen 1996.
304
Ausführlich zu diesem Thema auch GUS-Barometer, Nr. 14, 1998.
305
Weitere Hintergründe bietet Andrej Fadin: Der Kaspische Knoten. Das Spiel um Gewinne am "Schwarzen Gold",
in: Wostok, Nr. 4, 1997, S. 36 - 38.
306
Zum "patriotischen" bzw. außenpolitischen Konsens in Russland vgl. Hannes Adomeit: Russische Außen- und
Sicherheitspolitik zwischen Großmachtanspruch und Wirtschaftsmisere, in: Reinhard C. Meier-Walser/Tanja
Wagensohn (Hg.): Russland und der Westen. Argumente und Materialien der Akademie für Politik und
Zeitgeschehen, Nr. 12, 1999, S. 85 - 95 (89).
307
Im Interview mit ORT, Wortlaut in: Rossija i Èeènja, S. 143 - 150 (146).
308
Vgl. hierzu Roland Götz: Noch ein Krieg ums Öl? Wirtschaftliche Aspekte der russischen Invasion in
Tschetschenien. Aktuelle Analysen des BIOst Nr. 11, 1995.
59
tschetschenischer Rebellen im Sommer 1999 in Dagestan309 drohte auch diese Verbindung
empfindlich gestört zu werden. Bereits Mitte Februar 1996, nachdem bei Gudermes wieder
heftige Kämpfe aufflackerten, schloss Verteidigungsminister Gratschow einen Abzug der Russen
aus Tschetschenien aus - Russland könne dann den Zugang zum Schwarzen und zum Kaspischen
Meer verlieren. 310 Innenminister Kulikow verwies in einem Interview Anfang September 1996
unmissverständlich darauf, dass ein Abschneiden Russlands von den transkaukasischen Ölfeldern
eine Abtrennung der RF vom Weltölmarkt bedeuten würde und beträchtlichen wir tschaftlichen
Schaden mit sich brächte. 311
Vor diesem Hintergrund registrieren Beobachter allerdings auch, dass aktuell zwar die russischen
Beziehungen in der Kaspischen Region in ihrer Gesamtheit stärker von Konflikten als von
Marktlogik bestimmt werden, dass jedoch eine "kooperative Entwicklungsdynamik" unübersehbar
sei. 312
4.2.3
Zur Rolle des Islam
Insgesamt stehen beiden Kriege in Tschetschenien - ebenso wie andere kriegerische Auseinandersetzungen auf dem südlichen Territorium der ehemaligen UdSSR - auch im Kontext des
langfristigen Aufstiegs eines militanten, politischen Islamismus. Im Lauf der letzten Jahrzehnte
hatte sich ein inoffizieller Islam entwickelt, der Ende der 80er-Jahre in das politische Leben
zurückkehrte und von den politischen Führern auch instrumentalisiert wurde. In der aktuellen
nationalen Bewegung in Nordkaukasien wird vielfach auf die religiöse Symbolik der vorsowjetischen Zeit zurückgegriffen. Dschochar Dudajew bediente sich im Kampf gegen die russische
Zentralgewalt gezielt der Symbole der islamischen Widerstandsbewegung der Bergvölker. Die
boeviki, die Kämpfer der tschetschenischen Verbände, trugen im ersten Tschetschenien-Krieg
grüne Kopfbänder. Häufig wurden Kampf und Gebet miteinander verbunden. Auch die
symbolische Bedeutung des Vornamen "Schamil" und der Stadt Wedeno, einst Hauptquartier der
Schamilschen Muriden, erhielt in der Glorifizierung eines der bekanntesten tschetschenischen
Feldkommandanten Schamil Bassajew, eine Neuauflage.313
Nach der Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit Tschetscheniens kam es zur Wahl eines
Großmufti und zum Neu- und Wiederaufbau vieler Moscheen sowie einer islamischen Universität
im Baustil Saudi-Arabiens. Die "islamische Wiedergeburt" seit Ende der 80er-Jahre manifestiert
sich. Allein in Tschetschenien und Inguschetien stieg die Zahl der Moscheen zwischen 1991 und
1993 von 162 auf über 2500. 314
Hinter Dudajew und der radikalen separatistischen Bewegung standen islamistische Parteien wie
die im Sommer 1992 in Grosny gegründeten "Muslimbrüder" und die Partei "Islamischer Weg",
die zu den Protagonisten der "tschetschenischen Revolution" von 1991 gehörten. Ihre
Zielvorstellung war eine islamische Republik mit einem auf Scharia und Adat basierenden
Rechtssystem. 315 Die Verfassung vom 12. März 1992 enthält dennoch keinen Hinweis auf einen
309
Zur Situation in Dagestan vgl. Uwe Halbach: Russlands schwächstes Glied. Die Republik Dagestan wird zum
Notstandsgebiet. Aktuelle Analysen des BIOst Nr. 53, 1997.
310
Zit. nach Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien, S. 107.
311
Moskovskie Novosti, 10. September 1996.
312
So Anna Kreikemeyer: Konflikt und Kooperation in der kaspischen Region. Russische Interessenlagen, in: Aus
Politik und Zeitgeschichte B 43-44, 1998, S. 13 - 25; ähnlich Müller, Ökonomische und politische Kooperation.
313
Vgl. Halbach, Von Mansur zu Dudajew.
314
Im selben Zeitraum in Dagestan von 240 auf 500. Halbach, Der Islam in Russland, S. 29.
315
Vgl. Halbach, ibid., S. 30 f.
60
islamischen Staat, sondern definierte die Republik in Art. 1 als "souveränen demokratischen
Rechtsstaat aufgrund der Selbstbestimmung des tschetschenischen Volkes"316. Das Parlament
lehnte noch 1993 ab, Straftäter nach den Normen der Scharia zu bestrafen und wies auf den
weltlichen Charakter der Staatsgewalt hin. 317 Nach dem ersten Krieg gegen die russische Armee
führten die tschetschenischen Kämpfer allerdings am 17. September 1996 die Scharia wieder ein:
Dieben soll die Hand abgehackt werden, Ehebrecherinnen sollen gesteinigt, Alkoholgenuss mit
bis zu 40 Stockschlägen bestraft werden.
Nicht nur Tschetschenien, auch die anderen südlichen Republiken sind ethnisch zersplittert und
haben im ohnehin bescheidenen russischen Vergleich einen extrem niedrigen Lebensstandard
sowie kaum funktionierende Wirtschaftsstrukturen. Die politischen Eliten sind häufig korrupt;
staatliche Organisationsstrukturen, die sie kontrollieren könnten, sind rudimentär; Rechtsstaatlichkeit existiert kaum. Diese Verhältnisse bieten radikalen islamischen Strömungen einen
geeigneten Nährboden in der Gesellschaft. Überspitzt ließe sich formulieren, dass vielen die
Scharia wirksamer erscheint als willkürlich ausgelegte Gesetzestexte, um die sich in der letzten
Konsequenz niemand schert. Ursprünglich waren radikale Formen des Islam den Gläubigen in
Nordkaukasien fremd. Sie sind ihrer Tradition nach Sunniten, stehen dem Sufismus nahe und
verbanden den Islam mit ihren eigenen kulturellen Traditionen. Der tschetschenische Präsident
Aslan Maschadow war in dieser Hinsicht zu manchen Kompromissen gezwungen, obwohl er sich
zunächst scharf von den Wahhabiten distanzierte. Er entließ etwa den ihnen nahestehenden
Außenminister Udugow. Der Wahhabismus, heute Staatsreligion in Saudi-Arabien, beruft sich auf
die Ideale des frühen Islam und hat das Ziel, den Islam von allen Neuerungen und fremden
Einflüssen zu reinigen. Die einzige Grundlage staatlicher Gesetzgebung soll der Koran sein.
Auf tschetschenischer Seite begegnet man westlichen Anfragen zu ideologischen und religiösen
Hintergründen des Konflikts mit dem Hinweis, Tschetschenien habe im Westen jahrelang "vergeblich angeklopft und um Unterstützung gebeten". Nun müsse man sich nicht wundern, wenn die
Menschen sich anderen "Modellen" wie dem Islam zuwendeten. 318 Es sei "für junge Menschen,
die nicht wissen, wovon und wofür sie leben sollen, verlockend, wenn ihnen Geld und Kleidung
angeboten wird und die Idee, dass alle, die Armen und die Reichen, vor Allah gleich sind"319,
erklärte etwa der ab Juni 1999 amtierende tschetschenische Außenminister Ilias Achmadow auf
die Frage nach dem Einfluss islamischer Bewegungen in Tschetschenien.
Die russische Angst vor dem Überschwappen eines radikalen Islam auf den christlich-orthodoxen
Teil der Föderation wächst. In Moskau hieß es daher auch, der "islamische Faktor" sei nicht nur
im Hinblick auf Tschetschenien entscheidend. Inguschetien sei stark gefährdet. Auch könnten
Nord-Ossetien, Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und die Republik Adygeja in
einen solchen Konflikt gezogen werden. Islamistische Regime könnten einen Umbruch in
Tschetschenien durchsetzen und die Republik gezielt zum "aggressiven antirussischen Vorposten"
machen, den sie aktiv für eine Destabilisierung des Südens Russlands benutzen könnten. 320
Insgesamt lässt sich für Tschetschenien festhalten, dass in der ersten Hälfte der 90er-Jahre nach
russischen Angaben im gebirgigen Süden des Landes sehr viel stärker nach islamischen Gesetzen
gelebt wurde als im Norden, der weitgehend unter Kontrolle der föderalen Truppen und der
316
Postanovlenie Parlamenta Èeèenskoj Respubliki No. 108, 12 marta 1992 g.: O porjadke vstuplenija v silu
konstitucii ÈR.
317
Halbach, Der Islam in Russland, S. 30.
318
Watschgajew, zit. nach NZZ, 1. Oktober 1999.
319
Im Interview mit dem Vorsitzenden der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft in Berlin, Ekkehard Maas.
"Westlicher Druck ist unsere einzige Hoffnung", in: NZZ, 24. November 1999.
320
Innenminister Kulikow im Interview mit Moskovskie Novosti, 10. September 1996.
61
wechselnden pro-russischen Regierungen stand. Der russische Analyst Alexander Iskandarjan hat
dies auf die Formel gebracht: "Im Süden Guerilla, im Norden Intifada."321
Diese Angst vor radikalen islamischen Tendenzen ist in Moskau nicht neu: Bereits in den 70erJahren beurteilte Moskau die Lage an seiner Südgrenze hinsichtlich eines wachsenden islamischen Fundamentalismus als besorgniserregend. Damals fürchtete man eine Ausdehnung der
lokalen Unruheherde auf die zentralasiatischen Republiken. Historisch geht dieser Faktor noch
weiter zurück. Stalin kämpfte bis in die 30er-Jahre gegen das Basmatschentum in Zentralasien
und versuchte, die Situation mittels militärischer und polizeilicher Stärke zu beruhigen. Häufig
wurde vom "weichen Unterleib" Russlands und der Sowjetunion gesprochen. 322
Die russischen Sorgen scheinen nicht gänzlich unbegründet. So wurden bzw. werden die
tschetschenischen Kämpfer offensichtlich aus dem radikal-islamistischen Lager Afghanistans und
aus Saudi-Arabien unterstützt. Der russische föderale Sicherheitsdienst berichtete Mitte
September, der mutmaßliche Terroristenführer Usama Bin Ladin wolle angeblich bis zu 150
Kämpfer aus Afghanistan und Pakistan nach Tschetschenien einschleusen. Diese Rebellen sollten
tschetschenische und dagestanische islamistische Extremisten gegen russische Truppen
unterstützen. Die Verbände sollten bis Ende September 1999 über Aserbaidschan und Georgien
einsickern. Zudem hieß es beim russischen Geheimdienst, man habe Informationen über eine
Intensivierung der Kontakte zwischen tschetschenischen Extremisten und den afghanischen
Taliban, die sich bereits im Sommer mit Tschetschenen auf polnischem Gebiet getroffen hätten. 323
Im Dezember 1999 verlautete aus dem Moskauer Verteid igungsministerium, die
tschetschenischen Kämpfer unterhielten sich via Funk weitgehend arabisch. Vor diesem Hintergrund gewann auch der Faktor Religion an Konfliktbedeutung, obwohl noch zu Beginn der
Eskalation der Ereignisse im Herbst 1994 Geistliche auf beiden Seiten dem Eindruck entgegenzutreten versuchten, die Religion spiele in diesem Konflikt eine Schlüsselrolle.
4.3
Militärische Gesichtspunkte
4.3.1
Der "nicht erklärte" Krieg
Beide Tschetschenien-Kriege haben große Ähnlichkeit mit dem Afghanistan-Krieg, insbesondere
mit den Schwierigkeiten, mit denen die sowjetische Armee dort konfrontiert war. Die Fehler der
russischen Oberbefehlshaber in Tschetschenien sind insofern um so bemerkenswerter, als
Verteidigungsminister Gratschow bereits in Afghanistan gedient hatte und Präsident Jelzin seit
1991 Afghanistan-Veteranen bevorzugt mit hohen Kommandoposten in der Armee ausstattete.
Hohe russische Generäle wie z.B. der stellvertretende Verteidigungsminister und letzter
Kommandant der 40. Armee in Afghanistan, Generalleutnant Boris Gromow, warnten bereits vor
dem ersten Einmarsch in Tschetschenien. 324 General Jewgeni Nikitenko, stellvertretender Leiter
der militärwissenschaftlichen Abte ilung im Generalstab, sprach im Hinblick auf den ersten Krieg
in Tschetschenien von gravierenden Fehlern und ungenügend vorbereiteten Operationen. 325
321
Aleksandr Iskandarjan: Proval rossijskoj politiki na Kavkaze. Moskau (Centr Karnegi) 1995, S. 30, zit. nach
Halbach, Der Islam in Russland, S. 32, Anm. 113.
322
Vgl. die folgende Darstellung im Kontext der Intervention in Afghanistan. Allan/Kläy, Zwischen Bürokratie und
Ideologie, S. 263.
323
Itar-Tass, 20. September 1999.
324
Gromow verweist heute darauf, dass er gegen Ende des Kriegs zu dem Schluss kam, dass die militärische
Tätigkeit in Afghanistan eingestellt werden musste; anderenfalls hätte man das Kontingent der sowjetischen
Streitkräfte verdoppeln müssen. Boris Gromow: Ogranièennyj kontingent. Moskau 1994, S. 243 ff.
325
General Nikitenko im Interview mit Krasnaja Zvezda, 27. Januar 1995 (O. Vladykin: Groznyj - ne pustynja.
Pervye popytki izvleè’ uroki iz dejstvij armii v Èeènje).
62
Beobachter gehen heute davon aus, dass die operativ-taktische Planung des russischen
Verteidigungsministers gegen alle Ausbildungsvorschriften und Erfahrungen der sowjetischen
und russischen Streitkräfte verstieß. 326
Das vermutlich größte Problem für die sowjetischen Truppen im Afghanistan-Krieg war die
Tatsache, dass sie - überspitzt formuliert - nur auf einen "europäischen" Krieg vorbereitet waren.
Dies galt für geographisch-klimatische Bedingungen ebenso wie für taktische und strategische
Faktoren. In Tschetschenien trafen die russischen Truppen auf "für sie ganz und gar untypische
Bedingungen"327. Zum einen musste die Armee laut Nikitenko "ständig an die Existenz einer
großen Zahl von Bürgern unseres Staates" in den Kampfzonen denken, im weiteren auch "an die
Existenz volkswirtschaftlicher Objekte".
Wie in Afghanistan war auch die Vorbereitungszeit für den Tschetschenien-Einmarsch immens
kurz. Der von Verteidigungsminister Gratschow im ersten Krieg vorgelegte Aktionsplan sah
sieben Tage für die Vorbereitung der Operation vor, drei Tage für den Einmarsch bzw. das
Vorrücken auf Grosny, vier für die Besetzung der Hauptstadt und fünf bis zehn Tage zur
"Stabilisierung der Lage". Statt dreier Tage dauerte das Vorrücken auf Grosny drei Wochen, die
Soldaten waren weder entsprechend vorbereitet noch ausreichend ausgestattet. 328
Obwohl die Situation in Nordkaukasien sich zuspitzte, traf das erste Anzeichen für einen beabsichtigten Einsatz der Armee in Tschetschenien erst Anfang Dezember im
Verteidigungsministerium ein. Jelzin erließ am 9. Dezember 1994 das bereits erläuterte Dekret
Nr. 2166. Auf dessen Grundlage bildete man kurzfristig eine interministerielle operative Gruppe
der Machtministerien unter Leitung des Verteidigungsministeriums, die sich mit der Planung und
der Vorbereitung der Aktion beschäftigen sollte. Bereits zwei Tage später begann deren
praktische Ausführung, mit der die Truppen überfordert waren.
General Nikitenko verwies darauf, dass die Streitkräfte keineswegs eine Militäroperation als
solche durchführten, sondern "Maßnahmen zur Wiederherstellung der gesetzmäßigen Macht auf
einem bestimmten Territorium und zur Entwaffnung illegitimer organisierter Banden" realisieren
sollten. In den grundlegenden militärischen Dokumenten würden derartige Operationen überhaupt
nicht erwähnt: "Die Ordnung, die Methoden und Verfahren ihrer Durchführung hat für die Armee
niemand irgendwo ausgearbeitet. Die Truppen hat man dies nicht gelehrt. In den Programmen der
Gefechtsausbildung kommt dergleichen nicht vor."329
Spätestens im Verlauf des Sommers 1996 zeichnete sich mehr und mehr ab, dass die Moskauer
Führung mit dem Krieg in Kaukasien überfordert war – Befehlswirrwarr, widersprüchliche
Anordnungen und Aussagen waren die Folge. Es kam zu Koordinationsproblemen zwischen
Armeetruppen und Truppen des Innenministeriums. Besonders deutlich wurde das Chaos in der
russischen Befehlsführung bei der Geiselnahme von Kisljar. Die russische Presse kritisierte die
wenig abgestimmten Aktionen der russischen Sicherheitsorgane: Offensichtlich hatten russische
Kampfhubschrauber und schwere Artillerie auch die russische Anti-Terror-Einheit Alpha
beschossen, als diese versuchte, Perwomaiskoje zu stürmen. Die Eingreiftruppe OMON zog nach
Angaben eines Mitglieds "blind und stur los, wie ein Strafbataillon". Man habe nicht begreifen
können, weshalb eine Eliteeinheit als "Kanonenfutter" verwendet wurde. Die OMON hatte "ein
solches Chaos noch nie erlebt"; es sei gewesen, "als habe jemand absichtlich diesen Zirkus
organisiert"330.
326
Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien, S. 43. Krech war Leutnant der Reserve der NVA.
327
Nikitenko, zit. nach Vladykin, Groznyj - ne pustynja.
328
Franz Walter: Militärische Aspekte des Tschetschenien-Kriegs, in: Osteuropa Nr. 8, 1995, S. 691 – 708 (691 ff.).
329
Nikitenko gegenüber Vladykin, Groznyj - ne pustynja.
330
Zit. nach Krech, Der russische Krieg in Tschetschenien.
63
Operative Fehler der Russen gingen so weit, dass eigene Bodentruppen bombardiert wurden und
der Oberkommandierende General Tichomirow nicht einmal in der Lage war, zu erklären, wie
dies passieren konnte. Als am 28. Februar 1996 mehrere russische Soldaten in der Nähe der
Ortschaft Katir-Jurt im Südwesten Tschetscheniens auf diese Weise umkamen, gab Tichomirow
lediglich an, es habe keinen Befehl gegeben, diese Bomben abzuwerfen. 331 Auch nachdem der
russische Präsident am 31. März 1996 eine Feuereinstellung verkündet hatte, wurde weiter
bombardiert. Wie einzelne militärische Entscheidungen gefällt wurden bzw. wer für sie
verantwortlich war, konnte immer häufiger nicht geklärt werden. Als bei Bombenangriffen der 50
Kilometer südwestlich von Grosny gelegene Ort Schalaschi in Schutt und Asche gelegt wurde,
erklärte Tichomirow einmal mehr, seine Soldaten seien für die Attacke nicht verantwortlich. Er
habe auch keinen Befehl zum Angriff auf das Dorf gegeben. Gleichzeitig verweigerten russische
Soldaten Journalisten den Zugang nach Schalaschi. 332
Insgesamt gilt für die mit chronischen Problemen kämpfende russische Armee, dass die Truppen
seit Jahren schlecht ausgebildet werden. Im ersten Tschetschenien-Krieg erfolgte die Ausbildung
gewissermaßen erst "im Feuer", was große Verluste bedingte. Die Soldaten der föderalen
Streitkräfte wurden aus allen Militärbezirken herangeholt und erst dann zu Verbänden
zusammengestellt. Daraus resultierte ein weiteres Problem: Es fehlte nach Angaben des stellvertretenden Oberbefehlshabers der Landstreitkräfte an "Gefechtsgeschlossenheit". Aus finanziellen Gründen fand bei den Heeresfliegern nicht mehr die erforderliche Zahl an Übungsflügen
statt.333
Im ersten wie im zweiten Krieg setzte das russische Verteidigungsministerium zunächst auf die
Luftstreitkräfte. Für den ersten Krieg zogen die russischen Militärstrategen offensichtlich die
Ereignisse im Zweiten Golfkrieg von 1991 heran; die Strategie im zweiten Krieg war vom
NATO-Einsatz im Kosovo beeinflusst. 334 Auf Bodentruppen wollte man verzichten, vielmehr
sollten Luftangriffe den Sieg bringen. Es sei zwar ein etwas "unglücklicher Vergleich", erklärte
im August Ministerpräsident Sergei Stepaschin, "aber das Ultimatum der westlichen Allianz für
Miloševiæ wurde unterstrichen durch Schläge aus der Luft auf Objekte und Strukturen, wo Waffen
produziert wurden. Wir handeln heute fast genau so"335. Auch Stepaschins Nachfolger Putin
dementierte zunächst den Einsatz von Bodentruppen. Anders Verteidigungsminister Igor
Sergejew, der Ende September erklärte, es gebe "einige Varianten eines Planes für eine
Bodenoperation"336.
Verteidigungsminister Gratschow setzte zu Beginn der Kampfhandlungen im Dezember 1994
darauf, man könne den Belagerungsring um Grosny nach Süden offen lassen, um die tschetschenischen Kämpfer in diese Richtung und damit ins nahe Gebirge zu zwingen. 337 Im freien
Gelände sollten sie dann Ziel der russischen Luftwaffe sein, die zuvor bereits militärische und
administrative Ziele in Grosny bombardierte. Anschließend wollten die russischen Einheiten
Grosny mit Panzertruppen schnell erobern. Doch Schneefall und Nebel beeinträchtigten die
Luftangriffe erheblich: Die Folge war, dass die Ziele der Luftangriffe schwer erkennbar waren,
und auch die Truppen Dudajews - die ob ihrer Kenntnis der landschaftlichen Gegebenheiten und
Verhältnisse ohnehin gegenüber den Russen im Vorteil waren - weitgehend ungeschoren blieben.
331
Reuter, 29. März 1996.
332
Reuter, 3. April 1996.
333
Walter, Militärische Aspekte, S. 704, unter Verweis auf Krasnaja Zvezda vom 4. und 16. Februar 1995.
334
Offenbar ebenfalls nach NATO-Vorbild wurde die Aktion "Operation Wirbelsturm" genannt.
335
Droht ein neuer Krieg mit Tschetschenien, Herr Stepaschin? Interview in: Die Welt, 27. September 1999.
336
Zit. nach Die Welt, 27. September 1999 (Russland erwägt den Einsatz von Bodentruppen im Kaukasus).
337
Walter, Militärische Aspekte, S. 694.
64
Gleichzeitig kamen über den offenen südlichen Zugang nach Grosny nach Angaben russischer
Beobachter Tausende von Freiwilligen aus den tschetschenischen Dörfern in die Stadt. Als es am
15. Februar hieß, Grosny sei gefallen, war es offenbar noch immer relativ einfach, von
Tschetschenien nach Dagestan bzw. zurück zu gelangen. 338
4.3.2
Strategisch-taktische Faktoren
Bei einer Ordensverleihung im Kreml Ende Dezember 1999 wurden besonders viele Militärs
ausgezeichnet. Jelzin verwies in seiner Festrede auf die gute Arbeit, die von den russischen
Soldaten in Tschetschenien geleistet werde, und dass man "Fehlerchen" des ersten Krieges dort
nicht wiederholt habe. 339 Ein Vergleich mit dem ersten Krieg - soweit möglich - verdeutlicht die
Unhaltbarkeit dieser ohnehin traurigen Behauptung. Offensichtlich wird im zweiten Tschetschenien-Krieg eine Vielzahl wenig erfolgreicher Operationen bzw. Vorgehensweisen wiederholt, wenngleich die russische Armee im zweiten Krieg wesentlich weniger Opfer in ihren Reihen
beklagen muss.
Die etwa 40.000 russischen Soldaten des ersten Kriegs hatten zu keinem Zeitpunkt wirklich
Kontrolle über Tschetschenien. General Nikitenko verweist darauf, bereits bei Planung und
Vorbereitung der Tschetschenien-Aktion habe man einige Momente der Tätigkeit des DudajewRegimes unterschätzt, was "negative Folgen" hatte. Schwierigkeiten für die russischen Verbände
stellten sich schon beim Vorrücken der Kolonnen durch das Territorium von Inguschetien und
Kasachstan. 340
Die Truppen des tschetschenischen Widerstandes - unabhängig davon, welche lokalen Feldkommandanten sie auch unter dem nominellen Oberkommando Dudajews befehligten kontrollierten im ersten Krieg - wie bislang auch im zweiten - den gebirgigen Süden des Landes.
Und auch in den von russischen Truppen beherrschten Ebenen entlang der
Hauptverbindungsstraße zum Kaspischen Meer nach Dagestan hatten die Freischärler weitgehend
Bewegungsfreiheit. Die russischen Soldaten trauten sich - mit wenigen Ausnahmen - nicht in die
Dörfer.341 Auch im zweiten Krieg hatten die russischen Einheiten Geländevorteil im Norden,
erreichten im gebirgigen Süden aber schnell ihre Grenzen. Neben der Unzulänglichkeit der
Landschaft ist dort die Unabhängigkeitsbewegung wesentlich stärker als im nördlichen Drittel des
Landes.342
Es gab im ersten Krieg keine Front oder Frontlinien; und auch im zweiten sind solche kaum
erkennbar. Die russische Taktik in Tschetschenien traf weniger die Freischärler als die Zivilbevölkerung. Zwar verlor Dudajew seine Kampf- und Transportflugzeuge noch vor Beginn der
Bodenoperationen vollständig, aber die Aktionen der russischen Luftwaffe waren wenig systematisch. Russland führte einen Krieg mit schwerer Militärtechnik, der tschetschenische Gegner
agierte in Guerillataktik und konnte den russischen Schlägen so viel stärker trotzen als von
russischer Seite angenommen. Besonders problematisch war und ist es, die friedliche Bevölkerung von den als "Banditen" deklarierten tschetschenischen Kämpfern abzutrennen. Denn die
Kämpfer verstecken sich unter der tschetschenischen Bevölkerung. 343
338
Anatolij Schabad: Der Tschetschenienkrieg - persönliche Eindrücke und Deutungsversuche, in: Andreas Kappeler
(Hg.): Regionalismus und Nationalismus in Russland. Baden-Baden 1996, S. 129 – 143.
339
Bericht der ARD-Tagesschau von Ina Ruck, 28. Dezember 1999.
340
Nikitenko im Interview mit Vladykin, Groznyj - ne pustynja.
341
NZZ, 16. Februar 1996.
342
Vgl. NZZ, 6. Oktober 1999.
343
So General Nikitenko im Interview mit Vladykin, Groznyj - ne pustynja.
65
Die Kämpfer können und konnten sich in der Regel relativ schnell und unter geringen Verlusten
aus den Dörfern in die teilweise dicht bewaldeten Berge absetzen. Frauen, Kinder und alte
Menschen traf es um so härter. Siedlungen oder Orte, in denen die russischen Einheiten
Separatisten vermuteten bzw. wussten, wurden - soweit dies funktionierte - von der Außenwelt
abgeschnitten. Regte sich Widerstand oder vermutete man dort eine höhere Zahl an Separatisten,
begann die Beschießung durch Artillerie, Raketenwerfer und Luftwaffe. Dabei wurde in erster
Linie die Infrastruktur zerstört: Häuser, Krankenhäuser, Schulen, Wasserversorgung. Meist
wurden die tschetschenischen Orte dem Erdboden gleichgemacht.
Auch der zweite Krieg funktioniert nach diesem Prinzip, wenngleich diesmal die Zahl der Soldaten wesentlich höher ist. Bereits Anfang Dezember 1999 soll vorgeschlagen worden sein, die
100.000 Mann noch einmal um 40.000 zu erhöhen. 344 Ende Januar 2000 berichtete Interfax, in
Tschetschenien befänden sich 140.000 Soldaten der föderalen Streitkräfte. Anfang Februar
wurden in Moskau weitere 20.000 Reservisten einberufen. 345
Zwei Gründe sind für das russische Vorgehen anzunehmen: Erstens scheuen die russischen
Streitkräfte, in gezielten Operationen der Infanterie gegen einzelne Orte vorzugehen, weil sie hohe
Verluste befürchten. Zweitens kann man durch ein Vorgehen, das vor allem die Zivilisten trifft,
einen Keil zw ischen die Bevölkerung und die Kämpfer treiben. Zu den Folgen dieser Strategie
gehört unter anderem, dass sich die Chancen für eine friedliche Beilegung des Konflikts
verringern. In der tschetschenischen Bevölkerung staut sich der Hass gegen die russischen
Besatzer immer stärker.
Problematisch für Moskau war im ersten Krieg vor allem, dass die meisten der entsandten Soldaten junge, kaum ausgebildete Rekruten bzw. Wehrpflichtige waren. Parallelen zu anderen
"kleinen Kriegen" sind vorhanden. Weder die Franzosen in Algerien und Indochina noch die
Amerikaner in Vie tnam, die Israelis in den besetzten Gebieten oder die Türken in Anatolien haben
mit Wehrpflichtigen gute Erfahrungen gemacht: Sie sind nicht nur schlechter militärisch
ausgebildet, sie sind gleichzeitig politisch weniger beeinflussbar. 346
Beobachter beschreiben, dass die russischen Kräfte im ersten Krieg in Straßenkämpfen schrittweise aufgerieben wurden und hohe Verluste hatten. 347 Auch dies wiederholt sich derzeit in
Tschetschenien. Die für den Sturm auf Grosny zuständigen Truppen des Innenministeriums
konnten in mehreren Anläufen keinen Erfolg erzielen, sondern wurden wiederum in opferreiche
Straßenkämpfe verwickelt, in denen sie es mit gut verschanzten Guerilla-Einheiten zu tun hatten.
Bei den Kämpfen um den Minutka-Platz im Zentrum Grosnys beispielsweise vermieden die
tschetschenischen Kämpfer nach Angaben russischer Militärkreise offene Konfrontationen. Sie
tauchten vielmehr in "mobilen Gruppen" von 10 bis 15 Mann auf und zogen sich schnell wieder
zurück. 348
Nach offiziellen Angaben - die wegen ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit vermutlich zu niedrig sind
- kamen in den ersten 20 Tagen des Januars 2000 96 Soldaten ums Leben. Im Interview mit der
Armeezeitung Krasnaja Swesda erklärte der Ende Januar abgelöste General Owtschinnikow, das
Kontingent des Innenministeriums in Tschetschenien sei etwa 27.000 Mann stark, von denen pro
Tag 17.000 zu Kampfeinsätzen herangezogen werden. Abgesehen von der Operation in Grosny
sind sie auch für die Sicherung der bereits eroberten Ortschaften zuständig. Die Zahl der im
344
Milrad Fatullaev: S Arguna naèalos’ vojna, in: Nezavisimaja Gazeta, 8. Dezember 1999.
345
AP, 2. Februar 2000.
346
Vgl. Christopher Daase: Kleine Kriege - Große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegführung die internationale
Politik verändert. Baden-Baden 1999, S. 232.
347
Allan/Kläy, Zwischen Bürokratie und Ideologie, S. 559.
348
http://lenta.rus/vojna/2000/01/26/grozny/.
66
Einsatz befindlichen Soldaten in Grosny war bis Ende Januar 2000 trotzdem zu niedrig, um mit
den dortigen Heckenschützen fertig werden zu können. Die Zahl der Verteidiger Grosnys im
Januar 2000 blieb unklar; einer häufigen Schätzung nach beläuft sie sich auf 1500 bis 2000
Mann. 349 Auf russischer Seite gab man an, in Grosny befänden sich etwa 2500 Kämpfer.350
349
Zit. nach NZZ, 24. Januar 2000.
350
http://lenta.rus/vojna/2000/01/26/grozny/.
67
Moskau setzte in Tschetschenien Truppen aus Innenministerium und Armee ein, darunter ein
Armeekorps, einige Divisionen, vereinigte Brigaden und Regimenter, Luftlandekräfte des
Militärbezirks Nordkaukasus sowie Truppenteile spezieller Zweckbestimmung, des Nachschubwesens, des Fernmeldewesens und des funkelektronischen Kampfes. 351
4.3.3
Fehleinschätzungen Moskaus
Paradoxerweise hatte Moskau den tschetschenischen Kämpfern deren militärische Ausrüstung
selbst geliefert. Im Rahmen der Verhandlungen über den Abzug der russischen Einheiten im Jahr
1992 hatte die russische Regierung zunächst die Aufteilung der militärischen Ausrüstung
zwischen Russland und Tschetschenien vorgeschlagen. Sie sah sich jedoch nach einem
Ultimatum, das Dudajew am 6. Juni 1992 stellte, gezwungen, die Truppen und ihre Angehörigen
innerhalb von 24 Stunden zu evakuieren und sämtliche Waffenbestände in Tschetschenien zu
lassen. 352 Dudajew und seine Anhänger konnten den Krieg gegen Russland also nicht zuletzt
deswegen so organisiert und systematisch führen, weil die in Tschetschenien stationierten
russischen Einheiten große Waffenarsenale zurückgela ssen hatten. Nach Angaben des russischen
Verteidigungsministeriums stammten etwa 80 Prozent des tschetschenischen militärischen
Potentials aus dieser Quelle und wurden von Dudajew bald nach dessen Machtantritt
kontrolliert. 353
Nach Angaben von Oberstleutnant Wladimir G. Muchin, Professor an der Moskauer Militärakademie, gehörten dazu u.a. zwei taktische Raketen des Typs Luna-8, 42 Panzer (T-62 und T72), 36 BMP-Schützenpanzer, 590 Panzerabwehrmittel, 41.538 Schusswaffen, darunter
Maschinengewehre und Faustfeuerwaffen plus Munition, 80.000 Handgranaten des Typs RG-42,
72.000 Handgranaten des Typs F-1 und über 2.500 des Typs RGD-45; 273 Flugzeuge (darunter
Trainingsflugzeuge, 111 des Typs L-39, 149 des Typs L-29; 3 MiG-17; 2 MiG-15; 6 AN-2 und 2
Hubschrauber Mi-8); hinzu kamen Logistik- und Funkmittel. Muchin vermutet die Gründe für die
zurückgebliebenen Arsenale in mangelnder Professionalität beim Abzug und in der
Korrumpierbarkeit der Verantwortlichen, die für eine "stürmische ‘Privatisierung’ von Waffen
und militärischem Gerät" gesorgt habe. 354
Dass diese Waffen in Tschetschenien vorhanden waren, wussten die politischen Entscheidungsträger in Moskau. Dies stützt die Vermutung, dass auf militärischer Ebene eine Vielzahl
wenig durchdachter Befehle gegeben und zahlreiche Fehlentscheidungen gefällt wurden, die die
reale militärische Ausstattung des Gegners völlig vernachlässigten. General Nikitenko verwies
bereits im Januar 1995 auf Dudajews "Miniarmee" - zwei Jahre zielgerichteter Gefechtsausbildung der tschetschenischen Formationen, die Einbeziehung von Söldnern, ein organisiertes
System zentralisierter Führung und Planung der Kampfhandlungen sowie eine strenge, vertikale
Unterstellung des Kommandos unter Dudajew hätten diese aufgebaut. So hätten die
Tschetschenen auch nicht wie die afghanischen Mudschahedin in getrennten Gruppierungen,
unter dem Kommando von häufig völlig unabhängigen Feldkommandanten nur in bestimmten
Gebieten (vorrangig in der Umgebung ihrer Siedlungen) gekämpft. 355 Auch im zweiten Krieg
dürften die tschetschenischen Kämpfer von diesen Lernprozessen des ersten Kriegs profitieren.
351
Diese Angaben machen Allan/Kläy, Zwischen Bürokratie und Ideologie, S. 556.
352
Babst, Krieg in Tschetschenien, unter Verweis auf Izvestija, 10. Januar 1995.
353
Krasnaja Zvezda, 18. Januar 1995.
354
Muchins Zahlen in: Nezavisimaja Gazeta, 26. September 1996.
355
Nikitenko im Interview mit Krasnaja Zvezda, 27. Januar 1995.
68
Informationen über das Militärkontingent der Tschetschenen sickerten bereits Anfang Januar 1995
aus dem Verteidigungsministerium in die Öffentlichkeit. 356 Am 30. Mai 1996 gab Innenminister
Anatoli Kulikow an, man wisse aus sicheren Quellen, dass die tschetschenischen Kämpfer u.a.
über mehr als 100 Panzer des Typs T-62 und T-72, an die 150 Geschütze und Granatwerfer, 260
Kampf-Flugzeuge, etwa 100 Flugabwehr-Kanonen und etwa 60.000 weitere Waffen verfügten. 357
Neue bzw. weitere Waffen lieferten kriminelle organisierte Gruppierungen den Tschetschenen.
Zum Teil ab Fabrik, zum Teil aus Diebesgut358. Finanzielle Unterstützung beziehen die tschetschenischen Separatisten aus verschiedenen Quellen. Die Moskauer Tageszeitung Nesawissimaja
Gaseta berief sich Anfang Dezember 1999 auf Auskünfte eines in Tschetschenien verdeckt
arbeitenden FSB-Beamten, die Tschetschenen hätten im ersten Krieg unter anderem von Usama
Bin Ladin, aus Moskauer Quellen und aus verschiedenen russischen Regionen mit
tschetschenischer Diaspora Unterstützung bekommen. Insbesondere aus dem Gebiet Wolgograd,
in dem unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 30.000 und 70.000 Tschetschenen leben,
kamen offenbar - neben Geld - etwa 500 bis 600 tschetschenische Kämpfer. 1997 sollen
Strohmänner bei Moskauer Banken Kredite in Höhe von etwa 2 Millionen US-Dollar erhalten
haben, von dem der frühere Dudajew-Schatzmeister Choscha angeblich einen beträchtlichen Teil
Schamil Bassajew zur Verfügung stellte. 359
Weitere Waffen, vor allem Panzer, übernahmen die Tschetschenen von den unmittelbar
vorausgegangenen Offensiven der Russen - russische Reporter berichteten von Gesprächen mit
russischen Soldaten, die solche Übergaben auf Anweisung höchster Militärkreise vorbereiten
mussten. 360 Tschetschenen erzählten, hohe russische Offiziere hätten den tschetschenischen
Kämpfern Panzer und Schützenpanzer zu niedrigen Preisen angeboten und erklärt, sie würden
diese später als Verlust abschreiben. 361 Wie "normal" bestechliche russische Offiziere sind (und
wie sehr man sich auch innerhalb der russischen militärischen Führung dessen bewusst ist),
machte eine Episode Anfang Fe bruar 2000 deutlich: Ein russischer Offizier versprach einer
Gruppe von tschetschenischen Kämpfern, sie für 100.000 US-Dollar durch einen Fluchtkorridor
aus der umzingelten Stadt Grosny zu lotsen. Die Tschetschenen nahmen das Angebot ohne
Misstrauen an und wurden auf diese Weise in eine Falle gelockt. 362
356
Rossija i Èeènja, S. 85.
357
Vgl. das Interview Kulikows in: Rossija i Èeènja, S. 165.
358
Vgl. Allan/Kläy, Zwischen Bürokratie und Ideologie, S. 555.
359
Andrej Serenko: "Predatel’stvo v samych rasnych formach i vidach", in: Nezavisimaja Gazeta, 7. Dezember
1999.
360
Oleg Blotskij: Das Sterben von Grosny, in Focus, Nr. 3, 1995, S. 86 ff.
361
Dmitrij Uchlin, Das Sterben von Grosny, ibid. Ähnliches berichtete der Duma-Abgeordnete Borowoi Anfang
März 1996, als er aus Tschetschenien nach Moskau zurückkehrte.
362
Vgl. NZZ, 7. Februar 2000.
69
Wachsende Korruption in der Armee hatte den Nebeneffekt, dass die Kampfmoral der von
Moskau ohnehin schlecht versorgten Soldaten ausgesprochen niedrig war und weiter sank. Viele
17- oder 18-jährige Rekruten ergaben sich den Tschetschenen offenbar sofort und ließen sich
gefangen nehmen, wenn sie auf tschetschenische Kämpfer stießen363; andere tauschten Patronen,
Granaten oder Minenwerfer gegen Brot und Wodka bei der tschetschenischen Bevölkerung364. In
Anbetracht der extrem schlechten Versorgung der Soldaten ist dies kaum verwunderlich - so
berichtete etwa ein Soldat namens Ermek Spatajew, Teilnehmer des zweiten Kriegs, Ende
Dezember 1999 in einem Radio-Interview, es gebe nur einmal in 24 Stunden Essen für die
Truppen; trotz der Kälte müsse man ohne Zelte unter freiem Himmel übernachten. Noch
verheerender sei der moralische Zustand der Soldaten, unter denen viele mit unmenschlichen
Aktionen auch gegen friedliche Zivilisten vorgingen. Spatajew schilderte, dass nach "Befreiung"
der Ortschaften grundsätzlich deren "Säuberung"365 erfolge, die nichts anderes sei als
Marodeurstum, da sich in den entsprechenden Dörfern meist längst keine tschetschenischen
Kämpfer mehr aufhielten. 366
Nach Angaben des Vorsitzenden der Friedensgruppe "Bewegung gegen Gewalt" desertierten im
ersten Krieg bis Anfang Februar 1995 mehr als 3000 in Tschetschenien eingesetzte Soldaten,
obwohl ihnen damit ein Verfahren wegen Fahnenflucht und bis zu sieben Jahre Haft drohten. 367
Viele Eltern setzten alles daran, ihre Söhne "freizukaufen", wenn der Einberufungsbescheid
kam. 368 Eine Vielzahl der im zweiten Krieg in der russischen Armee eingesetzten Soldaten sind
offensichtlich sog. kontraktniki, kurzfristige angeworbene und unter Vertrag genommene
Arbeitslose, unter ihnen zahlreiche Vorbestrafte, die in allen russischen Regionen zunächst für
den Einsatz in Dagestan angeworben wurden. Nach kurzer Zeit in Dagestan verlegte man sie ins
inguschetische Mosdok, Hauptquartier der Streitkräfte des Tschetschenien-Einsatzes. Denen, die
sich darauf beriefen, dafür nicht unterschrieben zu haben, wurde nach Berichten von Beteiligten
gesagt, sie könnten ihren Vertrag auflösen und auf eigene Faust gehen - was praktisch ob des
notwendigen Lufttransports kaum möglich war. 369
Insgesamt dürfte von den Russen auch die Wirksamkeit ihrer eigenen Wirtschaftsblockade unterschätzt worden sein. Zu keinem Zeitpunkt war Tschetschenien ökonomisch bzw. physischgeographisch isoliert. So gelangten trotz Verbots Lebensmittel-Lieferungen nach Tschetschenien,
beispielsweise aus Stawropol. Die Lieferanten zahlten "Importzölle" in Form von Bestechungsgeldern an die Milizposten, die die Straßen sicherten. 370 Nach gleichem Muster dürfte dies
mit Munition oder Waffen möglich gewesen sein. Wie schlecht die russische Überwachung der
Wege aus bzw. nach Tschetschenien war, zeigte nicht zuletzt die Geiselnahme in Budjonnowsk,
wohin Bassajew und seine etwa 100 Gefolgsleute problemlos gelangt waren.
4.3.4 Tschetschenischer Widerstand
Ganz anders als mit den russischen Soldaten verhält und verhielt es sich mit den tschetschenischen Kämpfern. Neben einer gut sortierten militärischen Ausrüstung besaßen (und besitzen) sie
einen immensen Widerstandswillen, den man in Moskau bereits 1994 ebenso stark unterschätzte
363
Blotskij, Das Sterben von Grosny.
364
Uchlin, ibid.
365
russ. zaèistka.
366
Spatajew im Interview mit Radio Svoboda, 20. Dezember 1999 (Izpoved’ rossijskogo oficera).
367
In Russland gibt es kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Itar-Tass, 10. Februar 1995.
368
Seriöse Gesprächspartner verwiesen gegenüber der Autorin darauf, dass während des ersten Kriegs eine
Freistellung für ca. 3000 US-Dollar zu bekommen war.
369
Nach Angaben des "Vertragssoldaten" Spatajew klang dies folgendermaßen: "Kto choèet rastorgnut’ kontrakt,
mogut otsjuda echat’, no tol’ko svoim chodom". Im Interview mit Radio Svoboda, Izpoved rossijskogo oficera.
370
Schabad, Der Tschetschenienkrieg, S. 132, der dies zusammen mit einer Mehl-Karawane erlebte.
70
wie das vergleichsweise strategische Vorgehen der Kämpfer. Im Straßenkampf in Grosny im
Januar 1995 war die russische Armeeführung umgekehrt unfähig, ihre eingesetzten Einheiten
effektiv zu koordinieren. 371 Ähnliche Probleme schien es im neu aufgelegten Kampf um Grosny
im Winter 1999/2000 zu geben. Die Separatisten hatten im ersten Krieg nach eigenen Angaben
ständig mehr als 5000 Kämpfer unter Waffen und behaupteten, für jeden Gefalle nen gebe es drei
Freiwillige. Manche sollen ihr Haus oder Auto verkauft haben, um in den Kampf zu ziehen. 372
Immer wieder versuchten tschetschenische Freischärler, von anti-russischer Verbitterung,
Nationalismus und politisiertem Islam angefeuert, bereits von den Russen eroberte Gebiete
zurückzugewinnen. 373 Diese massive Gegenwehr steht der russischen Armee auch im zweiten
Krieg, insbesondere in der Hauptstadt Grosny, entgegen. Die Möglichkeit, sich in Tschetschenien
zu bewegen, war im ersten Krieg relativ groß und dürfte es im zweiten - wenigstens für die
Separatisten - wieder sein. Allenfalls russische Posten kontrollierten die Straßen; nach Berichten
sollen sie aber auch die bewaffneten Kämpfer passiert haben, weil die russischen Soldaten
offenbar nächtliche Vergeltungsaktionen aufgehaltener tschetschenischer Kämpfer fürchteten.
Nicht zuletzt wegen dieser Durchlässigkeit der Wege konnten Kämpfer und Waffen Anfang
August 1996 zur Rückeroberung der Stadt Grosny dort zusammengezogen werden. 374
Auch die russischen Militäraktionen waren dazu geeignet, die Widerstandskraft der Tschetschenen zu stärken und neue Kämpfer zu bekehren. So schlossen Bewohner einzelner Orte mit
der von Moskau eingesetzten Regierung lokale "Friedensabkommen", in denen sie sich verpflichteten, Rebe llen keinen Unterschlupf und keine Hilfe zu gewähren. Im Gegenzug sollten sie
von russischen Angriffen verschont bleiben. Nach Berichten etwa aus dem südwestlichen Ort
Katir-Jurt kam es dennoch zu Bombenangriffen. Der Zorn der Zivilbevölkerung auf die Russen
wuchs entsprechend und trieb immer mehr Kämpfer an die anti-russische Front.375 Ob der
zeitlichen Länge des Konflikts dürfte innerhalb der tschetschenischen Einheiten darüber hinaus
ein Lernprozess stattgefunden haben und das Niveau der Kampftätigkeiten erweitert worden sein;
führende Feldkommandanten waren zudem ehemalige Soldaten der Roten Armee.
Außerdem ging man im russischen Verteidigungsministerium offensichtlich von einer geringeren
tschetschenischen Truppenstärke aus, als diese in Wirklichkeit war. So nahm der russische
Geheimdienst zu Beginn der Auseinandersetzungen an, man habe es mit etwa 15.000 Soldaten,
darunter 2500 ausländischen Kämpfern zu tun 376; Ende Februar 1995 nannte Verteidigungsminister Gratschow die tatsächlichen Zahlen: Die Truppenstärke der Tschetschenen war doppelt so
hoch wie angenommen, sie lag bei 30.000, darunter 6000 Ausländer. 377 Die späteren Angaben von
Innenminister Kulikow, man habe zu Beginn der Auseinandersetzung gewusst, dass man es mit
15.000 gut ausgerüsteten Kämpfern und zusätzlich 15.000 bewaffneten tschetschenischen
Landwehrmännern zu tun habe, dürften kaum der Wahrheit entsprechen. 378
Dudajew konnte darüber hinaus als erfahrener Bomberpilot und ehemaliger Luftwaffengeneral die
Pläne der Russen hervorragend einschätzen - er wusste um die geringe Fähigkeit der russischen
371
Segodnja, 25. Januar 1995.
372
Christiane Hoffmann: Wieder eine Entscheidungsschlacht in einem Krieg ohne Fronten, ohne Sinn und ohne
Ende, in: FAZ, 8. August 1996.
373
NZZ, 17. März 1995.
374
Vgl. FAZ, 8. August 1996, NZZ, 21. August 1996.
375
Reuter, 29. März 1996.
376
General Nikitenko im Interview mit Krasnaja Zvezda, 27. Januar 1995.
377
Vgl. dazu Walter, Militärische Aspekte, S. 697.
378
So im Interview am 30. Mai 1996, vgl. Rossija i Èeènja, S. 165.
71
Streitkräfte zum Nachtkampf. 379 So scheiterte am 31. Dezember 1994 bereits der erste
Sturmversuch der Russen auf Grosny. Die tschetschenischen Kämpfer konnten sich nachts
weitgehend unbehelligt in die Berge absetzen. Für die russischen Truppen stellte sich schnell die
Aufgabe, Grosny mit Bodentruppen einnehmen zu müssen. Dies war auch in der Offensive im
Dezember 1999 so.
Die Tschetschenen leisteten nicht nur erbitterten Widerstand, sondern verfügten - beispielsweise
bei Verteidigung des Präsidentenpalastes in Grosny in den ersten Januartagen 1995 - trotz
Blockade bzw. Sperrfeuer über Munition und frische Kämpfer.380 Auch im Verlauf des zweiten
Krieges ist es ihnen im Januar 2000 gelungen, sich im Südwesten Grosnys einen schmalen
Durchgang zu schaffen, über den sie Einheiten aus Grosny heraus oder Verstärkung und Waffen
hineinbringen können. 381 Bereits Mitte Januar 2000 erklärte ein Sprecher des tschetschenischen
Präsidenten Maschadow, Ziel der Rebellen sei es nicht mehr, Städte zurückzuerobern. Man sei zu
Guerilla-Taktik mit schnellen Angriffen und schnellem Zurückweichen übergegangen. Der
tschetschenische Generalstabschef Momadi Saidajew kündigte an, diese hit-and-run-Taktik
solange zu verfolgen, bis Moskau Verhandlungen zustimme.382
Nach anfänglichen Erfolgsmeldungen von russischer Seite und den gemeldeten Eroberungen von
Gudermes und Argun waren die russischen Truppen in Tschetschenien bis Ende Januar 2000 nicht
in der Lage, ins Zentrum von Grosny vorzustoßen. Die vom russischen Militärstab Ende Oktober
initiierte Truppenverstärkung auf bis zu 100.000 Mann und bis Januar 2000 auf 140.000 macht
deutlich, wie vergleichsweise hilflos die russischen Einheiten agie rten. 383
5. Fazit
Der russisch-tschetschenische Konflikt hat eine komplexe Struktur, die von verschiedenen
Interessen auf beiden Seiten geprägt und stark emotional gefärbt ist. Die russische Seite will
Tschetschenien aus geostrategischen, ökonomischen und ideologischen Motiven unter keinen
Umständen aus der Föderation ausscheren lassen; auf tschetschenischer Seite hat sich der Wunsch
nach Unabhängigkeit radikalisiert und wird von einem historisch verankerten und wie derbelebten
Prozess der Identitätskonstruktion begleitet, der vermutlich unumkehrbar ist.
Das Moskauer Zentrum wird mittelfristig wohl nicht in der Lage sein, die Ursachen dieses
Konflikts politisch zu klären. Dies liegt vor allem daran, dass in den vergangenen Jahren eine
Vielzahl von Fehlentscheidungen der Moskauer Führung dazu beigetragen haben, ein
Arrangement zwischen den beiden Konflikt- bzw. Kriegsparteien zu verhindern. Russlands Politik
gegenüber Tschetschenien ist seit Beginn der 90er-Jahre inkonsistent, inkohärent und nicht
implementierfähig. Sie ist von Ad-hoc-Maßnahmen und häufig widersprüchlichen
Entscheidungen geprägt; gleichzeitig destabilisiert sie die politische Situation im Inneren
Tschetscheniens. Moskau agierte und agiert in Nordkaukasien ohne schlüssiges Konzept. Auch
nach dem ersten Krieg in Tschetschenien wurde ein solches nicht entwickelt - diverse Stellen
machten verschiedene Politik und mussten dabei zusehen, wie der Einfluss Moskaus in der
Region schwindet. Deutlich wurde dies besonders in dem Plan, der eingesetzten
379
Hans Krech verweist darauf, die Russen hätten nicht auf sog. Wärmebildgeräte zurückgreifen können: Der
russische Krieg in Tschetschenien, S. 42.
380
Reuter, 9. Januar 1995.
381
Nach Angaben russischer Militärs, dpa, AFP, 5. Januar 2000.
382
AFP, 11. Januar 2000.
383
AP, 22. Oktober 1999; AP, 24. Oktober 1999. Der ZDF-Korrespondent Dietmar Schumann gab in seinem Bericht
für die heute-Sendung am 26. Dezember 1999 80.000 Mann an.
72
Übergangsregierung Sawgajew durch die Abhaltung von Wahlen Leben einzuhauchen und damit
deren Legitimität zu begründen. Sawgajew war bis 1991 Parlamentspräsident und wurde im
gleichen Jahr von Moskau unter dem Vorwurf der Unterstützung der August-Putschisten mit Hilfe
Dudajews gestürzt - dann wollte Moskau ihn wieder als ersten Mann im Staat sehen.
Diese widersprüchlichen Aktionen der Moskauer Führung forcierten die Instabilität der tschetschenischen innenpolitischen Situation, die seit dem Ende der Sowjetunion immer verworrener
geworden war. Als Dudajews Gegner im Juni 1993 zu einem Referendum über die Präsidialherrschaft aufriefen, versuchte er dies gewaltsam zu verhindern und ließ die Wahllokale schließen. Weder Dudajew noch Sawgajew waren in ihrer Position demokratisch legitimiert, die
Anhängerschaft beider war in etwa gleich groß und spaltete das Land in zwei Lager. Der
Machtkampf in Tschetschenien wurde letztlich in Moskau mitentschieden: Erst durch die
zunehmenden Spannungen in der Republik und den russischen Einmarsch neigte sich die
Waagschale zu Dudajews Gunsten. Nun wandten sich ihm auch viele seiner Gegner in der von
Clan-Beziehungen geprägten und zersplitterten politischen Landschaft Tschetscheniens zu.
Die russische Führung war nicht in der Lage, eine umfassende Strategie für eine Lösung des
Tschetschenien-Konflikts zu erarbeiten. Moskau wollte mit der ersten Intervention die Absetzung
des Dudajew-Regimes und die Wiederherstellung russischer Staatsmacht in Tschetschenien
durchsetzen. Verschiedene Stellen traten dafür ein, den Konflikt durch den Sturz Dudajews zu
lösen; dieser wiederum konnte die zunächst untereinander zerstrittenen Feldkommandanten um
sich scharen und kämpfte anschließend gemeinsam mit ihnen gegen die russischen Truppen.
Ähnlich die Situation im zweiten Krieg: Wiederum eint der Kampf gegen die Invasoren aus
Moskau die Feldkommandanten und drängt auch den amtierenden Präsidenten Maschadow in
deren Reihe. Dieser war bereits gezwungen, die radikaleren Kräfte in Tschetschenien, namentlich
den bei der Bevölkerung sehr beliebten Schamil Bassajew, an seiner Regierung zu beteiligen.
Maschadow, der als russlandfreundlich galt, hat der russischen Seite bis März 2000 vier Mal
Verhandlungen angeboten, die aber in Moskau rundweg abgelehnt wurden. Statt zu versuchen,
mit ihm zum politischen Dialog zu gelangen, hat Moskau auch ihn diskreditiert und sich so selbst
eines potenziellen der ohnehin raren Gesprächspartner beraubt.
Insgesamt hat Moskaus (Kriegs-)Politik in Tschetschenien einen Effekt, den sie eigentlich verhindern wollte. Die Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage tragen zu einer fortschreitenden
Destabilisierung bei. Das Vorgehen der Moskauer Führung stärkt die politische Legitimität des
substaatlichen Akteurs, der tschetschenischen Sezessionsbewegung. Die Rebellion kleiner
Gruppen hat im Verlauf der letzten Jahre eine breite Basis in der tschetschenischen Bevölkerung
gewonnen. Der Wunsch einiger separatistischer Gruppierungen zum Austritt aus der Föderation
hat sich zum politischen Ziel eines ganzen Volkes entwickelt und wird kaum rückgängig zu
machen sein. Die russische Führung ist offensichtlich nicht in der Lage, die Problematik politisch
zu lösen; doch sie ist es auch militärisch nicht.
Moskaus Verhalten in Tschetschenien ist dem in Afghanistan nicht unähnlich und erinnert an das
Agieren der UdSSR in früheren Konflikten. Beobachter haben konstatiert, dass mit wachsender
psychologischer Anspannung und steigendem Druck auf die Entscheidungsträger die Neigung
wächst, die gegnerische Seite zu stereotypisieren. Damit wiederum sinkt die Anzahl der Optionen,
die man berücksichtigen kann, es kommt zu Fehlbeurteilungen der Lage, zu falschen
Wahrnehmungen oder zur Vernachlässigung vielleicht wichtiger Informationen. Gleichzeitig
wächst die Tendenz der Entscheidungsträger, sich auf vorgefasste Meinungen zu verlassen und
intuitiv vorzugehen; aber auch, sich auf traditionelle Verhaltensweisen und Präzedenzfälle
abzustützen. 384
384
Vgl. Hannes Adomeit: Die Sowjetmacht in internationalen Krisen und Konflikten. Baden-Baden 1983,
S. 1 ff.
73
Beim ersten Einmarsch in Tschetschenien rechnete man in Moskau offensichtlich mit einem sehr
viel schnelleren Zusammenbruch des dortigen Widerstandes. Der gigantische Material- und
Personalaufwand für die zweite Aktion lässt die Vermutung zu, dass die Entscheidungsträger in
Moskau ihre Gegner im ersten Krieg völlig unterschätzten und diesen Fehler im zweiten Krieg
vermeiden wollten. Doch in den militärischen Operationen beider Kriege wurden bzw. werden die
Strukturelemente der nordkaukasischen Region im allgemeinen und die Tschetscheniens im
besonderen offensichtlich zu einem der größten Hindernisse für die russländischen Truppen.
Ob im strategisch-taktischen Bereich nach dem ersten Krieg auf russischer Seite Lernprozesse
erfolgten, ist momentan schwierig abzuschätzen. Doch scheinen sich Fehler der ersten
Intervention im zweiten Krieg zu wiederholen. Diese Vermutung stützt die Tatsache, dass die
föderale Armee zwischen September 1999 und Ende Januar 2000 offensichtlich wenige
kriegsentscheidende Fortschritte erzielen konnte. Die Kämpfe um die Städte, insbesondere um das
völlig zerstörte Grosny, dessen Rückeroberung die Tschetschenen ungeachtet aller russischer
Erfolgsmeldungen wieder angekündigt haben, sind ein Beispiel dafür. Im gebirgigen Süden,
dessen Eroberung in Moskau Anfang Februar dieses Jahres angekündigt wurde, werden die
russischen Einheiten nicht nur erneut auf erbitterten Widerstand stoßen, sie müssen auch neue
operative Varianten suchen. Im Kampf gegen die tschetschenischen Guerilla-Einheiten wird
zwangsläufig Zivilbevölkerung ums Leben kommen; Terror-Aktionen in den großen russischen
Städten werden mit großer Wahrscheinlichkeit folgen. Ein solcher Krieg kann unter Umständen
Jahre dauern und würde den maroden russischen Staat psychologisch und finanziell völlig
überfordern. Sollte sich Moskau in Tschetschenien dennoch soweit militärisch durchsetzen, dass
es Grosny schleifen und in einer neuen Hauptstadt Gudermes eine russische Verwaltung bzw.
Regierung einsetzen kann, wird es dennoch mittelfristig nicht in der Lage sein, das zerstörte Land
auch nur halbwegs wieder in Stand zu setzen.
Parallel dazu wird Moskaus Politik und Krieg in Tschetschenien auch zur fortschreitenden
Islamisierung der dortigen Gesellschaft führen und den gefürchteten spill-over-Effekt auf die
anderen südlichen Republiken nur begünstigen. Russische Staatlichkeit, die zerstört und nicht
einmal zum Wiederaufbau in der Lage ist, wird - im Gegensatz zu finanzkräftigen Glaubensbrüdern aus anderen Teilen der Welt - kaum ein Identifikationsangebot darstellen.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass ein schnelles Ende des Kriegs kaum zu erwarten ist.
Die um das neue Oberhaupt der "Kreml-Familie" Wladimir Putin gruppierte politische Elite in
Moskau hatte bis zu den Präsidentschaftswahlen im März 2000 wenig Interesse an einer
Beendigung des Kriegs, der in der russischen Bevölkerung noch immer weitgehend befürwortet
wird. Der zweite Krieg in Tschetschenien, der als Grenzsicherungsaktion in Dagestan begann, war
für den Wunsch-Nachfolger von Jelzin das Ticket zur Präsidentschaft. Der bei seinem Amtsantritt
nahezu unbekannte Putin hat seinen Marsch durch die internationalen diplomatischen
Institutionen unaufhaltsam fortgesetzt. Innenpolitisch demonstriert er Härte gegen Verbrechen
und Kriminalität, die vielen russischen Bürgern als Folge der westlichen Werte und liberaler
Demokratie erscheinen. Putin verkörpert die oft ersehnte "starke Hand" des Zentrums, die in der
politischen Kultur Russlands immer eine große Rolle gespielt hat. Nicht unbegründet scheinen
daher die Befürchtungen russischer politischer Beobachter, Folge des zweiten Kriegs in
Tschetschenien könnte eine "autoritäre Modernisierung" des russischen Staates sein. 385
385
Sergej Kowaljow: Der Krieg des Zaren, in: Die Weltwoche, Nr. 7, 17. Februar 2000.
74
Verantwortlich:
Dr. Reinhard C. Meier-Walser
Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen
der Hanns-Seidel-Stiftung
Autorin:
Dr. Tanja Wagensohn
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Regensburg
75
"aktuelle analysen"
bisher erschienen:
Nr.
1
Problemstrukturen schwarz-grüner Zusammenarbeit (vergriffen)
Nr.
2
Wertewandel in Bayern und Deutschland. Klassische Ansätze - Aktuelle
Diskussion - Perspektiven
Nr.
3
Die Osterweiterung der NATO - Die Positionen der USA und Russlands
(vergriffen)
Nr.
4
Umweltzertifikate - ein geeigneter Weg in der Umweltpolitik? (vergriffen)
Nr.
5
Das Verhältnis von SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen nach den
Landtagswahlen vom 24. März 1996 (vergriffen)
Nr.
6
Informationszeitalter - Informationsgesellschaft - Wissensgesellschaft
(vergriffen)
Nr.
7
Ausländerpolitik in Deutschland
Nr.
8
Kooperationsformen der Oppositionsparteien
Nr.
9
Transnationale Organisierte Kriminalität (TOK). Aspekte
Entwicklung
und Voraussetzungen erfolgreicher Bekämpfung (vergriffen)
ihrer
Nr.
10
Beschäftigung und Sozialstaat
Nr.
11
Neue Formen des Terrorismus
Nr.
12
Die DVU - Gefahr von Rechtsaußen
Nr.
13
Die PDS vor den Europawahlen
Nr.
14
Der Kosovo-Konflikt: Aspekte und Hintergründe (vergriffen)
Nr.
15
Die PDS im Wahljahr 1999: "Politik von links, von unten und von Osten"
(vergriffen)
Nr.
16
Staatsbürgerschaftsrecht und Einbürgerung in Kanada und Australien
Nr.
17
Die heutige Spionage Russlands
Nr.
18
Krieg in Tschetschenien
in Vorbereitung:
Ost-Timor und die Krise des indonesischen Vielvölkerstaates in der Weltpolitik
Herunterladen