26 Die schwierig bestimmbaren Grenzen der Normalität

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Die schwierig bestimmbaren
Grenzen der Normalität
Er möchte ganz von vorn beginnen.
Wo ist vorn?
Elias Canetti
Für denjenigen, der sich heute intensiv und kritisch in die vorhandene Literatur
über Persönlichkeitsstörungen einzuarbeiten versucht, drängt sich zwangsläufig
der Eindruck auf, dass es sich dabei um jenen Bereich der psychischen Störungen zu handeln scheint, zu dem die meisten Publikationen verfasst wurden
und zu dem zugleich das geringste Wissen vorliegt – und schließlich: als habe
eine ernsthafte empirische Forschung gerade damit begonnen, erste Lichtungen
in den „Urwald“ teils hundert und mehr Jahre alter Annahmen und Spekulationen zu schlagen. Betrachtet man die ständig steigende Flut empirischer Arbeiten, so scheinen mit der weitgehenden Enttheoretisierung des DSM (seit dem
DSM-III) und der ICD-10 tatsächlich erste sichere Pfade angelegt worden zu
sein.
Die nach dem DSM-III von 1980 einsetzende Publikationslust zunächst einiger weniger, dann immer neuer Forscher, schließlich auch namhafter Kollegen,
machte in den letzten Jahren selbst jene neugierig, die lange Zeit von allem
Abstand gehalten hatten oder sogar vehement gegen alles eingetreten waren, was
in der Forschung mit Begriffen wie „Soziopathie“, „Psychopathie“, „Charakterstörung“ belegt wurde. Sie beteiligen sich inzwischen so tatkräftig, das eigens
neue Zeitschriften gegründet wurden: z.B. das „Journal of Personality Disorders“
und – im deutschen Sprachraum – die „Persönlichkeitsstörungen: Theorie und
Therapie“.
Andererseits bekunden einige der Protagonisten im Feld inzwischen erneut
ihre Skepsis und Zurückhaltung. Sie fragen sich ernsthaft, ob sie wirklich am
weiteren Ausbau der inzwischen bestehenden Pfade zu festeren Straßen mitmachen sollen. Fest ausgebaute Straßen lassen sich (schon des Gewohnheitsrechts wegen) nur sehr selten neu verlegen. Müssten – eingedenk der früheren
und nach wie vor geltenden Vorbehalte – nicht möglicherweise doch erst
neue Lichtungen geschlagen, vielleicht sogar gänzlich andere Pfade gesucht
werden?
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Fiedler (2001). Persönlichkeitsstörung. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
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26.2 Was „stört“ eigentlich an einer Persönlichkeitsstörung?
In diesem Band wurde eine Konsequenz dahingehend gezogen, die Persönlichkeitsstörungen vorrangig als komplexe Störungen des zwischenmenschlichen
Beziehungsverhaltens aufzufassen.
Komplexe Störungen des Interaktionsverhaltens. Dieses ist die bedeutsamste der
übergreifend beobachtbaren Auffälligkeiten. Persönlichkeitsstörungen können
sich entscheidend auf die Qualität von persönlichen Beziehungen zu anderen
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Menschen auswirken. Sie können Freundschaften und Partnerschaften sowie das
Familienleben ungünstig beeinflussen. Ein zweiter großer Bereich, in dem persönlichkeitsgestörte Menschen auffällig werden, betrifft ihre beruflichen Bezüge
und ihre Einstellungen zur beruflichen Arbeit – also die Art, wie jemand Aufgaben ausführt, Entscheidungen trifft, wie er oder sie auf Kritik reagiert, Regeln
befolgt oder mit anderen zusammenarbeitet.
Die Betonung der Interaktionsprobleme bei Persönlichkeitsstörungen erfolgte
mit Bedacht, ist dennoch etwas pointiert vorgenommen worden, denn sie stimmt
in dieser Einseitigkeit nicht ganz. Neben den allseits auffälligen Interaktionsstörungen beinhalten Persönlichkeitsstörungen nämlich auch noch folgende
Störungsaspekte (vgl. Fiedler 2000a):
Störungen der Emotionalität. Häufig sind vorrangig bestimmte Gefühlsqualitäten betroffen. So dominieren z.B. Angst und Unsicherheit bei selbstunsicheren
Personen, Traurigkeit und Dysphorie bei depressiven Menschen. Oder es werden
von wiederum anderen Menschen die Emotionen einseitig übertrieben dargestellt, wie dies häufig bei histrionischen Persönlichkeiten der Fall ist. Letztere,
histrionische Persönlichkeiten neigen zur Emotionalisierung von Beziehungen.
Bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen ist häufig die Fähigkeit zur Modulation
des Gefühlserlebens gestört, was unter psychischer Belastung zu einem Zusammenbruch der Möglichkeit führt, sich an Gefühlen als wichtigste Referenz für die
Beurteilung zwischenmenschlicher Beziehungen zu orientieren. Es kommt zu
plötzlich und schnell wechselnden Gefühlsäußerungen. Bei schizotypischen Personen erhalten viele Ereignisse, Gegenstände und Personen eine hochgradig
emotionale Bedeutung, die über ihren rational begründbaren Gehalt hinausgeht.
Störungen der Realitätswahrnehmung. Bei einigen Persönlichkeitsstörungen
kann die Möglichkeit zur Realitätsprüfung beeinträchtigt sein. Die äußeren
Umstände und Beziehungserfahrungen werden verzerrt wahrgenommen oder
falsch bewertet. So können sich beispielsweise extrem misstrauische Personen,
die in den Diagnosesystemen etwas unglücklich als paranoide Persönlichkeiten
bezeichnet werden, schon durch harmlose Bemerkungen und Vorfälle bedroht
fühlen. Sie erwarten ständig, von anderen gekränkt oder herabgesetzt zu werden.
Bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung stehen sämtliche Bestrebungen der
Betroffenen selektiv eingeengt unter dem Regime moralischer, logischer oder
sozialer Regeln und Maximen. Bei narzisstischen Personen findet sich eine hohe
Anspruchshaltung gegenüber sich selbst wie gegenüber anderen, die häufig mit
Kränkungs- und Neidgefühlen einhergehen kann.
Störungen der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung. Persönlichkeitsstörungen können sich auch auf die Art und Weise auswirken, wie jemand sich
selbst sieht, wie er oder sie über sich denkt und welche gefühlsmäßigen Einstellungen jemand zu sich selbst hat. Zum Beispiel übertreiben Menschen mit narzisstischer Persönlichkeit häufig ihre eigenen Leistungen und Fähigkeiten. Ganz
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im Unterschied dazu fehlt es Menschen mit dependenter Persönlichkeit an
Selbstvertrauen. Dependent-abhängige Personen lassen andere Menschen Entscheidungen für sich treffen und spielen ihre eigenen Fähigkeiten herunter.
Histrionische Personen fühlen sich unwohl, wenn sie nicht im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit stehen, legen sehr viel Wert auf die äußere Erscheinung, gelten
häufig als übertrieben attraktiv und verführerisch. Die selbstkritische Haltung
selbstunsicher-vermeidender Personen führt sehr häufig dazu, dass die Betroffenen Erwartungen an sich selbst und andere infrage stellen und sogar öffentlich
revidieren, sobald widersprüchliche Informationen auftauchen.
Störungen der Impuls- und Selbstkontrolle. Besondere gravierende soziale Folgen verursachen Personen, die persönlichkeitsbedingt häufig und sehr spontan
ihre Selbstbeherrschung verlieren oder eigene Triebregungen nur schwer regulieren und kontrollieren können. So weisen beispielsweise Personen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oft eine gravierende Neigung zu impulsiver Verschwendung, zu sexueller Promiskuität oder zu Substanzmissbrauch auf, wie bei
ihnen ebenfalls häufig suizidale oder parasuizidale Handlungen beobachtbar
sind. Oder Personen mit dissozialer Persönlichkeit: Diese neigen zu abenteuerlichen Eskapaden bis hin zu leichtfertigen Gesetzesübertretungen wie Vandalismus, Diebstahl oder körperlicher Gewaltanwendung. Viele Menschen mit dissozialer Persönlichkeit bringen sich wiederholt durch extrem impulsives Verhalten
in Schwierigkeiten, weil sie zu Schlägereien und körperlichen Übergriffen neigen,
im Extremfall einschließlich Partner- oder Kindesmisshandlung. Es bleibt jedoch
zu beachten, dass Impulskontrollstörungen unter psychischer Belastung bei fast
allen Persönlichkeitsstörungen vorkommen können.
Dennoch: Vorrangig Interaktionsstörungen! Wenn wir Persönlichkeitsstörungen
in diesem Buch übergreifend als komplexe Störungen des zwischenmenschlichen
Beziehungsverhaltens aufgefasst haben, so liegt das u.a. daran, dass sie als solche
strikter und vor allem eindeutiger als mithilfe der anderen Merkmale von den
übrigen psychischen Störungen diagnostisch trennen lassen. Das wird gelegentlich bei Betonung der anderen Störungsaspekte oder bei der Suche nach einem
eventuellen „Krankheitswert“ allzu leicht übersehen.
Was deshalb und genau dazu nachfolgend erneut gesagt wird, mag auf den
ersten Blick befremden, aus einer anderen Sicht vielleicht Zustimmung, möglicherweise aber auch Ablehnung erfahren.
26.2.1 Übergänge zu den symptomatischen psychischen
Störungen
Unter der Bezeichnung „prämorbide Persönlichkeit“ werden üblicherweise die
besonderen Risikomerkmale einer Person zusammengefasst, die die Möglichkeit
der Entwicklung einer spezifischen psychischen Störung beinhalten. Andererseits
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sind diese jedoch zumeist erst beurteilbar und bewertbar, wenn sie in den zwischenmenschlichen Beziehungen sichtbar und auffällig werden. Bei den prämorbiden („depressiven“, „hyperthymen“, „zyklothymen“ oder „schizotypischen“)
Personeigenarten handelt es sich zumeist um sog. „morbusnahe“ Grundstörungen (der Depression oder Schizophrenie).
Interaktion. Es darf nicht verkannt werden, dass die aus diesen Grundstörungen
erwachsenden „sichtbaren“ sekundären Eigenarten, die die Betroffenen entwickeln, um ihre spezifische Vulnerabilität zu schützen, immer zugleich interpersoneller Natur sind. Letztlich jedoch sind es nur diese interpersonellen Eigenarten, die für mögliche zwischenmenschliche Konflikte mitverantwortlich zeichnen. Und das, was wir schließlich als deutlich hervortretende „prämorbide Persönlichkeit“ oder „Persönlichkeitsstörung“ bezeichnen, hat eine ihrer möglichen
Ursachen in zwischenmenschlichen Bewertungs- und Ausgrenzungsprozessen,
an denen die Betroffenen selbst und die Interaktionspartner beteiligt sind.
Dies wird auch von jenen Autoren so vertreten, die wie von Zerssen (1991) der
Ansicht sind, die prämorbid zur Depression beobachtbaren Persönlichkeitseigenarten (z.B. des Typus melancholicus) lägen bis zum Zeitpunkt der Exazerbation in
Richtung affektive bzw. Stimmungsstörung noch im Bereich der „Normalität“.
Ätiologietheoretisch unterstellt von Zerssen jedoch „fließende Übergänge“ und
einen interpersonell provozierten Zusammenbruch der persönlichkeitsbedingten
Abwehrstruktur der für den Typus melancholicus typischen hypernomen Angepasstheit („subjektives Scheitern der Selbstverwirklichung“; Æ 19.3.1).
Bis heute ist nicht bewiesen, ob dieser Zusammenbruch des im sozialen Rollenverhalten liegenden Selbst- und Vulnerabilitätsschutzes spontan und abrupt
erfolgt. Wahrscheinlicher ist, dass die soziale Überangepasstheit der Typusmelancholicus-Patienten Schwankungen unterliegt und dass diese möglicherweise zusammenbricht, weil sie sich gegenüber den von anderen zunehmend
geäußerten Kritiken und Veränderungseinforderungen nicht länger aufrechterhalten lässt. Das prämorbide Rollenverhalten selbst jedoch dürfte wie die Interaktions- und Rolleneigenarten der übrigen Persönlichkeitsstörungen ich-synton
gelebt werden.
Ich-Syntonie. Die „Ich-Syntonie“ ist eines der zentralen Unterscheidungsmerkmale zwischen den spezifischen psychischen Störungen (DSM-Achse I) und den
Persönlichkeitsstörungen (DSM-Achse II). Auch dies wird von vielen Autoren zu
wenig genau beachtet. Nur deshalb wird vielfach darüber gestritten, ob symptomatische Störungsanteile (wie z.B. dissoziative oder somatoforme Störungen
oder die Depressivität) als Kriterien der Persönlichkeitsstörungen gelten können
oder ob bestimmte (wie z.B. die Borderline-)Persönlichkeitsstörungen nicht besser als symptomatische psychische Störungen in den Diagnosesystemen geführt
werden sollten.
Aktuelles weiteres Beispiel ist die Diskussion darüber, ob z.B. die sog. „subaffektiven Störungen“ chronifizierte Stimmungsstörungen oder Persönlichkeits540
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Fiedler (2001). Persönlichkeitsstörung. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
störungen sind (Æ 19.2; Æ 19.5). Auch die Auseinandersetzung über die Frage,
ob die „schizotype Störung“ eine symptomatische psychische Störung ist (so in
der ICD-10) oder besser als interaktionelle Persönlichkeitsstörung aufgefasst
werden soll (so im DSM bis zum neuen DSM-IV), ist für dieses Kontaminationsproblem kennzeichnend (Æ 9.3).
Könnte es nicht sein, dass beide Auffassungen richtig sind? Dazu bräuchten
jeweils nur die symptomatischen Anteile von den interaktionellen Merkmalen
einer Persönlichkeitsstörung konzeptuell und diagnostisch getrennt werden. Eine
solche Merkmalstrennung, d.h. die stärkere Differenzierung der ich-syntonen
von den ich-dystonen Verhaltensdeskriptoren könnte in der Tat die Frage entscheidend voranbringen, ob es nun eine depressive und/oder schizotypische Persönlichkeitsstörung geben sollte oder nicht.
Depressive Persönlichkeitsstörung – Dysthymie – Depression
Natürlich sind die depressiven Verstimmungen in der depressiven Persönlichkeitsstörung „ich-dyston“. Die Betroffenen leiden unter ihrer (chronischen)
Depressivität (Dysthymie: Achse I, affektive Störungen). Andererseits macht eine
chronische Grundverstimmung in Richtung Depressivität in zwischenmenschlichen Kontexten fast zwangsläufig eine Art „Selbstschutz“ durch die Betroffenen
erforderlich.
Dieser Selbstschutz wird einerseits notwendig gegenüber der eigenen depressiogenen Vulnerabilität, um ein mögliches Abgleiten in die schwere Depression
zu verhindern. Schließlich wird sich die betreffende Person immer zugleich
gegen überhöht erscheinende Anforderungen und Einschränkungen durch die
relevanten Bezugspersonen richten oder diesen zu entsprechen versuchen (vgl.
z.B. das Hypernomiekonzept von Kraus, 1977, 1991; Æ 19, Æ 19.3.1).
Die dabei – möglicherweise lebenslang – entwickelten interpersonellen Selbstschutzverhaltensgewohnheiten machen nun genau die prämorbide Persönlichkeitsstruktur (Typus melancholicus) oder ihre (depressive) Persönlichkeitsstörung aus. Und dies macht es sinnvoll, getrennt und zusätzlich zur dysthymen
Stimmungsstörung eine Persönlichkeitsstörung vorzusehen (DSM-Achse II:
depressive Persönlichkeitsstörung; vgl. die ähnlich lautenden Argumente der
Arbeiten in Klein et al., 1993).
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26.3 Lassen sich die Grenzen zwischen Normalität
und Abweichung überhaupt eindeutig festlegen?
Nicht nur die Anzahl der Persönlichkeitsstörungen ist unklar. Unklar ist gegenwärtig auch, ob jemand, der die in den Diagnosesystemen angegebenen Mindestzahlen der Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung erfüllt (jeweils 4 oder 5
oder 6 oder 7 usw.), tatsächlich „persönlichkeitsgestört“ ist.
Klinische Erfahrung. Zum einen sind die meisten Persönlichkeitsstörungen,
obwohl die Forschung in diesem Bereich enorm expandiert, nach wie vor eher
ein Produkt der „klinischen Erfahrung“, als dass etwa wissenschaftlich belegt
wäre, dass es sich dabei wirklich um „prototypische Störungen“ handelte. Deshalb wird von Diagnoseforschern immer wieder bedauert, dass es nach wie vor
keinen „Goldenen Standard“ bzw. kein „Urmeter“ für die bisherigen Störungen
gebe (Æ 19). Als Ausnahmen mögen vielleicht die dissozialen, schizotypischen
oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen gelten, zu denen inzwischen auch die
meisten Forschungsarbeiten vorliegen.
Aber selbst die Gruppe der Borderline-Störungen, die fast 40 Prozent aller
Publikation über Persönlichkeitsstörungen auf sich vereinigt, ist nach wie vor
heftig umstritten: Man vergleiche hierzu die aktuellen Ätiologieperspektiven in
26.3 Lassen sich die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung eindeutig festlegen?
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Æ Kapitel 11, die es nahe legen, zukünftig deutlicher zwischen Borderline-Persönlichkeitsstörungen und chronifizierten Trauma- bzw. Belastungsstörungen zu
unterscheiden. Oder man beachte die Sicht von Akiskal (1992), der sie wegen des
vorhandenen Risikos, eine schwere Depresssion zu entwickeln, lieber gleich den
affektiven bzw. Stimmungsstörungen zugeordnet sähe (Æ 18.5).
Normal – krank – deviant. Zum anderen sind die geforderten Mindestkriterien
der Persönlichkeitsstörungen nach wie vor kaum ausreichend dahingehend überprüft worden, wie „gesund“ oder „krank“ oder „deviant“ oder „normal“ jemand
wirklich ist, wenn er die Mindestanzahl der jeweils „geforderten“ Kriterien einer
Persönlichkeitsstörung (und vor allem: welche?) auf sich vereinigt.
Die bisherige Festlegung von Mindestkriterien ist schlicht das Resultat pragmatischer Setzungen in den unzweifelhaft langwierigen Diskussionen jener Psychiater und Psychologen, die den Diagnose- und Nomenklaturausschüssen der
American Psychiatric Association oder der WHO angehören. Genau aus diesem
Grund wären zur Frage der klinischen Validität des „Störungsgehaltes“ der Persönlichkeitsstörungen grundlegende Forschungsarbeiten dringend nötig. Eigentlich wären sie jeder weiteren praktischen Verwendung der Diagnosesysteme
zwingend vorzuordnen.
Übergänge. Inzwischen mehren sich denn auch die empirischen Hinweise, die
deutliche Beziehungen zwischen kategorialen und dimensionalen Konzepten
offen legen und damit die Hypothese fließender Übergänge zwischen Normalität
und Abweichungen unterstützen. In diesem Zusammenhang werden unterschiedliche Modelle und Operationalisierungen diskutiert und überprüft. Eine
Möglichkeit besteht darin, Ähnlichkeitsbeziehungen indirekt über faktorenanalytische Methoden zu errechnen (vgl. Becker, 1998).
So haben beispielsweise Mitarbeiter der Forschungsgruppe um Saß mit einem
facettentheoretischen Modell die strukturellen Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Persönlichkeitsdimensionen und -störungen empirisch abzusichern versucht (Saß et al., 1995, 1996, 2000). Dabei galten die Annahmen, dass Persönlichkeitsfaktoren höherer Ordnung (Extraversion, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Offenheit gegenüber Erfahrungen usw.) die Persönlichkeit gesunder wie
kranker Personen in ähnlicher Weise strukturieren und dass zwischen normalen
Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen ein gradueller und kein grundsätzlicher Unterschied besteht – eine Hypothese, die auch den in Æ Kapitel 19
dargestellten Komorbiditätsmodellen zugrunde liegt.
Kontinuitätsmodell. So fanden sich beispielsweise enge Beziehungen der
„Störungsmerkmale“ selbstunsicher, dependent und zwanghaft zur „Persönlichkeitsdimension“ Verträglichkeit, weiter waren schizotypisch, Borderline, narzisstisch und dissozial enger mit einem Strukturmerkmalsbereich „Desorganisierte
Persönlichkeit“ verknüpft, histrionisch und hyperthym mit Extraversion usw. Die
facettentheoretische Analyse unterstützte also die Annahme eines möglicherweise
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universell gültigen Kontinuitätsmodells der Persönlichkeit mit fließendem Übergang zwischen normalen Persönlichkeiten und Persönlichkeitsstörungen.
Allerdings waren die Ähnlichkeitsbeziehungen über die verschiedenen Stichproben hinweg nicht identisch. Während in der Normalpopulation allen Persönlichkeitsdimensionen eine hohe Diskriminationsfähigkeit zukam, stellt sich in
der klinischen Stichprobe der „Neurotizismus“ als gemeinsames Merkmal fast
aller Individuen dar. Dieser Befund deckt sich ebenfalls mit anderen Untersuchungen zur Dimensionalität der Persönlichkeitsstörungen, auf die wir bereits in
Æ Kapitel 5.4 eingegangen sind (vgl. Becker, 1998; v. Zerssen, 2000).
26.3.1 Kompetenz und Tolerierbarkeit
Die Frage der Grenzziehung zwischen „Normalität“ und „Abweichung“ lässt sich
also nicht einfach durch Kriterien und Kriteriengewichtungen vornehmen. Gerade weil sich die Diagnose der „Störung einer Persönlichkeit“ im Wesentlichen auf
die Einschätzung des Interaktionsverhaltens der Betroffenen stützt, gibt es keine
eindeutigen Grenzmarkierungen. Der Diagnostiker muss hier vielfach recht blind
auf die Kriteriensetzungen vertrauen.
Toleranz. Würde man mit einer interaktioneller Perspektive an die Diagnose herangehen und dabei etwa die Frage der zwischenmenschlichen Tolerierbarkeit
der in den Kriterien angegebenen Interaktionsaspekte mitberücksichtigen, dann
würde man immer zwischenmenschliche Kontexte finden, in denen die gerade
beurteilten Verhaltensmuster als (wesentliche) Kompetenz gelten können – mit
Ausnahme delinquenter und krimineller Handlungen oder der Gewalt gegen sich
selbst (Suizidversuch) oder der Gewalt gegen andere (für deren zwischenmenschlich-soziale Bewertung zumeist eindeutige Rechtsvorschriften gelten;
Æ 24.3).
Die Beurteilung der kontextgebundenen Tolerierbarkeit von Störungskriterien
gilt (im Sinne der Reliabilitätsanforderungen) jedoch prinzipiell als „diagnostischer Fehler“. Dabei ist völlig unzweifelhaft, dass sich für fast alle Kriterien „sozial angemessene“ Interaktionskontexte finden lassen oder auch Kontexte, in
denen die Betroffenen mit ihren Eigenarten auf Toleranz und Akzeptanz stoßen.
Wir haben dies beispielsweise für den Bereich der dissozialen Persönlichkeitsstörung herausgearbeitet (Æ 10.3 und unten).
Dimensionalität. Die Frage der möglichen Grenzziehung zwischen „Normalität“
(Persönlichkeits-Eigenarten) und „Abweichung“ (Persönlichkeits-Störungen) ist
nach der erstmaligen Kriterienausdifferenzierung seit dem DSM-III (von 1980)
kaum substanziell untersucht worden. Kritiker haben angesichts der Willkürlichkeit der Kriterienfestlegung gefordert, Alternativen nicht zu vergessen. Die
dazu unterbreiteten Vorschläge zielen vor allem auf die Entwicklung dimensionaler Modelle (vgl. Klein, 1993; Saß et al., 1996) – wobei sich offensichtlich mit
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dem Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit völlig neue Möglichkeiten einer
erneuten Zusammenführung der jahrelang unverbunden nebeneinander herlaufenden Forschungen in der differenziellen Persönlichkeitspsychologie einerseits
und der Klinischen Psychologie und Psychiatrie andererseits eröffnen (Costa &
Widiger, 1993; Æ 5.3, Æ 5.4).
Funktionale Stile. Es ist jedoch die Frage, ob dimensionale Persönlichkeitstests
die einzigen Perspektiven bereitstellen, um sich an die Frage der möglichen
Grenzen heranzuwagen. Es gibt noch einige weitere Möglichkeiten. Diese sind
jedoch im Bereich der Persönlichkeitsstörungen bislang kaum ausgelotet worden.
Und sie werden dort, wo Forscher diese Wege beschreiten, mit Misstrauen und
Skepsis betrachtet. Das liegt daran, dass die Forscher sich hierzu gleich eines der
schwierigsten Störungsbilder – nämlich das der dissozialen Persönlichkeitsstörungen – ausgesucht haben. Gemeint sind z.B. die Untersuchungen von Sutker und Allain (1983) zur sog. „adaptiven Dissozialität“.
Diese Forschungsperspektive geht den Weg der Grenzziehung zur „Abweichung“ von der „Normalität“ her. Es wird unterstellt, dass es viele Menschen gibt,
die die Kriterien der Persönlichkeitsstörungen erfüllen, damit jedoch in den von
ihnen gewählten Lebenskontexten ohne Probleme, wenn nicht gar sehr erfolgreich zurechtkommen (vgl. z.B. die „adaptive Dissozialität“ vieler angesehener
Politiker; Æ 10.3). Diese Perspektive unterstellt also ausdrücklich eine situative Variabilität und damit Kontextabhängigkeit der Persönlichkeitsstörungen
(Æ 6.3) – ganz im Unterschied zu den Diagnosesystemen, die von einer Nichtvariabilität und Zeitbeständigkeit der Persönlichkeitsstörungen ausgehen.
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