«Eine Lebenseinstellung, keine Religion» Fleischverzicht ist mittlerweile salonfähig geworden. Wer sich hingegen vegan ernährt, also ganz ohne tierische Produkte auskommt, muss noch immer gegen Vorurteile kämpfen. YVES ZENGER «Es wird die Zeit kommen, in welcher wir das Essen von Tieren ebenso verurteilen, wie wir heute das Essen von unseresgleichen, die Menschenfresserei, verurteilen» – das italienische Universalgenie Leonardo Da Vinci (1452– 1519) war seiner Zeit in vielen Dingen voraus. Heute teilen viele Menschen diese für seine Zeit fast schon revolutionäre Tierliebe. Da Vinci war ein Verfechter des Vegetarismus, einer Ernährungsweise, die in der Gesellschaft mittlerweile verbreitet ist. Vor knapp zwei Jahren bekam sie durch Jonathan Safran Foers Buch «Tiere essen» neuen Auftrieb. Etwas anders sieht es mit der veganen Lebensweise aus. Sie wird oft kritisch beäugt. In der Schweiz leben schätzungsweise zwischen 20 000 und 25 000 Veganerinnen und Veganer. Menschen, die aus ethischen Gründen die Nutzung von Tieren und den Konsum von tierischen Produkten ablehnen: Fleisch, Fisch, Milch, Eier, Honig, Leder, Wolle, Seide ebenso wie Zoobesuche und Kosmetika, die an Tieren getestet wurde. Marielle Kappeler aus Täuffelen gehört dazu. Die Soziologin ist im Vorstand der Veganen Gesellschaft Schweiz (VGS) und engagiert sich seit ihrer Jugend gegen Delfinarien, Tierversuche und Fleischkonsum. Seit fünf Jahren lebt sie vegan. Für die 28-Jährige ist klar: «Tiere sind genauso empfindungsfähig wie wir. Warum sollten wir sie anders behandeln?» Und sie fügt an: «Es ist offensichtlich mit erheblichem Leid verbunden, wenn ein Kalb von seiner Mutter getrennt wird, damit wir deren Milch trinken und dann das Kalb essen können.» Massiver Eingriff ins Tierleben Veganer vertreten die Meinung, dass die Haltung eines Nutztiers durch den Menschen nicht ohne Leid und Gewaltanwendung auskommt. Die meisten Tiere könnten in ihrem kurzen Leben niemals ihre natürlichen Verhaltensweisen ausleben. Der Eingriff in das Tierleben ist laut VGS massiv: Wer denkt, Veganer würden sich nur von Gemüse ernähren, liegt falsch. Denn mittlerweile gibt es zahlreiche Ersatzprodukte. Eine Henne zum Beispiel lege von Natur aus zweimal jährlich höchstens zwölf Eier und brüte diese aus. Weil man ihr jedoch die Eier wegnehme, werde sie dazu animiert, jährlich bis zu 300 Eier zu legen. Nach etwa einem Jahr sei sie ausgezehrt und werde getötet. Die unbrauchbaren männlichen Küken der Lege-Zuchtlinie würden nach dem Schlüpfen vergast. Neben dem Tierschutz leide auch die Ökologie, hält der VGS fest. Die Fleischindustrie verfüttere den Nutztieren Unmengen an Getreide und Soja, während eine Milliarde Menschen Hunger leide. Der Fleischlust müssten riesige Flächen an Urwald und Naturflächen weichen. Der Futtermittelanbau konkurriere den Nahrungsmittelanbau. Fleischproduktion und -konsum seien für ungefähr 40 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. So belastet die Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch das Klima laut japanischen Forschern so stark wie 250 Kilometer Autofahrt. Beim Meeresfisch ist es nicht besser: 90 Prozent der ursprünglichen Bestände der grossen Raubfische sind bereits ver- schwunden. Eine vegane Ernährung schone nicht nur die Natur, sie sei auch gesund, sagen Befürworter des Veganismus. Als Vorteile zählen sie niedrigere Werte an gesättigten Fettsäuren oder Cholesterin sowie ein höherer Gehalt an Ballaststoffen, Mineralien und Antioxidanzien auf. Verschiedenen Studien zufolge haben Veganer im Schnitt niedrigere Cholesterin-Blutwerte, einen niedrigeren Blutdruck, leiden seltener an Bluthochdruck, Rheuma, Dia- Vegan essen im Restaurant • Wer sich in Biel vegan verwöhnen lassen will, kann das zum Beispiel auf Vorbestellung im Restaurant Maruzzella in Bözingen tun, das vorwiegend auf biologische, saisonale Produkte setzt (032 342 19 20). • Mehr Informationen über vegane Ernährung unter www.vegan.ch. Die Ernährungsberaterin Alette Kleinendorst ist erreichbar unter 032 322 32 13. (yz) betes Typ 2 sowie Prostata- und Darmkrebs. Die American Dietetic Association (ADA), die weltweit grösste Organisation von Ernährungsexperten, schreibt in ihrem Positionspapier zu vegetarischen Ernährungsformen: «Gut geplante vegane und andere Formen der vegetarischen Ernährung sind für alle Phasen des Lebenszyklus geeignet einschliesslich Schwangerschaft, Stillzeit, früher und späterer Kindheit und Adoleszenz.» Zur Vermeidung von Nährstoffdefiziten rät die ADA allerdings, auch angereicherte Nahrungsmittel (z.B. calciumverstärkte Sojamilch) oder entsprechende Nahrungsergänzungsmittel zu verwenden. Viel Ernährungswissen nötig Die Bieler Ernährungsberaterin Alette Kleinendorst hält trotzdem nicht viel von einseitigen Kostformen: «Bei einer veganen Ernährung ist es sehr schwierig die Ernährung so zu gestalten, dass sie alle Nährstoffe enthält.» Veganer hätten im Schnitt häufiger einen Mangel an Eisen, Vitamin B12, Zink, Eiweiss, Calcium oder Jod. «Eine ausgewogene vegane Ernährung braucht sehr viel Ernährungswissen, damit diese Defizite Bild: ky verhindert werden können.» Die Expertin rät besonders Menschen mit erhöhtem Nährstoffbedarf wie Kindern oder älteren Menschen von einer veganen Ernährungsweise ab. Marielle Kappeler sieht in Nahrungsergänzungsmitteln kein Argument gegen eine vegane Ernährung. Sie nimmt regelmässig Kautabletten mit Vitamin B12 zu sich. «Mein Immunsystem ist heute besser als früher, ich werde seltener krank und erhole mich schneller. Auch meine sportliche Leistung ist gestiegen», sagt sie. Auch gegen das oft gehörte Vorurteil der genussfeindlichen Ideologin wehrt sie sich entschieden: «Ich esse sehr gerne und abwechslungsreich. Vegan zu leben ist eine Lebenseinstellung, keine Religion.» Ihr heutiges Abendessen jedenfalls könnte auch für Nicht-Veganer ein Aha-Erlebnis darstellen: Gebratener Räuchertofu-Rucoalasalat, Seitan-Cordon-Bleu mit No-Muh-Käse und eine Peanut-Bananacream-Chocolate-Torte. LINK: www.bielertagblatt.ch Mehr zum Thema unter «Fleischverzicht»