Deutsches Ärzteblatt 1985: A-671

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Kulturmagazin
Die alten und die neuen Rollbilder aus dem Himalaya
Tibetanische
religiöse
Malerei im
Niedergau
Alexandra Lavizzari-Raeuber
Links: Hayagriva, der Pferdehals,
Schützer der buddhistischen Lehre
Rechts: Vajradhara, mystisch vereint mit seinem weiblichen Pendant
Die Kunst Tibets, von der man
heute leider befürchten muß,
daß sie infolge des chinesischen
Einmarsches 1956 ihrem allmählichen Untergang entgegensieht, ist seit ihren Anfängen
aufs engste mit der Tradition
des Lamaismus verbunden; dies
gilt insbesondere für die Malerei, die ihre Sujets ausschließlich aus dieser himalayischen
Sonderform des Buddhismus
schöpft und sowohl volksreligiösen als auch hochgradig esoterischen und mystischen Zwecken
dient.
Funktion der Thangkas
Unter Thangka versteht man ein
meist auf Baumwollstoff, seltener auf Seide oder Leder gemaltes Bild religiösen Inhaltes, das
mit einem chinesischen Seidenbrokat umfaßt und mit einem
dünnen Deckstoff versehen ist,
der es im Alltag vor dem Blick
Uneingeweihter schützt. Als
Sakralgegenstand in den larnai-
stischen Klöstern oder zu Hause
in der Altarnische aufgehängt,
wurden Thangkas früher auch
von wandernden Mönchen auf
ihren mühseligen Missionsreisen quer durch Tibet und dessen angrenzende Gebiete zum
Schutz vor bösen Naturgeistern
und sonstigen Übeln wie Krankheiten und Hungersnöten zusammengerollt im dürftigen Gepäck mitgetragen, woher sich
denn auch ihr Name, Thangka,
herleitet, der im tibetischen
Sprachgebrauch soviel wie
„Rollbild" bedeutet. Solchen
Bildern mit ihren ansprechend
bunten und figürlichen Darstellungen des lamaistischen Pantheons kam zudem eine wichtige erzieherische Rolle zu, die
mitunter wesentlich zur Abkehr
der ländlichen Bevölkerung Tibets von der urtümlichen, stark
schamanistischen Bon-Religion
und ihrer Bekehrung zum Lamaismus beitrug; mit deren Hilfe nämlich vermochten die Wandermönche selbst Lesensunkundige über die Geschichte
und das Dogma des Buddhismus an konkreten Szenen belehren, indem sie die einzelnen
Bildelemente in Gedichten und
Sprüchen erläuterten, in ähnlicher Weise wie die Bänkelsänger in unserer westlichen Kultur
aufzutreten pflegten.
Zur Hauptsache jedoch dienen
Thangkas dem angehenden Lama als Hilfe zur Meditation, die
unter anderem in der geistigen
Vergegenwärtigung einer Gottheit mittels Ritualen, dem Sprechen gebetsähnlicher Anrufungsformeln und Versenkung
gipfelt.
Mandalas symbolisieren zugleich das All ,vvie auch eine Art
Orientierungskarte der menschlichen Psyche; indem der Meditierende bei zunehmender Vergeistigung vom äußeren Feuerkranz des Mandalas in das Zentrum vordringt, dem sogenannten himmlischen Palast, wo sich
seine persönliche Schutzgottheit aufhält, strebt er, so C. G.
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 10 vom 6. März 1985 (83)
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Tibetanische religiöse Malerei
Jung, eine psychische Selbstfindung an, die sich im Moment der
Einswerdung von Gottheit und
Meditierendem mystisch vollzieht.
Der Lamaismus kennt im Unterschied zur ursprünglichen
buddhistischen Lehre, aus der
er sich im 7. Jh. n. Chr. zu entwickeln begann, eine geradezu
unüberblickbare Anzahl von
Göttern, denen die Seele nach
dem Tod auf ihrer 49tägigen
Reise in die leibliche Wiedergeburt nacheinander begegnet.
Entgegen aller Erwartung steht
im Zentrum der Ikonographie
von Thangkas nicht eindeutig
die Figur des historischen Gründers des Buddhismus, Buddha
Sakyamuni (556 v. Chr. — 476 n.
Chr.). Wohl gelten diesem zahlreiche Bildmotive von den einzelnen Stationen seines Lebens,
von seiner wunderbaren Geburt,
über den Erleuchtungsmoment
in Bodhgaya bis zu seinem Eingehen ins Nirvana, doch konzentriert sich daneben die Ikonographie auch je nach lamaistischem Orden auf die verschiedenen historischen und mythischen Gründer und Verbreiter
einzelner Glaubensrichtungen.
Die lamaistische Götterwelt
Neben dem historischen Buddha und den wichtigsten Ordensgründern entfaltet sich die
Phantasie der Thangkakünstler
vornehmlich in der Darstellung
ihrer unendlich vielen Götter.
Grundsätzlich lassen sich zwei
Gruppen von Gottheiten unterscheiden. Die friedvollen Gottheiten werden mit lieblichen
Gesichtszügen und anmutigen
Gestalten gemalt und haben
meist blumige Ausschmückungen und reichverzierte Gewänder. Zu diesen gehören die Erlösergestalten des mahayanischen Buddhismus, die Boddhisattvas, die auf ihre eigene Erlösung solange verzichten, bis die
ganze Menschheit erlöst ist, und
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Der Gelehrte Tsang kha pa,
Gründer des reformierten Ordens der Gelbmützen
Über die Autorin
Alexandra
LavizzariRaeuber studierte Ethnologie und Orientalistik
in Basel. Von 1980-1984
lebte und arbeitete sie
als freie Journalistin in
Kathmandu/Nepal. Unter anderem Veröffentlichungen über buddhistische Kunst und orientalische Kalligraphie.
auch aktiv an deren Heilsfindung mithelfen.
Die zornvollen Gottheiten hingegen sind von Flammenkränzen
umlodert und weisen furchterregende Gesichter mit rollenden
Augen und gefletschten Zähnen
und fette, unförmige Körper auf
und sind mit makabren Elementen bekleidet, so etwa mit Dämonenhäuten, Ketten aus Menschenschädeln und Tigerfellen;
in den Händen halten sie blutgefüllte Schädeldecken. Zu einer
schwer verständlichen Eigenheit des Lamaismus gehört, daß
eine Gottheit zugleich mehrere
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Erscheinungsformen annehmen
kann, je nach Funktion, die ihr
gerade zugedacht wird; so sind
beispielsweise vom beliebtesten Erlöser des Lamaismus,
dem Boddhisattva Avalokiteshvara, 108 verschiedene Erscheinungen bekannt, von denen
nicht wenige auch zornvoll sind.
Es ist nicht unüblich für die Bildkomposition, diese Aspekte ein
und derselben Gottheit in einem
Thangka vereint vorzufinden; in
diesem Fall ranken sich um eine
große Zentralfigur eine Anzahl
anderer möglicher Erscheinungen derselben Gottheit, die
dann zusammen eine Gruppe
mit besonderem Symbolwert
bilden. Berühmtestes Beispiel
einer solchen Götterkonfiguration sind die 21 Taras mit der
grünen Tara, der Schutzpatronin
Tibets, im Mittelpunkt, umgeben
von zwanzig andersfarbigen Taras, denen im Volksglauben besonders wirksame Schutzkraft
zugesprochen wird.
„Vom Urbuddhismus
zum Tantrismus"
Ein
eigenständiger
tibetanischer Malstil hat sich nicht unmittelbar nach der offiziellen
Bekehrung Tibets zum Buddhismus im 9. Jahrhundert n. Chr.
entwickelt, was vielleicht auf die
Tatsache zurückzuführen ist,
daß Buddha selbst nicht nur die
Vergöttlichung, sondern auch
die figürliche Darstellung seiner
Person verboten hatte. Die
buddhistischen Künstler in den
folgenden Jahrhunderten nach
Buddhas Tod hielten sich an dieses Verbot und begnügten sich,
ihre Werke in bezug auf die Darstellung des Erleuchteten mit einer Vielfalt von Symbolen auszustatten, ganz im Sinne wie das
Christentum sich etwa einer
Taube als Symbol für den Heiligen Geist bedient. Die Abkehr
von der Symbolik ist im dritten
Jahrhundert unserer Zeitrechnung anzusetzen, und jener
Zeitpunkt markiert denn auch
den wirklichen Anfang buddhi-
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Tibetanische religiöse Malerei
stischer Kunst überhaupt. Das
16., 17. und 18. Jahrhundert
kann man eindeutig als den Höhepunkt malerischer Kreativität
bezeichnen, während die folgenden Jahrhunderte bis zur
Flucht des Dalai Lama XIV. nach
Nordindien im Jahre 1959 ein
bedauernswertes dekadentes
Auslaufen ins Stereotype vermerken. Dennoch gibt es diesbezüglich noch rühmliche Ausnahme von Flüchtlingstibetern,
die im Ausland durch Pflege ihrer Kunst an die alte Maltradition
Tibets anknüpfen.
Auf diesem
tibetanischen
Thangka wird
die Versuchung
Buddhas durch
den Teufel
Mara dargestellt
Den Gottheiten
werden die Augen geöffnet
Das Anfertigen eines Thangkas
vom rohen Baumwollstoff bis
zum fertigen Bild dauert durchschnittlich einen Monat. Erste
Vorbereitungsarbeit besteht in
der Aufbereitung der Leinwand,
einem Stück Baumwollstoff, das
in einen Holzrahmen gespannt,
mit einer Kalk-, Wasser- und
Knochenleimlösung mehrmals
übertüncht und schließlich zwei
Tage zum Trocknen ausgelegt
wird. Das Vorzeichnen des Bildes kann mit Hilfe einer Schablone oder frei aus dem Gedächtnis geschehen, was aber
äußerste Fertigkeit bedingt, da
jeder einzelnen Figur ein kompliziertes, auf Fingerbreiten beruhendes Maßsystem zugrunde
liegt. Anschließend erfolgt die
Grundierung der Flächen, eine
zeitaufwendige Arbeit, die der
Künstler meist seinen Schülern
überläßt, wie auch die feineren
Schattierungen und die Gestaltung der Rahmenlandschaften.
Erst zuletzt — allein dem Meister
vorbehalten, der eigens zu dieser Befugnis gewisse Initiationsriten hat durchlaufen müssen —
werden den Gottheiten die Augen „geöffnet"; sie werden bei
der Bemalung der Augen beseelt, ein Akt, der bei gläubigen
Malern noch heute mit einem
Weiheritus verbunden wird, ohne den Thangkas jegliche religiöse Kraft entbehren.
Mandala des
Daimantwesens
Vajrasattva.
Die Mandalas
werden im
Buddhismus zur
Meditation
verwandt
alle Fotos:
Hardy Fürer
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 10 vom 6. März 1985 (87)
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FEUILLETON
Volksaufklärer
der Gartenlaube
Es gab wohl kein Familienblatt
im 19. Jahrhundert, das sich einer größeren Beliebtheit und
Verbreitung erfreute, als die
„Gartenlaube", und man muß es
als einen Glücksgriff ihres Verlegers Ernst Keil bezeichnen, daß
er, die „Marktlücke der medizinischen Volksaufklärung" spürend, genau den richtigen Mann
für dieses Ressort seiner Zeitschrift verpflichtete: den Leipziger Professor der Anatomie,
Carl Ernst Bock.
Am 21. Februar 1809, als Sohn
des Prosektors und Professors
der Anatomie an der Universität
Leipzig geboren, ist das Medizinstudium für ihn die natürliche
Folge des früh geweckten Interesses. Bereits mit 22 Jahren
folgt er dem Ruf an deutsche
Ärzte, die vielen Opfer des polnischen Erhebungskrieges zu versorgen. Ohne Disputation macht
ihn die Fakultät zum Doktor. Die
spätere Dissertation nach seiner
Rückkehr bezahlt er — wie sein
Studienfreund Richter erzählt —
damit, daß er im Warschauer
Leichenhaus Hunderte der
schönsten Schneidezähne auszog und diese, die damals in der
< Die Brokatumrandung wird in
der Regel vom Maler auswärts in
Auftrag gegeben; sie symbolisiert, an eine chinesische Tradition anlehnend, den Himmel
(oberer Rand), die Erde (unterer
Rand), das Wasser (Mittelstück
im unteren Rand) und die buddhistische Lehre (das Dogma im
linken Rand und die tantrischen
Praktiken im rechten).
Die Tibeter kennen eine erstaunliche Vielfalt an natürlichen Farben, namentlich
Ocker, Lapislazuli, Azurit, Karmin, Gold, pflanzliche Extrakte
und neuerdings leider auch europäische Plakat- und sogar Öl674
Professor Dr. Karl Ernst Bock hat mit seinen populärmedizinischen
Arbeiten zur Gesundheitsaufklärung im 19. Jahrhundert beigetragen
farben. Die natürlichen Farben
scheinen ihre Beliebtheit infolge der langwierigen Herstellungszeit einzubüßen; stundenlangem Zerreiben von Steinen,
Kieseln und Blättern und dem
Hinzufügen genau zu bemessender Wasser- und Knochenleimmengen wird heute oft die
schnellere Tuben- oder Dosenlösung vorgezogen. Es ist dies
eine bedauernswerte Entwicklung, die jedoch in der heutigen
Zeit kaum mehr aufzuhalten ist.
Anschrift der Verfasserin:
Alexandra Lavizzari-Raeuber
Weidweg 39
3032 Hinterkappelen/Schweiz
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Asiatica der verschiedenen Regionen und Arten erfreuen sich gegenwärtig eines zunehmenden Interesses, was in Ausstellungen wie zum
Beispiel der gerade in München mit
großem Erfolg zu Ende gegangenen
Ausstellung „Shogun — Kunstschätze und Lebensstil eines japanischen
Fürsten" oder „Kunstschätze aus
Korea" (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 40/1984) und nicht zuletzt auch in steigenden Preisen
zum Ausdruck kommt. Nicht immer
halten die Kenntnisse mit dieser
Entwicklung Schritt. Wer sich eingehender damit beschäftigen möchte,
dem sei das Buch der Autorin
empfohlen: „Thangkas — Rollbilder
aus dem Himalaya, Kunst und mythische Bedeutung", erschienen im
DuMont Verlag, Köln 1984, 18,80 DM
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