Jahrbuch 2009/2010 | PD Dr. Lale Yalç¿n-Heckmann | Kaukasische Grenzen und Staatsbürgerschaft Kaukasische Grenzen und Staatsbürgerschaft Caucasian Boundaries and Citizenship PD Dr. Lale Yalç¿n-Heckmann Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle (Saale) Korrespondierender Autor E-Mail: [email protected] Zusammenfassung Der Kaukasus w ird häufig als eine Region von ethnonationalen Konflikten gesehen. W issenschaftler am MaxPlanck-Institut für ethnologische Forschung gehen von einer anderen Perspektive aus. Sie zeigen, w ie zivile, politische und soziale Komponenten interagieren und w ie Formen der Staatsbürgerschaft im Spannungsfeld historischer und gegenw ärtiger Bedeutungen und Praktiken ausgehandelt w erden. Die soziale Komponente der Staatsbürgerschaft scheint w eiterhin relevant zu sein – besonders für Flüchtlinge und Migranten. Summary The Caucasus has too often been reduced to ethno-nationalist conflicts. Researchers at the Max Planck Institute for Social Anthropology analyse how civil, political, and social components interact and how citizenship is compared betw een historical and contemporary notions and practices. Social citizenship continues to be relevant, especially for citizens w ho are detrimentally affected by migration, w hether forced or voluntary. Der Kaukasus ist eine Region, die für Konflikte und gew altsame Auseinandersetzungen bekannt ist; sie ist aber ebenso bekannt für ihre w underschönen Berge, die Gastfreundschaft der Menschen und die Vielfalt ihrer Sprachen (Abb. 1). W issenschaftliche Untersuchungen des Südkaukasus behandeln Ethnonationalismus, der sich auf Basis der vorgestellten gemeinsamen ethnischen Herkunft und Kultur definiert, als ein zentrales Phänomen der Region und als Auslöser für alle bedeutenden politischen Konflikte der postsozialistischen Ära. Die Forschungsgruppe „Caucasian Boundaries and Citizenship from Below “ am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung w ählte eine andere Perspektive. Ziel der Forschungen w ar es, die Annahme zu hinterfragen, dass die ethnonationalen Unterschiede alle Spannungen und Konflikte zw ischen den ehemaligen und derzeitigen Staaten der Region erklären können. © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 1/6 Jahrbuch 2009/2010 | PD Dr. Lale Yalç¿n-Heckmann | Kaukasische Grenzen und Staatsbürgerschaft Die Forschungsorte de r be te iligte n W isse nscha ftle r. © Ma x -P la nck -Institut für e thnologische Forschung Die Forscher untersuchten daher Vorstellungen und Praktiken von Staatsbürgerschaft und blickten aus der Perspektive der politischen Anthropologie auf die neuen unabhängigen Staaten dieser Region. Gerade vor dem Hintergrund der neuen Regelungen zur Staatsbürgerschaft sow ie neuer Mobilitäts- und Migrationsstrukturen im Südkaukasus und der größeren Region – einschließlich der Türkei und Russischen Föderation – ist dieses Thema von großer Bedeutung. Die Untersuchung sozialer Ungleichheit, die sich in der Nachkriegszeit durch postsozialistische Transformationen verschärfte, verlangt ebenfalls nach einem alternativen Ansatz zu ethnonationalistischen Erklärungen, um die Beziehungen zw ischen dem Staat und seinen Bürgern zu verstehen. Der Forschungsansatz greift drei klassische Komponenten der Staatsbürgerschaft auf, die der britische Soziologe T. H. Marshall in den 1940er-Jahren definiert hat: die zivile (etw a Redefreiheit, Recht auf Eigentum), politische (passive und aktive Machtausübung, freie und geheime Wahlen) und soziale Komponente. Letztere beschreibt Marshall als das Recht auf ein Mindestmaß an finanzieller und sozialer Sicherheit, als ein Recht auf Teilhabe am sozialen kulturellen Erbe und auf ein Leben als zivilisierter Mensch [1]. Die neuen unabhängigen Staaten des Südkaukasus haben beim Übergang zu Demokratie und Marktw irtschaft die zivile und politische Komponente teilw eise eingeführt: Sie kennen jetzt das Privateigentum und halten Wahlen ab. Die soziale Komponente, durch die der Staat soziale Sicherheit und Gleichheit garantiert, erscheint allerdings unterentw ickelt. Die Untersuchung der Praxis und der unterschiedlichen Verständnisse von Staatsangehörigkeit ergab die in den folgenden drei Themenblöcken zusammengefassten Ergebnisse: Soziale Staatsbürgerschaft und Migration Mit seiner hohen Abw anderungsrate ist West-Georgien typisch für die Region. Gerade diese Region w ar zuvor massiv von staatlichen Subventionen der Kohleindustrie und Teeplantagen abhängig. Beide W irtschaftszw eige befanden sich zum Ende des Sozialismus im Abschw ung. Im Anschluss w urden die Betriebe aufgelöst, © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 2/6 Jahrbuch 2009/2010 | PD Dr. Lale Yalç¿n-Heckmann | Kaukasische Grenzen und Staatsbürgerschaft privatisiert und verkleinert. Neben Subsistenzw irtschaft und einigen w enigen verbliebenen staatlichen Stellen sind die Menschen auf Abw anderung ausgerichtet: Nach Teona Mataradze hatten 17 Prozent der befragten Haushalte mindestens einen Migranten im Ausland und 10 Prozent eine Person, die innerhalb Georgiens migrierte, vor allem in die Hauptstadt Tiflis. Durch ihre finanzielle Unterstützung in Form von Überw eisungen übernehmen die Migranten die Rolle des Staates im Bereich der sozialen Staatsbürgerschaft. Eine andere Art der Migration im Südkaukasus ist die Zw angsmigration. Kriege und militärische Konflikte gingen zum Teil mit ethnischen Säuberungen einher, sodass Hunderttausende flüchteten, entw eder innerhalb ihres Landes oder in ein anderes Land. W ie diese Flüchtlinge und Vertriebenen mit den neuen Staaten und ihrem eingeschränkten Status umgehen, ist ein zentrales Thema für die Forschungsgruppe. Am Beispiel von armenischen Flüchtlingen, die zw ischen 1988 und 1992 aus ihren Heimatgebieten in Aserbaidschan nach Armenien geflohen w aren und in staatlichen sogenannten „Übergangsunterkünften“ lebten, lässt sich zeigen, dass vor allem die Erlangung der formalen Staatsbürgerschaft strategisch sinnvoll w ar, ganz im Gegensatz zu den Dimensionen der kulturellen Staatsbürgerschaft und nationalen Zugehörigkeit. Armenische Flüchtlinge glauben, dass Armenien als Land und als Staat die endgültige Heimat für alle Armenier sein sollte, besonders nachdem sie aus anderen Regionen vertrieben w urden, die sie ebenfalls als ihre Heimat betrachten. Laut Milena Baghdasaryan lehnten einige Flüchtlinge die formale Staatsbürgerschaft als Zeichen des Protestes gegen das nunmehr fast zw anzig Jahre w ährende Fehlen von staatlichen Sozialleistungen und Unterkünften ab. Mobilität und Staatsbürgerschaft In den kleinen Staaten des Südkaukasus spielen historische und aktuelle Mobilitätsmuster eine w ichtige Rolle für Staatsbürgerschaftspraktiken. Die neuen Staaten erlauben unterschiedliche Grade von Mobilität, w as die Praktiken der Bürger einschränkt. Die Tuschen, eine Wanderw eidew irtschaft betreibende und traditionell im georgischen Hochland an der Grenze zu Tschetschenien und Dagestan angesiedelte ethnische Gruppe, haben durch ihre neue staatliche Zugehörigkeit zu Georgien erheblich an räumlicher Mobilität verloren. Vor diesem Hintergrund untersucht Florian Mühlfried, w elche Bedeutung die Staatsbürgerschaft für die Tuschen hat: W ie prägen Erinnerungen an den programmatisch anti-bürgerlichen sow jetischen Staat heutige Vorstellungen und Praktiken von Staatsbürgerschaft, und w ie konkurrieren sie mit ihnen? Das paradox erscheinende Ergebnis ist, dass die Tuschen dem neuen Nationalstaat und ihrer Staatsbürgerschaft unterschiedliche Wertigkeiten zuschreiben. Auf der einen Seite w ird der georgische Nationalstaat fast durchw eg gepriesen und der Sow jetunion vorgezogen. Auf der anderen Seite w ird die georgische Staatsbürgerschaft im Vergleich Staatsbürgerschaft kann jedoch auch ein zur sow jetischen Mittel der allgemein politischen als minderw ertig Manipulation und betrachtet. Durchsetzung makropolitischer Interessen im Kaukasus darstellen [2]. © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 3/6 Jahrbuch 2009/2010 | PD Dr. Lale Yalç¿n-Heckmann | Kaukasische Grenzen und Staatsbürgerschaft Hä ndle r a n de r türk isch-ge orgische n Gre nze 2007. © Ma x -P la nck -Institut für e thnologische Forschung/Ö zge n Alle südkaukasischen Staaten haben die Marktw irtschaft übernommen und eine liberale W irtschaftspolitik eingeführt, jedoch ist der gleichzeitige Anstieg der informellen W irtschaft in der Region bemerkensw ert (Abb. 2). Ausgehend von dieser Beobachtung w urde das Forschungsinteresse auf den Auf- und Abschw ung informeller W irtschaft in Aserbaidschan gelenkt: W ie beeinflusst Staatsbürgerschaft das w irtschaftliche Verhalten, Transaktionen und politische Ansichten von Aserbaidschanern? Internationale Produkte w erden inzw ischen in den meisten großen Städten der Region angeboten. Ironischerw eise scheinen die Menschen allerdings w ährend des Sozialismus eine andere w irtschaftliche Mobilität besessen zu haben als jetzt in der Ära der freien Marktw irtschaft. In einer Kleinstadt in WestAserbaidschan fuhren Händler, die nahe der georgischen Grenze und nur 50 Kilometer entfernt von der georgischen Hauptstadt Tiflis leben, zum Großmarkt in Baku, ganze 450 km östlich, um dort zu handeln und Produkte für den örtlichen kleinen Markt in der Grenzstadt einzukaufen. Dies folgt offensichtlich keiner w irtschaftlichen Logik, w ohl aber der Logik der neuen Pässe und Reisedokumente. Tiflis ist zw ar nah, aber grenzüberschreitend für Kleinhändler kaum erreichbar. Es ist das Handelszentrum, in das viele w estliche Konsumgüter geliefert w erden, allerdings w ird der Handel damit von monopolistischen Händlerklans und Familiennetzw erken kontrolliert. Diese Mächtigen halten zudem zentrale staatliche Ämter und kontrollieren so die w irtschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten. Grenzen und Staaten Ein anderes zentrales Thema der Forschungsgruppe w ar die Präsenz von Grenzen im Alltag der Menschen. Zuvor w ar lediglich die Grenze zur Türkei eine politisch w ichtige, aber undurchlässige Grenze, doch jetzt haben die Grenzen zw ischen den neuen Staaten an Bedeutung gew onnen. Einer der Forschungsorte, an dem sich Nino Aivazishvili aufhielt, ist nur 15 Kilometer von der aserbaidschanisch-georgischen Grenze entfernt. Ein legaler Grenzübertritt ist jedoch nicht möglich, da es keinen offiziellen Grenzposten gibt. Die örtliche Bevölkerung erinnert sich noch daran, dass die Grenze zu Sow jetzeiten kaum w ahrnehmbar w ar und dass die Menschen eine Brücke und einfache Fährboote nutzten, um nach Georgien und zurückzugelangen. Die ethnischen Ingiloer gingen nach Georgien, um auf Kolchosen oder Baustellen zu arbeiten, da dort die Bezahlung besser w ar. Die Präsenz und die neue Relevanz der Grenze im Leben der Ingiloer verw eisen auf neue Kontexte von politischer Zugehörigkeit und begrenzter Mobilität. © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 4/6 Jahrbuch 2009/2010 | PD Dr. Lale Yalç¿n-Heckmann | Kaukasische Grenzen und Staatsbürgerschaft In Tk ibuli we rde n die Stim m e n ge zä hlt (2006). © Ma x -P la nck -Institut für e thnologische Forschung/Ma ta ra dze Nach der Auflösung der Sow jetunion w urde die Grenze zur Türkei sehr viel durchlässiger. Das Grenzgebiet Georgiens, der Türkei und Armeniens ist im Hinblick auf Entvölkerung, Eigentum und Nutzung von Land sow ie Beanspruchung und Enteignung von Land ein historisch sehr komplexes Gebiet. W ährend des Sozialismus hatte die türkische Seite für ihre Grenzregion das Image aufgebaut, dass sie die Demokratie und den Westen vor dem sow jetischen Block schütze. Nach Neşe Özgen kann dieses Image nun nicht mehr aufrechterhalten w erden, und die Bevölkerung muss ihre kulturelle Zugehörigkeit mit anderen Argumenten begründen, als einfach nur „patriotische Grenzw ächter“ zu sein. Das Umschreiben und Neuverhandeln von Zugehörigkeit und Diskurse über „gutes Bürgersein“ eröffnen auch eine neue Sicht auf die sow ie ein Umschreiben der Geschichte des Landes und der Macht in der Region. Mit dem Bau der neuen Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline und dem Fall des Eisernen Vorhangs haben Aufstiegsmöglichkeiten sich ergeben. durch veränderte Diesmal fußen Strategien und Diskurse Diskurse auf den die neue Prinzipien w irtschaftliche von globaler Gouvernementalität und Rechten und Ansprüchen, nicht einfach nur auf nationaler Staatsbürgerschaft (Abb. 3). Schlussfolgerungen Staatsbürgerschaft als eine generelle Kategorie der formalen Zugehörigkeit mit politischen und w irtschaftlichen Ausw irkungen spielt im Leben der Menschen im Südkaukasus eine w ichtige Rolle. Noch w ichtiger ist die Unterscheidung verschiedener Komponenten von Staatsbürgerschaft im Sinne Marshalls: Soziale Staatsbürgerschaft w ird mit Hinblick auf Ansprüche gegenüber dem Staat, der sich aus seiner sozialen Verantw ortung zurückgezogen hat, sehr ernst genommen. Historische Staatsbürgerschaftskonzepte sind am stärksten im Gespräch, w enn dieser soziale Aspekt angesprochen w ird, jedoch w eniger w enn es um zivile Aspekte geht. Die Forschungsgruppe „Caucasian Boundaries and Citizenship from Below “ am Max-PlanckInstitut für ethnologische Forschung argumentiert daher, dass verschiedene Aspekte von Staatsbürgerschaft aktiviert und differenziert w erden können, abhängig von den historischen Erfahrungen und aktuellen w irtschaftlichen und politischen Belangen. Die traditionelle Auffassung und Zusammensetzung von Staatsbürgerschaft kann nicht einfach als irrelevant für die moderne, globale Ära angesehen w erden. Vielmehr müssen Formen der Staatsbürgerschaft empirisch untersucht und neu bew ertet w erden, besonders im Rahmen der politischen Anthropologie. Originalveröffentlichungen © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 5/6 Jahrbuch 2009/2010 | PD Dr. Lale Yalç¿n-Heckmann | Kaukasische Grenzen und Staatsbürgerschaft Originalveröffentlichungen Nach Erw eiterungen suchenBilderw eiterungChanneltickerDateilisteHTML- Erw eiterungJobtickerKalendererw eiterungLinkerw eiterungMPG.PuRe-ReferenzMitarbeiter Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser (Employee mit BildTextblockerw eiterungVeranstaltungstickererw eiterungVideoerw eiterungVideolistenerw eiterungYouTubeErw eiterung [1] T. H. Marshall: Citizenship and Social Class and Other Essays. University of Cambridge Press, Cambridge 1950. [2] F. Mühlfried: Citizenship at War: Passports and Nationality in the 2008 Russian-Georgian Conflict. Anthropology Today 26(2), 8–13 (2010). © 2010 Max-Planck-Gesellschaft w w w .mpg.de 6/6