NATUR Reportage Ausrottung im Der Zoo von Buenos Aires widmet sich der Rettung von Tierarten. Einerseits durch ein Aufzuchtprogramm für den bedrohten Kondor, andererseits durch eine Genbank – eine Arche Noah des 21. Jahrhunderts. Text: Martin Arnold V orsichtig schiebt Norberto Jácome ein Stück schwarzen Kunststoff zur Seite und späht ins Gehege: «Schauen Sie links hinunter. Dort steht Pachaqutec.» Pachaqutec ist ein wenige Wochen alter Kondor. Das winzige Knäuel trägt einen grossen Namen. Pachaqutec heisst in der Sprache der Indianer so etwas wie Epoche. Seine Federn sind noch grau und eher ein Flaum, der im Wind tanzt. Mit seiner Geburt verbinden Jácome und seine Mitarbeiter eine neue Ära, die das Ende der Ausrottung von Pflanzen und Tierarten einläutet. Jácomes Arbeitgeber, der Zoo von Buenos Aires, hilft tatkräftig mit, diese Vision zu verwirklichen. Latexmama als Elternersatz Wie vor ihm schon 20 andere Kondore aus dem ganzen Land, wurde auch Pachaqutec hier im Zoo ausgebrütet, und zwar in einem Brutapparat. Das Ei, aus dem er geschlüpft ist, stammt aus der Wildnis. Die 14 Natürlich | 10-2005 Wissenschaftler sammeln die Eier in den Horsten ein. Damit animieren sie die erwachsenen Tiere, nochmals ein Ei zu legen. Damit sich der Nachwuchs gar nicht erst an Menschen gewöhnt, erblickt er als Erstes eine Kondormama aus Latex. Später halten sich die Kleinen einige Monate mit anderen Jungen und erwachsenen Kondoren in einem Freiluftkäfig auf. Ihr Sozialverhalten wird entscheiden, mit wem und wo sie später freigelassen werden. Am Rande der Ausrottung Dieses Zuchtprogramm ist für das weitere Überleben des Kondors äusserst wichtig. Ein Paar brütet nur alle drei Jahre ein Ei aus. Aus diesem Grund könnte sich der dezimierte Bestand selbst dann nur sehr langsam erholen, wenn alle Jungtiere die Geschlechtsreife erreichen. In Venezuela zum Beispiel sind die weltweit grössten Vögel bereits ausgestorben, in Ecuador, Peru und Bolivien leben nur noch wenige Exemplare. Auch die Bestände in Argen- tinien und Chile schrumpfen. Dem heiligen Vogel der Indianer, dem Boten zwischen Göttern und Menschen und Überbringer menschlicher Seelen, erging es gleich wie den Ureinwohnern. Er wurde ein Opfer der Eroberer. Sie töteten ihn, weil er den Indianern heilig war. Das Werk der Konquistadoren wurde von den Landwirten weitergeführt, die ihre Lämmer mit Strychnin bestrichen, um Pumas und Füchse zu töten. Heute sind es vor allem Hochspannungsleitungen, die viele Opfer verursachen. Bereits seit 13 Jahren kämpft Norberto Jácome, technischer Direktor des Zoos von Buenos Aires, im Auftrag der Stiftung Bioandina gegen das schleichende Ver- Reportage NATUR Minutentakt schwinden dieses Kulturtieres der Anden. Er baut seine Arbeit auf drei Säulen auf: die Aufzucht von Kondoren, die Pflege von verletzten Tieren und die Aufklärung der Bewohner in jenen Gegenden, wo die im Zoo geborenen Kondore ausgesiedelt werden. Mit Sendern ausgestattete Vögel Wichtig ist, dass verletzte Kondore während der Pflege rüde behandelt werden. Dazu Jácome: «Es ist beabsichtigt, dass sie Menschen in unangenehmer Erinnerung behalten und sich von ihnen fern halten.» Doch ohne Sensibilisierung der Leute, die die Heimat der Kondore bewohnen, werden die Vögel aussterben und mit ihnen noch viele andere Tierarten. In den letzten Jahren haben Jácome und seine Leute deshalb 65 000 Kinder in 600 Schulen auf das Schicksal des «heiligen Vogels» aufmerksam gemacht. Bei dieser Gelegenheit sprachen sie auch über Arca, kanische Tiere. «Doch auf der Arche Noahs waren alle Tiere vertreten. Deshalb konservieren wir auch genetisches Material von Tigern, Schimpansen oder Giraffen.» Unter den südamerikanischen Tierarten befinden sich die selten gewordenen Pampa-Hirsche, der Brillenbär, aber auch Katzenarten wie Puma, Jaguar, Ozelot oder die Bergkatze. In der Genbank werden Spermien, Eier, Embryonen, Haarwurzeln, Blut, Urin, Fäkalien und anderes Zellmaterial aufbewahrt. Foto: Thomas Vogel Die Freilassung wird von indianischen Ritualen begleitet, das Tier wird begrüsst und zwei Federn seiner Eltern dem Wind übergeben, bevor der Vogel selber in die Lüfte steigt. Als Aasfresser, die sogar Knochen aufbrechen können, sind Kon- Alle drei Minuten stirbt eine Art aus dore für das Ökosystem der Anden von grosser Bedeutung. Von den bisher aus der Aufzucht freigelassenen 20 Kondoren ziehen noch 17 ihre weiten Kreise am Himmel zwischen Venezuela und Patagonien. Ein Tier flog in ein Kabel, eines wurde in Chile abgeschossen und ein anderes vergiftete sich. Unter Mithilfe des Wiener Zoos Tiergarten Schönbrunn wurde ein Monitoringprogramm auf die Beine gestellt. Die Kondore sind mit Sendern und GPS ausgestattet, sodass Jácome und sein Team mehr über die Lebensgewohnheiten der Vögel erfahren. Das hat auch Einfluss auf die Pflegestation, die während der drei Jahre ihres Bestehens 23 verletzte Kondore pflegte. Einige kamen mit schweren Brüchen und Verbrennungen in das «Centro de Rescate». ein weltweit einzigartiges Projekt zur Erhaltung der genetischen Ressourcen möglichst vieler Tierarten. Denn: Alle drei Minuten stirbt eine Wildtierart aus. Gleichzeitig werden sechs Hektaren tropischen Regenwaldes zerstört. «Die Menschen produzieren täglich eine Sintflut, die Pflanzen und Tiere mehr und mehr ausrottet», resümiert Jácome. Moderne Arche Noah Mit seiner Arche hat er nun den Kampf dagegen aufgenommen. Die moderne Arche ist kein Schiff. Sie besteht aus sechs 18-Liter-Tanks, die sich im Labor des Zoos befinden. Flüssiger Stickstoff kühlt den Inhalt auf auf 196 Grad unter null ab. Im Innern der Tanks befindet sich genetisches Material von 42 Tierarten. Im Fokus stehen zwar lateinameri- Es ist wissenschaftlich noch umstritten, wie alt Zellmaterial werden kann, um es noch aktivieren zu können. Der Zoo von Buenos Aires hat einen Versuch gewagt: Aus drei Jahre lang gefrorenem Material entstand ein quicklebendiges, korsisches Mufflon. Die angewendeten Techniken kommen auch schon in der humanen Fortpflanzungsmedizin zum Einsatz. Programm überlebte sogar Wirtschaftskrise Beim Aufbau der Genbank bekommt Jácome Hilfe von amerikanischen Zoos. Aber auch eigene Innovationen sind eingeflossen, beispielsweise bei der Entwicklung einer chemischen Suppe, die unter anderem Antibiotika enthält und die Zellen vor Frostbrand schützt. Für beNatürlich | 10-2005 15 Kondor: ein riesiger Geier Es gibt zwei Arten von Kondoren: den Andenkondor (Vultur gryphus) und den kalifornischen Kondor (Gymnogyps californianus). Zwar gehört auch der Andenkondor zu den gefährdeten Vogelarten. Während er sich aber bis in die heutige Zeit über ein relativ weites Gebiet verbreiten konnte, ist der kalifornische Kondor ein sehr seltener Raubvogel, mit wenigen überlebenden Exemplaren. Dank erfolgreichen Nachzuchten in Gefangenschaft kann der kalifornische Kondor inzwischen wieder ausgesiedelt werden. Die rund zehn bis zwölf Kilogramm schweren Geier sind abwechslungsreich gefärbt; sie sind zwar überwiegend glänzend schwarz, haben aber eine flaumige, weisse Halskrause, und die oberen Flügeldecken sowie die Armschwingen sind glänzend silberweiss. Kopf und Hals sind nackt und blut- bis dunkelrot. Dank einer Flügelspannweite von über drei Metern sind Kondore ausgezeichnete Segler und imstande, sich auch durch geringe thermische Aufwinde mit rund 55 Stundenkilometern dahintragen zu lassen. Der Andenkondor ist nicht nur der grösste aller flugfähigen Vögel, er lässt auch mit bis zu 7000 Meter Flughöhe jeden anderen Vogel unter sich zurück. In Gefangenschaft erreichen die Aasfresser ein Alter von bis zu 85 Jahren. In freier Wildbahn geht man von einem Durchschnittsalter von etwa 40 Jahren aus. thv 16 Natürlich | 10-2005 stimmte Projekte, wie der Sammlung von genetischem Material aller amerikanischen Wildkatzen, hat Jácome inzwischen Sponsoren gefunden. Selbst während der schwierigen Zeit der argentinischen Wirtschaftskrise vor drei Jahren wurde das Programm nie infrage gestellt. Adrian Sestelo, Koordinator von Arca: «Genauso wie man die Tiere weiter füttern muss, kann man auch ein solches Programm nicht aufgeben, wenn das Geld spärlicher fliesst. Denn dann wäre die ganze bisherige Arbeit überflüssig gewesen.» Die Forscher des Arche-Projektes bemühen sich, von den gesammelten Tierarten ein möglichst breites Spektrum an genetischem Material zu erhalten. Quellen sind Tiere im Zoo oder in Parks, aber auch verunfallte Wildtiere. «Wir können aber nicht mit der ganzen Laboreinrichtung den Tieren in den Bergen hinterherjagen», sagt Adrian Sestelo. Denn das genetische Material muss schnellstmöglich verarbeitet werden, sonst stirbt es ab. Solange Platz und Geld vorhanden ist, möchte Jácome so vielen Tierarten wie möglich Platz in seiner Arche bieten, auch wenn es nur deren genetisches Material ist. Er sagt: «Früher genügte es, wenn die Zoos Elefanten, Bären, Tiger und Löwen zeigten. Heute, wo die Lebensgrundlage dieser Tiere bedroht ist, müssen sie mehr tun. Sie müssen selber zur Rettung von Tierarten beitragen.» ■ www.fundacionbioandina.org.ar Gendatenbank: Von 42 Tierarten bewahrt der Zoo Buenos Aires genetisches Material auf Frisch geschlüpft: Auf diesem Kondor ruht die Hoffnung der Umweltschützer Fotos: zVg Foto: Okapia NATUR Reportage