Fachvortrag, Professor Dr. Dr. Karl Homann

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Preisverleihung, 13. November 2006, Berlin
Max-Weber-Preis für Wirtschaftsethik 2006
„Ist Wettbewerb moralisch? – Wirtschaftsethik in einer
,ökonomisierten’ Gesellschaft“
Fachvortrag
Prof. Dr. Dr. Karl Homann
Lehrstuhl für Philosophie und Ökonomik
Ludwig-Maximilians-Universität München
Es gilt das gesprochene Wort.
-2-
-3-
„Das ethische Programm der Marktwirtschaft“
Fachvortrag bei der Verleihung des Max-Weber-Preises 2006 in Berlin
von Prof. Dr. Dr. Karl Homann,
Ludwig-Maximilians-Universität München
Einleitung
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren,
zunächst will ich Ihnen sagen, was ich nicht tue: Ich spreche hier nicht
das "Wort zum Sonntag". Ich knüpfe vielmehr an der öffentlichen Kritik
an einigen deutschen Unternehmen in der letzten Zeit an, die trotz hoher
Gewinne
Arbeitsplätze
abbauen.
Es
fehlt
offenbar
an
der
gesellschaftlichen Akzeptanz. Diese Kritik wird in der Regel moralisch
artikuliert. Das ist mein Thema.
Ich will die Problematik in der folgenden Weise eröffnen. Deutschland
leidet unter einem eigentümlichen Widerspruch: Wir leben in und von der
Marktwirtschaft, aber die Hälfte der Bevölkerung lehnt Markt und Wettbewerb laut Umfragen ab, und zwar überproportional viele Akademiker.
Die Marktwirtschaft gilt als unsolidarisch, sie prämiere Egoismus und
Materialismus, führe zu einer Ellbogengesellschaft und einer "Ökonomisierung aller Lebensbereiche" einschließlich Gesundheitswesen und
Bildung. Diese letztlich moralischen Vorbehalte haben politische Folgen:
Sie blockieren die notwendigen Reformen.
-4Nun sollte man diese moralischen Bedenken der Menschen nicht einfach
mit leichter Hand abtun: Das würde bei vielen den Widerstand nur verstärken. Man sollte die moralischen Probleme der Menschen mit der
Marktwirtschaft ernst nehmen und die Menschen mit belastbaren Argumenten von der sittlichen Qualität dieser Marktwirtschaft überzeugen.
Die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz ist die Achillesferse für die
weitere Expansion und für politische Reformen.
Mein Vortrag will einen solchen Argumentationsrahmen anbieten. Im
ersten Abschnitt entwickle ich das ethische Programm der Marktwirtschaft. Im zweiten Abschnitt setze ich mich mit der Kritik an der Marktwirtschaft auseinander, bevor ich im dritten Abschnitt etwas über das
angemessene Verständnis des Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft
sage.
1. Das ethische Programm der Marktwirtschaft
Da die Kritik an der Marktwirtschaft im wesentlichen moralisch begründet
ist, geht es im folgenden darum, das ethische Programm der Marktwirtschaft herauszuarbeiten.
Als normativer Maßstab soll dabei genau jener Maßstab dienen, den
auch die Kritiker in Anspruch nehmen: Freiheit als Chance zur Selbstverwirklichung aller Einzelnen und die Solidarität aller Menschen. Diese
beiden Werte sind als das Erbe der abendländisch-christlichen Ethik zu
betrachten. Kritik und Metakritik stützen sich damit nicht auf unterschiedliche Werte, sondern auf dieselbe Wert-Grundlage, so dass die Diskussion nicht über verschiedene normative Ziele geht, sondern über die geeigneten Mittel, die gemeinsamen Ziele der Freiheit und der Solidarität
-5aller Menschen zu erreichen. Diese Frage ist mit Mitteln der Wissenschaft diskutierbar und vielleicht sogar beantwortbar.
Natürlich stellt die Ethik für die moderne Marktwirtschaft andere Handlungspostulate auf als die vormarktwirtschaftliche Ethik, zum Beispiel die
Forderung, Wettbewerb bis zum wirtschaftlichen Ruin von Konkurrenten
zu treiben ― Konkurrenten, mit denen man möglicherweise sonntags auf
derselben Kirchenbank sitzt ―, sich von der Gewinn- bzw. Vorteilsmaximierung leiten zu lassen ― was die vormoderne Ethik als Raffgier,
griechisch Pleonexia, gebrandmarkt hatte ―, und dergleichen mehr.
Handlungsempfehlungen aber resultieren immer aus zwei Prämissen, (1)
aus einem normativen Ideal und (2) aus den Bedingungen, unter denen
dieses Ideal realisiert werden muss. Da das Ideal, die Freiheit und die
Solidarität aller Menschen, in Kritik und Metakritik programmatisch identisch bleibt, müssen die unterschiedlichen Handlungsempfehlungen auf
die unterschiedlichen Bedingungen zurückgeführt werden, unter denen
dieses Ideal verwirklicht werden muss.
Diese Überlegung führt zu der leitenden, im folgenden zu begründenden
These:
Die Marktwirtschaft mit Vorteils-/Gewinnstreben und
Wettbewerb ist unter den Bedingungen der modernen
Welt das beste bisher bekannte Instrument zur Verwirklichung von Freiheit und Solidarität am Menschen.
Es sind diese Bedingungen der modernen Welt, die den Vater der Ökonomik Adam Smith, der bekanntlich Professor nicht für Ökonomie, sondern für Logik und Moralphilosophie war, in dem 1776 erschienenen
-6Buch "Wohlstand der Nationen" zu einem neuen Paradigma für eine
moderne Ethik der Marktwirtschaft geführt haben. Da diese Bedingungen
der modernen Welt eine entscheidende Rolle spielen, werde ich jetzt
holzschnittartig einige Unterschiede zwischen der Vormoderne und der
Moderne aufzeigen.
Die überkommene Ethik des Abendlandes ist in ihren Grundbegriffen vor
dem Hintergrund vormoderner Gesellschaften entstanden. Sie war eine
Ethik für kleine, überschaubare Gruppen und für eine Gesellschaft, in der
es kein nennenswertes Wirtschaftswachstum gab, die sich also im Nullsummenparadigma beschreiben lässt. Die Ethik des "Maßes", die sittliche Verurteilung von Raffgier, Pleonexia, und Kapitalbildung, Chrematistik, Zinsverbot und dergleichen mehr waren auf diese vormoderne Gesellschaft bezogen und hier auch plausibel, weil funktional. Zu ungleiche
Vermögensverhältnisse beruhten in dieser Nullsummengesellschaft auf
Ausbeutung anderer und nicht auf besserer Ressourcennutzung, so
dass das relative Gleichheitspostulat nötig war, um gesellschaftliche
Konflikte möglichst zu vermeiden, sie jedenfalls nicht ruinös werden zu
lassen.
Demgegenüber betritt die moderne Gesellschaft mit Marktwirtschaft als
Wachstumsgesellschaft die Bühne der Weltgeschichte: Durch Gewinnstreben und Kapitalbildung bei den "Reichen" kann jetzt auch die
Lage der "Armen" verbessert werden. Die moderne Gesellschaft spielt
Nichtnullsummenspiele.
Außerdem befinden wir uns nicht mehr in den überschaubaren Kleingruppen der Familie, der Freundschaft, des Dorfes, sondern in der
anonymen Großgesellschaft mit tiefer Arbeitsteilung, langen Produk-
-7tionswegen und zunehmender Mobilität der Einzelnen, die sich jetzt ohne
große Kosten der unmittelbaren Kontrolle durch ihre Umwelt und deren
informellen Sanktionen entziehen können. Dies wird sehr deutlich an den
zwei Büchern, die Adam Smith geschrieben hat: Das frühere Buch, die
"Theorie der ethischen Gefühle" von 1759, hat noch die alte Welt der
Kleingruppen als Hintergrund, während der "Wohlstand der Nationen"
von 1776 vor dem Hintergrund der anonymen Großgesellschaft geschrieben ist.
Es bildet sich in der Moderne das Funktionssystem Wirtschaft mit eigenen Gesetzmäßigkeiten heraus, das sich zunehmend der direkten
Steuerung von außen, durch das politische System, traditionell also den
Staat, entzieht, und gerade dadurch ökonomisch so leistungsfähig wird.
Politische Durchgriffe in die Wirtschaft sind heute nur um den Preis der
Ineffizienz zu haben, die in aller Regel zuletzt und am stärksten die
"Armen" trifft, denen mit solchen Durchgriffen nach Meinung der Politiker
geholfen werden soll.
Die Frage für den Moralphilosophen A. Smith war, wie sich unter diesen
gegenüber der Vormoderne grundlegend veränderten Bedingungen die
Freiheit und die Solidarität aller Menschen verwirklichen lassen. Hier gibt
er eine innovative Antwort von welthistorischer Bedeutung, eine Antwort,
die sich allerdings, wie die weit verbreitete normative Kritik an der
Marktwirtschaft zeigt, in unserem ethischen Selbstverständnis bis heute
nicht durchgesetzt hat.
Ich treibe unsere Überlegungen zur Ethik der Marktwirtschaft mit Hilfe
einer Unterscheidung weiter voran. Eine Ethik der Marktwirtschaft muss
zwei Ebenen des Handelns unterscheiden: Handlungen und Handlungs-
-8bedingungen, in der Sprache des Sports: Spielzüge und Spielregeln.
Das Grundproblem der Moral in der Marktwirtschaft besteht darin, dass
moralisch motivierte Vor- und Mehrleistungen Einzelner, sofern sie zu
Kostenerhöhungen führen, von der weniger moralischen Konkurrenz
ausgebeutet werden können. Da das so ist, kann sich der einzelne
Akteur im Wettbewerb moralisch verhalten nur unter der Bedingung,
dass seine Konkurrenten denselben Moralstandards unterworfen werden. Das bedeutet, dass die Moral in allgemein verbindliche, also auch
die Konkurrenten bindende, Regeln inkorporiert werden muss, weil sie
nur so ausbeutungsresistent praktiziert werden kann.
Für das Regelsystem und seine Durchsetzung ist der "Staat", allgemeiner: das politische System, zuständig, während das wirtschaftliche
Handeln im Wettbewerb allein Sache der Akteure auf dem Markt ist ―
ganz wie im Fußball, wo die Fifa die Regeln setzt und Schiedsrichter mit
deren Durchsetzung beauftragt, während die Spielzüge, das Spiel also,
allein von den Mannschaften und deren Spielern durchgeführt werden.
Das bedeutet nun nicht, dass die individuelle Moral ― "Tugend", wenn
man so will ― überflüssig wäre. Im Gegenteil: In einer Welt beschränkten Wissens- und dynamischer Entwicklung können nicht alle Probleme
durch gesetzliche Bestimmungen ex ante geregelt werden, so dass hier
die individuelle Moral eine unverzichtbare Aufgabe zu übernehmen hat;
dies schließt auch die Rolle des Chefs als "Vorbild" für die Mitarbeiter
ein. Allerdings bedarf die Moral der Einzelnen der nachhaltigen Stützung
durch die Rahmenordnung, da sie sonst durch weniger moralische Konkurrenten ausgebeutet werden kann. Meine Konzeption wird häufig dahin missverstanden, dass ich die Handlungsmoral durch die Moral in den
Regeln, die Ordnungsmoral, ersetzen wollte. Aber nicht Ersetzung, son-
-9dern Stützung der individuellen Handlungsmoral durch die Rahmenordnung, die Ordnungsmoral, ist die Losung.
Das Verhältnis von Ordnungsmoral und Handlungsmoral lässt sich daher
so bestimmen: Da keine Ethik vom Einzelnen verlangen kann, dass er
dauerhaft und systematisch gegen seine Interessen handelt, kann es individuelle Moral nur unter zwei Bedingungen geben: Entweder wird sie
durch ein entsprechendes Regelsystem vor Ausbeutung im Wettbewerb
geschützt, oder das moralische Verhalten selbst bringt den Akteuren
Vorteile im Wettbewerb. Anders formuliert: Unter den Bedingungen
moderner Gesellschaften mit Marktwirtschaft kann Moral im Normalbetrieb nur dann praktiziert werden, wenn sie entweder in die Rahmenordnung inkorporiert ist oder dem moralischen Akteur ökonomische
Vorteile bringt. Dabei umfasst die "Rahmenordnung" all jene Regeln und
Bestimmungen, die als Ordnungsvorgaben politisch gestaltet werden
können: Verfassung, Eigentumsrechte, Vertrags- und Gesellschaftsrecht,
die gesamte Wirtschaftsordnung bis hin zu den Grundzügen von Steuerrecht, Arbeits- und Tarifrecht, Umweltrecht.
Die Moral, inhaltlich also vor allem die Freiheit und Solidarität aller Menschen als Prinzipien der Moral, wird durch ein sanktionsbewehrtes
System von Regeln ermöglicht, das dafür sorgt, dass derjenige Nachteile
zu erwarten hat, der moralische Erwartungen anderer nicht erfüllt; positiv
formuliert: dass nur derjenige selbst Vorteile erzielt, der seinen Mitmenschen etwas zu bieten hat, was diese wünschen und wofür sie
Zahlungsbereitschaft entwickeln. Die Solidarität aller Menschen wird in
der modernen Marktwirtschaft grundlegend nicht durch tugendhaftes
Handeln der Einzelnen und ihre moralischen, solidarischen Motive geleistet, sondern durch eine geeignete Rahmenordnung. Deren Aufgabe
- 10 ist es nicht, das Eigeninteresse der Akteure zu bändigen oder gar zu
eliminieren, deren Aufgabe ist es vielmehr, das Eigeninteresse in jene
Richtung zu lenken, die auch den Mitmenschen Vorteile bringt. Nicht
Domestizierung des Eigeninteresses ist das ethische Programm, sondern die Stärkung, ja, Entfesselung des Eigeninteresses ― unter einer
geeigneten Rahmenordnung, weil dadurch den Interessen der Mitmenschen, der Solidarität aller, am besten, am effizientesten gedient ist. Das
individuelle Vorteilsstreben mag eine durchaus biologische Grundlage
haben, seine ethische Rechtfertigung findet es aber allein dadurch, dass
es Ausdruck individueller Freiheit und Motor der Solidarität aller ist.
Einige Implikationen dieses entschieden ethischen Programms der
Marktwirtschaft sollen aufgezeigt werden.
1. Moral hängt in der Marktwirtschaft nicht von moralischen Motiven,
dem "guten Willen", ab, sondern grundlegend von der geeigneten
Rahmenordnung. Der Wohlstand aller ist nicht im Wohlwollen begründet.
2. Unmittelbar handlungsleitendes Motiv ist und bleibt das Eigeninteresse; es ist die Geschäftsgrundlage der Marktwirtschaft.
3. Moralisch empörende Zustände in der Welt haben ihren Grund nicht
im Eigeninteresse, in der Profitgier, im Egoismus (der Unternehmen),
sondern in fehlerhaften, defizitären Rahmenordnungen oder im
Fehlen von Rahmenordnungen überhaupt.
4. Korrekturen solcher unmoralischen Zustände können nicht über
Appelle an die Einzelnen ― und die spiegelbildlichen Schuldzu-
- 11 weisungen bei Nichtbefolgen ― erfolgen, sondern nur durch eine
Änderungen der Rahmenordnung. Es geht, wie es die katholische
Sozialethik schon im 19. Jahrhundert nach langen Auseinandersetzungen formuliert hat, um eine Reform der Zustände, nicht eine
Reform der Gesinnung; genauer könnte man sagen: um eine Reform
der Zustände aufgrund einer Reform der Gesinnung.
5. Moral muss ― generell unter den Bedingungen moderner, funktional
differenzierter Gesellschaften ― in und mit der ökonomischen Logik
durchgesetzt werden und nicht etwa gegen sie: Moral wird nur in der
Anreizlogik der Ökonomik wirksam oder gar nicht. Mit den Worten des
Repräsentanten einer Institution gesagt, die schmerzliche Erfahrungen mit dem Versuch gemacht hat, Theologie gegen die Erkenntnisse
der modernen Einzelwissenschaften durchzusetzen: "Eine Moral, die
die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können
meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von
Moral." So Joseph Kardinal Ratzinger 1986.
6. Das erfordert eine Neueinschätzung des individuellen Vorteilsstrebens. Dieses ist nicht als solches unsittlich: Keines der drei
großen Prinzipien der abendländisch-christlichen Ethik verbietet das
individuelle Vorteilsstreben als solches, weder die Goldene Regel
noch das christliche Liebesgebot noch auch der kategorische Imperativ Kants. Um beim bekanntesten Beispiel zu bleiben: Das christliche Liebesgebot heißt aus guten Gründen nicht: Du sollst Deinen
Nächsten mehr lieben als Dich selbst, sondern: Du sollst Deinen
Nächsten lieben wie Dich selbst. Die Demarkationslinie zwischen unsittlichem und sittlichem Handeln ist nicht entlang der Unterscheidung
Egoismus-Altruismus zu ziehen, sondern vielmehr zwischen einem
- 12 Vorteilsstreben auf Kosten anderer und einem Vorteilsstreben, das
auch den anderen Vorteile bringt. Dabei fallen diese Vorteile für die
anderen in der Marktwirtschaft nicht als "milde Gaben" an, sondern in
Form guter, preiswerter, innovativer Produkte und Dienstleistungen
über den normalen Austauschprozess auf Märkten. Der heilige Martin
ist kein Modell für die moderne Gesellschaft, oder anders: Der heilige
Martin würde unter modernen Bedingungen eine Mantelfabrik bauen,
dem Bettler und anderen Arbeit geben, damit diese sich die Mäntel
selber kaufen können.
7. Markt und Wettbewerb, Privateigentum und Gewinnstreben finden
ihre ethische Rechtfertigung allein in den wohltätigen Systemwirkungen, die von ihnen auf alle Menschen ausgehen. Sie sind ― unter
der Voraussetzung einer geeigneten Rahmenordnung ― die effizientesten Mittel zur Realisierung der Freiheit und der Solidarität aller
Menschen, die bisher bekannt sind.
Es lässt sich nun nicht bestreiten, dass alle realen Marktwirtschaften
zum Teil weiter hinter dieser Konzeption zurückbleiben. Das aber ist kein
Grund, die Marktwirtschaft mit ihren Konnex-Instituten Wettbewerb,
Privateigentum, Gewinnstreben, Nutzenmaximierung etc. abzulehnen
oder auch nur einzuschränken. Die ethische Devise geht vielmehr in die
entgegengesetzte Richtung: Verbesserung, Vollendung der Marktwirtschaft zum Wohl aller. Kurz: Ethik verlangt nicht weniger Markt, sondern
mehr Markt, einen besseren Markt.
2. Metakritik der Marktwirtschaft
- 13 Das in den Grundzügen entwickelte ethische Programm der Marktwirtschaft erlaubt es jetzt, wichtige Argumente der Kritik an der Marktwirtschaft zurückzuweisen und dabei das Verständnis von Marktwirtschaft,
das der Argumentation zugrunde liegt, weiter zu profilieren. Das geschieht in den folgenden neun Punkten.
1. Kritiker meinen, dass das Verfolgen von unterschiedlichen, teils
antagonistischen Privatinteressen ins Chaos führe. Dies Auffassung
ist falsch. Es führt, wie auch axiomatisch nachgewiesen werden
könnte (Arrow, Debreu), nicht mit logischer Notwendigkeit ins Chaos.
Aber es führt auch nicht automatisch zum "Wohlstand der Nationen",
zum Gemeinwohl. Damit der "Wohlstand" in diesem weiten Sinn von
Adam Smith hervorgebracht wird, bedarf es einer geeigneten
Rahmenordnung. Die "unsichtbare Hand" des Adam Smith setzt die
"sichtbare Hand" der politisch gestalteten Ordnung voraus. Die hier
immer in Anspruch genommene Rahmenordnung ist kein Faktum,
sondern eine Gestaltungsaufgabe. Man muss ― in der Sprache des
Nobelpreisträgers für Ökonomie J.M. Buchanan ― streng zwischen
choices among rules und choices within rules unterscheiden: Die
choices among rules haben die Aufgabe, die Ordnung so zu
entwickeln, dass die choices within rules möglichst automatisch
Wohlstand für alle hervorbringen. Der legitime Ort der "unsichtbaren
Hand" von A. Smith sind die choices within rules; sie setzen eine
Rahmenordnung voraus. Von einem blinden Vertrauen in einen
Automatismus der Märkte, von einer "Metaphysik des Marktes",
wovon die Kritiker sprechen, kann also keine Rede sein.
2. Markt und Wettbewerb zerstören nicht die Solidarität aller, wie die
Kritiker meinen; sie sind vielmehr besonders effiziente Mittel, die Soli-
- 14 darität aller ― und jetzt der entscheidende Zusatz ― unter den Bedingungen moderner anonymer Großgesellschaften auf breiter Front
― und trotz einer enorm gewachsenen Bevölkerung ― zu realisieren.
Markt und Wettbewerb sind ebenso wenig Selbstzweck wie Kapitalbildung und Gewinnstreben. Sie sind Mittel zur Verwirklichung des
Wohlstands aller. Im programmatischen Vorwort zum ersten Band des
Jahrbuchs "Ordo" von 1948 heißt es: "Wettbewerb ist Mittel, aber
nicht letzter Zweck". Auch das Privateigentum findet seine ethische
Rechtfertigung nicht im Nutzen für den Eigentümer, sondern im
Nutzen für die Nicht-Eigentümer, und dieser Nutzen wird über den
normalen Austauschprozess auf den Märkten generiert. Analoges gilt
für Gewinnstreben und Shareholer Value.
3. Die Marktwirtschaft ist im Ergebnis auch kein System des Egoismus,
wie die Kritiker denken. Allerdings bildet die Verfolgung des Eigeninteresses ― sc. unter einer Rahmenordnung ― den Motor für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung und Wachstum. Es ist
darauf zu achten, dass das Eigeninteresse nicht als solches schon
ethisch diskreditiert wird, was, wie gezeigt, auch die Ethik-Tradition
nicht tut. Das Eigeninteresse ist vielmehr als Motor für das Wohlergehen breiter Bevölkerungskreise zu betrachten und daher mindestens als sittlich neutral, unter Bedingungen moderner Marktwirtschaften
mit
geeigneter
Rahmenordnung
sogar
als
sittliches
Instrument einzustufen.
4. Der Marktwirtschaft liegt auch kein pessimistisches Menschenbild
zugrunde, das nach Meinung der Kritiker den Grund zu einem Kulturpessimismus liefert. Zum einen ist der auf seinen individuellen Vorteil
allein zielende Homo oeconomicus kein "Menschenbild", sondern ein
- 15 theoretisches Konstrukt, das eine zuverlässige Prognose des Verhaltens in jenen Situationen erlaubt, in denen kostenträchtige moralische
Vor- und Mehrleistungen von der weniger moralischen Konkurrenz
ausgebeutet werden können: Dagegen kann sich der Einzelne nur
durch präventive Gegenausbeutung wehren, indem er in jeder Handlung streng auf seinen individuellen Vorteil achtet. Zum anderen ist
die Marktwirtschaft mit Wettbewerb von der Auffassung getragen,
dass es möglich ist, sogar auf der Grundlage von so ungünstigen
Voraussetzungen wie der Verfolgung des Eigeninteresses dennoch
eine Ordnung der Freiheit und der Solidarität aller Menschen zu errichten. Der Ausgang von dem (vermeintlich) ungünstigen Eigeninteresse stellt einen methodischen Kunstgriff dar, der die Möglichkeit
einer Ordnung und die Leistungsfähigkeit der Ordnung sogar unter
diesen Bedingungen in besonders hellem Licht erscheinen lässt. Die
Konzeption ist also von einem ganz starken Optimismus getragen.
5. Wenn das unmittelbar handlungsleitende Motiv im Wettbewerb die
Verfolgung des Eigeninteresses ist und bleibt, darf man darin nicht,
wie viele Kritiker das tun, einen Charakterfehler der Menschen oder
einen Verfall der Moral sehen. Die Moral der Marktwirtschaft liegt
nicht in moralischen oder altruistischen Motiven, sie fußt auf den Ergebnissen des marktwirtschaftlichen Prozesses: Der Wohlstand aller
hängt nicht vom Wohlwollen der Akteure ab, sondern von der
Rahmenordnung, die mit Hilfe des Eigeninteresses die allseits gewünschten Ergebnisse hervorbringt. So betrachtet, blicken die Kritiker
der Marktwirtschaft nur auf die Handlungen der Marktteilnehmer und
ihre unmittelbaren Handlungsmotive, also auf die Spielzüge; sie übersehen aber den Zusammenhang, in den die Handlungen in einer
guten Rahmenordnung eingebettet sind und der diesen Handlungen
- 16 erst ihren Sinn und damit ihre sittliche Qualität verleiht. Wer den Zusammenhang nicht sieht, gleicht einem Beobachter, der eine Blinddarmoperation für eine Körperverletzung hält.
6. Marktwirtschaft fördert auch nicht den Materialismus, wie ein weiterer
Vorwurf der Kritiker lautet. Vielmehr versteht man in der modernen
Ökonomik unter "Vorteil" alles, was die Menschen selbst als Vorteile
ansehen, also Einkommen und Vermögen ebenso wie Gesundheit,
Muße, ein gutes, ein gelingendes Leben in Gemeinschaft mit anderen
und dergleichen mehr. Moderne Ökonomik hat systematisch mit
"Geld" nichts zu tun, sondern mit "Vorteilen" in diesem weiten Sinn.
7. Kritiker meinen, dass die Marktwirtschaft bei den Betroffenen tiefe
Wunden schlägt und deshalb abzulehnen sei. Es ist richtig, dass
Markt und Wettbewerb den Einzelnen permanent viel abverlangen.
J.A. Schumpeter bezeichnet die Marktwirtschaft daher als "Prozess
der schöpferischen Zerstörung". Über Nacht gewissermaßen werden
ganze Kapitalbestände entwertet, wenn jemand anderes bessere
Produkte oder Produktionsverfahren erfindet. Es gibt in Marktwirtschaften keinen Bestandsschutz für den Status quo. Doch gerade
dieses stressige System produziert über die Jahre oder Jahrzehnte
hinweg ein hohes allgemeines Wohlstandsniveau. Der Wettbewerb
spielt die entscheidende Rolle: Er sorgt für Preissenkungen,
Qualitätssteigerungen und Innovationen. Er zwingt die Konkurrenten,
Innovationen anderer schnell nachzuahmen, und er sorgt für die permanente Bedrohung von Machtpositionen, die im Marktprozess immer
wieder entstehen.
- 17 8. Kritiker geißeln an der Marktwirtschaft die ungleiche Verteilung von
Einkommen und Vermögen und verlangen annähernd gleiche Einkommensverhältnisse. Es ist richtig, dass die Marktwirtschaft eine ungleiche Verteilung der Ergebnisse hervorbringt. Doch diese ist nur in
einer stationären Wirtschaft ohne Wachstum, die sich im Nullsummenparadigma beschreiben lässt, ein moralisches Übel, weil sie
hier Konflikte schafft und verschärft. Folgerichtig stammt die Präferenz für Gleichverteilung aus der vormodernen Ethik. Eine Wachstumsgesellschaft spielt demgegenüber Nichtnullsummenspiele, so
dass durch den Reichtum einiger, z. B. innovativer Unternehmer,
auch die Armen gewinnen können ― in der Form von guten und
preiswerten Produkten, Arbeitsplätzen und Einkommen, steuerfinanzierten öffentlichen Gütern usw. Gleichheit ist kein Wert an sich, und
moderne Gesellschaften ziehen den größten Teil ihres "Reichtums"
aus Ungleichheiten: in Begabung, Anlagen, Fertigkeiten, Ideen, Kulturen etc. Gleichheit ist ein Kulturprodukt, das höchst artifiziell geschaffen und nur höchst selektiv eingesetzt wird, etwa als Gleichheit
vor dem Gesetz oder in Form des gleichen Stimmrechts in demokratischen Wahlen.
Allerdings findet die Ungleichheit ihre ethische Rechtfertigung erneut
nicht als vermeintliche "Natur-Tatsache", sondern in dem Nutzen, den
die Allgemeinheit aus der Ungleichheit der Menschen zieht (L. von
Mises, J. Rawls). Es ist den verschiedenen Gesellschaften zu überlassen, selbst zu bestimmen, an welcher Stelle sie wie viel Gleichheit
wollen ― man vergleiche die Unterschiede zwischen den Skandinavischen Ländern, Deutschland und den USA ―, wobei sie klar sich
vor Augen halten müssen, dass sie bei zuviel Gleichheit bzw. bei
Gleichheit an der falschen Stelle mit ökonomischen Nachteilen be-
- 18 zahlen müssen, was u. U. bis zum Zusammenbruch eines ganzen
Systems (Sozialismus) führen kann.
9. Dass Markt und Wettbewerb den Individualismus fördern und die Solidarität zerstören, wie viele Kritiker behaupten, ist ebenfalls falsch.
Richtig ist, dass die Solidarität mit den Mitmenschen nicht mehr in den
Motiven, Gesinnungen, Intentionen der Akteure im Markt liegt, sondern in der institutionell gestifteten Verbundenheit. Aufgrund der
Strukturen moderner anonymer Großgesellschaften mit Funktionssystemen kann die Solidarität aller nicht mehr motivational und intentional garantiert werden, schon deswegen nicht, weil niemand alle die
kennen kann, die aus seinem Handeln Vorteile ziehen können.
Moderne Gesellschaften sind intentional entkoppelt und institutionell
verknüpft (A. Suchanek). Der Einzelne ist heute mit viel mehr Menschen institutionell verknüpft, als das in den überschaubaren Kleingruppen der Vormoderne der Fall war. Die Forderung nach Restituierung der motivationalen, intentionalen Verknüpfung kommt der Forderung nach einem Regress in diese Kleingruppengesellschaft gleich.
Man kann zusammenfassen: Die Marktwirtschaft als solche hat eine sittliche Qualität, weil sie unter den Bedingungen moderner Gesellschaften
das beste bisher bekannte Mittel zur Verwirklichung der Freiheit und der
Solidarität aller Menschen ist. Trotz der zum Teil völlig anderen Handlungsempfehlungen bleibt sie mit den Prinzipien der abendländischchristlichen Ethik-Tradition in voller Übereinstimmung. Die Marktwirtschaft
ist
gewissermaßen
die
institutionalisierte
Solidarität
oder
Nächstenliebe, insofern in der Marktwirtschaft mit geeigneter Rahmenordnung nur der individuelle Vorteile erzielen kann, der seinen Mitmenschen etwas zu bieten hat, was diese wünschen.
- 19 -
3. Die Soziale Marktwirtschaft
Bis jetzt habe ich über das ethische Programm der Marktwirtschaft als
solcher gesprochen. Von der Sozialen Marktwirtschaft war noch nicht die
Rede. Das ist jetzt nachzuholen, weil es in der öffentlichen Diskussion,
auch wieder in der aktuellen über die Fälle Allianz und BenQ, grundlegend falsche Auffassungen darüber gibt, was der Zusatz "sozial" in
diesem Zusammenhang sinnvoller Weise heißen soll.
Wie die aktuelle Diskussion um Standortverlagerungen, Entlassungen
bei gleichzeitigen Rekordgewinnen und Betriebsstilllegungen zeigt, versteht man in der Öffentlichkeit, in den Medien und in der Politik unter der
Sozialen Marktwirtschaft eine Marktwirtschaft, die durch sozial motivierte
Eingriffe gebändigt worden ist: also eine Marktwirtschaft light gewissermaßen, in der dem Gewinnstreben und dem Wettbewerb die Zähne gezogen und Grenzen gesetzt sind, um die Betroffenen vor den schmerzlichen Auswirkungen der Marktwirtschaft pur zu schützen. Bändigung,
Zähmung, Domestizierung ist die bis tief in die Unionsparteien reichende
Vorstellung von der Funktion des Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft. Es gehe in dieser Sozialen Marktwirtschaft um eine ethisch begründete Korrektur der Marktwirtschaft, und erst diese sozial, ethisch
begründete Korrektur mache die Marktwirtschaft sittlich akzeptabel.
Diese Auffassung der Sozialen Marktwirtschaft ist die herrschende Auffassung. Aber sie ist mit schweren Hypotheken belastet, die unmittelbar
- 20 auf die Politik in unserem Land durchschlagen. Ich will drei schwere
Hypotheken benennen.
1. Wer explizit oder auch nur implizit die Vorstellung hegt, die Marktwirtschaft werde erst durch die sozialen Korrekturen ethisch akzeptabel,
transportiert per Umkehrschluss zugleich die Auffassung, die Marktwirtschaft als solche sei unmoralisch, sei Teufelszeug. Wer die sittliche Qualität mehr oder weniger allein auf die sozialen Korrekturen
stützt, stuft die Marktwirtschaft als solche als zutiefst unsittlich ein. Als
Belege dafür werden angeführt Egoismus, Gewinnstreben, Materialismus, gnadenloser Wettbewerb, fehlende Solidarität und Mangel
an Patriotismus, also all das, was auch die Kritiker der Marktwirtschaft
vorbringen.
2. Daraus ergibt sich unmittelbar eine politische Konsequenz: Wenn das
Ausmaß der Sittlichkeit am Ausmaß der sozialen Korrekturen der
Marktwirtschaft festgemacht wird, dann gibt es aus moralischen
Gründen keine Grenze mehr für solche Korrekturen. Dann gilt die
leitende Devise: je mehr Korrekturen, desto mehr Sittlichkeit - bis die
Marktwirtschaft teilweise oder ganz wegkorrigiert ist. Es gibt dann
allenfalls noch die Begrenzen des Sozialen mit Hinweis auf die leeren
Kassen, aber auch dieses Argument zieht nicht, da Moral ja wichtiger
sei als ökonomische Kalkulation. Die Folge: Es werden Schulden auf
Kosten künftiger Generationen gemacht.
3. Wer die sittliche Qualität der Marktwirtschaft nicht an den Prinzipien
dieser Marktwirtschaft selbst, sondern an den Korrekturen der Prinzipien und ihrer Ergebnisse festmacht, muss die Organisationen, die
durch Gewinnstreben und Wettbewerb konstituiert sind, die Unter-
- 21 nehmen nämlich, allein aufgrund dieser Vorstellung als Gegner und
Feinde von Moral, Sittlichkeit, Humanität und Solidarität einstufen.
Damit ist eine Erklärung für die moralische Diskreditierung der Unternehmen und der Unternehmenslenker gegeben, die aus einem tief
verwurzelten, weit verbreiteten, gleichwohl völlig falschen Grundverständnis des Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft resultiert.
Wenn aber die moralische Diskreditierung der Unternehmen auf ein
falsches Grundverständnis des Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft
zurückzuführen ist, dann sind PR-Kampagnen zur Imagepflege der
Unternehmen völlig ungeeignet, diese Situation zu ändern. Es geht vielmehr darum, dieses falsche Grundverständnis von Sozialer Marktwirtschaft durch ein besseres, angemesseneres zu ersetzen. Theorie also
ist notwendig, und die Grundzüge einer solchen Theorie des Sozialen in
der Sozialen Marktwirtschaft will ich abschließend skizzieren.
Ich habe argumentiert, dass die Marktwirtschaft als solche ein durch und
durch moralisches Unternehmen mit einem expliziten ethischen Programm ist. Wenn wir dann in Deutschland an unserem System der
Sozialen Marktwirtschaft festhalten wollen ― auch ich bekenne mich
dazu ―, dann können wir das Soziale nicht mehr als ethische Korrektur
eines an sich schon ethischen Unternehmen begreifen. Wenn die
Marktwirtschaft an sich bereits ein ethisches Unternehmen ist, kann sie
durch das Soziale nicht korrigiert, sondern nur noch verbessert werden.
Ich schlage daher vor, die Soziale Marktwirtschaft als Steigerung, Verbesserung der Marktwirtschaft und nicht als deren Korrektur zu verstehen.
- 22 Für das theoretische Verständnis ist das geradezu revolutionär. Denn
das heißt, dass die Soziale Marktwirtschaft die Prinzipien der Marktwirtschaft nicht bremst, sondern entfesselt ― zum Wohl der Allgemeinheit.
Mehr Markt und Wettbewerb, mehr ― bitte nicht kurzfristiges (Quartalszahlen), sondern ― nachhaltiges Gewinnstreben, Forcierung statt Behinderung des Strukturwandels ― das sind Devisen, die sich aus diesem
neuen Verständnis ergeben.
Der Sozialstaat dient in dieser Perspektive nicht dazu, den Menschen,
die in Markt und Wettbewerb gescheitert sind, dauerhaft ein lebenswürdiges Leben zu ermöglichen; er dient vielmehr dazu, die Herausgefallenen zu befähigen, sich (wieder) in die gesellschaftliche Interaktion
zu integrieren, sie (wieder) produktiv zu machen. Man spricht in diesem
Zusammenhang heute vom "aktivierenden" Sozialstaat.
In dieser Sichtweise hat man dann auch ein Kriterium für die Grenzen
des Sozialstaats: Maßnahmen, die nicht den Marktprozess fördern, sondern ihn behindern, sind grundsätzlich abzulehnen. Das Soziale dient
der
Förderung
des
(nachhaltigen)
Marktprozesses,
nicht
seiner
Bremsung oder Korrektur. Der Sozialstaat ist zu begreifen als eine große
Versicherung. Durch Versicherungen kann man produktive Risiken eingehen; Risiko wird zum Produktionsfaktor (H.-W. Sinn). Der Versicherungsgedanke ist mit der Förderung von Markt und Wettbewerb
vollauf vereinbar. Oft werden hoch produktive Interaktionen auf Märkten
erst durch Versicherungen möglich. Allerdings muss man sich auch der
Risiken von Versicherungen bewusst sein, also insbesondere der Unbeweglichkeit und Innovationsfeindlichkeit sowie der Ausbeutung der Versicherung durch Überversicherung, im Fachjargon moral hazard.
- 23 Den Grundgedanken dieser Überlegungen kann man mit einem Vergleich deutlich machen, der auf J.A. Schumpeter, den großen österreichischen Nationalökonomen, zurückgeht. Er vergleich den Sozialstaat
mit einer Bremse im Auto: Tritt man auf die Bremse, fährt das Auto langsamer und kommt vielleicht sogar zum Stehen; aber der Sinn eines
guten Bremssystems besteht darin, im Normalbetrieb schneller fahren zu
können als ohne Bremsen.
Wir sollten die Soziale Marktwirtschaft nicht begreifen als eine moralisch
korrigierte Marktwirtschaft, sondern als forcierte, entfesselte Marktwirtschaft. So würden wir schwere Probleme unserer gegenwärtigen Situation einer Lösung näher bringen können, ohne dass die Armen, Benachteiligten, auf der Strecke bleiben müssten.
Schließen will ich mit einem Satz, den man gleichermaßen ethisch und
ökonomisch lesen kann: Niemand ist so arm, dass er nicht für andere
eine Bereicherung sein könnte; niemand ist aber auch so reich, dass er
nicht durch andere eine weitere Bereicherung erfahren könnte.
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