Aus der Höhle des Löwen

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Aus der Höhle des Löwen
Gedanken zur Streichquartettdiskussion am Beginn des 21. Jahrhunderts
Von Armin Köhler
Ikone Gattung
„String Quartet Shaking hands“ lautet der Titel eines Streichquartetts von George Brecht aus
dem Jahre 1962. Es taucht in den einschlägigen Anthologien, Lexika-Artikel und anderen
das Streichquartettschaffen des 20. Jahrhunderts zusammenfassenden akademischen
Schriften nicht auf. Warum auch!? Handelt es sich bei diesem Entwurf doch vermeintlich
„nur“ um eine Event-Komposition der aus Sicht klassischer Musikgeschichtsschreibung und
des „seriösen“ Feuilletons mit Argwohn betrachteten Fluxusbewegung um George Maciunas.
Diese Auslassung ist typisch für die Aufarbeitung jener musikalischen Gattung im
ausgehenden 20./beginnenden 21. Jahrhundert, die als „Königsgattung“ innerhalb der
europäischen Musikgeschichte gesetzt ist. Noch heute erstarren nicht nur junge Autoren vor
dem Übermaß an potenzierter Geistigkeit, ästhetischer Potenz und experimenteller
Durchschlagkraft, die sich in nun schon fast drei Jahrhunderten von Joseph Haydn bis
Pascal Dusapin angesammelt hat. Es ist gerade diese Omnipotenz der Gattung, die
Komponisten wie Peter Ablinger gar von der „Höhle des Löwen“ sprechen lässt: „Für mich ist
das Streichquartett so etwas wie die Höhle des Löwen. Es ist beinahe im negativen Sinne
die Krönung der traditionellen klassischen Musik Tradition.“ (Peter Ablinger, Gespräch mit dem Autor vom
8.7.2010)
Die Ausgrenzung Brechts durch die Musikwissenschaft ist nicht nur typisch, sondern
bedauerlich zugleich. Vergibt sie sich doch dadurch die Chance, gattungsspezifische
Veränderungen aufzuarbeiten, die sich durch die permanente Verfügbarkeit kultureller
Archive und durch die daraus resultierenden überbordenden Informationsflüsse ergeben
haben, weil sie nachhaltig unsere Wahrnehmung und unsere Gedächtnisarbeit beeinflussen.
„Shaking hands“: Der Titel ist zugleich die Spielanweisung und die Partitur des Stücks. Er
imaginiert die Performance auf einen Blick. Vier Personen schütteln sich die Hände. Mehr
passiert nicht. Das Konzept-Stück ist damit früher Ausdruck eines Wandels des
Musikdenkens, welches sowohl angedachte experimentelle Perspektiven tatsächlich bis zur
letzten Konsequenz ausreizt, als auch über rein strukturelle und klangliche Prämissen
hinausgeht, weil es soziale und situative Komponenten mit bedenkt, ja insgesamt tradierte
Rahmenbedingungen außer Kraft setzt. Mit dem herkömmlichen Gattungskodex wird man
diesem Entwurf kaum gerecht – zumindest solange nicht grundsätzliche Themen
grundsätzlich auf das Musikganze bezogen werden, sondern auf satztechnische
Strukturfragen und auf Generierungsmethoden einzelner Parameter reduziert sind bzw. trotz
der aktuellen ästhetischen Vielfalt weiterhin ausschließlich auf einheitsbildende Faktoren
gesetzt wird. Bei all den vermeintlichen Tabubrüchen des Brechtschen Entwurfs wird dabei
zudem geflissentlich übersehen, dass – in einen anderen Kontext übertragen – auch dieses
Stück in der Tradition des Streichquartetts steht. Vermerkte doch bereits 1913 Charles Ives
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in seinem „Second String Quartet“, dass seine Komposition für vier Männer sei, „die sich
unterhalten, diskutieren, streiten, kämpfen, Hände schütteln, schweigen und dann den Berg
hinauf gehen, um das Firmament zu betrachten.“ (Jan Swafford, Charles Ives, A Life with Music, New York,
1996,S. 237)
Händeschütteln in diesem Kontext der sozialen Relevanz des Streichquartetts als
weiterführende Konsequenz des Gesprächstopos verstanden, verweist auf Johann Wolfgang
von Goethes Setzung: „Man hört vier vernünftige Leute sich unter einander unterhalten,
glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen...“. Sie wirkt in der Sekundärliteratur und in
unserem Bewusstsein bis heute als prägendes Gattungsmoment nach, was angesichts der
Streichquartette von John Cage, Morton Feldman, Iannis Xenakis, Luigi Nono, Peter Ablinger
oder Georg Friedrich Haas durchaus paradox anmuten mag. Abgesehen davon, dass diese
Vorgehensweise die Idee ästhetischer Autonomie untergräbt, dürfte es nur schwer zu
vermitteln sein, Streichquartett am Beginn des 21. Jahrhunderts als Analogie zur
Konversation à la Schlegel, Schleiermacher oder Descartes einzugrenzen. Es sei denn, man
agiert, wie zum Beispiel Enno Poppe in seinem Streichquartett, mit dem Prinzip der Negation
der Negation: „Ich bin dazu gekommen, gerade dieses Goethewort offensiv zu benutzen.
Das traditionelle Material als traditionelles Material traditionell zu benutzen, in einer Form, wo
ich mir dann erhoffe, dass gerade dieser offensive Gebrauch in eine andere Qualität
umkippen kann. Ich habe ein echtes Interesse daran, diesen traditionellen Ballast zu
ertragen und nicht einfach wegzusehen, weil der Komplexitätsgehalt eines Stücks gerade
daraus resultiert.“ (Enno Poppe, aus Diskussion „Streichquartett“, Darmstädter Ferienkurse 2004)
Dahinter verbirgt sich freilich die Vorstellung, dass sich ein Streichquartett
gattungsgeschichtlich strukturell, wenn schon nicht im Dialogprinzip, so doch zumindest in
Kontrastbildungen entwickelt. Ohne Charaktere, ohne Kontraste wollen eine Reihe auch
jüngerer Autoren – so Enno Poppe und Arnulf Herrmann – am Gattungsbegriff nicht
festhalten. Jenes Werk, an dem sich die Gattungsdiskussion geradezu festgefressen hat,
nämlich Luigi Nonos „Fragmente – Stille, An Diotima“, wäre dann kein Streichquartett,
zumindest nicht im Sinne der Gattungstradition; ebenso wenig die überdimensionierten
Quartette von Feldman und gleichwohl alle kompositorischen Entwürfe, die Musik als
klangplastisches Phänomen betrachten. Hinter vorgehaltener Hand wird gar behauptet, dass
junge Komponisten auf das Kulturgut Streichquartett schauen würden, ohne zu wissen, wie
es eigentlich funktioniert. Das mag im Einzelfall nicht von der Hand zu weisen sein, kann
aber gewiss nicht für alle jungen Autoren gelten. Überhaupt entspricht der
Generationenkonflikt, wie er hier untergründig konstruiert wird, ohnehin nicht der Realität.
Enno Poppe: „Im Grunde hängt an der Gattung immer auch die Sonatenform, das Zyklische,
der hohe Anspruch. Die Begriffe sind da durchaus fließend. Das heißt, dass bestimmte
Streichquartette, die nach 1950 komponiert wurden, gar nicht mehr der Gattung zugerechnet
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werden können. Ich denke an das Helikopter-Streichquartett von Karlheinz Stockhausen
oder die Feldman-Streichquartette, die ja quasi mit ihrer Uferlosigkeit und mit diesem
naturhaften Strömen eigentlich entgegengesetzt etwas von dem ausmachen, was
Streichquartett bis dahin bedeutet hat. Ganz klar ist es mir aber nicht, ob diese Entwürfe nun
innerhalb oder außerhalb des Gattungsbegriffs stehen. Es ist aber auch von Vorteil, dass
man dies ambivalent sehen kann. Ich glaube für die Komponisten von heute spielt die Idee
der Gattung keine besondere Rolle mehr. Wir sind immer versucht, für jedes Werk eine
eigene formale Lösung vorzulegen. Wenn wir mit individuellen Lösungen für jedes Werk
arbeiten, ist das Wort Gattung überhaupt nicht mehr brauchbar.“ (Enno Poppe, Gespräch mit dem Autor
vom 24.6.2010)
Arnulf Herrmann begrenzt den Gattungsbegriff gar nur auf drei Komponisten:
Mozart, Haydn und Beethoven. Der klassische Gattungsbegriff hat für ihn „natürlich ganz
stark mit motivisch-thematischen Entwicklungen zu tun, sehr viel mit einer tonalen
Disposition und natürlich mit einer Satzfolge, also mit einer Viersätzigkeit. Bei Schönberg,
Webern, Bartók hat man wenigstens noch die thematische Arbeit, insgesamt gesehen fehlt
dies aber komplett nach 1950.“ (Arnulf Herrmann, Gespräch mit dem Autor vom 25.6.2010) Es sind jedoch
längst nicht nur die jüngeren Autoren, die sich für einen historisierenden Gattungsbegriff
begeistern. Auch für James Dillon sind „das Dialogprinzip und der sprechende Charakter der
Musik typische Merkmale von Streichquartett innerhalb der Konventionen. Zentrales
Kriterium ist zudem die Tatsache“, so Dillon weiter, „dass alle Instrumente zur gleichen
Instrumentenfamilie gehören und die spezielle Spielsituation, bei der die vier Spieler sich alle
anschauen. Es gibt nur sehr wenige Kammermusikbeispiele, wo die Spieler diesen Grad von
Intimität entwickeln. Es beginnt mit Haydn, wo die vier einzelnen Instrumente die ihr eigene
Funktion verlieren. Dies ist der qualitative Beginn von Streichquartett als Konversation. Diese
Homogenität fordert eine spezielle Form von Diskurs innerhalb dieser
Instrumentengruppierung geradezu heraus. Das ist für mich die geläufigste Annäherung an
die Gattung Streichquartett. Und vielleicht ist das, was ich ‚convention‘ nenne und Sie
Gattung, genau diese Homogenität der Klangwelt, die Qualität von Klang als Konversation
und die Intimität der Situation, die Streichquartett ausmacht.“
vom 16.7.2010)
(James Dillon, Gespräch mit dem Autor
Auch für Wolfgang Rihm ist „dialektische Polyphonie“ das entscheidende
Merkmal. „Trotzdem“, so Rihm, „die Faszination, die dieses Ensemble mit sich bringt, liegt ja
gerade darin, dass die Vielseitigkeit der Möglichkeiten innerhalb eines monochromen
Ensembles gegeben ist. Das sind Stufungen in einer monochromen Grundfärbung, die bei
keinem anderen Ensemble in dieser Weise zu finden sind.“ (Wolfgang Rihm, Gespräch mit dem Autor
vom 28.6.2010) Anders
Brian Ferneyhough, der in Donaueschingen, so wie James Dillon in
diesem Jahr sein sechstes Streichquartett vorstellt. Er ist der Meinung, dass sich die Gattung
– vornehmlich bei Komponisten, die sich mehrfach dem Streichquartett zugewandt haben –
nicht aufgelöst hat. Als Begründung bemüht er die philosophischen Kategorien von
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„Sublimität“ und „Plötzlichkeit“, die ihren Ausgangspunkt bei Kant und Hegel haben. „Das ist
kein Akzidenz, weil Streichquartett so ein dunkel schimmerndes Anderes hat, was supportiv
hinter dem Wirken der vier Leute, der vier agierenden Personen ‚sitzt‘, und überhaupt das in
Frage stellt und beflügelt, was sie unternehmen. Es geht ja nicht mehr um vier vernünftige
intelligente Männer. Es geht vielmehr überhaupt um die Begegnung und die Kreuzwege. Die
guten, die wirklich frappierenden Streichquartette tragen eine Einmaligkeit in sich, die aber
irgendwie einhergeht mit dem Gruppenbewusstsein. Ich bin daher nicht der Meinung, dass
es sich bei Nono um kein Streichquartett handelt. Jene, die dies behaupten, sehen nur die
Oberfläche. Dahinter stehen soziale Sujets, die tiefgreifender sind als bei anderen
Gattungen.“ (Brian Ferneyhough, Gespräch mit dem Autor vom 26.7.2010)
Überblickt man die Sekundärquellenlage der gattungsgeschichtlichen Diskussion im 20.
Jahrhundert, gelangt man zu einem einheitlichen Bild. Dieses muss als akademisch, wenn
nicht gar gelegentlich als sophistisch bezeichnet werden. Schon allein deshalb, weil dort der
Gattungsbegriff als statisches Wesen, als ein festgeschriebenes Objekt gesehen wird und
nie der Versuch unternommen wurde, nach elementaren, die Jahrhunderte übergreifenden,
aber sich wandelnden Kriterien zu suchen. Auf diese Weise konditioniert, lassen sich freilich
nur die beiden bereits angedeuteten Lösungen finden: Entweder man grenzt aus oder aber
erklärt, wie Ludwig Finscher in „Musik in Geschichte und Gegenwart“, die Gattung habe sich
im 20. Jahrhundert „weitgehend aufgelöst“. (Ludwig Finscher, Artikel „Streichquartett“ in MGG, Sachteil, Bd. 8,
Kassel u.a.1998)
Es muss einstweilen noch offen bleiben, ob – um mit Nicolaus A. Huber zu sprechen – am
Beginn des 21. Jahrhunderts die „Frage nach der Gattung nicht schon die falsche Antwort“
ist (zitiert nach „Positionen“, 34, 1998, Seite 9) oder aber, ob es sinnvoller sein könnte, aus anderen
Zusammenhängen heraus sowie in neue Kontexte setzend, nach den Elementarien, nach
den Grundbausteinen von Streichquartett zu suchen. Vielleicht hilft es aber auch, einen
Schritt zurückzutreten, um aus einer größeren Distanz auf das Phänomen Streichquartett zu
schauen, so dass aus dieser Vogel-Perspektive ein ganz anderer Blick durch die
sedimentierten Ablagerungen der Streichquartettgeschichte möglich wird, um auf diese
Weise bei aller Wesensverschiedenheit der Komponisten, Stile und Anschauungen sowohl
Trennendes als auch Bindendes zu finden. Allein die schiere Anzahl der in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts für das Arditti Quartet komponierten Streichquartette (das Arditti-Archiv
in der Paul Sacher-Stiftung weist 3.000 Kompositionen aus) dürfte die Potenziale auf der
Suche nach übergreifenden Kriterien aufzeigen. Ob man gar auf einen anderen Begriff, wie
beispielsweise jenen des Formats, der aus der digitalen medienakzentuierten Welt stammt,
ausweichen sollte, darf bezweifelt werden. Schließlich konstruiert auch er nur eine
signifikante Gesamtheit, ohne hinter seinem medialen Deckmantel Distinktionsmerkmale
hervor scheinen zu lassen.
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Zoomen wir also heraus: Erst ein distanzierter Blick öffnet das Auge, um – das eingangs
erwähnte Beispiel aufgreifend – die logische Konsequenz vom Händeschütteln eines George
Brecht zum Gesprächstopos eines Haydn zu ziehen – oder aber (um ein zweites Beispiel zu
nennen) blicken wir hinein, um in Haydns Streichquartett „Die sieben letzten Worte unseres
Erlösers am Kreuze“ – das einzige Streichquartett, das sieben nur langsame Sonatensätze
aufweist – monistische Keimzellen eines späten Nonos zu finden. Vielleicht hilft als
Ausgangspunkt für unsere Suche aber auch solch ein Gemeinplatz, der auf die Tatsache
verweist, dass auf der einen Seite einzig die Künstler und ihr individuelles Tun die prägenden
Keime des Kunstbegriffs sind, und dass auf der anderen Seite Gattungen ein Konstrukt, ein
künstlich vom akademischen Überbau geschaffenes Phänomen sind, basierend auf dem
eigentümlichen, geradezu manischen Bestreben des Menschen, alles klassifizieren und
damit notwendiger Weise vereinheitlichen zu müssen. Ein Wesenszug, der im Zeitalter der
alles normierenden Digitalisierung geradezu beängstigende Formen angenommen hat,
indem die Idee des Archivs im Sinne von Lyotards „Postmodernem Wissen“ geradezu ins
Unüberschaubare, nicht mehr zu Ordnende aufgehoben wird. Vor diesem Hintergrund habe
ich für diesen Beitrag jene Komponisten zum Thema „Streichquartett“ befragt, die mir in den
letzten Monaten mehr oder weniger zufällig begegneten.
Von Malern und Ausmalern
In diesem zuletzt genannten Zusammenhang stellen sowohl Walter Zimmermann als auch
Wolfgang Rihm ausdrücklich die besondere Verantwortung der Komponisten heraus: „Sie
sind die Motoren der Weiterentwicklung“ (Walter Zimmermann, Gespräch mit dem Autor vom 24.6.2010), bzw.
„sie bestimmen das, was Gattung sein kann“. (Rihm, siehe oben) Für Walter Zimmermann lässt
sich gar „überhaupt kein Modell“ ableiten, „außer dem der Erfindungskraft, und diese läuft ja
nun ungebändigt weiter. Damit gehören die Feldman’schen Streichquartette und jenes von
Nono auch dazu.“ Dieser Meinung ist auch James Dillon, der diese Frage mit der schlichten
Begründung positiv beantwortet, „weil sie nun einmal für Streichquartett komponiert sind. Ich
möchte sie daher als ein Beispiel für Streichquartett heranziehen, nicht aber als Modell.“
(Dillon, siehe oben).
Die Komponisten sind die Wegbereiter der Weiterentwicklung, gewiss. Die Frage ist nur,
wohin und unter welchen Rahmenbedingungen sich die Kräfte entfalten können bzw. die
gesetzten Bedingungen unterlaufen werden. Genau diese Dialektik bestimmte die Arbeit
Peter Ablingers an seinem Streichquartett für das diesjährige Festival mit dem Titel
„Wachstum und Massenmord, für Titel, Streichquartett und Programmnote“. Gattung ist für
ihn nicht nur einheitsstiftendes Moment eines akademischen Überbaus, sondern das
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Material seines Streichquartetts selbst. Sein Ausgangspunkt ist dabei der ins
gesellschaftliche Bewusstsein sedimentierte Gattungsbegriff. „Für mich“, so Ablinger,
bedeutet Streichquartett „einfach diese vier Personen, die da so sitzen und spielen –
natürlich mit den ganzen Topoi, mit den Klischees, den vier ‚intelligenten Männern, die
miteinander diskutieren‘, mit dem Ikonenhaften und dem, was es an bürgerlicher Ästhetik
repräsentiert, und all diese Dinge, die da so mitschwingen. Das alles gehört zur Gattung.“
(Peter Ablinger, Gespräch mit dem Autor vom 8.7.2010)
Sein konzeptioneller Ansatz spannt in einem
gewissen Sinne den Bogen zu dem eingangs erwähnten Quartett von George Brecht. Finden
sich in jenem Konzeptstück vermeintliche Randerscheinungen um das Streichquartett wie
„Shaking hands“, werden hier jene wie Titel und Programmnote in das Zentrum gerückt. „In
meinem speziellen Ansatz“, so Peter Ablinger weiter, „gibt es noch etwas, was dann noch
eine Etage höher geht in den Instanzen, das aber trotzdem noch nicht den Bezug zum
Gattungsthema verliert, zu jenem Rahmen, der ein Gattungsdenken überhaupt erst
ermöglicht: ich meine damit die gesamte klassische Neue-Musik-Tradition. Wenn ich ein
Stück komponiere, handelt es sich nur sehr selten um eine freie Kombination von zufällig
zusammentreffenden Instrumenten. Ich denke immer die gesamte Geschichte, diesen
‚höheren Rahmen‘ mit. Ich bin der Meinung, dass in einem ziemlich großen Teil dessen, was
man so ‚Neue Musik‘ nennt, also gerade da, wo weiterhin mit den klassischen Instrumenten
und den bürgerlichen Konzertformen gearbeitet wird, nicht nur die Verdrängung des
Gattungsbegriffs vorherrscht, sondern überhaupt eine unglaubliche Historizität des ganzen
Betriebs. Dieser Betrieb gibt sich ja das Adjektiv ‚neu‘. Wenn man sich aber ansieht, was da
passiert, was die Komponisten tun: Papier, Fünfliniensystem, komplexe Notation, Arbeit für
akademisch ausgebildete Virtuosen auf klassischen Instrumenten, und dann noch die
bürgerlichen Konzertsäle, Intendanten, Konzertformen und Orchesterhierarchien – mithin die
Beschränkung auf all die Bedingtheiten und die Intimität der Verhältnisse von
Komponist/Notenschrift/Partitur/Interpret/Distribution – hinzuzieht, dann sieht man, dass das
alles Formeln sind, die weit in das 18., ja in das 17. Jahrhundert zurückgreifen. Im Grunde tut
diese Spezies von Komponist nichts anderes, als Beethoven auch schon getan hat.
Letztendlich füllt der Komponist bereits vorhandene Formen aus. Sie haben, Herr Köhler, um
ein Beispiel zu nennen, für Ihr Festival an eine ganze Reihe von Komponisten
Streichquartette in Auftrag gegeben. Also schreiben alle Streichquartette, 15 bis 20 Minuten
lang. Wenn einer daherkommt, mit einem Stück, das länger als eine Stunde ist, dann ist es
eh schon ein Schock. Was tun Sie als Intendant? Nichts anderes, als die Komponisten
aufzufordern, im Rahmen zu bleiben. Ich weiß, dass Sie es absichtlich tun und auch
dialektisch tun und durchaus auch Komponisten herausfordern wollen, den Rahmen im
Rahmen zu übertreten. Das ist schon alles in Ordnung, bleibt letztendlich aber folgenlos.
Damit hat man weder das Notenpapier erfunden, noch die Instrumente, noch die Gattung,
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noch den Zeitrahmen, noch die Konzertsituation, noch die Ausbildung der Interpreten. Es ist
alles bereits da, es ist alles wie ein Malbuch. Alles ist vorgegeben. Und ich kann mich jetzt
entscheiden, ob ich den Kopf grün anmale oder blau. Aber viel mehr ist da nicht drin.
‚Innenarchitektur‘– damit könnte man es noch vergleichen – irgendwie etwas geschmackvoll
einrichten, aber ich weiß nicht, ob damit überhaupt noch Kunst möglich ist. Es ist ein
Ausfüllen von etwas, was bereits da ist. Es ist eine kulturelle Handlung, zweifelsohne, aber
keine Kunst.“ (Ablinger, siehe oben)
Einer, der in der Genese seiner Arbeiten immer den „höheren Rahmen“, von dem Peter
Ablinger spricht, radikal mit eindenkt, ist der ebenfalls aus Österreich stammende Autor
Georg Nussbaumer. Seine Materialien sind nicht nur schlechthin die sedimentierten
Gattungsfaktoren, sondern darüber hinaus alle Elemente, die im weitesten Sinne mit der
Begrifflichkeit von Streichquartett in Verbindung gebracht werden können, um die
gesellschaftlichen Hintergründe der Gattung Streichquartett zu reflektieren: „Begriffe sind ja
nichts Abstraktes“, so Georg Nussbaumer, „sie kommen von irgendwo her. Beim
Streichquartett beginnt es damit, dass Bäume abgesägt und gelagert werden: unglaubliche
Zeiträume, Handwerkskunst und Subtilität in der Verarbeitung – das alles sind ja Faktoren,
die schon längst da sind, bevor der erste Klang solch eines Streichquartetts erklingt. Diese
sind für mich genau so wichtig wie für einen Architekten die Geologie des Untergrunds, auf
den er sein Haus bauen will. Es gibt über siebzig verschiedene Begriffe, die im
Zusammenhang mit Streichquartett zu sehen sind. Da zählen die Haare dazu, die Wirbel, der
Hals, die Körperhaltung der Musiker, die Saiten, die aus Därmen gemacht werden und auch
die weibliche Form der Instrumente, die durch den Rückenakt von Man Ray mit den fLöchern zu einer Ikone geworden ist. Wie assoziationsreich kann solch ein Detail sein, wenn
man bedenkt, dass diese weiblichen Formen von Bogenhaaren bespielt werden, die nur von
männlichen Tieren, also von Hengsten stammen! Zudem interessieren mich auch solche
Details, dass zum Beispiel das Schaf, das die Saiten spendet, seine Organspende nicht
überlebt, weil es den Darm ‚opfert‘, dass das Pferd aber – als angeseheneres Tier –
überlebt, weil es nur die Schwanzhaare spenden muss. Ich gehe also von ganz elementaren
Dingen aus, die bis in das Zwischenmenschliche, ja bis ins Sexuelle hineingehen. Es
versteht sich von selbst, dass dann natürlich auch die Philosophie, die Literatur und die
anderen Künste in meine Vorstellung von Streichquartett mit hineinspielen.“ (Georg Nussbaumer,
Gespräch mit dem Autor vom 15.7.2010)
Unabhängig voneinander ziehen Mathias Spahlinger und Peter Ablinger das zweite
Streichquartett von Morton Feldman als Beispiel heran, um deutlich zu machen, dass dessen
außergewöhnliche Länge von fünf Stunden ein nachdrücklicher Hinweis auf seine bewusste
Absetzung vom Gattungsdenken sei. Mathias Spahlinger: „Das zweite Quartett von Feldman
ist zugleich das längste in sich geschlossene Musikstück der Welt. Diese zeitliche
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Ausdehnung ist Zeichen des Ausbruchs aus dem Gattungsdenken. Und genau das ist eine
der spezifischen Eigenschaften von Neuer Musik. Ich pflege zu sagen, dass im 20.
Jahrhundert das Verhältnis der Teile zum Ganzen sich prinzipiell verändert hat und dass die
Kategorie Gattung etwas Übergeordnetes ist. Wenn sich das Verhältnis der Teile zum
Ganzen auch im Gattungswesen geändert hat, dann ist der Begriff der Gattung insofern
aufgehoben im doppelten Sinn, als heute von einem Komponisten unter anderem gefordert
ist, dass jedes Stück, das er erfindet, die Musik neu erfindet – im Extremfall. Das ist der
eigentliche Sinn. Natürlich findet das so nicht statt. Die Komponisten arbeiten nach wie vor in
Serien oder schreiben für dieselbe Besetzung ein zweites Stück und Dinge dieser Art. Aber
streng genommen ist es so, dass jeder Komponist mit jedem neuen Stück gefordert ist, die
Musik neu zu erfinden, weil nicht definiert ist, was Musik ist. Und er muss sie neu definieren
mit jedem Stück. Und das Schärfste dabei ist, dass alle kategorialen Begriffe einheitsbildend
wirken. Also: Wenn das stimmt, dass jeder die Musik neu erfinden muss, dann bedeutet das
aber auch, dass er nicht vereinheitlichende Ideen erfinden muss, die das ganze Ding
zusammen halten, oder sich an vereinheitlichende Ideen anschließen darf wie dem der
Gattung oder der stehenden Besetzung, sondern dass er, ich würde sagen eine
veruneinheitlichende Idee ausdenken muss, die trotz allem, was immer in Musik eine Einheit
herstellt, diese Einheit immer in sich reflektiert und auch in sich aufhebt und in seine
Einzelheiten auseinander nimmt, damit man erkennen kann, aus welchen unterschiedlichen
Partikeln diese Einheiten eigentlich bestehen. Der Sinn des analytischen Denkens ist ja
nicht, alles zu zerstören und auseinander zu nehmen, sondern getrennt zu denken, was
doch nicht zu trennen ist, um dadurch zu erkennen, was das Getrennte zusammen hält, das
getrennt Gedachte vereinheitlicht. Und in diesem Sinne ist zum Gattungsbegriff, wie über alle
anderen vereinheitlichenden Ideen, zu sagen: Wir sind in der absurden Situation (die jedes
Lehrbuch ausschließt), mit jedem Stück eine neue Gattung erfinden zu müssen. Wer die
Musik neu erfindet, erfindet auch die Gattung neu – was unter ordnungspolitischen oder
ordnungskategorialen Bedingungen eine Absurdität ist. Wir müssen lauter individuelle
Gebilde erfinden, die ihre eigene Gattung sind. Es gibt keine zwei Exemplare, die derselben
Gattung angehören. Gattung und Individuum sind dasselbe. Das gibt es nirgends. Daran
kann man erkennen, dass, wenn man ein Biologiebuch aufschlägt, solche
vereinheitlichenden Gedanken wie Klasse, Art, Gattung willkürliche Erfindungen von
Menschen sind. Wie alle Begriffe treffen sie im Kern immer etwas, während sie an den
Rändern verwischen. Sie sind unmöglich zu Ende zu definieren, was eine Tautologie ist.
Definieren heißt: zu Ende bringen. Also sie sind nicht zu Ende zu bringen, sondern es kommt
darauf an, radikal zu denken. Es gilt innerhalb der kategorialen Zuordnungen, die Kategorien
immer auch als abgeschafft oder als überflüssig oder als inexistent zu betrachten – auch
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dann, wenn wir gar nicht anders können, als sie zu gebrauchen, denn wir gebrauchen ja
verständliche Begriffe.“ (Mathias Spahlinger, Gespräch mit dem Autor vom 25.6.2010)
„The medium is the message“
Die Absurdität der Gattungsdiskussion wird offenbar, wenn Bernhard Lang die
geschichtsphilosophische Kategorie des Mediums einbringt. Er zitiert, „heute mehr denn je“,
so Bernhard Lang, Marshal McLuhan: „‘The medium is the message.‘ Ich kann den
Gattungsbegriff vergessen, wenn ich ihn durchs Medium ersetze. Ich kann sagen: ‚Ich habe
in diesem Falle ein historisch definiertes Medium. Das geht vom Instrumentenbau bis zum
Literatur- oder Gattungsbegriff des 18. Jahrhunderts. Noch heute wird doch immer wieder ein
Besetzungsmuster akzeptiert, das es seit Mitte des 18. Jahrhunderts gibt. Da sehe ich schon
das Zitieren einer Gattung; man könnte auch vom Sampling einer Gattung sprechen – aus
einem Kontext heraus– und in neue Kontextualitäten hineingerückt. In dieser Hinsicht gibt es
bei kaum einer anderen Gattung eine so intensive, historisch begründete Dialektik mit der
Geschichte der Besetzung, mit der Geschichte der Instrumentalität und ihrer Spiegelung im
Jetzt. Da ist nach wie vor eine unheimliche Reibungs-, aber auch Bewährungsfläche in
dieser Nacktheit der Textur, die uns da gegenüber steht.“ (Bernhard Lang, Gespräch mit dem Autor vom
30.6.2010)
Georg Nussbaumer bringt den Begriff des Archivs ins Spiel, wenn er den Gattungsbegriff mit
einer Bibliothek vergleicht. „Nonos Streichquartett ist für mich kein Stück, das sich von
Beethoven oder Brahms grundlegend unterscheidet. Hat doch Streichquartett für sich schon
eine Form. Das ist wie ein Buch. Dieses schließt man und schiebt es wieder in ein Regal.
Und dann stehen sie dort, die Bücher. Man erinnert sich: das eine war spannend, das andere
weniger. Immer sind sie ganz verschieden in Form und Inhalt. Aber deren Wesen ist so
stark, dass sich die Gesamtheit zu einem Archiv bindet. Überhaupt gefällt mir der Ausdruck
‚Wesen‘ sehr gut, weil ich das Streichquartett als solches wahrnehme – als so eine Art, eine
Gruppe, ein Rudel von Instrumenten, und dann in zweiter Linie auch von Musikern. Auch als
einen Organismus von verschiedenen Organen, der aus sich heraus funktioniert. Und
gleichzeitig ist es wie die perspektivische Ansicht eines Instruments, das in verschiedenen
Größen auftritt. Es zeigt sich von drei verschiedenen Seiten und in den ganzen Materialien
und Bauteilen; man spricht ja auch von der ‚Seele‘ von Geigen, zum Beispiel; da ist ja auch
sehr viel Organisches und Wesenhaftes zu finden.“ (Nussbaumer, siehe oben)
Falls man nunmehr doch den Versuch unternehmen sollte, nach übergreifenden
Bezugspunkten bzw. Distinktionsmerkmalen innerhalb des Streichquartettschaffens der
letzten zweieinhalb Jahrhunderte zu suchen, dann dürften solche Faktoren am ehesten
konsensfähig sein, die mit Schlagworten wie Wille zur Konzentration, Introspektion, Klarheit,
Balance, Intimität, Skelettierung, Elitarismus, Privatheit, Reduktion, Mystik, Linearität und
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Kontrapunktik umschrieben werden. Während Bernhard Lang beim Streichquartett von einer
„irrationalen Maschinerie“ oder von Haydn bis Nono von einem „Transportmittel von
mystischen Gedanken“ spricht, verweist Walter Zimmermann auf ein weiteres zentrales
Phänomen: jenem der Balance, dem bei der Arbeit am Streichquartett besondere
Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Er bezeichnet das Streichquartett daher nicht von
ungefähr als „Nukleus eines Apparats, der nach allen Seiten hin in Balance zu bringen oder
aus dieser herauszubringen ist“. (Zimmermann, siehe oben) So wie Walter Zimmermann
argumentieren auch Brian Ferneyhough und James Dillon mit dem Begriff der Balance.
James Dillon: „Wir benutzen im Englischen das Wort ‚Gattung‘ auch als Synonym für das
Wort ‚style‘. Dieser Bezug interessiert mich allerdings nicht. Wenn wir hingegen von Gattung
im Sinne von Konventionen in Bezug auf eine spezielle Instrumentation sprechen, dann kann
ich dem bis zu einem bestimmten Ausmaß zustimmen. Die Beziehung von Spieltechniken,
Materialtypen, Balance oder Intonationen, das hat schon eher etwas mit Konventionen zu
tun. Aber das Problem bei Konventionen ist häufig, dass sie Gedanken ersetzen. Von einer
großen Anzahl neuer Quartette kann behauptet werden, dass ein Großteil ihres Materials
unideomatisch ist, weil es in nicht notwendiger Weise der Akustik der Instrumente entspricht.
Konventionen haben für mich ganz stark etwas mit Balance zu tun. Ein extremes Beispiel
diesbezüglich ist das erste Streichquartett von Michael von Biel, ein verrücktes AvantgardeQuartett, bei dem Konventionen – oder nennen wir es Gattungsbezüge – überflüssig
geworden sind. Auch einige Streichquartette von Helmut Lachenmann überbeanspruchen
die Vorstellung von Konvention. Ich zögere, ihn als Beispiel heranzuziehen, weil ich weiß,
wie höchst sensitiv Lachenmann mit dem Gattungsbegriff arbeitet. Aber vielleicht ist Gattung
auch ein zu problematischer Begriff, weil er zu weit gefasst wird.“
(Dillon, siehe oben)
Für Brian
Ferneyhough ist die „gleichbleibende Spannung zwischen den vier gleichbleibenden
Personen“ etwas wie eine Art Sprungbrett. „Es ist eine Art Hilfe, um weiter springen zu
können, als man es bislang erreicht hat. Das ist das Besondere, was ich am Streichquartett
schätze. Ich wundere mich selbst, was da so passiert – auch beim Schreiben meines
Streichquartetts für Donaueschingen, wo es in der zweiten Geige plötzlich durch
gleichbleibende Großterz-Flageoletts zu einem Formbruch kam, den ich so nicht erwartet
hatte. Ich glaube, das ist die besondere Qualität von Streichquartett. Geschichte ist doch
nicht da, dass man nur diese gleichen Formen der Gattung ausprägt, sondern vielmehr, dass
die Unabhängigkeit, die verstärkte Autonomie der Gattung Möglichkeiten bietet, um über sich
selbst zu springen. Und das ist immer so gewesen.“ (Ferneyhough, siehe oben)
Das Nackende
Herangezogen werden müssen für einen Katalog allgemeiner Kriterien für die Gattung
Streichquartett neben den bereits genannten zudem gewiss auch die Faktoren
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Vierstimmigkeit und Homogenität des Streichquartettsatzes, die wie eine „carte blanche“ die
Grundlage für eine Versuchsanordung liefern, auf deren Basis überhaupt erst experimentiert
werden kann. Ist diese sowohl neutrale als auch festgefügte Situation für eine ganze Reihe
von Komponisten explizit die Voraussetzung für eine experimentelle Situation, schließt sie für
Peter Ablinger experimentelles Tun aus. „Für mich“, so Ablinger, „ist das Streichquartett auf
Grund seiner großen Tradition alles andere als ein Laboratorium, weil es als solches schon
eine ganz spezielle Funktion hat. Es fordert einen speziellen Umgang damit heraus. Also:
freies Komponieren von irgendwie ausgedachten Strukturen geht da nicht.“ (Ablinger, siehe oben)
Er musste daher für sein Donaueschinger Streichquartett eine Lösung finden, „die eben
diese Funktion auch thematisiert.“ Die bloße Perpetuierung der Tradition veranlasst Ablinger,
das Bild vom unproduktiven „Ausmalen“ aufzugreifen, während Walter Zimmermann in der
homogenen Voraussetzung des „passiven Klangkörpers“ den Vorteil sieht, dass der
Komponist „Entscheidungen erst einmal abgenommen bekommt. Er hat sozusagen wie ein
Zeichner ein Format vor sich, auf dem er zeichnet, er hat die Bleistifte, die Buntstifte, er kann
andere Gouachen verwenden. Aber: auf diesem Blatt lässt sich keine Ölfarbe auftragen. In
diesem Sinne ist damit schon definiert, was nicht geht. Die physische Materialität der
Instrumente diktiert die Grenzen. Das bedeutet zugleich aber auch, dass der Einzelne viel
mehr gefordert ist, weil er kein Material hat, hinter dem er sich verstecken kann. Das heißt,
der individuelle Duktus der persönlichen Schrift des einzelnen Komponisten ist einfacher
ablesbar.“ (Zimmermann, siehe oben) Auch Georg Nussbaumer bemüht das Bild vom Malen: „Ich
vergleiche Komponieren für Streichquartett mit dem Malen mit einer warmen Farbe, wo nur
die einzelnen Pinselstriche, Farbintensitäten, Geschwindigkeiten von einer einzigen Farbe,
einen ganzen Kosmos eröffnen. Das Bild vom Pinsel ist für mich auch insofern logisch, weil
sowohl der Pinsel mit Haaren agiert als auch die Streichinstrumente und weil beide über
Bewegung funktionieren.“ (Nussbaumer, siehe oben) Wenn Arnulf Herrmann dagegen vom
„Reagenzglas“ spricht, aus dem heraus der Satz sich entwickelt, dann denkt er auch in
Richtung „Experiment: „Es gibt ja auf der anderen Seite auch eine unglaubliche Einfachheit,
weil ich auf bestimmte Mischungsverhältnisse überhaupt nicht achten muss. Ich habe als
Komponist also erstmal eine neutrale Klangfolie. Die Vierstimmigkeit gilt als das dringend
Notwendige, um eine Harmonie zu füllen. Dies ist der Laborsatz, gewissermaßen das
musikalische Reagenzglas, innerhalb dessen man dann kompositorische Ideen entfalten
kann.“ (Herrmann, siehe oben)
So oder so: Seinen experimentellen Anspruch scheint das Streichquartett über die
Jahrhunderte nicht eingebüßt zu haben. Schon Joseph Haydn mag bei seiner Arbeit in der
Gattung insofern „Luft von anderen Planeten“ gefühlt haben, als er darauf verwies, dass er
am meisten schockieren könne, wenn er für Streichquartett schreibe, und dass diese Form
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ihn befähige, seine Phantasie freier laufen zu lassen als in anderen Formen. Georg Friedrich
Haas erwähnt gar expressis verbis den Experimentalcharakter seiner Streichquartette, wenn
er in einer Diskussionsrunde bei den Darmstädter Ferienkursen 2004 in die Diskussion
einbringt: „Wenn ich an meine vier Streichquartette denke, dann gibt es da etwas, was bei
allen gemeinsam ist, nämlich, dass ich das Streichquartett als Experimentalstudio benutze.
Es beginnt mit dem Experiment der umgestimmten Saiten im ersten Streichquartett, geht
weiter mit dem Experiment des Spielens innerhalb einer sehr langen Dauer bei
vollkommener Dunkelheit, wo die Musiker sich nicht nur nicht sehen können, sondern nicht
einmal sich atmen hören, weil sie weit von einander aufgestellt sind. Und es endet beim
vierten Streichquartett mit dem ganz banalen Experiment (das freilich nur eines für mich
ganz persönlich ist), dass ich innerhalb meines Schaffens das erste Mal mit Live-Elektronik
arbeite.“ (Georg Friedrich Haas, aus Diskussion „Streichquartett“, Darmstädter Ferienkurse 2004) Bis heute lebt
Streichquartett – im Vergleich mit anderen Gattungen – weniger von wechselnden Moden als
vielmehr von Geschichte mit Vorlauf und Folgen. Und auch das ist ein
Alleinstellungsmerkmal von Streichquartett: es war nie eine Kunstform, die sich je zum Affen
ihrer Zeit machen ließ. Dabei gibt es so viele Formen, auch in der sogenannten E-Musik, die
seit jeher nichts anderem als der Unterhaltung und der Pflege des schlechten Geschmacks
dienten. Nicht so das Streichquartett.
Wie die Bilder sich gleichen: Nicht nur die Metaphern vom Malen und der Balance wurden
mehrfach beschworen, sondern auch das Bild der „Nacktheit“ des Materials. Wenn Walter
Zimmermann darauf verweist, dass es beim Streichquartett kein Material gibt, „hinter dem
man sich verstecken kann“, dann verweist er direkt auf Carl Maria von Weber, der mit Blick
auf das Streichquartett davon sprach, dass „das rein Vierstimmige das Nackende in der
Tonkunst ist.“ Adorno spricht in diesem Zusammenhang vom „Widerstand gegen das
Expansive und Dekorative“, und Erik Satie nennt das Phänomen „Musique sans sauce“. Und
Bernhard Lang geht noch einen Schritt weiter: „Da ist nach wie vor eine unheimliche
Reibungsfläche, aber auch Bewährungsfläche in dieser Nacktheit der Textur, die uns da
gegenüber steht. Ja, die Nacktheit geht über die Nacktheit hinaus. Sie geht über in das
Skelett. Es ist eine Skelettierung eines Satzes. Sie kann natürlich auch aufgefangen werden,
indem ich in einen Mikrokosmos gehe, indem ich plötzlich beginne, mit dem Mikroskop die
Poren der Skelettknochen zu untersuchen und dort hinein fokussiere. Diese Assoziation
habe ich, wenn ich den ‚Reigen seliger Geister‘ von Helmut Lachenmann höre, wo für mich
ein Mikroskop so lange in ein Knochengerüst hinein zoomt, bis es wieder Landschaften vor
sich sieht.“ (Lang, siehe oben)
Die Formation, die intime Gruppe
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Ein weiteres bestimmendes Merkmal von Streichquartett als Gattung ist die ausgeprägt
soziale Konstituierung der strukturellen Setzung, der Formation und der Spielsituation. Es ist
erstaunlich, dass dieser Aspekt in der aktuellen Gattungsdiskussion nur am Rande eine
Rolle spielt. Erwähnt wurde ja bereits die spezielle Sitzordnung der Spieler, die, wie bei
keinem anderen Kammermusikensemble, den Augenkontakt ermöglicht (besonders deutlich
ausgeprägt durch den Pariser Quartett-Tisch um 1750). Aber auch die Sitzordnung der
Zuhörer um die vier Spieler herum ist Teil des mikrosozialen Systems der Gattung
Streichquartett. Sie zeugt von einer speziellen Konzentration und Intimität, die der Gattung
auf allen Ebenen des Rezeptionsprozesses eigen ist. Das ist, um Bernhard Lang zu zitieren,
„wenn man so will, sozusagen der Kreis um das Quadrat. Diese Quadratstruktur des
Quartetts und die Kreisstruktur des Publikums bilden eine Einheit und thematisieren zudem
Privatheit.“ (Lang, siehe oben) Anders als bei Orchestermusik, die sich in der Aufführungssituation
über eine sich gegenseitig bedingende Doppelmasse Orchester/Publikum konstituiert, haben
wir es beim Streichquartett mithin mit einer in sich geschlossenen Gruppe, einer Einheit von
Spielern und Hörern zu tun, die sich in reinster Form freilich erst in der Hausmusik
dilettierender Quartette zu erkennen gibt.
Bei allen unterschiedlichen Bewertungen, in einem dürfte Übereinstimmung herrschen:
Sozial-psychologische Aspekte scheinen im System Streichquartett eine weitaus wichtigere
Rolle zu spielen als in anderen Systemen. Und auch aus dieser Perspektive betrachtet, wird
es offenkundig, dass das eingangs erwähnte Streichquartett von George Brecht sehr wohl
gattungsimmanent ist. Diese soziale Präsenz betrifft sowohl die Seite der musikalischen
Struktursetzungen als auch die der Interpretationsebene, über die bislang noch nichts gesagt
wurde. Streichquartett ist ja nicht nur eine Gattung, eine Besetzung, eine „irrationale
Klangmaschinerie“, Streichquartett ist darüber hinaus auch eine Lebensform. Jeder, der sich
jemals intensiver mit dem Thema auseinandergesetzt hat, weiß um die Spezifika, die sich
aus und in diesem Gebilde von vier gewissermaßen Tag und Nacht gemeinsam agierenden
Menschen ergeben. Ein wesentliches Element ist zum Beispiel das sehr spezielle Verhältnis
von Homogenität und Individualität, von Individuum und Gruppe. Bei keiner anderen
Gattung, bei keinem anderen Ensemble ist die Grenze so fließend wie beim Streichquartett.
Ist doch Streichquartett die Naht, die das Individuelle mit dem Gemeinsamen verbindet, wo
Individualität ins Kollektiv übergeht. Man kann kaum treffendere Worte als Bernhard Lang
finden, der im Streichquartett „vier Subjekte in höchster Eigenverantwortlichkeit“ sieht, „die
dennoch sehr kantisch denken müssen, sozusagen aus der Vernunft heraus den
gemeinsamen Nutzen definieren, das Tutti definieren, den Kern der Sache gemeinsam
bestimmen.“ (Lang, siehe oben) Auf dieser Ebene bewegt sich auch Brian Ferneyhough, wenn er
im Gegensatz zum Streichquartett das Streichtrio heranzieht. „Das Streichtrio kommt aus der
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Suite, es kommt aus verschiedenen, eher steifen Barockkonstellationen. Und man sieht ja,
dass die Geschichte des Streichtrios im 19. Jahrhundert fast nicht existiert und auch im 20.
Jahrhundert kaum Früchte getragen hat.“ (Ferneyhough, siehe oben)
Wo beginnt das gemeinsame Musizieren? Wie findet man die Balance zwischen emotionaler
Nähe und kollegialer Distanz? Was passiert gruppendynamisch in einer Viererkonstellation?
Das sind Fragen, die sich so nur in Bezug auf das Streichquartett stellen. Karl Josef Pazzini,
der Ehemann der Impresaria Sonia Simmenauer, ein Psychoanalytiker, sprach davon, dass
es sich beim Streichquartett um eine Dyade handeln würde, um eine Gruppe, in der
besonders intensive emotionale Beziehungen herrschen. Deutlicher lässt sich die
Besonderheit der Konstellation kaum ausdrücken. Dabei ist vorstellbar, dass das Verhältnis
der beiden Violinisten im Ensemble dabei noch eine ganz spezielle Form dieser Dyade
darstellt. Irvine Arditti äußert sich in dieser psychologischen Charakterisierung allerdings
eher zurückhaltend: „Ich bin der Psychoanalytiker müde. Ich kann dieser Analyse nicht
zustimmen. Man kann wirklich alles über alles sagen. Nein, ein Streichquartett ist eine
Einheit, die gemeinsam funktioniert. Und sie kann nur funktionieren durch die Kumulation
von vier individuellen Partnern.“ (Irvine Arditti, Gespräch mit dem Autor vom 20.7.2010)
Soziologische und psychologische Untersuchungen haben allerdings ergeben, dass
gruppendynamisch die Viererkonstellation die schwierigsten Bedingungen aufweist.
Entweder es kommt zu Paarbildungen oder aber einer aus der Gruppe wird durch die drei
anderen ausgegrenzt. Je enger die Beziehung, desto explosiver ist sie. Ein
charakteristisches Bild aus Sicht der Komponisten vermag Mathias Spahlinger zu liefern,
dessen Vater professionell in einem Streichquartett mitwirkte: „Bei den Streichquartetten, die
ich aus eigener Anschauung kennen gelernt habe, da brodelt es unter der Oberfläche. Deren
Mitglieder reisen in getrennten Abteilen, in getrennten Zügen, der eine fliegt, der andere reist
mit dem Auto und der nächste mit dem Fahrrad, um sich möglichst nur auf dem Podium zu
begegnen“. (Spahlinger, siehe oben) Es versteht sich von selbst, dass es eine der besonderen
Herausforderungen einer so eng miteinander agierenden Gruppe ist, das Gleichgewicht zu
finden zwischen Privatheit und beruflichem Tun, ob beim Reisen, Proben oder beim
öffentlichen Spiel. Allerdings ist dies heutzutage laut Irvine Arditti längst nicht mehr solch ein
immanentes Problem. Er bestätigt jedenfalls, dass heute auf Grund der neuen Verkehrsmittel
und anderer technischer Errungenschaften längst nicht mehr eine solch andauernde Nähe
aller Beteiligten vorherrscht, wie es noch zu Zeiten des LaSalle- oder des AmadeusQuartetts der Fall war. „Heute fliegen wir mit schnellen Flugzeugen, wodurch es möglich ist,
dass wir beim Reisen längst nicht so viel gemeinschaftliche Zeit aufbringen müssen wie
unsere damaligen Kollegen. Das Amadeus-Quartett verbrachte allein elf bis zwölf Wochen
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on tour. Als ein solches Quartett früher in Amerika auf Achse war, konnte es nicht so schnell
nach Australien kommen. Wir gehen jedes Jahr 3- bis 4-mal auf Tournee, aber keine
Tournee dauert länger als zwei Wochen. Es ist für uns viel einfacher geworden. Wir können
viel Zeit mit unseren Musikerkollegen verbringen und haben immer noch viel Zeit für unsere
Familien und Freunde übrig.“ ( Arditti, siehe oben)
Dennoch: gruppendynamisch ist die Viererkonstellation komplizierter als zum Beispiel ein
Trio. Faszinierend ist, dass sich nach längerer Beschäftigung mit dem Thema endlich die
Frage beantworten lässt: Was ist ein Streichquartett? Ein Streichquartett ist eine
Unternehmensberatungsfirma! Sowohl das JACK Quartet als auch das Quatuor Diotima
berichteten von Quartetten in den USA und in Frankreich, die seit vielen Jahrzehnten
zusammenspielen, und sich auf Unternehmensberatung spezialisiert haben. Sie erklären
ihren „Gesprächspartnern, wie man das Leben zu viert in allen seinen verschiedenen
Aspekten organisieren, und vor allem, wie man die Probleme lösen kann, die sich
unweigerlich bei einem Leben fast ohne Kontakt zur Außenwelt ergeben“. (Diotima, Interview mit
dem Autor vom August 2010)
Damit haben sie großen Erfolg!
So ist es fast immer: „einer von den Vieren“, so Mathias Spahlinger , „außer der ersten
Geige, fühlt sich eigentlich immer als ‚fünftes Rad‘ am Wagen und stört irgendwie die
Gruppendynamik. Ich habe das Gefühl, da ist immer Uneinigkeit. In einer Arbeitsbeziehung
ist eigentlich erst die Dreiergruppierung die erste, die richtig arbeitsfähig ist. Dort werden die
unmittelbaren Beziehungen zweier Menschen dauernd gestört. Immer liegt darin die
Aufforderung, sachlich zu werden und sich nicht an den Beziehungen aufzureiben. Das ist
auch ein Grund, weshalb ich das Streichtrio für sehr interessant halte. Die Viererkonstellation
ist das gestörte Dreiecksverhältnis. Dort kommen immer Unberechenbarkeiten mit hinein, die
weder für die Arbeit gut sind, noch für das Verständnis untereinander.“ (Spahlinger, siehe oben) Dies
entspricht durchaus auch der Erfahrung der Psychologie und der Soziologie, so der Architekt
und Städteplaner Wolfgang Fiel, der bestätigt, dass die Dreierkonstellation in dem Sinne
ideal sei, weil es immer ein ausgleichendes Moment gäbe. „Es gibt keine Pattsituation.
Natürlich gibt es die Gefahr der Ausgrenzung auch in der Dreierkonstellation. Aber
normalerweise ist es dort eher so, dass es wechselnde Mehrheiten gibt. Der Konsens
migriert zwischen den Personen, deswegen ist das die ideale Konstellation. Bei Vieren
kommt schon die Frage ins Visier, was das Ziel dieses Zusammenwirkens ist. Es könnte ja
durchaus auch so sein, dass Gruppen mit dem Ziel zusammenkommen, um prozesshaft zu
arbeiten und die Frage des gemeinsam definierten Ziels etwas an Schärfe verliert, das heißt
nicht mehr unmittelbar im Mittelpunkt der Konstellation steht. Das erleichtert natürlich den
Workflow, wenn man so will, weil durch die Weichheit der Zieldefinition dann auch der Druck
nachlässt, sich in der Form beweisen zu müssen. Es geht ja nicht nur um das Herausfinden
einer gegenseitigen Kompetenzlage, sondern auch um das Unterbeweisstellen, das Stärken
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der eigenen Kompetenz in diesem gruppendynamischen Vorgang. Und je höher der Druck
wird durch die Vorgabe der Zieldefinition, desto eher kann es zu diesen Pattsituationen
kommen. Wobei dann die Frage sich stellt, wer der Vermittler in solch einer Lage ist. Bei
Dreien ist es so, dass einer meist der Vermittler ist. Wer übernimmt also die als Leitfunktion
zu definierende Rolle? Und wie gesagt, diese wechselt sehr gern im Dreierverhältnis. Im
Viererverhältnis kann es sehr gut sein, dass sich diese zementiert und einer übrigbleibt, der
sich konstant in dieser Rolle wiederfindet. In einer Fünferkonstellation übernimmt dann im
Idealfall der Fünfte die Rolle, die in der Dreierkonstellation der Dritte übernommen hat. Hier
kommt jedoch hinzu, dass fünf schon eine etwas kritischere Größenordnung ist, wo es
schwierig sein kann, überhaupt zu Lösungen zu kommen. Aber es gibt im Idealfall auch
wechselnde Mehrheiten. Fünf ist der fließende Übergang zur Massenbildung. Und von da
geht es ganz schnell in Dimensionen, wo erkennbare Clusterbildungen von
Meinungsführerschaft und gruppendynamischen Steuerungsorganen ablesbar werden.
Größere Gruppen haben den Vorteil, dass auf Grund der schieren Anzahl der verbundenen
Kompetenzen die Richtung, die dieser Vorgang einnimmt, schwerer vorhersehbar ist, dafür
aber die schiere Wissensmenge vereint ist, was zu einem besseren Ergebnis führen wird.
Wenn ich von Kompetenzen rede, rede ich nicht von handwerklichem Können, sondern
davon – und das darf bei gruppendynamischen Prozessen nicht vergessen werden –, dass
es um kommunikative Kompetenzen geht. Und das sind schon zwei wesentlich zu
unterscheidende Ebenen im gruppendynamischen Vorgang. Es gibt einerseits die rein
fachliche Kompetenz und andererseits die kommunikative Kompetenz. Diese ist im sozialen
Bereich die klassisch definierte soziale Kompetenz, die jedoch nie demokratisch gleich gut
ausgebildet ist. Die Crux bei dieser Konstellation ist, dass man eben nicht davon ausgehen
kann, dass gleiche Kompetenzen auf fachlicher Ebene ein homogenes Gruppengefüge
ergeben, wenn es darum geht, wirklich gemeinsam zu arbeiten.“ (Wolfgang Fiel, Gespräch mit dem
Autor vom 21.7.2010)
Irvine Arditti versteht seine Aufgabe als Primarius ganz in diesem von Wolfgang Fiel
beschriebenen prozesshaften Sinne. Sein Tun sieht er in der Leitfunktion, einer Rolle, in der
er sich aber auch konstant wiederfinden möchte. Irvine Arditti: „Meine Rolle als Primarius
sehe ich darin, das Ganze zusammenzuhalten. Ich spiele eine übergeordnete Rolle, darf
aber das ganze Geschehen nicht zu sehr dominieren. Der Erfolg eines großen
Streichquartetts wird dadurch gesichert, dass man die Fähigkeit besitzt, aus den Kollegen
etwas herauszukitzeln. Meiner Meinung nach kann das nur erreicht werden, wenn man keine
erhebliche Machtrolle übernimmt. Es ist wie im echten Leben: man muss lernen, mit drei
anderen Kollegen auszukommen. Man verbringt mehr Zeit mit den drei anderen Kollegen als
mit seiner Frau oder anderen Freunden. Damit muss man sich abfinden. Die traditionelle
Rolle des Primarius in der klassischen Musik ist die, dass man die Solomelodien zu spielen
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hat. Früher hatte fast nur der Primarius die schwierigen Stellen. Heute schreiben
Komponisten für alle vier Streicher sehr anspruchsvolle Musik. Meine spezifische Rolle ist
die eines Entsandten. Es gibt einen fast religiösen Aspekt der Primarius-Rolle, obwohl ich
kein religiöser Mensch bin. Ich glaube aber schon an Schicksal. Ich glaube, ich wurde auf die
Erde geschickt, um das Arditti Quartet zu gründen. Mein Interesse für die neue Musik war
kein Zufall. Als Kind habe ich sehr viel Stockhausen gehört. Auch Boulez und Xenakis.
Vielleicht war es mein Schicksal, das Antlitz des Streichquartetts im 20. und 21. Jahrhundert
grundsätzlich zu ändern. Meine Rolle als Primarius ist also ein kleines bisschen anders
geworden. Ich will aber unserem Quartett nicht jedes neue Stück aufs Auge drücken. Das
Repertoire ist lebendig; man muss es aber auch bändigen können. Als Primarius bin ich
mehr der Philosoph. Ich werfe einen Blick in jede Partitur. Von meinen Kollegen erwarte ich,
dass auch sie sich in Sachen Repertoire Gedanken machen und sich an unseren regen
Diskussionen beteiligen. Zusammen schieben wir unser Quartett langsam voran und finden
den richtigen Weg.“ (Arditti, siehe oben)
Während Irvine Arditti in seinem Quartett eine führende Rolle mit eingeschränkter Dominanz
spielt, gehen die beiden anderen nach Donaueschingen eingeladenen Streichquartette von
einem demokratischen Grundmodell des gemeinsamen Agierens aus. Sowohl für das JACK
Quartet als auch für Quatuor Diotima ist es selbstverständlich, dass keiner, auch nicht einer
der beiden Geiger, die Rolle eines Primarius einnimmt. Christopher Otto vom JACK Quartet:
„Es gibt zwei identische Instrumente. Aber die Priorität ist, Mitglied eines Quartetts zu sein.
Die beiden Geiger müssen einen ausgeglichenen Klang bilden und die Beziehung zwischen
uns ist vielleicht etwas heikler als die zwischen Bratsche und Cello. Die Instrumente, die die
zwei tieferen Stimmen spielen, gehören natürlich zu einer ganz anderen Familie, zumindest
was den Klang angeht. Am wichtigsten aber bleibt der Gesamtbogen, eine Art Dach, das
sich über das gesamte Quartett erstreckt.“ (Christopher Otto, Gespräch mit dem Autor vom 26.7.2010) Und
Ari Streisfeld: „Ich glaube, dass die Mentalität eines ersten Geigers die eines musikalischen
Führers ist. Die Idee kommt mir aber sehr altmodisch vor. Wenn wir die renommierten
Streichquartette betrachten, die am Anfang des 20. Jahrhunderts unterwegs waren, fällt auf,
dass die Beziehungen innerhalb des Ensembles ganz anders sind als die, die wir heute zu
pflegen wissen.“ (Ari Streisfeld, Gespräch mit dem Autor vom 26.7.2010)
Homogenität versus Individualität
Übereinstimmend bestätigten nahezu alle befragten Komponisten, dass sich soziopsychologische Momente wie selbstverständlich auch in der musikalischen Struktur
widerspiegeln. Wenn, wie im Falle von Rebecca Saunders, eine Autorin bislang noch kein
Streichquartett in Angriff genommen hat, dann genau aus dem Grund, weil bei ihrem
Komponieren sozio-psychologische Aspekte keine Rolle spielen, weil die gesamte
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musikalische Imaginationskraft ausschließlich auf den Klang ausgerichtet ist. Anders
Bernhard Lang. Er erwähnt ausdrücklich, dass man beim Komponieren eines
Streichquartetts sehr genau aufführungstechnisch mitdenken muss, „wie dieses Gespräch
ausschauen wird. Da sind wir heute fast bei utopischen Ausmaßen angelangt. Das, was das
Arditti Quartet heute spielen kann, grenzt schon ans Unerklärliche. Vom Soziologischen her
untersucht, werden hier Prozesse dargestellt, ja inszeniert, von denen wir noch nicht wissen,
wie sie funktionieren. Ich habe zum wiederholten Male beim Ensemblespiel selbst erlebt,
dass es Synchronitäten gibt, die man nicht erklären kann, wie sie funktionieren. Das ist wie
eine nichtinszenierte Absprache. Man sitzt neben einer Person, schaut sie nicht an, hört, was
sie tut, und ist trotzdem zusammen. Da ist diese merkwürdige Alchemie, wenn man vier
hervorragende Musiker und Musikerinnen zusammenspannt. Das Streichquartett ist ein
merkwürdiges soziales Phänomen, das nur in einem Wachstumsprozess begriffen werden
kann. Da sind vier Psychen, die unter Einsatz ihrer vollen Intellektualität zu einer Zelle
zusammenwachsen. Hier entstehen Kommunikationskanäle, von denen wir in der
Hirnforschung vielleicht in Zukunft erfahren werden, was da eigentlich passiert. Nur, ich
muss es nochmals betonen: ich kann es nicht erklären; dieses nichtdirigierte
Zusammenwirken ist ein Rätsel. Und da ist ja auch ein ganz großer Unterschied zum
Orchester. Das Orchester, das den Feldwebel immer hat und auch braucht, die Masse, die
auch im Negativaspekt zur Masse degradiert wird, diese ist im Streichquartett durch
Selbstorganisation ersetzt. Diese macht das Wunder Streichquartett aus. Eine irrationale
Maschinerie würde ich es nennen. Ein Zusammenwirken von Zahnrädern, die wir nicht
sehen; etwas kaum Erklärbares. Das ist auch nicht mit dem ‚vernünftigen Gespräch‘
erklärbar; das geht über diese diskursive Gesprächskultur weit hinaus. Ich würde sagen,
man könnte es mit einem Gespräch zwischen vier vernünftigen Menschen vergleichen, wo
der wesentliche Text zwischen den Zeilen passiert oder nicht ausgesprochen wird.“ (Lang, siehe
oben)
Mathias Spahlinger verweist auf eine ähnliche Genealogie: „Und gleichzeitig wird in solchen
Sondergattungen wie dem Streichquartett alles aufgehoben, was von vorher übrig geblieben
ist und was ein kultivierter Mensch zu kennen hat: Kontrapunkt und Polyphonie. Und es
kommen neue Dinge hinzu, nämlich die durchbrochene Arbeit, die, wenn man den Bogen bis
in die Gegenwart spannt, sogar schon implizit die absolut durchbrochene Arbeit enthält, in
der die Stimme als Person verschwindet. Also das Streichquartett ist gleichzeitig ein
vierstimmiger Satz aus vier Personen, von denen jede gleichberechtigt Substantielles zu
spielen hat; zudem kann es gleichzeitig auch ein Solist mit dem Begleitensemble sein. Das
bürgerliche Subjekt, die Stimme als Person, setzt sich als Individualist durch und gleichzeitig
als Hierarchie – Solo und Begleitung – und gleichzeitig als die eigene Auflösung, die da
inhärent schon vorhanden ist: die Selbstauflösung des bürgerlichen Subjekts, das an seiner
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Eigenanalyse sozusagen zugrunde geht und nicht nur die ganze Musik in lauter einzelne
Partikel zerlegt oder in einzelne Stimmen, in einen Text, bei dem man von der Fraktur her
unmöglich erkennen kann, wie viele da eigentlich spielen. Es kommt alles gleichzeitig vor:
der Solist, die Hierarchie, die Gleichberechtigung, die Verantwortung eines jeden und die
Selbstzerknirschung oder die Selbstanalyse, die bis zur Selbstaufhebung führt, sowie die
demokratische Vorstellung, dass man auf keinen Einzelnen verzichten kann,
dass nämlich jeder einzelne Ton oder jede einzelne Spielweise – man braucht nur an die
seriellen Organisationsformen zu denken –, dass das, was eigentlich gebunden ist und nur in
seinem Zusammenhang mit anderen wirklich ist, dass der einzelne Parameter, dass dieser
ein eigenes Dasein und eine abgesonderte Freiheit gewinnt, all das ist im Quartett angelegt.“
(Spahlinger, siehe oben)
Auch Wolfgang Rihm lässt sich vom Dualismus Homogenität/Individualität und dem Fließen
der Grenzen zwischen diesen beiden Kategorien, das so nur im Streichquartett anzutreffen
ist, begeistern. Im Trio sei dies längst nicht der Fall, und im Quintett findet sich bereits eine
andere Konstellation. „Das Streichquartett ist noch ein Individuum, aber auch schon ein
Ensemble. Es führt schon ein Gespräch, aber bleibt doch monologisch“, so Wolfgang Rihm
und weiter: „Und das dürfte die Faszination darstellen, dass man als Komponist im Moment
einen Monolog führt, während man zugleich vielstimmig agiert ... Selbstverständlich hat man
im Streichquartett die Möglichkeit, mehrere Beziehungsmodelle durchzuspielen. Man kann
zwei Zweierbeziehungen in Kontakt treten lassen und hat die Möglichkeit, sie permissiv zu
gestalten, so dass die eine Bezogenheit plötzlich in die andere umkippt, so wie es im Leben
auch manchmal ist. Man hat die Möglichkeiten des Einzelnen gegen das klangstärkere
Kollektiv, man hat die Möglichkeit von Soli, die gegen- oder miteinander geführt werden und
innerhalb des Vierersatzes bis hin zur achtstimmigen Immanation.“ (Rihm, siehe oben) Arnulf
Herrmann verweist so wie Mathias Spahlinger auf die Idee von vier gleichberechtigten
Stimmen, die es von Anfang an gab, aber erst im 20. Jahrhundert zur vollen Ausprägung
kommen konnten. „Das ist die Utopie: Ich habe vier gleichwertige Stimmen, die sich
gleichwertig zum Idealbild des harmonischen Satzes verbinden. Die Zahl vier hat ja
unendlich viele Bedeutungen, die im Hintergrund immer mitschwingen. Auch das mächtige
vier Leuten, die miteinander kommunizieren, vermittelt nicht den Eindruck, hier gäbe es eine
führende Stimme. Gewiss, es gibt immer das Problem der zweiten Geige. Aber es ist ja so,
dass die zweite Geige in den höheren Lagen als Verdichtungsinstrument nötig ist. Ich
glaube, das ist der Ursprung dieser Idee gewesen. Es gibt mithin eine akustische Grundlage,
die belegt, dass man die zweite Geigenstimme sehr gut einbauen kann in diesen Satz.“
(Herrmann, siehe oben)
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Damit wären wir schließlich doch wieder beim Klang, der letztendlich die zentrale
Entscheidungskategorie ist. Für Enno Poppe ist beim Komponieren zwar die Vorstellung von
handelnden Personen wichtig, „letztendlich ist aber das, was ich hören möchte,
entscheidend. Was mich an Streichinstrumenten am meisten interessiert, ist die Möglichkeit,
den Ton zu bewegen, weil der Tonort nicht so fixiert ist wie bei anderen Instrumenten –
denken wir an das Klavier oder die Holzbläser. Es gibt bei den Streichern zwischen dem
festgegriffenen Ton und dem über das gesamte Griffbrett rutschenden Glissando, vom
normalen Vibrato bis hin zum komisch eiernden Hin- und Herbewegen eine unfassbare
Menge von Möglichkeiten, den Ton zu gestalten. Was ich aber noch viel interessanter finde,
ist die Zwischenstufe zum Beispiel zwischen zwei Tönen und einem Glissando oder
zwischen einem Ton und einer Figur – mit Hilfe von einem Glissando kann das wirklich
ineinander übergehen. Mit dem Streichinstrument können wir den Grundbaustein der Musik,
den Ton, wie bei keinem anderen Instrument in den Fokus rücken.“ (Poppe, siehe oben) In diesem
Sinne argumentierten im Grunde alle der befragten Komponisten.
Genau das aber wurde im „Atelier Elektronik“ der diesjährigen Darmstädter Ferienkurse in
der abschließenden Diskussionsrunde mit Nachdruck in Frage gestellt. Dort behauptete Orm
Finnendahl mit Blick auf die Streichquartettkonzerte der Sommerkurse: „Die Konzerte mit
dem Arditti Quartet kamen mir ein bisschen ‚oldschool-mäßig‘ vor...Ich habe das Gefühl,
dass das (das Streichquartettspiel Anm. des Verf.) historische Aufführungspraxis ist. Ich
kenne viele Ensemblekonzerte, wo ich dann denke, ‚mein Gott, das geht mich nichts mehr
an‘. Das ist zwar sehr brillant gemacht, aber das ist nicht wirklich ein Diskurs, der mich
wirklich noch interessiert ... Es kann ja auch sein, dass die Menschheit sagt: ‚Technologie ist
sowieso alles Scheiße‘ und dass man dann Orchesterstücke schreibt. Aber ich habe das
Gefühl, dass das ziemlich historisch ist, das ist alles ‚gegessen‘!“(Orm Finnendahl, Diskussionsrunde
Darmstädter Ferienkurse 30.7.2010) Diese
rührend bilderstürmende Naivität mag gerade angesichts
der Tatsache, dass vor 60 Jahren kein geringerer als Karlheinz Stockhausen schon einmal
das Ende der akustischen Instrumente heraufbeschwören wollte, belächelt werden. Wie die
Realität heute aussieht, muss an dieser Stelle nicht beschrieben werden. Es liegt aber auf
der Hand, dass die Gattung „Elektronische Musik“ und die „Königsgattung“ bürgerlicher
Musik, das Streichquartett, wie zwei antipodische Pole in der aktuellen Musiklandschaft
liegen. Auf der anderen Seite kann nicht übersehen werden, dass sich gegenwärtig eine
neue Gattung konstituiert. Deren Instrumentenkombinationen leiten sich nicht mehr – wie bei
Ensemblegründungen der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch üblich – aus der
Frühzeit der musikalischen Moderne her, wie aus Arnold Schönbergs „Erste
Kammersymphonie“ op. 9 oder aus Edgard Varése‘ „Octandre“, sondern basieren in unserer
elektrifizierten und digitalisierten Welt auf einem Mix aus elektronischen Instrumenten, allen
voran Sampler und Interfaces, akustischen Instrumenten, beherrscht von Klavier,
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Schlagzeug und Saxophon sowie elektroakustischen Instrumenten wie E-Gitarren oder EGeigen, denen innerhalb dieser Instrumentenkombination eine Brückenfunktion zwischen
den unterschiedlichen Medien zukommt. Also, die Konkurrenz wächst.
Wir kommen dennoch nicht umhin zu fragen, welchen Stellenwert das Streichquartett
zukünftig im Musikleben noch haben wird. Die dreitausend Quartette, die sich allein in der
Bibliothek von Irvine Arditti befinden, scheinen, zumindest quantitativ, schon einmal eine
deutliche Antwort zu geben. Zumindest für die aktuelle Situation. Sollte diese Kulmination
etwa ein Zeichen sein, dass man gerade dabei ist, sich gemütlich einzurichten? Einrichten im
Haus der europäischen Musik, das die Väter der Moderne ursprünglich grundsätzlich
entrümpeln und auf diese Weise auf neue Füße stellen wollten?
Diese Frage kann ein einzelner Jahrgang der Donaueschinger Musiktage gewiss nicht
beantworten. Das Festival bietet auch in diesem Jahr einmal mehr als Podium aktuellen
Musikdenkens eine Standortbestimmung mit Akzent auf dem Streichquartett. Es stellt auf
diese Weise zuförderst Öffentlichkeit her. Zu diesem Zweck wurde unter dem Titel
QUARDITTIADE eigens eine spezielle Aufführungssituation für den gesamten zweiten
Festivaltag entworfen, bei der drei Streichquartettformationen neue Streichquartette von acht
Komponisten aus sieben Nationen vorstellen. Mit dem Arditti Quartet aus London, Quatuor
Diotima aus Paris und dem JACK Quartet aus New York wurden drei Streichquartette
gewonnen, die drei Generationen und drei unterschiedliche Interpretationskulturen
repräsentieren. Auch in den beiden Orchesterkonzerten finden sich dem Thema
entsprechende Werke. Streichquartett und Orchester – Introversion und Extraversion,
Intimität und Öffentlichkeit: Pascal Dusapin differenziert die beiden erst im 20. Jahrhundert
sich annähernden, antipodischen Strategien in seiner Komposition neu aus. Auch Vinko
Globokar besetzt in seiner Orchesterkomposition neben zwei Solisten vier solistische
Streicher, jedoch nicht im Sinne eines Quartettsatzes, sondern als einen auf vier Spieler
reduzierten Streichersatz. An Georg Nussbaumer erging der Auftrag, die Gattung
Streichquartett klangkünstlerisch aufzuarbeiten. Eine Kulturpraxis des 19. Jahrhunderts
aufgreifend, eröffnet er im Einrichtungshaus Häring mit seinem „Salon Q“ einen Raum mit
Installationen und Situationen, die sich mit den Materialien, den Techniken, der Musik des
Streichquartetts auseinandersetzen und sich während der gesamten Zeit des Festivals
immer wieder zu Aufführungen von Quartetten verdichten.
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