Armut in Deutschland "Mehr Nüchternheit und Faktentreue!" 22.09.2016 In regelmäßigen Abständen werden neue Statistiken über Armut veröffentlicht, die meist für Empörungswellen sorgen. Doch inwiefern sind die Zahlen glaubhaft? Das verrät der Autor des Buches "Armut in Deutschland": Die Armutsrisiko-Quote in Deutschland ist im letzten Jahr nach Information des Statistischen Bundesamtes auf 15,7 Prozent gestiegen. Betroffen sind vor allem Menschen aus Bremen und Berlin. In den neuen Bundesländern hingegen sei die Zahl etwas gesunken. Das ist dennoch kein Grund zum Jubeln: Für ganz Deutschland ist die Armutsquote so hoch wie niemals zuvor seit der Wiedervereinigung. Statistiken über Armut Prof. Dr. Georg Cremer ist Generalsekretär des Caritasverbands. In seinem neuen Buch “Armut in Deutschland” hat er sich mit der Spaltung in der Gesellschaft und den Grenzen des Sozialstaats auseinandergesetzt. Ihm ist es ein besonderes Anliegen, vor falschen Zahlen und Fehlinterpretationen zu warnen. Statistiken erscheinen uns oft als wahr, dabei können sie durch eine falsche Darstellungsweise der Daten oder durch fehlende Informationen den Betrachter in seiner Wahrnehmung manipulieren und einen falschen Eindruck erwecken. Cremer führt dabei als Beispiel die Erfassung der Armut bei den 18- bis 24-Jährigen an. Die Armutsgrenze beträgt weniger als 917 Euro bei Ein-Personen-Haushalten. Darunter fallen auch Auszubildende und Studierende. Diese zu “den Armen” zu rechnen, ist seiner Meinung nach “absurd”. Viel mehr sollte der Fokus auf Personen gerichtet werden, die keine Ausbildung haben und keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Pfleger ohne Tarifverträge zum Beispiel, die tatsächlich zu der gefährdeten Armutsgruppe gehören, tauchen gar nicht in der Statistik auf.” Ich finde, wir sollten weniger auf Statistiken schauen, sondern viel mehr über Risikogruppen reden und darüber, wie wir handeln können. – Prof. Dr. Georg Cremer, Generalsekretär des Caritasverbands “Die Armutsdebatte hilft den Armen nicht” Cremer interessiert sich vor allem für die Art und Weise, wie in der Politik und in der Gesellschaft über Armut gesprochen wird. Vieles an der Debatte sei widersprüchlich. Es ist falsch, die sozialen Missstände anhand der Sozialhilfe zu messen. Dadurch wird die Lage unnötig dramatisiert, denn Deutschlands Wirtschaft sei stabil. Solche Überspitzungen würden nur Populisten in die Hände spielen. Was bedeutet Armut und wie hat sie sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt? Darüber hat detektor.fm-Moderatorin Anna Corves mit Professor Dr. Georg Cremer gesprochen. Er ist Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes e.V. Ausgeschlossen von medizinischer Hilfe: Wie arme Bürger bisher vom Sozialstaat vernachlässigt wurden Recht haben und Recht bekommen Die sozialen Rechte gelten für alle Bürger. Aber das für alle gleiche Recht schafft nicht für alle den gleichen Zugang. Um Recht zu bekommen, muss man seine Rechte kennen. Zur Rechtsdurchsetzung gehört der Rechtsweg. Auch wenn es in Deutschland ein System der Prozesskostenhilfe gibt, sind die Hürden für arme Menschen, den Rechtsweg zu beschreiten, höher. Zu einer wirksamen Armutspolitik gehört ein ausreichendes Netz von niederschwelligen Beratungsstellen. Grundsätzlich gibt es dieses Beratungsnetz, Schuldnerberatungsstellen, Verbraucherzentralen, das Jugendamt. Es gibt unentgeltliche Beratungsangebote von Wohlfahrtsverbänden und Anwaltsvereinen. Auch Behörden beraten im Rahmen ihrer Zuständigkeit. Dieses Netz muss sich darum bemühen, niederschwelliger zu werden. Lange Wartelisten bei den Schuldnerberatungsstellen, beispielsweise, sind für diejenigen eine hohe Hürde, denen es ohnehin schwerfällt, ihren Alltag zu organisieren. Wie dicht das Netz hier geknüpft ist, hängt neben dem politischen Willen vor Ort auch von der Finanzsituation der Kommunen ab. Das Prinzip gleichwertiger Lebensverhältnisse ist dadurch gerade in einem Bereich verletzt, der für die Chancen armer und von Armut bedrohter Menschen essentiell ist. Es ist kein Zufall, dass die sozialen Bedürfnisse, die die breite Mehrheit der Gesellschaft betreffen wie Krankenbehandlung oder Altersvorsorge, über individuelle Rechtsansprüche eindeutig abgesichert sind, dies aber nicht in gleichem Maße für den Bedarf der Menschen gilt, die auf die schiefe Bahn gekommen sind. Die rechtliche Stellung dieser Leistungen und damit auch ihre institutionelle und finanzielle Absicherung zu verbessern, wäre ebenfalls eine dringende Aufgabe der Armutspolitik. "Eine freie Gesellschaft kann auch überfordern" Eine freie Gesellschaft, zu der unverzichtbar die Vertragsfreiheit gehört, kann Menschen überfordern, wenn sie Entscheidungen treffen, die für sie höchst nachteilig sind. Daraus ist kein Plädoyer für paternalistische Bevormundung abzuleiten, wohl aber für Aufklärung und einen angemessenen Verbraucherschutz. Die Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Optionen bietet jedem große Chancen, der gut informiert ist, seine Rechte kennt und das genügende Maß an Selbstsorge aufbringen kann, um sich vor gefährlichen Verlockungen oder gut verpackten ausbeuterischen Angeboten zu schützen. Praktiker der Jugendhilfe berichten, dass es an Finanz- und Konsumkompetenz bei Jugendlichen erheblich mangelt. Dies fängt beim Handy-Vertrag an. Das ist für die besonders nachteilig, die nichts zu verschenken haben. Es gibt eine Reihe von Angeboten von Wohlfahrtsverbänden und Vereinen, die die Finanz- und Konsumkompetenz von Schülern fördern. Aber es sollte auch ohne externe Hilfe zu den Pflichtaufgaben aller Schulen gehören, als Teil des Regelunterrichts alle Schüler mit den erforderlichen Kompetenzen auszustatten. Mangelnde Finanzkompetenz erzeugt oder verfestigt Armutslagen. Menschen am äußersten Rand der Gesellschaft Dass das für alle gleiche Recht nicht für alle den gleichen Zugang schafft, gilt für Menschen am äußersten Rand der Gesellschaft in besonderem Maße. Wie steht es mit Menschen, die auf der Straße leben und damit in einem Zustand harter Entbehrung? Auch sie haben Anspruch auf Krankenversicherung. Dies ist in Deutschland sozialrechtlich eigentlich gut geregelt. Aber in einer normalen Arztpraxis sind sie Fremde aus einer anderen Welt. Sie fürchten die Zurückweisung seitens des Praxispersonals und der anderen Patienten. Ihr Recht auf Behandlung geht so häufig ins Leere. Der Sozialstaat kann sich nicht damit begnügen, die notwendigen Dienste formalrechtlich korrekt für alle anzubieten. Er muss handeln, wenn Hilfebedürftige nicht in der Lage sind, ihre Rechte durchzusetzen, oder Beteiligte im Hilfesystem bewusst oder unbewusst, offen oder latent, so agieren, dass die Inanspruchnahme unterbleibt oder für den Hilfesuchenden sogar unzumutbar wird. Daher ist es notwendig, wohnungslosen Menschen in Spezialambulanzen einen niederschwelligen Zugang zu medizinischen Diensten zu eröffnen und sie von dort, falls nötig, zum Facharzt oder einem Krankenhaus zu vermitteln. Dies mag auf den ersten Blick dem Prinzip der Teilhabe widersprechen. Als Bürgerinnen und Bürger sollten auch wohnungslose Menschen alle öffentlich zugänglichen Einrichtungen diskriminierungsfrei nutzen können und nicht auf Spezialdienste angewiesen sein. Aber Teilhabe als abstrakter Anspruch löst nicht die im faktischen Vollzug gegebenen Zugangsprobleme für Menschen in äußerst prekären Lebenslagen. Allerdings darf der Anspruch nicht aufgegeben werden, dass sie auch das Recht auf Zugang zu den Regelangeboten haben. "Menschen ohne Papiere dürfen nicht ausgeschlossen werden" Ausgeschlossen von vielen existenziellen Diensten sind auch Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität. Der Staat hat im Rahmen der Verfassung und der internationalen Verpflichtungen das Recht, den Aufenthalt von Ausländern in Deutschland zu regeln und auch zu untersagen. Aber dennoch dürfen Menschen ohne Papiere aus humanitären Gründen nicht ohne soziale Rechte sein. Immerhin konnte nach zähem politischen Ringen erreicht werden, dass Kinder in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität regulär zur Schule gehen dürfen und die Schule ihre Identität nicht den Ausländerbehörden preisgeben muss. Der Schulbesuch selbst soll nicht zu einem zusätzlichen Entdeckungsrisiko werden. Aber auch vier Jahre nach der rechtlichen Klarstellung kennen, wie eine Untersuchung der Universität Bremen zeigt, zwei Drittel der Schulen und die Hälfte der Schulbehörden die Rechtslage nicht oder nur ungenügend und eröffnen bei Anfrage keinen gangbaren Weg für die Schulanmeldung "papierloser" Kinder. Dadurch perpetuiert sich ihr Ausschluss von Bildung, der in der Biographie dieser Kinder tiefe Spuren hinterlässt. Eine Armutspolitik, die diesen Namen verdient, muss die Menschen am äußersten Rand im Blick haben. Um sie ist es sonderbar still in der Armutsdebatte, obwohl hier Besserung mit bescheidenen Mitteln möglich wäre, die unsere Solidaritätsbereitschaft nur in geringem Maße forderten. Wohnungslose Menschen, obwohl Bürger dieses Landes mit gleichen Rechten, kommen in den gängigen Datensätzen zur sozialen Lage in Deutschland (aus methodisch nachvollziehbaren Gründen) gar nicht vor. Wir wissen somit über den Umfang und die Entwicklung dieser extremen Form des sozialen Ausschlusses sehr wenig. Ihre Lage muss wenigstens in öffentlicher Verantwortung erfasst werden, als erste Grundlage für bessere Hilfen. Soziale Spaltung der Wahlbeteiligung Die Wahlbeteiligung in Deutschland sinkt. Bei der Bundestagswahl, der Wahl mit der höchsten Wahlbeteiligung, von über 90% in den Jahren 1972 und 1976 auf 72% 2013. Bei den Landtagswahlen ist die Beteiligung im Durchschnitt noch niedriger. Bei einer Reihe von Landtagswahlen der letzten Jahre hat nur noch jeder Zweite von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Zwischen der Wahlbeteiligung der Einkommensgruppen und der sozialen Milieus klafft ein großer Unterschied. Während fast 90% des liberal-intellektuellen Milieus und über 80% der Konservativ-Etablierten der oberen Mittelschicht zur Wahl gehen, sind es unter den sogenannten Prekären und Hedonisten, zwei Milieus, die der Unterschicht und unteren Mittelschicht zugeordnet werden, nur knapp 60% bzw. unter 50%. Die Abgrenzung der Milieus mag im Detail problematisch sein, aber unbestreitbar ist, dass sich bei der Wahlbeteiligung eine soziale Spaltung auftut und die Wahlergebnisse nicht mehr sozial repräsentativ sind. Hier hat niemand eine einfache Lösung. Zur freien Wahl gehört auch die Freiheit, nicht zu wählen. Nicht jeder Nichtwähler muss unzufrieden sein, es gibt auch selbstverschuldetes Desinteresse, bar jeden Bewusstseins dafür, dass man ein Recht ungenutzt lässt, das in einer opfervollen Geschichte erkämpft wurde und für das Menschen in anderen Ländern auch heute ihr Leben riskieren. Aber die schwindende soziale Repräsentanz der Wahlergebnisse kann sich zu einem Legitimitätsproblem der Demokratie entwickeln, möglicherweise ist dieser Punkt bereits erreicht. Nichtwähler begründen ihre Wahlabstinenz nicht mit der Ablehnung des demokratischen Systems, sondern einer ausgeprägten Politik(er)verdrossenheit. Parteien und Politikern fehle die Glaubwürdigkeit, sie seien abgehoben und wenig überzeugend. Solche Begründungen sind ernst zu nehmen, auch wenn sie dazu dienen können, die eigene Verweigerung demokratischer Teilnahme zu legitimieren, oder Erwartungen an die Politik widerspiegeln, die nicht erfüllbar sind. Hinter dem Vorwurf mangelnder Glaubwürdigkeit steht zumindest in Teilen ein demokratieferner Vorbehalt gegen Kompromisse, ohne die ein parlamentarisches System nicht funktionieren kann. "Ein Teil der Wahrheit sind auch politische Versäumnisse" Aber Teil der Wahrheit sind auch politische Versäumnisse, man denke beispielsweise an die lange vernachlässigte Wohnungspolitik oder die weiterhin hohe soziale Selektivität des Bildungssystems. Wer die Debatten über den Sozialstaat mitprägt, sollte zumindest gelegentlich im stillen Kämmerlein die selbstkritische Frage zulassen, ob er nicht eher Teil des Problems statt der Lösung ist, wenn er den Boden seriöser Argumentation verlässt und in empirieferner Weise skandalisiert. Oder wenn er die Politik des Stückwerks als "Klein-Klein" diskreditiert. Ein sich anwaltschaftlich oder links gerierender Sozialpopulismus kann ungewollt dazu beitragen, dem politischen Populismus den Boden zu bereiten. Er befeuert die ohnehin grassierende pauschale Abwertung von Politikern, denen Politikverdrossene wenig oder nichts zutrauen. Die Abwertung der politisch Verantwortlichen gefährdet die Akzeptanz des demokratischen Systems. Eine solche Stimmung kann, wie das Beispiel der zum Hohn so genannten "Alternative für Deutschland" zeigt, Parteien befördern, die bei Licht besehen keine Agenda haben, die soziale Gerechtigkeit fördert. Wenn bereits die Herausforderung der Aufnahme vieler Flüchtlinge in einer Situation wirtschaftlicher Stabilität ihnen hohe Wahlerfolge beschert, was wäre dann zu befürchten, wenn Deutschland in eine schwere Rezession geriete? Die Kräfte in Politik, Medien und Zivilgesellschaft, die die politischen Debatten in starker Weise prägen, tragen Verantwortung für den Erhalt der politischen Kultur. Diesem Anspruch gerecht zu werden, ist angesichts der harten Konkurrenz um öffentliche Aufmerksamkeit schwer geworden. Zu hoffen wäre, dass eine glaubwürdig und hartnäckig verfolgte Politik des Stückwerks, die in konkreten Schritten die Teilhabechancen armer und von Armut bedrohter Menschen zu verbessern und den Sozialstaat stärker auf Befähigungsgerechtigkeit auszurichten vermag, der Tendenz zur Selbstexklusion durch Wahlverweigerung etwas entgegensetzen kann. Jedenfalls wird sie dazu mehr beitragen als Debatten, die in folgenloser Empörung verharren. Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Armut in Deutschland. Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?", erschienen im C.H. Beck Verlag.