Aktuell_am_Landestheater

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Dramaturgie der Gewalt: Die Räuber
Um Schillers erstes Stück hat sich schnell eine ganze Mythologie gebildet, in welcher
die wirklichen Umstände seiner Entstehung und ihre Ausschmückung, Legenden und
Tatsachen, Fakten und Fiktionen, buntgemischt auftreten. Ihren Rahmen gibt immer
(...) das Dasein des studentischen Zöglings in der Stuttgarter Karlsschule ab, welche,
als Militärakademie gegründet gemeinhin als eine Art Zuchthaus beschrieben wird,
die dem nach Freiheit dürstenden Genie nur Reglement und Beschränkung
auferlegte. Dazu passte dann besonders gut, dass die Handlung der Räuber wirklich
voller Ausbruchsphantasien steckt und also direkt mit den Existenzbedingungen ihres
Autors beknüpft scheint. Inzwischen hat sich ein sehr viel gerechteres Bild von der
Hohen Karlsschule zumindest in der Forschung durchgesetzt.
BILDUNG
Wenn auf der einen Seite steifes Zeremoniell und militärische
Umgangsformen den Alltag bestimmten (...) wurde das
Bildungsprogramm doch weitgehend von Lehrern bestimmt, die der
Aufklärung verpflichtet waren. Methoden und Ziele ihrer Erziehung
haben sie selber wiederholt dargestellt, ein Gemisch aus
Humanismus und Aufklärung durchzieht die Reden und
Schulprogramme. Ehrgeiz, Leistung und Nützlichkeit waren die
herrschenden Prinzipien, ausgerichtet auf die praktische
Berufsausbildung und soziale Integration, darauf, wie des der Herzog selber
formulierte, „den Menschen für das Ganze brauchbar zu machen.“ Doch blieb auch
eine andere, der ersten geradezu oft entgegengesetzte Tendenz spürbar und
gewann durch die Neuhumanismus noch an Boden: die möglichst vielseitige
Ausbildung in den Wissenschaften und Künsten, die zentrale Stellung der
Philosophie, die Lehre der antiken Sprachen, die Lektüre der alten Schriftsteller. (...)
Trotz aller Empörung über die ihm vorenthaltende Freiheit war sich Schiller auch der
Anregungen bewusst, die ihm der Unterricht vermittelt hatte, aus Shakespeare war er
von seinem Lehrer Abel hingewiesen worden, dem der darüber hinaus die
Vermittlung der wichtigsten popularphilosophischen Ideen der Zeit verdankte und
wohl auch der Auffassung vom Dichter als schöpferischen Genie bei ihm erstmals
begegnete, dem „Nebenbuhler der schaffenden Gottheit“, die Abel es in einer Rede
über das Genie 1776 formuliert hatte. Größe der Leidenschaften, Enthusiasmus,
Verachtung jeder Kleingeisterei – das waren Stichworte, die Schiller begeistert
aufnahm und die uns auch ein Bild von dem Geistes- und Gemütszustand andeuten,
der unter der Oberfläche militärischer Zucht und Ordnung unter den Schülern
durchaus verbreitet war. (...)
REBELLISCHES STÜCK
Schiller Jugendstück (...) ist gegen eine (Väter-)Welt gerichtet, die, voller Mauern und
Schranken gesellschaftlicher, politischer und kultureller Verfassung, jeder auf Freiheit
und Selbstverwirklichung gerichteten Initiative des bürgerlichen Menschen schier
unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg stellte. Die Räuber sind also ganz
sicher ein rebellisches Stück voll vorrevolutionärer Impulse, in dem es gärt und
brodelt, und das (...) die Unzufriedenheit der jungen Generation bürgerlicher
Intellektueller mit ihren Lebensbedingungen inmitten einer feudal-absolutistisch
bestimmten Umwelt zum Ausdruck brachte. Zum metaphorischen, gleichnishaften
Ausdruck gewiss, der auch dazu geführt hat, dass das Stück heute oft allzu
psychologisch als die dramatische Fabel eines Vater-Sohn-Konflikts gedeutet wird.
DIE URAUFFÜHRUNG
Und die Zeitgenossen haben es schon richtig verstanden, wenn nur etwas an den
Berichten über die spektakuläre Mannheimer Uraufführung unter der Regie des
Herrn von Dalberg stimmt (...) „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen,
geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen fielen
einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, eine Ohnmacht nahe, zur TüreEs war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue
Schöpfung herbeibricht.“
EIN POLITISCHES STÜCK
Ein politische Stück sind die
Räuber schon deswegen, weil
Schiller in ihm ein Kernproblem
der bürgerlichen Widerstands im
feudalabsolutistischen Staat
behandelt: Motivation und
Mechanismus der politischen Tat
sind so eng mit privaten und
egoistischen Zwecken verknüpft,
dass sie scheitern muss und der
Täter selber nur zu der Einsicht
in die Notwendigkeit des
Scheiterns geführt werden kann.
(...)
Als drittes Motiv und eigentlich
handlungsinitiierend kommt Karl
Moors private Enttäuschung
hinzu. Als Opfer einer
undurchschauten Intrige des
Bruders fühlt er sich als
verstoßener Sohn (...) , sein
Rachebedürfnis ist geweckt, und
er schließt sich der zuvor von
Spiegelberg gegründeten
Räuberbande als deren
Hauptmann an. Erst die familiäre
Katastrophe lässt ihn seine
Handlungshemmung
überwinden. Sie bedeutet für ihn
eine so fundamentale Erschütterung, dass damit sein sowieso nicht sehr gefestigtes
Vertrauen in das soziale Kollektiv nachhaltig erschüttert wird. (...)
DIE GEWALT
Den Ton der Gewalt hört man derart gleich von der ersten Szene an, und dieses
Thema ist es auch vorzüglich, wodurch das Stück, obwohl gewiss ein dramatischer
Wildwuchs ohnegleichen, gerade in historischen und politischen Krisenzeiten seine
Aktualität in herausragenden Inszenierungen unter Beweis stellen konnte. (...)
Entstehung, Anwachsen und Entladung von Gewalt, davon handelt das Stück in der
Hauptsache. Gewalt, verursacht durch die hilflose Leichtgläubigkeit des alten Moor;
durch den Glauben, benachteiligt zu sein, bei seinen Söhnen; durch ihre Studienund Lebensmisere bei den Bandenmitgliedern. Nur oberflächlich, durch ihre
wechselnde Drapierung, unterscheiden sich die Erscheinungsweisen der Gewalt. Die
Franz Moors, des intellektuellen Schreibtischtäters und intimen Kenners aller
psychologischen Propagandamechanismen, von der seines Bruders Karl, der sich
zum Rächer einer beleidigten Menschheit ernannt hat, weil er selber beleidigt wurde,
sich als politischer Messias vorkommt und um des einen Lieblingsräubers eine ganze
Stadt vernichtet wie Sodom und Gomorrha – beide agieren ihre Hilflosigkeit mit Hilfe
destruktiver Größenphantasien aus, deren Wahrheit in der kruden Gewalt Hermann
und der Räuberbande erscheint. Kosinsky schließlich findet sich dazu aus politischer
Ohnmacht im engeren Sinne, und im Spiegel seiner Lebensgeschichte erscheint die
Deformation der Motive aller anderen mit um so grausamerer Deutlichkeit. (...)
Der eigentliche Sinn der Räuber, so hatte es Schillers Freund von Hoven gesehen,
bestehe darin, „Darzustellen, wie das Schicksal zu Erreichung guter Zwecke auch auf
den schlimmsten Wegen führe“ – ein Schicksal freilich, das auch in diese, Erstlings
des jungen Schiller schon in der eigenen Brust des Helden wohnte. Die Heterogonie
der von Karl verfolgten Zwecke, die Entstehung neuer, ganz entgegengesetzter
Zwecke aus anderen, vorhergehenden, die ihnen substantiell widerspreche: darin
liegt (um den Schillerschen Ausdruck zu benutzen) das punctum saliens, der
Angelpunkt der inneren wie der äußeren dramatischen Handlung. Das ist eine
paradoxe Konsequenz. Denn der ursprüngliche Zweck bleibt wirksam, aber in
Verfolgung seiner Absicht entstehen andere Zwecke, die sich sogar gegen den
ursprünglichen und auch noch weiter wirkenden richten, ihn desavouieren und
verkehren. Karl Moor erkennt diese Dialektik, und damit beginnt in ihm der Prozess
der Ent-Täuschung, der Detektion, der ihn schließlich in Verzweiflung und
Resignation treibt. (...)
DIE BRÜDER
Sie zeigen die Annährung der
beiden Brüder, die Entdeckung
ihrer Gemeinsamkeit auf vielen
Ebenen, denen der hybriden
Selbstüberhebung und des
abgewehrten
Schuldbewusstseins ebenso
wie denjenigen der politischen
Mittel und der skrupellosen
Preisgabe der Nächsten, ob es
sich um Familie oder
Gefolgsleute handelt. Wie
Franz an anderer Stelle, so
erweist sich Karl zudem in
dieser Szene [ 2. Akt 3. Szene]
als eine Meister der
Täuschung, der das ganze
Kampfgeschehen selbst
inszeniert hat und seine
Mannschaft durch ein
rhetorisch meisterhaftes Stück
Propaganda zur Treue
verpflichtet. Die dichotomische
Entgegensetzung der beiden
Brüder, die die
Wirkungsgeschichte des
Stückes bestimmt und auf
Schillers Selbstinterpretation
zurückgeht, wie also im
Fortschritt der dramatischen
Handlung als Ergebnis jener fatalen Heterogonie der Zwecke aufgehoben. (...)
KARLS ALPTRAUM
Der Gedankengang und die dramatische Entwicklung des Stückes ist am Ende
dieses dritten Aktes ganz ausgeschöpft, alles, was noch folgt, ist der Weg in die
Katastrophe, ist fünfter Akt und tragischer Vollzug. Im Schicksal Kosinskys erblickt
Karl noch einmal seine eigene Geschichte wie in einem unbefleckten Spiegel, fühlt
ganz irreale Hoffnungen in sich aufsteigen (wie wenn Amalia mich immer noch liebte,
mein Vater mich gar nicht verstoßen hätte, ich in meine alten Rechte wiedereintreten
könnte?) – doch der leichtsinnige Wunscherfüllungstraum des Tages wird beim
Versuch seiner Realisierung zum Alptraum aus Nacht und Grauen (...)
Aus: Gert Ueding: Friedrich Schiller, München 1990
Schiller oder
Idealismus
die
Erfindung
des
deutschen
Wann genau Schiller mit der Arbeit an dem Stück begonnen hat, wissen wir nicht (...)
Die Anregung für die „Räuber“ empfing Schiller in jener ersten Phase seiner
dramatischen Versuche.
SCHUBARTS VORLAGE
Es war das Jahr 1775 als der Freund Friedrich von Hoven ihn auf eine von Schubart
mitgeteilte Anekdote im „Schwäbischen Magazin“ hinwies, Schubart erzählt sie mit
der ausdrücklichen Absicht einem Roman- oder Theaterautor Anregung zu eben,
denn, so schreibt er, es müsste endlich beweisen werden, dass sich auch in
Deutschland Menschen finden lassen, „die ihre Leidenschaften haben und handeln;
so gut als ein Franzose oder Brite“. Die Anekdote soll sich tatsächlich zugetragen
haben: Ein Edelmann hat zwei Söhne von ungleichem Charakter. Wilhelm ist fromm,
ehrgeizig, duckmäuserisch,
berechnend und zeigt wenig
Neigung in die Welt hinaus zu
gehen. Carl im Gegenteil ist
unbekümmert, enthusiastisch,
neugierig und impulsiv. Er ist der
Liebling seines Vaters. Während
des Studiums ist Wein und Liebe
seine bevorzugte Beschäftigung.
Er spielt, macht Schulden, gerät in
allerlei Händel und muss bei Nacht
und Nebel die Akademie
verlassen. Er sucht Zuflucht in der
Armee Friedrich des Großen, wird
in einer Schlacht verletzt. Im
Lazarett kommt er zu Sinnen und
beschließt, sein Leben zu ändern.
Er schreibt einen zärtlichen Brief
an den Vater, worin er Reue zeigt
und Besserung verspricht. Der
Bruder aber fängt den Brief ab, uns
so bleibt Carl ohne Antwort. Er
verdingt sich inkognito als Knecht
auf dem väterlichen Landgut. Eines
Tages beim Holzmachen wird er
Zeuge eines Überfalls auf den
Vater, den er durch mutiges
Einschreiten rettet. Anschließend
gibt er sich zu erkennen. Wie sich bald herausstellt, war es Wilhelm, der die Mörder
gedungen hatte, um vorzeitig an das Erbe heranzukommen. Wilhelm wird vom Hof
vertrieben, und Carl wird, als verlorener Sohn und Retter des Vaters, wieder in Ehren
aufgenommen. Schubart beschließt die Erzählung mit einer Bemerkung, die sich der
junge Schiller offenbar zu Herzen
genommen hat: „Wann wird einmal
der Philosoph auftreten, der sich in
die Tiefe des menschlichen
Herzens hinablässt, jede Handlung
bis zur Empfängnis nachspürt,
jeden Winkelzug bemerkt, und
alsdann eine Geschichte des
menschlichen Herzens schreibt,
worin er das trügerische Inkarnat
vom Antlitze des Heuchlers hinweg
wischt, und gegen ihn die Rechte
des offenen Herzens behauptet.“
Schiller übernimmt die
Konstellation und die Charaktere
der beiden Brüder, auch einige
Handlungselemente, Carls
Ausschweifungen an der
Universität, seine Flucht, die Reue,
die Rückkehr zum Vater, die
Aufdeckung der Machenschaften
des Bruders. An der Stelle der
Anekdote aber, wo Wilhelm den
Reuebrief seines Bruders
unterschlägt und Carl, ohne eine
Verzeihung des Vaters erhalten zu
haben, brav sein Unterkommen als
Knecht sucht, genau an dieser Stelle lässt Schiller die Räuberkarriere seines Karl
beginnt, Karl wird anders als der Carl aus der Anekdote zum Rächer des
Menschengeschlechtes. Er kann die Mordtat des Bruders nicht verhindern und
steigert sich hinein in einen Kampf für die „Rechte des offenen Herzens gegen eine
ganze Welt von „Heuchlern“. Schiller gibt den Charakteren der Anekdote einen Zug
ins Monumentale. Das gilt für den Bösewicht Franz ebenso wie für Karl. Gleichwohl,
auch wenn es Monstren sind versucht Schiller, so wie Schubart es gefordert hatte,
sich als „Philosoph“ in die „Tiefe des menschlichen Herzens“ hinabzulassen.
INHALTSANGABE
Das Stück beginnt mit der ersten Untat von Franz Moor. Der unterschlägt nicht nur
den Brief des reuigen Karls, der wegen eines Duells und anderer studentischer
Streiche aus der Akademie verstoßen wurde, sondern schiebt einen anderen
gefälschten unter, worin die Untaten des Bruders noch verschlimmert werden. Der
leichtgläubige Vater verflucht und enterbt den Sohn. Karl, durch diesen Schritt zur
Verzweiflung gebracht, lässt sich von der üblen Gesellschaft, in die er geraten ist,
zum Räuberhauptmann wählen, in welcher Funktion er seine Privaterbitterung gegen
den unzärtlichen Vater in einen Unversalhass gegen das ganze Menschengeschlecht
ausarten lässt. Inzwischen sucht Franz im Hause des Vaters die Herrschaft an sich
zu reißen; er lanciert die Falschmeldung vom Tode des Bruders, versucht Amalia, die
Braut des Bruders, in seine Gewalt zu bringen und lässt den vor Schreck,
Verzweiflung und Reue in Ohnmacht gesunkenen Vater bei lebendigem Leibe
begraben. Karls, seiner räuberischen Existenz überdrüssig und doch durch
Treueschwüre an die Bande gebunden, zieht es zurück ins väterliche Haus, wo er
inkognito auftaucht und mit den Verbrechen seines Bruders und der fortdauernden
Liebe seiner Braut konfrontiert wird. Das Ende ist schrecklich. Franz begeht
Selbstmord; der Vater, der in seinem Grab überlebt hat, stirbt vor Entsetzen, als Karl
sich zu erkennen gibt; Amalia stirbt durch die Hand Karls, der keinen anderen
Ausweg mehr sieht im Konflikt zwischen seiner Liebe für Amalia und der Treue zur
Bande. Durch die Opferung Amalias befreit sich Karl von den Verpflichtungen
gegenüber der Bande und gibt sich dann in die Hände der Justiz.
DIE SELBSTREZENSION
In der Selbstrezension von 1782, verfasst kurz nach der Uraufführung, kritisiert
Schiller die mangelnde Wirklichkeitsnähe seiner Figuren. Sie seien nicht nach der
Natur, sondern nach Lektüreeindrücken entworfen. Der Räuber Karl Moor wie auch
der Bösewicht Franz Moor seinen in Shakespearescher Manier konzipiert, für Karl
seien darüber hinaus Grundzüge dem Plutarch und Cervantes entlehnt worden, und
was die Gestaltung der Amalia betrifft, so sei zu bemerken, dass der Autor zuviel
Klopstock gelesen habe. Unter der Voraussetzung, dass der Verfasser die Menschen
überhüpft hätte, seien aber die Charaktere schließlich doch ganz übereinstimmend
mit sich selbst durchgeführt.
EXPERIMENTALANORDNUNG
Tatsächlich, die Menschen, wie sie üblicherweise und im Durchschnitt sind, werden
überhüpft, um ein Experiment mit Extremen anstellen zu können. Das Stück ist eine
solche Experimentalanordnung für extreme Charaktere, die monströs einseitig aber
folgerichtig das Prinzip ihrer Existenz zur Entfaltung bringen bis hin zu Katastrophe
und insofern tatsächlich übereinstimmend mit sich selbst bleiben.
Karl Moor ist eine verirrte große Seele – ausgerüstet mit allen Gaben zum
Fürtrefflichen und mit allen Gaben verloren, und Franz Moor ist der räsonierende
Bösewicht, der seinen Verstand auf Unkosten seines Herzens verfeinert.
Der Räuber Karl ist Idealist, insofern er mit dem Enthusiasmus seines Herzens an
eine gute, väterliche Weltordnung glaubt, und es bedarf nur einer einzigen
narzisstischen Kränkung, um in ihm die Raserei einer Rache an der zerrütteten
Weltordnung zu wecken.
Franz ist Materialist, die Natur hat ihn schlecht behandelt, warum sollte er an ihre
Güte glauben? Er fühlt sich in ein kaltes Universum geworfen, also wird er mit kaltem
Verstand allein seinem Interesse folgen, das auf Herrschaft gerichtet ist: Ich will alles
um mich her ausrotten, was mich einschränkt dass ich nicht Herr bin.
Der eine rächt sich an einer Welt von der er zuviel erwartet hat; der andere wütet in
einer Welt, von der er nicht hält, und die ihn deshalb zu nichts verpflichtet. Zwei
Extremisten: des entfesselten Idealismus der eine, des hemmungslosen
Materialismus der andere. So sind die „Räuber“ die grandiose Kopfgeburt eines
Mediziners, der mit philosophischen Ideen literarisch experimentiert. Die Räuber sind
aber auch ein Stück mit dem der Autor sich und den anderen beweisen will, dass er
beides vermag: Ideen in eine literarische Gestalt zu bannen und ein Publikum damit
zu bezwingen. (...)
Die Literatur genießt das Privileg, den Extremismus des Menschenmöglichen
vorführen zu dürfen, und Shakespeare wie auch Schiller machen reichlichen
Gebrauch davon. (...)
AFFEKTERREGUNGSKUNST
Schiller gehörte nicht zu denen, die ein Werk schaffen, es der Öffentlichkeit
übergeben und dann gelassen abwarten, was daraus wird. Er operierte stets an der
Front der möglichen Wirkungen. Von dorther, vom Effekt, war seine Arbeit am Werk
bestimmt. Schiller war kein Autor, der von innen kommt. er bewegte sich in der
Gegenrichtung von außen nach innen. Wirkung war ihm alles, dem mussten sich
Ausdrucksgehalt, Machart und Ideengehalt unterordnen. Der Grundsatz „hier stehe
ich, ich kann nicht anders“ galt nicht für ihn. Er konnte anders, wenn es die größere
Wirkung erheischte. Anfangs dachte er, man müsse, um die Wirkung zu erhöhen, mit
der Tür ins Haus fallen; deshalb tritt Franz, was Schiller in der Selbstrezension später
bemängelt, als fertiger Bösewicht auf, hier gibt es keine Entwicklung; Franz räsoniert
über die Gründe seiner Bosheit, sie werden aber nicht vorgeführt. Bei Karl führt
dieses mit der Tür ins Haus sogar zu einem Konstruktionsfehler. In seinem ersten
Monolog zeigt er sich in äußerster Erregung, beschimpft das Kastratenjahrhundert,
redet wie jemand, der bereits mit allem gebrochen hat, obwohl er doch soeben den
Versöhnungsbrief an den Vater geschrieben hat und nun darauf wartet, als
verlorener Sohn vom Vater in milder Liebe wieder aufgenommen zu werden. Auch
wenn es nicht recht zusammenpassen will, so soll es doch eine polternde Wirkung
tun. Das Drama ist für Schiller eine Affekterregungskunst, es kommt alles auf das
virtuose Arrangement der Effekte an, das Theater – eine Maschine zur Herstellung
großer Gefühle.
Aber hat Schiller seine „Räuber“ nicht auch, wie bereits angesprochen, als
Experimentalanordnung für philosophische Ideen verstanden? Gewiss, aber wer
experimentiert, beweist damit, dass er sich die Freiheit auch gegenüber den eigenen
Ideen bewahrt, er probiert sie aus, spielt mit ihnen, testet ihre Wirkung. (...)
Aus: Rüdiger Safranski: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus,
München, Wien 2004
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