Darf der Staat foltern, um Leben zu retten?

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Florian Lamprecht
Darf der Staat foltern, um
Leben zu retten?
Folter im Rechtsstaat zwischen
Recht und Moral
mentis
PADERBORN
EINLEITUNG
Darf der Staat foltern, um Leben zu retten? – Diese in Deutschland bisher
ausschließlich im Rahmen fiktiver Szenarien gestellte Frage hat spätestens seit dem Urteil im Prozess gegen den ehemaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner im Dezember 2004 ihren hypothetischen
Charakter verloren und steht seitdem im Mittelpunkt einer politischen
und wissenschaftlichen Debatte zur so genannten „Rettungsfolter“1. Dass
diese Frage auf ganz unterschiedliche Weise beantwortet wird, zeigen
sowohl die kontroversen Reaktionen auf das Daschner-Urteil in der Öffentlichkeit als auch die zahlreichen durch den Fall angeregten Diskussionsbeiträge zur „Rettungsfolter“ in Juristenkreisen.
Ob der Fall Daschner als Ausgangspunkt einer Diskussion über die
Zulässigkeit und Strafbarkeit polizeilich-präventiver Folterhandlungen
„denkbar ungeeignet“2 oder „in mehrerlei Hinsicht geradezu beispielhaft“3 ist, spielt für die Beantwortung der dieser Studie zugrunde liegenden Ausgangsfrage, wie sie auch im Titel formuliert ist, keine entscheidende Rolle. Schließlich geht es in der Debatte um die „Rettungsfolter“,
und somit auch in der vorliegenden Untersuchung, nicht um die Beurteilung eines konkreten Einzelfalles, sondern darum, ob ein Rechtsstaat in
Ausnahmesituationen grundsätzlich foltern darf, wenn dadurch eine erhebliche drohende Gefahr abgewendet werden kann.
Die Schwierigkeit dieser Frage und die Unterschiedlichkeit ihrer Beantwortung begründen eine Vielzahl von Teilnehmern an der Folter1
Der Begriff der „Rettungsfolter“ entstammt der Mediendiskussion um den Fall Daschner und wird seit geraumer Zeit auch im wissenschaftlichen Diskurs als Synonym
für die älteren Begriffe „Gefahrenabwehrfolter“ und „Präventivfolter“ verwendet. Da
der Terminus aufgrund der euphemistischen Umschreibung des Sachverhalts immer
wieder Gegenstand einer Begriffskritik ist, wird er im Folgenden ausschließlich in
Anführungszeichen verwendet. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird häufig
auch von polizeilich-präventiven Folterhandlungen zur Lebensrettung gesprochen.
2
Hamm 2003: 946.
3
Jerouschek/Kölbel 2003: 613.
Einleitung
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debatte durch die Annahme, dass der Bewertung von „Rettungsfolter“ ein
Konflikt zwischen Recht und Moral zugrunde liege. Dass die Rechtsordnung Folter ausnahmslos verbiete, während sich Folter in extremen
Grenzfällen unter Umständen rechtfertigen lasse, begründet etwa Hilgendorf mit der These, „dass Recht und Moral nicht identisch sind“4.
Die Annahme, dass rechtliche und moralische Normen im Zuge der
Bewertung von „Rettungsfolter“ miteinander kollidieren können bzw.
dass Folter unter besonderen Umständen aus ethischer Perspektive erlaubt oder gar geboten sein kann, während sie das aus juristischer Perspektive nicht ist, soll in der vorliegenden Untersuchung aufgegriffen und
kritisch reflektiert werden. Dabei können folgende drei Fragen unterschieden werden:
−
Wie lässt sich das Verhältnis von Recht und Moral allgemein beschreiben? Das ist die Frage der (Rechts-)Philosophie.
−
Kann aus den geltenden Rechtsnormen wirklich ein absolutes Folterverbot abgeleitet werden? Das ist die Frage der Rechtsdogmatik.
−
Lässt sich Folter in extremen Fällen tatsächlich moralisch rechtfertigen? Das ist die Frage der angewandten bzw. speziellen Ethik.
Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, über die Beantwortung der
drei Fragen zu einer eindeutigen Antwort auf die Ausgangsfrage „Darf
der Staat foltern, um Leben zu retten?“ zu kommen. Ohne die grundsätzliche Möglichkeit internormativer Konflikte auszuschließen, soll die Annahme widerlegt werden, dass der Beurteilung von „Rettungsfolter“ ein
Konflikt zwischen Recht und Moral zugrunde liegt.
Auf der Grundlage der Zielformulierung lautet die forschungsleitende
These also wie folgt: Da die beiden normativen Ordnungssysteme des
Rechts und der Moral zwar verschieden, aber aufeinander bezogen sind,
sollten die juristische und die ethische Bewertung zu ein und demselben
Ergebnis führen, nämlich zur Unzulässigkeit polizeilich-präventiver Folterhandlungen zur Lebensrettung.
Durch die forschungsleitende These wird deutlich, dass die Beurteilung polizeilich-präventiver Folterhandlungen nicht nur eine vielschichtige, sondern vor allem eine interdisziplinäre Herausforderung darstellt,
wie sie auch im Untertitel „Folter im Rechtsstaat zwischen Recht und
Moral“ zum Ausdruck kommt.
4
Hilgendorf 2004: 339.
Einleitung
11
Zur Begründung dieser These wird im Anschluss an ein einführendes
Kapitel zur Aktualität und wissenschaftlichen Herausforderung der Thematik zunächst das besondere Verhältnis von Recht und Moral näher
analysiert. Das entsprechende zweite Kapitel versteht sich als rechtsphilosophisches Grundlagenkapitel, da es über die Verhältnisbestimmung
der beiden normativen Kategorien hinaus zentrale Begriffe der Rechtsund Moralsprache erläutert und damit die terminologischen Voraussetzungen für die beiden folgenden Hauptkapitel schafft. Im dritten Kapitel
wird der juristischen Bewertung polizeilich-präventiver Folterhandlungen
zur Lebensrettung nachgegangen, indem einschlägige Rechtsnormen zur
Klärung der Frage nach der Zulässigkeit und Strafbarkeit von Folter vorgestellt sowie aktuelle rechtswissenschaftliche Argumentationsansätze
zur „Rettungsfolter“ beschrieben und bewertet werden. Das vierte Kapitel
befasst sich mit der ethischen Beurteilung polizeilich-präventiver Folterhandlungen zur Lebensrettung. Neben einer Handlungsanalyse von Folter
werden im Rahmen der ethischen Reflexion zentrale ethische Argumente
der Folterdebatte dargestellt und vor dem Hintergrund einer Kritik klassischer Grundtypen ethischer Argumentation bewertet. Da diesem ethischen Kapitel eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf das formulierte
Ziel der Studie zukommt, ist es das umfangreichste der gesamten Untersuchung. Denn nur wenn die ethische Bewertung von „Rettungsfolter“
mit dem juristischen Urteil übereinstimmt, liegt eine eindeutige Antwort
auf die Frage „Darf der Staat foltern, um Leben zu retten?“ vor, was die
praktischen rechtsethischen bzw. rechtspolitischen Überlegungen zur
Änderung des geltenden Rechts überflüssig macht.
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