Walter Dimter Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick Reclam Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick Von Walter Dimter Beim Theaterpublikum hatte und hat noch immer Zuckmayers Hauptmann von Köpenick von allen seinen Bühnenwerken den größten Erfolg; die Forschung hält es für sein bestes Stück. Die bisherigen Erschließungs-, gar Deutungsversuche hinterlassen jedoch eher einen zwiespältigen Eindruck.1 In der Regel laufen die (nicht übermäßig zahlreichen) Darstellungen, die für literaturwissenschaftliches Interesse von Belang sind, rasch zu ambivalenten bis ausgesprochen kritischen Einschätzungen des Zeitgenossen wie des Künstlers Zuckmayer auf. Walther Killy hat es anlässlich des 80. Geburtstags von Zuckmayer mit Blick auf die herablassenden Artikel in Kindlers Literaturlexikon über den Fröhlichen Weinberg und Des Teufels General auf den noch vielfach gültigen Nenner gebracht: In Wahrheit sagen solche Bewertungen nichts über den Autor und seine Stücke, wohl aber über literarische Mißverständnisse, die in Deutschland unausrottbar scheinen. Als ob das Theater zu allererst Vehikel von Weltanschauung zu sein hätte oder Erziehungsanstalt für ein politisches Bewußtsein, als ob es nicht Leben lebendig vorstellen und sein Publikum nachdenklich unterhalten dürfte. Die Theaterleute freilich waren von solchen Vorurteilen frei und nicht orientiert an den wetterwendischen Konzepten einer Literaturwissenschaft, die ihre Gesinnungszensuren ungefragt mit roter, brauner oder schwarzer Tinte verteilt. Sie waren am Theater interessiert und an den Bombenrollen, die Zuckmayer ermöglichte.2 1 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Walter Dimter Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick Reclam Theaterferne Philologie läuft Gefahr, gerade die unnachahmliche Leistung Zuckmayers, exzellentes Theater geschaffen zu haben, gar nicht in den Blick zu bekommen. Kritischer Eifer muss dabei nicht fürchten, verdrängt zu werden. Das Zusammenspiel von Theatralität und Denkstil etwa offenbart viel facettenreicher die Position Zuckmayers als tagesbestimmte Erregung über rein stoffliche Bestandteile seiner Werke. Im Falle des Köpenick-Stückes deuten schon die entstehungsgeschichtlichen Umstände auf das vorrangige Interesse an der Theatralität des projektierten Werkes. I Nach Auskunft seines Erinnerungsbuches Als wär's ein Stück von mir wollte sich Zuckmayer für die Zuerkennung des »Anregungspreises« der »Heidelberger Festspiele«, den er im Sommer 1929 zusammen mit René Schickele und Max Mell erhalten hatte, mit einem Stück revanchieren, das (wie es die Stifter des Preises insgeheim wünschten) im Schlosshof uraufgeführt werden sollte. Doch das gewählte Eulenspiegel-Sujet »wollte sich mir nicht ergeben«.3 Das vergebliche Bemühen um die Theatralisierung einer vermeintlich lustigen Figur vom Zuschnitt Till Eulenspiegels, der in den ältesten Drucken des 16. Jahrhunderts als unbedenklicher Peiniger und Schamverletzter auftritt und kaum dem harmlosen Schalk späterer Bearbeitungen gleicht, gewährt einen ersten Einblick in die für Zuckmayer praktikablen Gestaltungsmöglichkeiten des Komischen. Zumindest die im 18. Jahrhundert im Traditionsbereich des Wiener Volkstheaters florierende »poetische Kasperle- oder Wurstl-Komödie in gereimten Versen« (S. 453), die Zuckmayer als dramatische Form für seine Eulenspiegel-Adaptation vorgesehen hatte, ließ sich nicht realisieren. Dass das 2 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Walter Dimter Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick Reclam Projekt nicht zustande kam, führt Zuckmayer hauptsächlich auf den mangelnden Gegenwartsbezug der Volksbuch-Figur zurück: Aber der »Eulenspiegel« [. . .] scheiterte, mußte scheitern, an der Diskrepanz zwischen dem Vorwurf des alten Volksbuchs, an das ich mich zu halten versuchte, und der Zeitnähe, dem Gegenwartsgehalt, der lebendigen Wirklichkeit, die ich erstrebte. Ich war schon im Begriff, den ganzen Entwurf wegzuschmeißen und mich an eine Tragikomödie des Vormärz, »Das Hambacher Fest«, zu machen, da wurde mir, mitten im Sommer, die Anregung zu einem Stoff zuteil, an den ich vorher nicht gedacht hatte: der »Hauptmann von Köpenick«. Sie kam von Fritz Kortner, meinem alten Freund, der sich meine Bewunderung und Zuneigung durch nichts verscherzen kann. (S. 454) Die letzte Bemerkung soll von Zuckmayers Seite aus den unerquicklichen Streit versöhnlich beilegen, den Fritz Kortner mit seinem Anspruch auf »das beweisbare Ausmaß meines Anteils am Hauptmann von Köpenick«4 fünfundzwanzig Jahre nach der Uraufführung in einem Brief vom 20. September 1956 vom Zaun gebrochen hatte. Der Vorfall aber, den Kortner Zuckmayer ins Gedächtnis rief, hatte sich am 16. Oktober 1906 zugetragen. Der 56 Jahre alte Schustergehilfe Wilhelm Voigt, der wegen relativ geringfügiger Gaunereien bis dato nahezu dreißig Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hatte, versuchte in einer alten Hauptmanns-Uniform, die er in einem Trödlerladen erworben hatte, seinem arbeitslosen Dasein mittels eines Handstreichs eine entscheidende Wende zu geben. Lakonisch meldete diesen Coup die Tägliche Rundschau am 17. Oktober 1906 so: 3 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Walter Dimter Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick Reclam Ein als Hauptmann verkleideter Mensch führte gestern eine von Tegel kommende Abteilung Soldaten nach dem Köpenicker Ratshaus, ließ den Bürgermeister verhaften, beraubte die Gemeindekasse und fuhr in einer Droschke davon.5 Auch das weitere Schicksal Voigts ist bekannt. Zehn Tage nach seiner Köpenickiade wurde er verhaftet und im Dezember zu vier Jahren Haft verurteilt. Infolge kaiserlicher Begnadigung befand er sich nach zwanzig Monaten wieder auf freiem Fuß. Zunächst zog er durch Deutschland, wobei er vor allem Postkarten mit seinem Autogramm verkaufte. Außerhalb des Kaiserreichs tingelte er auf Kleinkunstbühnen als Hauptmann von Köpenick. 1912 kam er nach Luxemburg, wo er 1922 im Alter von 73 Jahren starb. Lebhaften Absatz fand seine 1909 bei Julius Püttmann (Leipzig/Berlin) erschienene Autobiographie Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde. Im Grunde ist es die in der Täglichen Rundschau anekdotisch verdichtete Meldung, die für Zuckmayer zum endlich sich einstellenden A n l a ß6 des auch von ihm gewünschten Stückes wurde, nicht jedoch dessen F o r m gleich mitbestimmte. Des Autors ausdrücklicher Vermerk im Anschluss an das Personenverzeichnis sowie an die Orts- und Zeitangaben ist zutreffend: »Die tatsächlichen Begebenheiten bilden nur den Anlass zu diesem Stück. Stoff und Gestalten sind völlig frei behandelt.«7 Ebenso wichtig ist für das Verständnis des ausgeführten Bühnenwerks Zuckmayers Hinweis auf seine ästhetische Erziehung als Dramatiker. Und die vollzog sich »in praktischer Theaterarbeit, die einen jungen Stückeschreiber besser erzieht als wenn er Dramaturgie studiert«.8 Theaterfaszination und Stückeschreiben bedingen sich im Fall Zuckmayers unauflöslich. Seine Bühnenwerke bedürfen daher weder einer Dramentheorie noch einer (ihnen vorausgehenden) manifesten Konstruktion (wie spätestens seit der Lehrstücks-Phase bei seinem Freund Bertolt Brecht). Zuckmayers dramatische Praxis erinnert vielmehr an den epischen Modus Thomas Manns. Wie 4 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Walter Dimter Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick Reclam dieser im Krebsgang von der novellistischen Hanno-Begebenheit aus seinen Buddenbrooks-Roman nach rückwärts entwickelte, so fängt für Zuckmayer »das Stück hinten an. Ich muß den Schluß wissen. Dann kann ich die Fabel komponieren, aus dem Verkehr mit den Gestalten heraus.« Und die Fabel bzw. das einzelne »Thema kommt zu mir: entweder aus Anlässen, die mich bewegen und bedrängen, oder eben aus dem Einfall, d. h. der Phantasie. Nie durch Suchen oder Ausdenken.«9 Damit werden zwei tragende Komponenten des Zuckmayer’schen Imaginationstheaters erkennbar: eine gesellig-kommunikative und eine theatralisch-pantomimische. An den Erinnerungen Zuckmayers in Als wär's ein Stück von mir lassen sich diese Modalitäten für den Hauptmann von Köpenick veranschaulichen. Der kommunikativ-gesellige Bestandteil erweist sich dabei (in Abwandlung des berühmten Kleist-Diktums) als allmähliche Verfertigung eines Stückes beim Gespräch; ausgeführt auf ausgedehnten Spaziergängen mit dem Freund Albrecht Joseph. Die theatralische Potenz tritt im Spiel vor Max Reinhardt hervor, bevor das Stück geschrieben ist. Entschlossen, das Stück zu schreiben, machte ich mich von jeder mir vorgeschlagenen Zusammenarbeit frei – Kollaboration und Kollektivwerke haben mir nie gelegen –, auch war klar, daß ich den Stoff nur auf meine Art bewältigen konnte, nicht »die Geißel schwingend«, sondern das Menschenbild beschwörend – und zog mich zur Arbeit ins ländliche Henndorf zurück. Von der ursprünglichen EulenspiegelIdee blieb der Märchengedanke. Eine Geschichte, auch im Komödienton, märchenhaft zu erzählen, schien mir der Weg, sie über den Anlaß hinaus mit überzeitlichem Wahrsinn zu erfüllen. Auf langen Spaziergängen, manchmal von meinem Freund Albrecht Joseph begleitet, mit dem ich alle meine Stückpläne besprach, baute ich mir die Szenenfolge zusammen. Aber als ich Anfang September 5 © 1996, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart.