SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
„Erst einmal gestoppt“– Musik und Zensur (2)
Die Anfänge der systematischen Zensur und erste
Blüten
Von Frieder Reininghaus
Sendung:
Dienstag, 10. Februar 2015
Redaktion:
Norbert Meurs
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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„Erst einmal gestoppt“ – Musik und Zensur
Folge 2: Die Anfänge der systematischen Zensur und erste Blüten
Autor: Musik und Zensur zum zweiten! Die gestrige Musikstunde, liebe
Hörerinnen und Hörer, befaßte sich fürs erste anhand einiger Beispiele aus
der Literatur- und Theatergeschichte von Goethe, Louis Spohr, und
Robert Schumann mit praktischen Folgen der staatlichen Eingriffe, die
jeweils auch die Tonkunst berührten. Heute soll das Augenmerk auf die
Anfänge gerichtet werden – jenen Anfängen, denen zu wehren seitens der
Betroffenen wenig reale Möglichkeiten bestanden.
* * *
[Anfänge der systematischen Zensur]
Unliebsame Meinungen wurden von den Mächtigen bekämpft, seit die
Menschen meinen können. Und sie lernten das dann bekanntlich auf
zunehmend differenziertere Weise – wie das Denken. Nachdem es bereits
in den Jahrhunderten zuvor in Mitteleuropa Ketzerverfolgungen,
Vertreibungen und Hinrichtungen sowohl durch weltliche Herrscher wie
durch örtliche oder regionale Kirchenbehörden gegeben hatte, bedeuteten
die Maßnahmen von Papst Gregor IX. gegen Gedanken-, Glaubens- und
Meinungsfreiheit des Individuums Meilensteine. Kurz nach seinem
Amtsantritt im Jahr 1227 berief er erstmals päpstliche Sonderbeauftragte
zum Kampf gegen die „Ketzer“ – unter ihnen Konrad von Marburg (die bis
dahin für entsprechende Untersuchungen zuständigen Bischöfe waren ihrer
Aufgabe nur mangelhaft nachgekommen). 1231 ist dann ein
Schlüsseldatum: In jenem Jahr führte Gregor IX. die Inquisition als formelle
und tendenziell systematisch arbeitende Institution ein. Vorwiegend
beauftragte der Papst Dominikaner-Mönche. Sie forschten nicht nur Köpfe
und Seelen aus (und brachten diese ggf. auf den Scheiterhaufen), sondern
interessierten sich auch für Schriften, in denen von Zeit zu Zeit Fingerzeige
auf ihrer Meinung nach irrige oder abweichende Lehrmeinungen zu finden
waren. Es war in musikalischer Hinsicht die Zeit der Ars Nova, die dann in
Guillaume de Machaut ihren großen Meister fand.
Musik 2/1: Guillaume de Machaut, „Trop plus“, Ferrara Ensemble
Aufnahme: M0001496 020
Dauer: 2„10“
Einer der traurigen Höhepunkte der Abwehrmaßnahmen einer
reformunwilligen römischen Kirche war 1415 die Verurteilung von Johannes
Hus, des Rektors der Universität Prag und Bibelübersetzers, der sich beim
Konzil in Konstanz der Mehrheitsauffassung widersetzte und entgegen der
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königlichen Garantie für seine persönliche Unversehrtheit aus (theologisch
gerechtfertigten) politischen Gründen verurteilt und verbrannt wurde –
zusammen mit seinen Schriften.
Daß auch die Texte auf den Scheiterhaufen kamen, war eigentlich eine pure
Selbstverständlichkeit. Denn Schriften und Bücher wurden von den
Machthabern, wenn sie ihre Interessen durch sie tangiert sahen, ebenso
bekämpft wie das gesprochene Wort, seit es eben Schriften und Bücher
gibt: Maßnahmen gegen Texte und ihre Verbreitung waren eine Form der
Kontrolle, Gängelung und Verfolgung von wissenschaftlichem Denken und
der „Einrede“ in künstlerische Produktion – eine unter anderen. Die
systematische und grenzüberschreitende Bücherzensur in Europa wurde
dann „in höchster Sorge“ auf Beschluß des zwischen 1512 und 1527
abgehaltenen Fünften Laterankonzils eingeführt. Dies geschah
erklärtermaßen in Abwehr der nordalpinen reformatorischen Schriften.
Seit der Entwicklung des Buchdrucks zu Beginn des 16. Jahrhunderts
nutzten die protestantischen „Ketzer“ das damals neue Medium konsequent
– Martin Luther, seit 1521 von Papst und Kaiser geächtet, war der
Bestseller-Autor des Jahres 1523: Von den 935 Drucken, die im deutschen
Sprachraum erschienen, entfielen knapp 400 – gut 40 % – auf seine
Schriften.
Zu den Arbeiten Luthers aus jenem so produktiven Jahr gehört auch einer
der ersten evangelischen Choräle, geschrieben nach einer Melodie aus dem
15. Jahrhunderts.
Musik 2/2: Choral Nun freut euch, lieben Christen g’mein (Text: Martin Luther nach
einer Melodie aus dem 15. Jhd.; 1. Strophe); Choralbearbeitung J.S.Bach
BWV 734, Murray Perahia, Klavier
Aufnahme: M0004536 003
Dauer: 2„00
Martin Luthers Kirchenlied Nun freut euch, lieben Christen g’mein von
1523, einer der frühesten reformatorischen Exempel der Gattung. Was die
Zensur und die demonstrative Vernichtung von Schrifttum betrifft, das als
gegnerisch angesehen wurde, lernten übrigens die Protestanten gleichfalls
rasch. Sie praktizierten nicht nur ihre Bilderstürme, sondern übten sich auch
im dialektischen Umgang mit förderungs- bzw. verbotswürdigen Texten.
Man denke nur daran, daß der Theologie-Professor Luther den Bruch mit
der Amtskirche 1520 vollzogen, indem er die päpstliche Bann-Bulle
zusammen mit scholastischen Schriften vor dem Elstertor in Wittenberg
verbrannte.
Die protestantischen Obrigkeiten, kaum hatten sie sich landesherrlich
etabliert, liquidierten Autoren abweichender theologischer Auffassungen
mitsamt ihren Werken – beispielsweise den täuferisch orientierten
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Reformator und Liederdichter Felix Manz, den der Rat der Stadt Zürich,
nachdem Beugehaft im Hexenturm nichts fruchtete, 1527 im Zürichsee
ersäufen ließ. Rasch führten auch die neuen evangelischen Herren das
„Imprimatur“ ein, haben es aber keineswegs zu einem über Jahrhunderte so
konsequent geführten Index librorum prohibitorum gebracht wie die Kurie in
Rom. Auch nicht zu jener flächendeckenden Praxis der Autodafés, zu der
die nicht minder übel riechende der Bücherverbrennung gehörte. Die traf
bezeichnenderweise gleich bei den ersten Verfolgungswellen sämtliche
jüdischen Schriften und vernichtete die zuvor in Italien blühende hebräische
Literatur.i
* * *
[Der Fall Galileo Galilei]
Die römische Kirche war zuerst am Zuge und blieb es lange. Der erwähnte
Index, 1559 eingeführt von Papst Paul IV. mit der Bulle Cum ex apostolatus
officio, hatte – wenigstens im Machtbereich der katholischen Kirche, der
allerchristlichen Könige und des römisch-deutschen Kaisers –
Konsequenzen für Leib und Leben der von ihm erfaßten Autoren. Eines der
prominentesten Exempel, das statuiert wurde, war das am Mathematiker
und Astronomen Galileo Galilei.ii
Musik 2/3: William Ward Murta, Starry Messenger (Musical)
CD des Theaters Bielefeld 2004, Take 5 (GVL-frei)
Dauer: 2‟30“
Zu Gehör gelangte eine Nummer aus dem Galileo Galilei gewidmeten
Musical Starry Messenger, das der Kapellmeister und Komponist William
Ward Murta 2004 in Bielefeld herausbrachte.
Zunächst zum Helden dieses flotten Musiktheaters: Der toskanische
Großherzog Cosimo II. de’ Medici ernannte im Jahr 1610 seinen
ehemaligen Lehrer Galileo Galilei zum Hofmathematiker u. -philosophen
sowie zum ersten Mathematikprofessor an der Landesuniversität in Pisa –
einen erklärten Anhänger der Lehren des Arztes, Mathematikers und
Astronomen Nikolaus Kopernikus. Im Jahr darauf verhandelte Galilei mit
Papst Paul V. in Rom wegen der Publikation seiner Erkenntnisse im
Rahmen des kopernikanischen Weltbildes, wurde anschließend von der
Glaubenskongregation allerdings darauf hingewiesen, er befinde sich im
„Irrtum des Glaubens“ und möge „von einer Verbreitung des
kopernikanischen Weltbildes absehen“.
Als der Florentiner Kardinal Maffeo Barberini, ein Jugendfreund Galileis,
ab 1621 als Urban VIII. den Stuhl Petri einnahm, widmete der
Wissenschaftler ihm seinen Saggiatore – eine Polemik gegen Jesuiten, die
die Wissenschaftler gängelten, anläßlich der Erklärung von KometenErscheinungen. Als der Professor aus Pisa drei Jahre später ein weiteres
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mal nach Rom reiste und mehrfach von Urban empfangen wurde, ermutigte
dieser ihn, über das kopernikanische System zu publizieren, dieses jedoch
als Hypothese zu behandeln.
Musik 2/4: William Ward Murta, Starry Messenger (Musical)
Wie Musik 2/3, Take 4, (GVL-frei) Dauer: 3‟45“
Das Verhängnis begann 1630. Mit dem Dialog Galileo Galilei über die zwei
wichtigsten Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanischeiii
erklärt der Wissenschaftler in allgemeinverständlichem Italienisch sein
Relativitätsprinzip und seinen Vorschlag zur Bestimmung der
Lichtgeschwindigkeit.iv Galilei fuhr erneut von Florenz nach Rom, um bei
Papst Urban VIII. und dem für Zensur verantwortlichen Inquisitor Niccolò
Riccardi ein Imprimatur zu erwirken. Er erhielt vorläufige Druckerlaubnis
und gab das Buch in Florenz zum Drucker (es erschien wegen einer
Pestepidemie und aufgrund neuerlicher Einsprüche der römischen
Zentralbehörde erst Februar 1632). Als es auf dem Markt war, wies
Riccardi seine Behörde in Florenz unverzüglich an, die Verbreitung des
Dialogo zu unterbinden.
In der Regel schneidet und kürzt die Zensur – aus der Erwägung, daß, was
gestrichen und getilgt ist, keinen Schaden anrichten kann. In der
tagtäglichen Handhabung zwischen den Behörden und den
Wissenschaftlern und Künstlern bürgert sich allenthalben ein Verhandeln
und Schachern ein – und das fand auch in diesem Fall statt. Denn einerseits
wollen Autoren, Verleger oder Veranstalter ja nicht mit leeren Händen
dastehen, andererseits war und ist ja der Obrigkeit durchaus daran gelegen,
daß sich die Wissenschaft brauchbare Ergebnisse zeitigt bzw. die Leute
sich mit wie auch immer gearteter Kunst und Musik unterhalten und
zerstreuen. Im Fall Galileis forderte die Zensur, daß dem ihr vorgelegten
Text etwas hinzugesetzt wird – eine Schlußbetrachtung aus der Sicht eines
Anhängers des damals kirchlich anerkannten Ptolemäischen Weltbilds. Aber
mit dem, was der Autor des Dialogo dann dazuschrieb, tat er sich keinen
gefallen: er ließ einen Simplicius zu Wort kommen. Und das nahm die
Kirchenspitze als ironische Volte und polemische Attacke wahr.
Der Autor folgte nach Aufhebung der angesichts der Seuche verhängten
Quarantäne einer päpstlichen Vorladung. Der toskanische Großherzog
Cosimo II. de’ Medici gewährt ihm Schutz. Galileo Galilei bekannte bei
einer zweiten Anhörung in Rom Ende April 1634, geirrt zu haben, bereute
und bat um Gnade. Im Prozeß (in der Basilika Santa Maria sopra Minerva)
verurteilen ihn die zehn zuständigen Kardinäle zu lebenslänglicher
Kerkerhaft (nicht zum Tod auf dem Scheiterhaufen – das verhinderte der
alte Freund Urban). Nach Arrest in Rom und Siena durfte Galilei im
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Dezember in seine Villa Gioiella in Arcetri zurückkehren und forschen (z.B.
zur Flugbahn von Geschossen). Lehrtätigkeit und weitere
Buchveröffentlichungen bleiben ihm untersagt.
Dieser „Fall“ und die Biographie des Wissenschaftlers, der stets ein treuer
Sohn seiner Kirche bleiben, einerseits den neuen wissenschaftlichen
Erkenntnissen zum Durchbruch verhelfen aber eben auch überleben wollte,
diente Bertolt Brecht als Vorlage für ein Theaterstück, das seine
europäische Erstaufführung 1943 in Zürich erlebte – im
Wahrnehmungsbereich auch jener Wissenschaftler, die in Nazi-Deutschland
an der Kernforschung und damit an den Vorbereitungen für den Bau einer
deutschen Atombombe arbeiteten. Auch sie waren die Adressaten. Hanns
Eisler schrieb die Bühnenmusik zu Brechts Galileo Galilei.
Musik 2/5: Hanns Eisler, aus der Bühnenmusik zu Bertolt Brechts Galilei;
Ensemble; Leitung: Manfred Rost;
SWR 5612684;
Dauer: 1„00“
So weit, in einer Aufnahme von Radio DDR, ein Ausschnitt aus Hanns
Eislers Bühnenmusik zu Bertolt Brechts Schauspiel Galileo Galilei. In
diesem verabschiedet sich der Titelheld – geschult an Goethes Faust – mit
einem Grundsatzmonolog:v
[„Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit
der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch
selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden; und eure neuen
Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken,
was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der
Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß
werden, daß euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem
universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.]
Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die
Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen können. Hätte ich
widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der
Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit
anzuwenden! Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht
erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können. Ich habe zudem die
Überzeugung gewonnen, [...] daß ich niemals in wirklicher Gefahr schwebte. Einige
Jahre lang war ich ebenso stark wie die Obrigkeit. Und ich überlieferte mein Wissen den
Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu mißbrauchen, ganz wie
es ihren Zwecken diente.“
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Also sprach Brechts Galilei. Dieser moralisierende Lehrtext erhielt, wie
bereits erwähnt, einen musikalischen Rahmen von Hanns Eisler.
Musik 2/6: Hanns Eisler, aus der Bühnenmusik zu Bertolt Brechts Galilei;
Günter Naumann und Ensemble; Leitung: Manfred Rost;;
SWR 5612684;
Dauer: 2„55“
Der Bielefelder Kapellmeister Murta und Hanns Eisler waren keineswegs
die einzigen, die Galileo Galilei mit Musik bedachten. Philip Glass brachte
2002 eine Galilei-Oper in Chicago heraus,vi Michael Jarrell eine weitere,
die sich eng an Brechts Schauspiel-Text anlehnte, 2006 Genf. Doch wir
wollen dieses Kapitel der Zensurgeschichte nicht mit großem Opernton,
sondern mit einer leiseren Galilei-Musik beschließen – mit einem Stück von
und mit Ansgar Dälken für akustische Gitarre, die dem Astronom
zugedacht wurde.
Musik 2/7: Ansgar Dälken, Galileo (akustische Gitarre);
SWR M0013649;
* * *
Dauer: 3‟51”
[Zensur aus persönlicher Ranküne]
Im Jahr 1737 konnte Antonio Vivaldi, nach den Erfolgen der Griselda am
Teatro San Samuele in Venedig und des Tamerlano zum Karneval in
Verona, die Uraufführung seiner (auch heute gelegentlich noch gespielten
Oper) Catone in Utica am dortigen Teatro Filarmonico bewerkstelligen. Er
zog dann offensichtlich in die zum Kirchenstaat gehörende Residenzstadt
Ferrara und engagierte dort auf eigene Kosten das gesamt Personal für
eine neue Musiktheaterproduktion. Nach eigenem Bekunden will er 6.000
Zechinen (heute: ein Millionenbetrag) investiert haben. Kardinal Ruffo, der
Erzbischof von Ferrara, verhängte ein Verbot der projektierten Aufführungen
– weil, wie Vivaldi schrieb, „weil ich Priester bin, ohne Messe zu lesen, und
weil ich eine ‚amicizia‟ mit der Sängerin Girò habe“.
Zensur konnte und kann mithin nicht nur aus Staatsraison ausgeübt werden,
sondern auch aus relativ niedrigen persönlichen Motiven. Das Verbot von
Ferrara ruinierte den Komponisten jedenfalls völlig. Vivaldi war
offensichtlich genötigt, der Pietà in Venedig „una molta portione di concerti“
zu einem Spottpreis zu überlassen, reiste nach Wien, wo er – vergeblich –
neue Aufträge zu akquirieren versucht. Da sein alter Gönner Kaiser Karl VI.
starb und es im Zuge des Österreichischen Erbfolgekriegs zu erheblichen
Sparmaßnahmen kam, zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine
einträgliche Berufstätigkeit. Die Spätfolgen der Total-Zensur von Ferrara
waren, daß man den vordem und nachmals weltberühmten Violinvirtuosen,
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Kapellmeister und Komponisten Antonio Vivaldi, als er 1741 in Wien starb
– eine kleine Tafel am Gebäude der Technischen Universität gegenüber der
Karlskirche erinnert daran – auf einem Armsünderacker begrub.
So blieb – neben der völlig in Vergessenheit geratenen Feraspe – das nach
einem Text von Metastasio komponierte Dramma per musica Catone in
Utica Vivaldis letzte Arbeit für die Opernbühne. Hier die Ouverture –
gespielt von der Chambre du Roy unter Leitung von Jean-Claude Malgoire.
Musik 2/8: Antonio Vivaldi, Catone in Utica, Ouverture; Chambre du Roy,
Jean-Claude Malgoire, SWR 3375239 001
Dauer: 2‟10”
Die Chambre du Roy spielte unter Leitung von Jean-Claude Malgoire die
kurz vor Antonio Vivaldis letztem Umzug nach Wien entstandene
Ouverture zur Oper Catone in Utica.
In Wien bahnte sich unter Kaiser Karl VI., der die Überwachung politischer
Schriften den Regierungsbehörden zuwies (und damit die Macht der Kirche
schmälerte) eine nachhaltige Änderung der Zensurverhältnisse an. Seine
Tochter und Nachfolgerin Maria-Theresia und insbesondere deren Sohn
und Mitregenten Joseph II. entzogen den Jesuiten die Kernkompetenz der
Überwachung des geistigen und künstlerischen Lebens und verstaatlichten
sie. Dies Paradoxon in der Politik der streng katholisch kirchengläubigen
Monarchin verdankte sich der Absicht, eben die fortdauernde unerwünschte
Einrede und die Macht der Jesuiten zu brechen. Darin folgte Maria
Theresia dem Vorbild Frankreichs, wo der absolutistische Zentralstaat des
Sonnenkönigs Louis XIV die Aufsicht über Wissenschaft und Künste längst
an sich gezogen hatte – die Jesuiten waren bereits von seinem Großvater
Henri IV aus Frankreich ausgewiesen worden, nachdem einer ihrer Patres
einen Studenten zu einem Mordanschlag auf den König angestiftet hatte.
Ohnedies waren die Signale hinsichtlich der Handhabung von Zensur in
Europa widersprüchlich. In England wurde bereits 1695 – dies war ein
Novum – im Zuge der Glorreichen Revolution erstmals die Presse-Zensur
abgeschafft. In Preußen war sie noch lange (genau bis Ende 1918) eine
Säule staatlicher Ordnungspolitik. Friedrich Wilhelm I. ließ 1713 alle
Zeitungen verbieten (ein solches Totalverbot ist die weitestgehende
Zensurmaßnahme). Unter seinem Sohn Friedrich II., dem Großen, wurde
die Zensur (ausgenommen die streng kontrollierten Berichte über
militärische Ereignisse und ausländische Botschafter) in der zweiten
Jahrhunderthälfte gelockert, dann (zwei Jahre nach seinem Tod) 1788
wieder in vollem Umfang eingeführt und unter Friedrich Wilhelm III. ein
Jahrzehnt später nochmals verschärft: die Französische Revolution und die
sie vorbereitenden aufklärerischen Gedanken zeitigte diese deutsche
Reaktion.
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Besonders grotesk waren die Restriktionen – und das betraf nun das
Musiktheater besonders – zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Rom und im
Kirchenstaat. Da das Jahr 1700 zu einem – von Schuldbekenntnis, Reue
und Ablaß geprägten – Heiligen Jahr ausgerufen wurde, mußten die
Theater geschlossen bleiben (ausgenommen vom Aufführungsverbot waren
Vorstellungen in geistlichen Seminaren und Kollegien). Papst Clemens XI.
verlängerte dann das Opernverbot um zehn Jahre. Erst 1710 durfte das
Dramma per musica sich wieder am Tiber einnisten. In den Jahren der
unfreiwilligen Abstinenz verlegten sich die Komponisten und Organisatoren
des Musikbetrieb (und ihnen folgend Sänger und Instrumentalisten) auf das
von der Restriktion ausgenommene Melodramma sacro (das sich allerdings
nur ein wenig in der Stoffauswahl, nicht im musikalischen Zuschnitt von der
weltlichen opera seria unterschied).
Die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli hat sich – allerdings unter dem etwas
irreführenden Titel Opera proibita (Verbotene Oper) – an einige jener Werke
erinnert, die damals in Rom Stellvertreter-Funktion einnehmen mußten –
Georg Friedrich Händel hielt sich 1707/08 in der päpstlichen
Residenzstadt auf und komponierte den Umständen entsprechend,
Alessandro Scarlatti stand ihm nicht nach. Und auch Antonio Caldara
machte sich im römischen Musikleben nützlich, bevor er dann 1712 und für
immer als Vize-Hofkapellmeister nach Wien ging.
Musik 2/9: Antonio Caldara, La castità al cimento; Aria di Flavia
Cecilia Bartoli, Les Musiciens du Louvre – Grenoble, Marc Minkowski
CD Decca 475 7029-2, Take5;
Dauer: 2‟58”
* * *
[Werbewirkungen und Nobilitierung durch Zensur]
Cecilia Bartoli, begleitet von Les Musiciens du Louvre – Grenoble unter
Leitung von Marc Minkowski, sang die Aria di Flavia aus La castità al
cimento von Antonio Caldara – aus einem jener Werke, die in den zehn
opernlosen römischen Jahren nach dem Heiligen Jahr 1700 Surrogat für
Operngenüsse bieten sollten.
Die Bewährung auf dem Feld des Melodramma sacro war allerdings für die
damals noch jungen Komponisten Caldara, Händel und Alessandro
Scarlatti nicht unbedingt rufschädigend. Der jüngere Scarlatti wurde in
Anbetracht seiner Kantaten und Oratorien immerhin für einige Zeit
Kapellmeister in Rom, dann auf Vorschlag des Papstes in Neapel zum Ritter
erhoben. Er war ja auch ein Meister seines Metiers.
Musik 2/10: Alessandro Scarlatti, All’arme …; Aria della Pace
wie Musik 2/9 ; Take 1;
Dauer: 2‟38”
10
Cecilia Bartoli sang noch einmal aus einer der Kantaten, die in Rom im
ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wegen der päpstlichen
Verbotsverfügung die veritablen Opern ersetzen mußten.
Generell schlagen ja Verbote und Zensurbestimmungen keineswegs immer
zum längerfristigen Nachteil der Autoren und Künstler aus, mögen sie sogar
beflügeln. Darum wußte auch, wie gestern bereits erwähnt, der alte Goethe,
als er sich für die offensichtlich schlecht verkäuflichen Xenien, die er mit
Freund Schiller auf den Weg gebracht hatte, die Zensur der
metternichschen Behörden in Wien geradezu heraufbeschwor – gleichsam
als Adelsprädikat. Verbote pflegen oft eine gewisse Neugier überhaupt erst
zu wecken.
In der Hauptstadt des römisch-deutschen Reichs wurde 1745 der
niederländische Mediziner Gerard van Swieten von Maria Theresia als
Leibarzt verpflichtet (er und sein Sohn spielten auf Mozarts Lebensweg eine
nicht unerhebliche Rolle). Van Swieten sen. War ein frommer Katholik wie
seine Arbeitgeberin, aber ein entschlossener Gegner der Jesuiten – und vor
allem ein entschlossener Gegner der Jesuiten und ein Mann der exakten
Wissenschaften. Ihm hat Österreich und die Menschheit einiges zu
verdanken – er setzte erstmals das legale Erscheinen anatomischer
Lehrbücher durch, holte etliche kompetente Kollegen nach Wien und
machte sich um die Entwicklung eines Quecksilber-Präparats verdient, das
dann als Liquor switienii in großem Umfang hergestellt wurde. Dies war
angesichts der sich epidemisch ausbreitenden Syphilis auch bitter nötig und
lange Zeit das einzige, das den Infizierten eine längerfristige
Überlebenschance bot (Mozart, der es wohl ohne ausreichenden ärztlichen
Rat anwandte und zu hoch dosierte, wurde es zum Verhängnis; Franz
Schubert hat es das kurze Leben um knapp sieben Jahre verlängert).
Gerard van Swieten bekämpfte die geistliche Zensur in Österreich – er
veranlaßte Maria Theresia zur Gründung einer BücherzensurHofkommission und übernahm die Leitung dieser rein staatlichen Behörde
1759 selbst (er trat dieses Amt später an seinen Sohn ab). Für die
Zulassung einiger Bücher kämpfte er erbittert; viele andere aber ließ er, um
seine Stellung zu halten, verbieten. Z.B. die Werke von Rousseau,
Voltaire, Swift, Macchiavelli, Grimmelshausen, Wieland, Moses
Mendelssohn.vii
* * *
[Verschlüsselung und leiser Trotz]
Parallel zur Verschärfung der preußischen Zensurbestimmungen am Ende
des 18. Jahrhunderts wurde auch in Österreich, unter den Nachfolgern des
großen aufgeklärten Kaisers und Reformators Joseph, Leopold und Franz,
das Rad der Geschichte wieder zurückgedreht. Allerdings hatte Joseph II.
11
das Zugeständnis von Freiheitsrechten für die Kulturschaffenden und
tatsächlich ziemlich freizügigen Theaterverhältnissen mit dem Aufbau einer
effektiven Geheimpolizei kompensiert – und deren Apparat blieb nicht nur
erhalten, als die Zensurbehörden wieder in volle Aktion traten, sondern
wurde noch ausgebaut. Darauf spielte der ein wenig aufmüpfige junge
Franz Schubert an, als er 1815 in einem Brief schrieb: „Übrigens macht
einen alles um uns her ganz verstummen“.
Nun, Schubert verstummte keineswegs. Nur mußte er, nachdem er im
Zusammenhang mit der Verfolgung revolutionärer Umtriebe kurzfristig
inhaftiert worden war, eben lernen, sich mit seinen Mitteln und so
auszudrücken, daß irgendwelche Aktivitäten oder die Intonationen und
Chiffren seiner Kunst ihm nicht neuerlichen Gefängnisaufenthalt, gar
anschließende Verbannung einbringen (wie seinem Freund Johann Senn,
der ja auch einer seiner Textdichter war).
Ziemlich zweifellos kam bei Schubert zu dem aus fortgesetzten
Liebesmalaisen resultierenden Leidensdruck und dem Problem, sich neben
der musikalischen Großmacht Beethoven in Wien als Tonkünstler zu
etablieren, das generelle Dilemma aller tatendurstigen jungen Leute in
repressivem politischem Klima. Spätestens mit den Gedichten von Wilhelm
Müller aber, die er zum Liederzyklus Winterreise fügte, war Schubert in
Kunst der Verschlüsselung gewisser Botschaften bezüglich der Kälte in
Deutschland und Österreich weit fortgeschritten. Obwohl die Müller-Texte
indiziert waren, erklang die Winterreise beim einzigen öffentlichen Konzert,
das Franz Schubert in seinem kurzen Leben bestritt. Er starb, als er gerade
im Begriff war, aus der Nische der Privataufführungen, der „Schubertiaden“,
vors große Publikum zu treten. In diesem Moment mag sich eine Koinzidenz
von persönlicher Lebenserwartung und der zumindest subkutanen Hoffnung
auf einen „Roten Morgen“ eingefunden haben.
Musik 2/11: Franz Schubert, Aus: Winterreise, op. 89 Nr. 18
Der stürmische Morgen; CD von LP Eigelstein LC 6767 ES 3004
Jan Herrmann, Baß; F. Reininghaus, Klavier
Dauer: 0‟53“
i
Bereits 1553 ordnete Papst Julius III. die Verbrennung aller hebräischer Bücher an und vernichtete damit
das zuvor in Italien blühende hebräische Druckwesen.
ii
Galileo Galilei (1564–1642).
iii
Dialogo di Galileo Galilei sopra i due Massimi Sistemi del Mondo Tolemaico e Copernicano.
iv
Die erste präzise Messung gelangt erst Hippolyte Fitzau 1849.
v
Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1967, (Bd. 3, S. 1341).
vi
Text: Mary Zimmerman und Arnold Weinstein; UA im Goodman Theatre Chicago.
vii
Heinrich Hubert Houben, Der ewige Zensor, Kronberg/Ts. 1926, S. 24f.
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