Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – Education 2016/2017 Unterrichtsmaterial zur „Echtzeit“ am 29. Juni 2017 im Herkulessaal der Münchner Residenz Pjotr I. Tschaikowsky: Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13 Winterträume Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Franz Welser-Möst, Dirigent Winterträume Pjotr Iljitsch Tschaikowskys 1. Symphonie im Musikunterricht Einführung Autor: Kilian Sprau Pjotr Iljitsch Tschaikowsky im Alter von 53 Jahren. Gemälde von N Kusnezow, 1893 (Ausschnitt; Quelle: BR) 1 Dieser Reader enthält Abschnitte zu folgenden Themen: ALLGEMEINE HINWEISE............................................................................................................................................. 3 ARBEITSBÖGEN UND HÖRÜBUNGEN ............................................................................................................................ 3 DIE SYMPHONIE ZUM ANHÖREN ................................................................................................................................. 3 ZUM WEITERHÖREN................................................................................................................................................. 3 PJOTR I. TSCHAIKOWSKY: SYMPHONIE NR. 1 G-MOLL WINTERTRÄUME OP. 13 ............................................... 4 DER KOMPONIST: PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY (1840–1893)..................................................................................... 4 SPÄTROMANTISCHE SYMPHONIK: FORM ALS PROBLEM ................................................................................................... 5 TSCHAIKOWSKYS 1. SYMPHONIE: ZUR WERKGESTALT ..................................................................................................... 7 Satzfolge ......................................................................................................................................................... 7 Tonartenplan .................................................................................................................................................. 7 Formmodelle................................................................................................................................................... 8 Besetzung ....................................................................................................................................................... 8 WINTERTRÄUME: POETISCHE IMPLIKATIONEN DES WERKTITELS ........................................................................................ 9 AUFGABEN ..................................................................................................................................................... 11 STIMMUNG – AUSDRUCK – ‚POESIE‘ ......................................................................................................................... 11 Selbst kreativ werden (1): Ein Bild malen ..................................................................................................... 11 Selbst kreativ werden (2): Eine kurze Geschichte erfinden ........................................................................... 12 Klang und Bild: Der Musik ein Gemälde/Foto zuordnen ............................................................................... 12 Klang und Bild: Einer Geschichte Musik zuordnen ........................................................................................ 15 MITSPIELSATZ ....................................................................................................................................................... 16 DER 1. SATZ: DREI ‚THEMEN‘ UND IHRE ENTWICKLUNG ................................................................................................ 17 DER 2. SATZ: MEISTERHAFTE INSTRUMENTATION ........................................................................................................ 18 DER 4. SATZ: DRAMATISCHE STEIGERUNGEN .............................................................................................................. 18 ANHANG ........................................................................................................................................................ 19 1. 2. 3. 4. Abbildungsnachweis ............................................................................................................................ 19 Partitur................................................................................................................................................. 19 Aufnahme: ........................................................................................................................................... 19 Literatur ............................................................................................................................................... 19 2 Allgemeine Hinweise Die folgenden Seiten bieten, aus Anlass der Echtzeit 2016/17 des Bayerischen Rundfunks, Anregungen dafür, Schülerinnen und Schüler auf ein musikalisches Live-Erlebnis vorzubereiten. Im Fokus steht ein Werk des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: seine 1. Symphonie gMoll op. 13, die den Untertitel Winterträume trägt. In der Echtzeit am 29. Mai 2017 erklingen der erste, zweite und vierte Satz. Der Reader bietet Einführungen in unterschiedliche Aspekte des Werks sowie Vorschläge zu ihrer Behandlung im schulischen Musikunterricht. Der Anhang informiert über die verwendeten Quellen. Arbeitsbögen und Hörübungen Zum Reader gehören auch mehrere separate Powerpoint-Dokumente. Sie enthalten Gestaltungs-, Hör- und Mitspielaufgaben zu Ausschnitten des Werks, die im Echtzeit-Konzert am 24. Mai aufgeführt werden. Die Symphonie zum Anhören Folgender Link führt zu einer Aufnahme des Werks in einer Einspielung mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Riccardo Muti: http://www.br-so.de/education/schueler-und-lehrer/echtzeit/ Zum Weiterhören Christiane Neukirch, Russischer Romantiker europäischer Prägung, BR radioWissen. http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/tschaikowsky-romantik-europa-100.html 3 Pjotr I. Tschaikowsky: Symphonie Nr. 1 g-Moll Winterträume op. 13 Der Komponist: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893) Seine Musik ist Ausdruck eines ästhetisch-kulturellen Grenzgangs. Einerseits war Pjotr (Peter) Tschaikowsky der Star unter den russischen Komponisten des 19. Jahrhunderts: Er selbst identifizierte sich zutiefst mit der Kultur seiner Nation, integrierte etwa die Klänge heimischer Folklore in seine Musiksprache oder imitierte sie authentisch. Bereits früh wurde dieser ‚nationale‘ Charakter seiner Musik wahrgenommen: Über Tschaikowskys 1. Symphonie etwa, die im Mittelpunkt dieses Readers steht, schrieb ein Kritiker: „Das ist eine wirklich russische Sinfonie. In jedem Takt dieser Musik spürt man, daß so etwas nur ein Russe schreiben konnte.“1 Bei Tschaikowskys Tod, der ihn bereits mit 53 Jahren ereilte, galt der Komponist in seiner Heimat als „nationaler Heros“, sein Begräbnis war ein Staatsereignis, das aus der persönlichen Kasse des Zaren finanziert wurde.2 Unter den Vertretern nationaler Schulen des 19. Jahrhunderts war Tschaikowsky der erste Russe, dessen Musik es zu nachhaltigem Weltruhm brachte, dokumentiert u.a. durch sein gefeiertes Auftreten als Dirigent eigener Werke bei der Eröffnung der New Yorker Carnegie Hall (1891) und einen Ehrendoktor der Universität Cambridge (1893). Bei seinen zahlreichen Auslandsreisen wurde er als musikalischer Botschafter seiner Heimat verstanden, und dieser Auffassung kam entgegen, dass man seine Musik einerseits zwar als durchaus speziell und exotisch wahrnahm, andererseits jedoch auch als ‚anschlussfähig‘, als mit den Gepflogenheiten der mitteleuropäischen Musikkultur vereinbar. Anders als etwa die Vertreter des sogenannten ‚Mächtigen Häufleins‘, eines Zusammenschlusses von fünf St. Petersburger Komponisten, deren ästhetisches Credo jeden westlichen Einfluss auf die russische Musikkultur strikt ablehnte, war Tschaikowsky Schüler des Anfang der 1860er Jahre gegründeten Petersburger Konservatoriums gewesen; dort hatte er eine professionelle Musikerausbildung nach westlichem Vorbild erhalten. Die Gattungen, die er in seinen Werken bediente – etwa die Symphonie, das Solokonzert, das Kunstlied und das Streichquartett – suchten erkennbar den Anschluss an die mitteleuropäische Tradition. ‚Experimentellen‘, quasi avantgardistischen Tendenzen, wie sie etwa den drastischen Naturalismus seines bedeutenden Zeitgenossen Modest Mussorgskij prägen, findet man in Tschaikowskys Werk nicht. Gerade dieser gewissermaßen zwischen ‚West und Ost‘ vermittelnde Charakter brachte seinem Œuvre aber auch Kritik im eigenen Lande ein. Gewissen Mitgliedern des Petersburger ‚Häufleins‘ ging sein Russizismus nicht weit genug; ihnen galt Tschaikowsky als talentloser „Konservatoriumskomponist“, dessen Phantasie von den „Fesseln“3 seiner europäischen Ausbildung gehemmt werde. Andererseits war manchem mitteleuropäischen Kritiker noch immer zuviel des vermeintlich ‚Wilden‘, ‚Unzivilisierten‘ in Tschaikowskys Musik. Der Wiener Kritikerpapst Eduard Hanslick etwa, Freund und Fürsprecher von Johannes Brahms und Sprachrohr einer klassizistischen Ästhetik, stand Tschaikowskys Violinkonzert, dessen Uraufführung er rezensierte, verständnislos gegenüber.4 Den Siegeszug von dessen Œuvre im In- und Ausland konnten solche teils ideologisch motivierte Ressentiments allerdings nicht aufhalten. Ein gar nicht so geringer Ausschnitt aus seinem 1 G. Laroš, zitiert nach Pribegina, S. 31. Kohlhase, Sp. 1601 (Zitat) und 1603. Zum folgenden Absatz vgl. ebenfalls den Artikel von Kohlhase. 3 So der Komponist César Cui, Mitglied des ‚Mächtigen Häufleins‘, in einer Zeitungskritik, zitiert nach Pribegina, S. 16. 4 Vgl. Pribegina, S. 124. 2 4 Gesamtwerk zählt noch heute zu den ‚Evergreens‘ der klassischen Musik, darunter seine Ballette Schwanensee und Nussknacker, seine Symphonien Nr. 4 f-Moll, Nr. 5 e-Moll und Nr. 6 h-Moll (Pathétique), das brillante Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll, das nicht weniger virtuose Violinkonzert DDur, die Oper Eugen Onegin und die nicht zuletzt durchs Kino ins kollektive Unterbewusste abgesunkene Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia. Freilich harren zahlreiche Werke noch immer ihrer Entdeckung gerade durch das westliche Publikum, allen voran die über einhundert Lieder, die vielfach durch unwiderstehliche melodische Schönheit bestechen, deren umfängliche Rezeption allerdings die Sprachbarriere erschwert. Spätromantische Symphonik: Form als Problem Wenn sich ein Komponist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür entschied, Symphonien zu schreiben, so bedeutete dies eine ästhetische Stellungnahme. In Deutschland, einem der Zentren der musikalischen Entwicklung Mitteleuropas, die von russischen Komponisten hellhörig zur Kenntnis genommen wurde, tobte zu der Zeit, in der Tschaikowsky sich den Weg zur kompositorischen Reife bahnte, der ästhetische Streit zwischen den sogenannten ‚Neudeutschen‘ und den sogenannten ‚Konservativen‘. Als einer der wichtigsten Zankäpfel dieses Parteienkonflikts galt die zukünftige Entwicklung der Symphonie. Die ‚Neudeutschen‘ scharten sich um die Komponisten-Trias Richard Wagner, Franz Liszt und Hector Berlioz. Sie propagierten die von Liszt etablierte Form der einsätzigen Symphonischen Dichtung, deren künstlerische Geschlossenheit sich durch den Bezug zu einem außermusikalischen Programm ergab, etwa einer Geschichte oder Ereignisfolge, die es auf musikalische Weise umzusetzen galt. Ihnen erschien die alte, aus der Wiener Klassik stammende viersätzige Form der Symphonie überholt. Die ‚Konservativen‘ hingegen verlangten in der Nachfolge Mendelssohns und Schumanns, gerade die traditionelle viersätzige Form müsse beibehalten und mit neuem Geist erfüllt werden; der ‚neudeutschen‘ Idee der Programmmusik hielten sie die Vorstellung einer ‚absoluten‘ Musik entgegen, die ihren Kunstwert gerade nicht durch einen außermusikalischen Bezug, sondern durch innere, rein musikalische Stringenz erlangte. Beide Parteien glaubten auf ihre Weise das Erbe der Beethovenschen Symphonik anzutreten. Pjotr Tschaikowsky war von Wagner, insbesondere seiner Orchesterbehandlung und Instrumentationstechnik, beeindruckt.5 Die von Liszt inaugurierte Gattung der einsätzigen Symphonischen Dichtung schätzte er, und er schuf hochbedeutende bzw. erfolgreiche Werke dieser Art, obgleich er sie nicht so nannte, sondern beim älteren Terminus Ouvertüre (Fantasie-Ouvertüre Romeo und Julia; Festouvertüre 1812) blieb oder von Orchesterfantasie (Francesca da Rimini) sprach. Andererseits aber war Tschaikowsky ja bestrebt, die russische Musik an die große Tradition der mitteleuropäischen Musikkultur anzuknüpfen; eine radikale Absetzungsbewegung von Aspekten dieser Tradition, wie sie für die ‚neudeutsche‘ Ästhetik bestimmend war, kam für ihn daher nicht in Frage. Und so stellte er sich früh der Herausforderung, auf seine Weise die Gattungsgeschichte der viersätzigen Symphonie fortzuschreiben. Seine ‚poetische‘ Auffassung von Musik, die auf Schumann verweist (siehe unten den Abschnitt Winterträume: Poetische Implikationen des Werktitels), erlaubte ihm dabei, programmmusik-artige Aspekte in seine Symphonien zu integrieren. Anders ausgedrückt: Tschaikowsky „unterscheidet […] nicht grundsätzlich zwischen absoluter Musik und Programmmusik.“6 Das Anknüpfen an die Tradition der viersätzigen symphonischen Form freilich war für Komponisten des späteren 19. Jahrhunderts kein einfaches Unterfangen mehr. Die Welt der Wiener Klassik, in der die Symphonie als mehrsätzige Form ihren Ursprung hat, war zu einer fernen Vergangenheit jenseits 5 6 Vgl. Kohlhase, Sp. 1597; Pribegina 25. Kohlhase, Sp. 1643. 5 der unmittelbaren kompositorischen Lebenswelt geschwunden. Es ist eine Welt, in der die Idee der ‚thematischen Arbeit‘ noch nicht das Gewicht hatte, das man ihr später, im 19. und 20. Jahrhundert, beigemessen hat. Die Sonatenhauptsatzform etwa, die dem Kopfsatz einer traditionellen Symphonie zu Grunde liegt, ist ursprünglich hauptsächlich von einem übergeordneten harmonischen Prinzip bestimmt: dem Gang von der Ausgangstonart in die Dominanttonart und wieder zurück (in Mollwerken wird häufig die Paralleltonart angesteuert). Es ist ein verhältnismäßig einfaches Prinzip, das sich aus der barocken Suitensatzform herleitet. Wenn Komponisten wie Haydn und Mozart in ihren Sonatenhauptsätzen zusätzlich musikalische ‚Themen‘ auftreten ließen, die sie im Satzverlauf ‚verarbeiteten‘, so geschah dies gewissermaßen an der kompositorischen Oberfläche: Der formale Zusammenhalt des Sonatenhauptsatzes wurde auf anderer Ebene, von der harmonischen MakroFortschreitung Tonika-Dominante-Tonika gewährleistet. Die Harmonik bildete somit die Substanz der Sonatenhauptsatzform. Noch Mendelssohn, ausgebildet vom Beethoven-Zeitgenossen Carl F. Zelter, war als Heranwachsender ganz selbstverständlich an diesen kompositorischen Horizont herangeführt worden. Titelblatt zum dritten Band der Kompositionslehre von Adolf Bernhard Marx (1845). Darin wird das Modell der Sonatenhauptsatzform aufgestellt, das für Komponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Standard geriet. Tschaikowskys Unterricht am Petersburger Konservatorium orientierte sich an diesem Werk. Als aber Tschaikowsky Anfang der 1860er Jahre sein Kompositionsstudium absolvierte, hatte sich der Blick auf die Sonatenform und damit auch die Symphonie gewandelt. In Deutschland hatte Adolf Bernhard Marx seine wegweisende Lehre von der musikalischen Komposition (4 Bände, 1837–1847) veröffentlicht und darin als entscheidendes Element des Sonatenhauptsatzes den Konflikt zwischen zwei kontrastierenden Themen beschrieben. Beide Themen sollten vom Komponisten in einer Exposition vorgestellt werden, in einer Durchführung verarbeitet und miteinander verschränkt werden, um schließlich in einer Reprise wieder säuberlich voneinander getrennt zu erscheinen. Dieses am Schaffen Beethovens entwickelte Schema wurde für die Komponisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewissermaßen verpflichtend, wenn sie sich der Tradition der viersätzigen Symphonie stellen wollten, und sie betrachteten es keineswegs nur als Hilfestellung: Es konnte durchaus zum Zwang ausarten. Von Tschaikowsky, der nach Marx‘ Lehrbuch unterrichtet worden war,7 ist (wie übrigens auch von Brahms) bekannt, dass seine 1. Symphonie ihn unendliche Mühe kostete,8 und die Nachwelt ist seinem symphonischen Erstling nicht nur wohlwollend gegenübergetreten. In Tschaikowskys ersten drei Symphonien, liest man, seien „die Durchführungsteile reines Flickwerk voll einfallsloser Füllsel“. Man muss dieser Auffassung nicht zustimmen, um anzuerkennen, dass die Gestaltung der 7 8 Vgl. Kohlhase, Sp. 1957. Vgl. Pribegina, S. 31. 6 musikalischen Form für den Komponisten harte Arbeit bedeutete: Er selbst hat sich sogar – übertrieben selbstkritisch – „fehlender Geschicklichkeit im Umgang mit der Form“9 bezichtigt. Tschaikowskys 1. Symphonie: Zur Werkgestalt Das Publikum der Uraufführung, die 1868 in Moskau stattfand, hat sich von solchen Fragen offenbar nicht in seiner Begeisterung stören lassen. Es nahm Tschaikowskys 1. Symphonie mit „lebhafter Resonanz“10 auf und genoss v.a. die Schönheiten des zweiten Satzes. Der Kritiker Laroš schrieb seine bereits zitierte Hymne auf eine „wirklich russische Symphonie“. Für russische Symphonieorchester wurde das Werk mit der Zeit zu einem Repertoirestück. Der Komponist selbst war noch nicht völlig zufrieden; er arbeitete das Werk um und gab ihm 1883 mit der souveränen Hand des gereiften Meisters eine neue Gestalt; diese zweite Fassung ist die endgültige. Wie schon die ursprüngliche Version übernimmt sie die traditionelle Satzfolge der viersätzigen Symphonie in der von Beethoven geprägten Form: Sonatenhauptsatz – Langsamer Satz – Scherzo – Finale. Satzfolge Die Satzüberschriften lauten: 1. 2. 3. 4. Satz: Allegro tranquillo (Träume einer Winterreise) Satz: Adagio cantabile ma non tanto (Land der Öde, Land der Nebel) Satz: Scherzo. Allegro scherzando giocoso Satz: Finale. Andante lugubre Allegro moderato – Allegro maestoso – Allegro vivo Die Aufführungsdauer beträgt ungefähr eine Dreiviertelstunde; die Sätze Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 4 sind dabei etwa gleich (nämlich jeweils gute 10 Minuten) lang; das rasch vorbeiwirbelnde Scherzo (für das Tschaikowsky auf Material aus einer unveröffentlichten Klaviersonate zurückgriff) ist kürzer als die übrigen Sätze. In der Echtzeit am 29.6. wird es fortgelassen. Tonartenplan Der tonartliche Aufbau des Werks ist deutlich am traditionellen Ideal der tonalen Geschlossenheit orientiert: Die Haupttonarten der vier Sätze stehen also in naher wechselseitiger Verwandtschaft. Grundtonart des Werks ist g-Moll. 9 1. Satz: g-Moll → D-Dur → g-Moll/G-Dur 2. Satz: Grundtonart Es-Dur, changierend nach c-Moll 3. Satz Scherzo: c-Moll 4. Satz: g-Moll → G-Dur Schonberg, S. 399. Das Zitat stammt aus einem Brief Tschaikowskys an seine Freundin Nedeschda von Meck. Pribegina, S. 31. 10 7 Formmodelle Auch die den einzelnen Sätzen zugrundeliegenden Formmodelle beziehen sich unmissverständlich auf klassische Muster. 1. Satz: Sonatenhauptsatzform Der erste Satz stellt eine Sonatenhauptsatzform nach dem von Marx etablierten thematischen Entwicklungsprinzip dar. Für die Durchführung ist allerdings ein drittes Thema, das in der Schlussgruppe der Exposition eingeführt wird, wichtiger als das zweite Thema. Exposition Durchführung Reprise 2. Satz: Fünfteilige Liedform Dem ersten folgt ein Satz in erweiterter Liedform: Der Hauptteil kehrt nicht nur einmal, sondern zweimal in jeweils variierter Form wieder, das Material des Mitteilteils kommt dementsprechend zweimal zum Einsatz, beim zweiten Mal ebenfalls in veränderter Gestalt. A Es-Dur/c-Moll B As-Dur 3. Satz: Dreiteilige Liedform A A‘ As-Dur/f-Moll B‘ Es-Dur B A‘‘ Es-Dur/c-Moll A‘ 4. Satz: Sonatenhauptsatzform mit Langsamer Einleitung ∞ Rondoform Das Finale lässt sich als raffinierte Verschachtelung von Formmodellen begreifen. Es erinnert in der Anordnung der thematischen Abschnitte an eine Sonatenhauptsatzform mit Langsamer Einleitung, wobei die Wiederkehr des 2. thematischen Abschnitts mit einer Reminiszenz an die Langsame Einleitung des Satzes beginnt. Insofern aber die Langsame Einleitung selbst bereits das Material des zweiten thematischen Abschnitts vorstellt und die Durchführung v.a. das 1. Thema verarbeitet, trägt der Satz zugleich Merkmale einer Rondoform. Langsame Einleitung Exposition Durchführung Reprise Besetzung Die Instrumentation des Werks entspricht der für Tschaikowsky typischen großen spätromantischen Orchesterbesetzung, in der in Holz und Blech jeweils vier Instrumentenfamilien vertreten sind, außerdem Streichorchester und erweitertes Schlagwerk zum Einsatz kommen. Auffällig ist eine das Werk übergreifende Klangdramaturgie, die zunächst mit Ab-, dann wieder mit Zunahme der Orchesterstärke arbeitet: Im langsamen Satz erscheinen die Hörner reduziert, auch fallen die Pauken und Trompeten fort. Im dritten Satz treten die Pauken und Trompeten wieder hinzu. 8 Im Finale erreicht die Horngruppe dann ihre ursprüngliche Quartettstärke wieder; Piccoloflöte, Posaunen und Basstuba, Große Trommel und Becken treten erst jetzt erstmals hinzu. 1. Satz 2. Satz 3. Satz 4. Satz Piccoloflöte 2 Flöten 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 2 Flöten 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 2 Flöten 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 2 Flöten 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 4 Hörner 2 Trompeten 2 Hörner 2 Hörner 2 Trompeten 4 Hörner 2 Trompeten 2 Tenorposaunen 1 Bassposaune Basstuba Pauken Pauken Becken Große Trommel 1. Violinen 2. Violinen Bratschen Violoncelli Kontrabässe 1. Violinen 2. Violinen Bratschen Violoncelli Kontrabässe Pauken 1. Violinen 2. Violinen Bratschen Violoncelli Kontrabässe 1. Violinen 2. Violinen Bratschen Violoncelli Kontrabässe Winterträume: Poetische Implikationen des Werktitels Zwei der Sätze seiner 1. Symphonie hat Tschaikowsky mit Titeln versehen, die über das rein musikalische Geschehen hinaus auf außermusikalische Zusammenhänge verweisen. Von der Überschrift des ersten Satzes – Träume einer Winterreise – leitet sich der Beiname des ganzen Werks ab: Winterträume. Die Überschrift des zweiten Satzes schließt hieran an, indem sie die passenden landschaftlichen Assoziationen wachruft: Land der Öde, Land der Nebel. Man sollte aber von diesen Verbalzusätzen nicht auf einen etwaigen ‚programmatischen Gehalt‘ der Symphonie schließen, jedenfalls nicht im Sinne einer Erzählung oder Ereignisfolge, am der sich der Komponist beim Komponieren orientiert hätte und deren Kenntnis zum Verständnis der Musik notwendig wäre. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil ja der dritte und vierte Satz auf entsprechende Überschriften verzichten – ein ‚Programm‘ im engeren Sinne existiert also zur 1. Symphonie Tschaikowskys nicht. Eher wird man die beiden Satzüberschriften als poetische „Fingerzeige für Vortrag und Auffassung“11 begreifen dürfen: So hatte 1839 Robert Schumann die Funktion der Überschriften bezeichnet, die er selbst Charakterstücken wie etwa seinen Kinderszenen voranstellte. Schumann ging es darum, die 11 Schumann, S. 170. 9 Phantasie der Musizierenden und Hörenden anzuregen, ihnen Hilfestellungen und Inspiration für die Ausführung und das Erleben seiner Musik zu bieten – nicht aber, sie gedanklich einzuengen und auf ein fixiertes Programm festzulegen. Tschaikowsky war von Schumanns Konzept einer ‚poetisierten‘ Musik sehr angetan; Schumann selbst war für ihn „der markanteste Vertreter der zeitgenössischen musikalischen Kunst“12. Als Tschaikowsky ein Heft mit Klavierstücken für Kinder schrieb, nannte er es, auf Schumanns berühmtes Album für die Jugend op. 68 anspielend, Kinderalbum à la Schumann (op. 39). Es ist also keine konkrete Reise, es sind keine konkret benennbaren, etwa durch Tonmalerei dargestellten Ereignisse, auf die Tschaikowsky mit seinen Überschriften anspielen möchte. Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass seine 1. Symphonie, wie einst Beethovens Pastoralsymphonie, „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“13 zum Ziel hat. Und in dieser Hinsicht ist der Begriff Winterträume tatsächlich sehr ergiebig. Denn der Winter ist ja nicht nur ein meteorologisches Datum, er ist, gerade im Zeitalter der Romantik, ein Begriff mit tiefem, existenziellem Symbolgehalt. Bei jungen Hörer*innen von heute mögen sich, wenn sie an den Winter denken, vor allem positive Assoziationen einstellen: Bilder von lustigen Schneeballschlachten, von Wintersport und Weihnachtsgeschenken, die sich vor dem inneren Auge auftürmen. In der Tat kannte auch das 19. Jahrhundert die freundlich-idyllischen Seiten des Winters – obgleich das Weihnachtsfest in seiner heutigen Form sich damals erst zu entwickeln begann und man vom fröhlichen Treiben alpinen Wintersports noch keine Ahnung hatte. Aber anders als für die meisten Mitteleuropäer der heutigen Zeit stellte der Winter für die Menschen des mittleren 19. Jahrhunderts auch eine ernste Bedrohung dar, zumal in Russland, wo die Kälte enorm, die Distanzen zwischen bewohnten Gebieten teils unabsehbar weit, die Winternächte tief und dunkel waren. Entsprechende poetische Aspekte lassen sich aus der Gegenposition des Winters zum ‚Frühling‘ herleiten, der Lieblingsjahreszeit der Romantiker. So wie der Frühling als „Innbegriff des neuerweckten Lebens“ der „Jugend und Liebe“ galt, stand der Winter für „existenzielle Einsamkeit“ und „Heimatlosigkeit“, für die Stagnation „des Alters und des Todes“14. Besonders eindrucksvoll ist die Trostlosigkeit winterlicher Atmosphäre von Wilhelm Müller und Franz Schubert im Liederzyklus Winterreise (1828) gestaltet worden; auf diesen monumentalen Zyklus, der von einsamer Wanderung, Hoffnungslosigkeit und sozialer Isolation erzählt, scheint Tschaikowsky direkt anzuspielen, wenn er den ersten Satz seiner Symphonie Träume einer Winterreise nennt. Das landschaftliche Äquivalent hierzu bietet der Titel des zweiten Satzes, Land der Öde, Land der Nebel. Dabei ist nicht entscheidend, welches Land hier konkret gemeint sein könnte. Wichtig sind vielmehr die emotionalen Korrelate der Ödnis und des Nebulösen, Verhangenen, Tristen. Uns so wechseln in Tschaikowskys 1. Symphonie lichte und lebhafte Passagen mit melancholisch düsteren ab; beide Seiten des Winters sind auf poetisch-ästhetisierte Weise präsent. Doch selbst die Ödnis der dunklen Jahreszeit kann das leuchtende Klanggewand eines virtuos instrumentierten Orchesters und den mitreißenden Schwung einer genussvoll zelebrierten Klangdramaturgie nicht verleugnen. Spätestens das lebhafte Finale löst jegliche depressive Stimmung im Taumel des klingenden Rausches auf. Und noch die düstersten Momente der ersten beiden Sätze liegen ja immerhin unter dem distanzierenden Schleier der in der ersten Satzüberschrift genannten „Träume“ bzw. ihrer klanglichen Äquivalente. Ob der von Tschaikowsky heraufbeschworene Winter und seine emotionalen Begleiterscheinungen also ‚wirklich‘ sind, oder ob man sie sich eher als Gegenstände einer lebhaft träumenden Phantasie vorzustellen hat, bleibt offen. Dies aber ist sicher: Intention der Musik ist es, die Phantasie anzuregen, ihrerseits zu poetischen Empfindungen und Träumereien zu 12 Zitiert nach Helm, S. 64. So das von Beethoven seiner 6. Symphonie mitgegebene Motto. 14 Butzer/Jacob, S. 117 und 425. 13 10 inspirieren. Die jungen Hörerinnen und Hörer der Echtzeit auf eine solche Erfahrung vorzubereiten, ist die Absicht der folgenden Seiten. Aufgaben Die folgenden Höraufgaben finden sich ebenfalls in den separaten PPP-Dateien. Sie fordern Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich bewusst mit der musikalischen Gestaltung der 1. Symphonie Tschaikowskys auseinanderzusetzen und das Werk auf diese Weise gut kennenzulernen. Stimmung – Ausdruck – ‚Poesie‘ Die folgenden Aufgaben sind zunächst dazu gedacht, Schülerinnen und Schüler jüngeren Alters zum aufmerksamen Zuhören zu motivieren. Der emotionale Gehalt der Musik Tschaikowskys soll auf ‚poetische‘ Weise mit außermusikalischen Zusammenhängen in Verbindung gebracht werden: Bildern von Winterlandschaften, der Erzählung von einer stürmischen Winterreise und selbst erdachten Wintergeschichten, die von der Musik inspiriert werden. Auf dieser Ebene wird noch nicht der Anspruch erhoben, ‚objektive‘ Beobachtungen an der Musik selbst vorzunehmen. Wenn dann allerdings die zu Bild und Wort hergestellten Verknüpfungen von den Schülerinnen und Schülern im Unterrichtsgespräch reflektiert werden, findet durchaus ‚Werkbetrachtung‘ statt, eine Art von Höranalyse auf basaler Ebene, die ohne musiktheoretisches Fachvokabular auskommt, deshalb aber nicht weniger ernst zu nehmen ist. Die Schülerinnen und Schüler verbalisieren ihre Assoziationen zur Musik und vergleichen diese miteinander, ebenso wie ihre selbst gemalten Bilder und selbst entworfenen Geschichten. Dabei machen sie sich klar, auf welche Elemente der Musik sie geachtet haben. Selbst kreativ werden (1): Ein Bild malen Arbeitsaufträge: Ihr hört den ersten Satz aus Pjotr Tschaikowskys 1. Symphonie [Dauer: ca. 12 Minuten]. Dieser trägt die Überschrift „Träume einer Winterreise“. Stellt Euch vor, was für Winterträume zu dieser Musik passen würden. Malt ein Bild, das diese Träume darstellt. [Nach dem Malen:] Erzählt Euch gegenseitig die Winterträume, die auf Euren Bildern zu sehen sind. [Nach dem Erzählen:] Sucht Euch ein Bild von einer Mitschülerin oder einem Mitschüler aus, das Euch besonders gefallen hat. Ihr hört die Musik nun noch einmal. Stellt Euch, während Ihr die Musik hört, die Träume vor, die auf dem Bild zu sehen waren. [Nach dem Hören:] Überlegt Euch: Habt Ihr Euch die Träume Eurer Mitschülerin/Eures Mitschülers zur Musik vorstellen können? Hat sich die Musik beim zweiten Hören anders angefühlt als beim ersten Mal? Kommentar: Diese Aufgaben dienen in aller erster Linie zur Anregung der Phantasie und zum eigenen kreativen ‚Nachschaffen‘. Eingeübt wird also eine ‚poetische Hörhaltung‘, in dem Sinne, in dem Robert Schumann den Begriff ‚poetisch‘ verstand. Tschaikowsky war in seiner Art, Musikstücken poetische Titel zugeben – z.B. „Träume einer Winterreise“ – von Schumann beeinflusst (siehe oben, Winterträume: Poetische Implikationen des Werktitels). 11 Wegen der zu hohen Datenmenge kann kein Audio-Insert mit dem gesamten Symphoniesatz in die PPP-Datei integriert werden. Link zur Aufnahme: siehe S. 3. Selbst kreativ werden (2): Eine kurze Geschichte erfinden Arbeitsaufträge: Ihr hört einen Ausschnitt aus dem zweiten Satz von Pjotr Tschaikowskys 1. Symphonie [Dauer: ca. 2 Minuten]. Stellt Euch dazu eine Geschichte vor, in der ein Mensch durch eine Winterlandschaft geht. Was erlebt er oder sie? Welche Dinge sieht er/sie? Was hört er/sie? Schreibt Euch Eure wichtigsten Ideen auf. [Nach dem Aufschreiben:] Erzählt Euch gegenseitig, was die Hauptfigur Eurer Geschichte in der Winterlandschaft gesehen und gehört hat und wem sie begegnet ist. [Nach dem Erzählen:] Ihr hört die Musik nun noch einmal. Erinnert Euch, während Ihr die Musik hört, daran, was Eure Mitschülerinnen und Mitschüler erzählt haben. [Nach dem Hören:] Überlegt Euch: Habt Ihr Euch die Erzählungen Eurer Mitschüler zur Musik vorstellen können? Hat sich die Musik beim zweiten Hören anders angefühlt als beim ersten Mal? Kommentar: Diese Aufgaben haben eine ähnliche Funktion wie die vorigen Abschnitt gestellten. Sie erfordern aber höhere Sprachkompetenzen und ein höheres Reflexionsniveau. Klang und Bild: Der Musik ein Gemälde/Foto zuordnen Arbeitsaufträge: Ihr hört einen Ausschnitt aus dem ersten [oder zweiten Satz] von Pjotr Tschaikowskys 1. Symphonie [Dauer: jeweils ca. 1 Minute]. Welches der drei Bilder passt Eurer Meinung nach zu dieser Musik? [Anschließend:] Überlegt Euch: Welche Gefühle löst das Bild, das Ihr ausgewählt habt, in Euch aus? Welche Eigenschaften der Musik passen zu diesen Gefühlen? Kommentar: Es gibt zu dieser Aufgabenstellung keine ‚richtige‘ Lösung: Assoziationen und Gefühle sind subjektiv. Es ist aber möglich, die eigenen subjektiven Eindrücke mit der konkreten musikalischen Struktur in Verbindung zu bringen. Man kann den Schülerinnen und Schülern zu diesem Zweck mehr oder weniger objektive Kriterien zur Benennung der Eigenschaften von Musik an die Hand geben (z.B. laut/leise, schnell/langsam, hohe Töne/tiefe Töne, rhythmisch gleichmäßig/ungleichmäßig, geordnet/chaotisch, ruhig/aufgeregt …). Mögliche Bilder: 12 http://www.br.de/mediathek/video/sendungen/kunst-und-krempel/kunst-krempel-winterlandschaft-110.html http://www.br.de/radio/br-heimat/programmkalender/ausstrahlung-889700.html http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/winter-reise-literatur-100.html 13 http://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/gesundheit/lawine-kurs-gefahr-gesundheit100.html http://www.br.de/br-fernsehen/sendungen/winter-in-schwaben/schwaben-winter-100.html http://www.br.de/nachrichten/oberbayern/inhalt/wintereinbruch-oberbayern-102.html 14 http://www.br.de/nachrichten/schwaben/inhalt/schwaben-ostern-schnee-100.html Klang und Bild: Einer Geschichte Musik zuordnen Arbeitsaufträge: Ihr hört einen Ausschnitt aus der Erzählung Der Schneesturm von Alexander Puschkin (1831). Puschkin ist einer der bedeutendsten russischen Dichter des 19. Jahrhunderts; auch Tschaikowsky schätzte ihn sehr. In der Geschichte geht es ziemlich abenteuerlich zu: Ein junger Mann und eine junge Frau wollen mitten im Winter aus ihren Elternhäusern fliehen, um sich heimlich miteinander zu verheiraten. Leider geht die Sache schief, denn ein Schneesturm kommt auf, und der junge Mann verirrt sich auf seiner nächtlichen Fahrt mit dem Schlitten. Text: Wladimir hatte kaum die Umzäunung seines Hofes hinter sich gelassen, als es so heftig zu stürmen und zu schneien begann, dass er sich bald nicht mehr auskannte. In wenigen Augenblicken war die Straße verweht. Jede Sicht ging in dem trüben, gelblichen Nebel und in dem dichten Schneeflockenwirbel verloren. Himmel und Erde schienen ineinander zu verschwimmen. […] Alle Augenblicke drohte der Schlitten umzukippen. […] Der Himmel klärte sich nicht auf. […] Schließlich wurde ihm klar, dass er die Richtung verfehlt hatte.15 Ihr hört nun zwei Ausschnitte aus dem letzten Satz von Pjotr Tschaikowskys 1. Symphonie [Dauer: je ca. 1 Minute]. Welche dieser zwei Stellen passt Eurer Meinung nach besser zu der gehörten Szene aus Puschkins Erzählung? Aufgrund welcher musikalischen Eigenschaften passt sie besser? Kommentar: Hier gilt das Gleiche wie für die vorige Aufgabenstellung – Assoziationen und emotionale Deutungen von Musik sind zunächst einmal subjektiv. Aber man kann sie durch konkrete Bezugnahme auf die musikalische Struktur mithilfe zumindest teilweise objektiver Kriterien zu begründen versuchen. Diese Kriterien können dieselben sein wie in der vorangegangenen Aufgabe. 15 Puschkin, S. 76. 15 Mitspielsatz Die von der Doktrin des ‚Sozialistischen Realismus‘ spürbar geprägte Tschaikowski-Biographie von Galina Pribegina weist des Öfteren darauf hin, dass der Komponist sich für seine Musik vom Tonfall russischer Volkslieder habe inspirieren lassen.16 Das Hauptthema des zweiten Satzes ist dazu geeignet, diese Vorstellung zu illustrieren. Es handelt sich bei diesem Thema über weite Strecken um eine eher lose Aneinanderreihung von zweitaktigen Phrasen, die alle auf Varianten eines einfachen, in sich kreisenden Motivs aufgebaut sind. Den Abschnitt von T. 10 nach A bis T. 15 nach A17 kann man gut als in sich geschlossene Einheit musizieren. Die folgende (Mit-)Spielpartitur entspricht strukturell überwiegend18 dem originalen Satz der genannten Passage. Die Melodiestimme kann auf einem beliebigen Melodieinstrument (ggfs. von der Lehrkraft) gespielt werden; die drei Unterstimmen lassen sich etwa auf Stabspielen oder Boomwhackers realisieren. Der Satz ist auch als Mitspielsatz zur laufenden Aufnahme ausführbar. Das hierzu verwendbare Audio-Insert in der PPP-Datei Mitspielsatz beginnt mit einem vorangehenden Takt zum ‚Eingrooven‘. Die vierte Zählzeit dieses Taktes entspricht dann dem in der Mitspielpartitur notierten Auftakt: Partitur Vorangehender Takt: 1 – 2 – 3 – 4 Melodiestimme (z.B. Klavier) 16 Mit Bezug auf die 1. Symphonie: Pribegina, S. 27 ff. Partitur siehe Literaturangaben im Anhang. 18 Der Bass pausiert bei Tschaikowsky in T. 5/6. Der tonikale Schlusstakt wurde der Geschlossenheit halber hinzugefügt. Die Rhythmik wurde vereinfacht. Gegenstimmen in Flöte und Fagott wurden fortgelassen. 17 16 1. Begleitstimme (z.B. Xylophon, Boomwhackers…) 2. Begleitstimme (z.B. Xylophon, Boomwhackers…) 3. Begleitstimme (z.B. Bassxylophon, Boomwhackers…) Die PPP-Datei Der 2. Satz: Meisterhafte Instrumentation enthält Hörbeispiele zum Hauptthema des zweiten Satzes und den Veränderungen, die es im Satzverlauf erfährt. Der 1. Satz: Drei ‚Themen‘ und ihre Entwicklung Der Kopfsatz von Tschaikowskys 1. Symphonie ist ganz dem Gestaltungsprinzip der thematischen Entwicklung verpflichtet (siehe oben, Abschnitt Spätromantische Symphonik: Form als Problem). Die Aufgabenstellungen der PPP-Datei 1. Satz: Drei Themen und ihre Entwicklung hält zahlreiche Hörbeispiele bereit, die den Schülerinnen und Schülern dabei helfen sollen, die Hauptthemen des Satzes in Erinnerung zu behalten. Die Anordnung der Hörbeispiele entspricht der Reihenfolge, in der die ausgewählten Stellen im Satzverlauf auftreten; auf diese Weise wird begünstigt, dass die Hörer*innen dem Verlauf des Satzes im Konzert gut folgen können. Die jeweiligen Abschnitte der Sonatenhauptsatzform sind in der Datei angegeben, müssen aber natürlich nicht im Unterricht thematisiert werden. Die folgende Liste ordnet den Formteilen des Sonatenhauptsatzes die Foliennummern der PPP-Datei zu: Exposition: Folien 3–7 Durchführung: Folien 8–10 Reprise: Folien 11–14 Coda: Folien 15–18 17 Der 2. Satz: Meisterhafte Instrumentation Der 2. Satz mit seinem liedhaften Thema bietet zahlreichen Orchesterinstrumenten Gelegenheit zur kantablen Klangentfaltung. Das Satzbild ist vielfach sparsam gestaltet, der Sound des vollen Orchesters zugunsten des solistischen Spiels der Blasinstrumente zurückgenommen. Zu den besonders ausdrucksvollen Effekten gehören Dialoge zwischen solistischen Bläsern. Die Powerpointdatei Der 2. Satz: Meisterhafte Instrumentation bietet diesbezüglich eine Reihe von Hörbeispielen, die stets mit einer Höraufgabe verbunden sind. Ziel der Aufgaben ist es, den Schülerinnen den Klang einzelner Blasinstrumente anhand charakteristischer Werkstellen einprägsam zu präsentieren, sodass Wiedererkennungseffekte im Konzert möglich werden. Die Anordnung der Hörbeispiele entspricht auch hier der Reihenfolge, in der die ausgewählten Stellen im Satzverlauf auftreten. Der 4. Satz: Dramatische Steigerungen Immer wieder nutzt der Komponist Tschaikowsky die Klangpalette der großen spätromantischen Orchesterbesetzung für großangelegte Steigerungen. Für den letzten Satz seiner 1. Symphonie gilt dies in mehrerlei Hinsicht. Zum einen erweitert Tschaikowsky die Besetzung im Finale gegenüber den vorangegangenen Sätzen. Hinzu treten Piccoloflöte (zusätzlich zu den beiden Großen Flöten), drei Posaunen und Basstuba sowie Große Trommel und Becken. Durch die angewachsene klangliche Wucht des Orchesterapparats erfährt die symphonische Gesamtform im Finale also eine deutliche Steigerung. Zugleich aber realisiert Tschaikowsky auch innerhalb dieses Satzes mehrmals große Steigerungsaufbauten. So wird von der Langsamen Einleitung allmählich in das schnelle AllegroTempo des Hauptteils übergeleitet, und das erneute ‚Herunterfahren‘ des Tempos wenige Minuten vor Schluss bereitet nur eine umso drastischere Steigerung hin zur fulminanten Stretta vor, die dann die Geschwindigkeit gegenüber dem Hauptteil nochmals erhöht. Die PPP-Datei Der 4. Satz: Dramatische Steigerungen enthält einige Hörbeispiele, die Tschaikowskys virtuose Behandlung des Orchesterapparats auf eindrucksvolle Weise deutlich werden lassen. Abermals sind die Hörbeispiele in der Reihenfolge angeordnet, in der die jeweiligen Stellen im originalen Satzverlauf auftreten. Die begleitenden Texte sind diesmal eher als erzählende Kommentare zum musikalischen Geschehen angelegt. Man kann sie den Schülerinnen und Schülern vorlesen und dazu die Audio-Inserts hören lassen. 18 Anhang 1. Abbildungsnachweis S. 1: Nikolay Kusnezow: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, 1893 https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/starke-stuecke-peter-tschaikowsky-souvenirde-florence-100.html Weitere Abbildungsnachweise finden sich direkt im Text. 2. Partitur Pjotr I. Tschaikowsky, Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13, Dover 1992. http://imslp.org/wiki/Symphony_No.1,_Op.13_(Tchaikovsky,_Pyotr) 3. Aufnahme: Pjotr I. Tschaikowsky, Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13; Ausführende: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks; Leitung: Riccardo Muti; Live-Aufnahme aus der Philharmonie im Münchner Gasteig (2003) 4. Literatur Butzer, Günter / Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar 2008 Helm, Everett: Tschaikowsky, Reinbek bei Hamburg 1976 Kohlhase, Thomas: Čajkovskij […], Pëtr Il’ič, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2. neubearb. Ausg., hg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 3, Bärenreiter/Metzler, Kassel u.a. 2000, Sp. 1596–1655 Pribegina, Galina A.: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Berlin 1988 Puschkin, Alexander: Erzählungen, München 1976. Schonberg, Harold C.: Die großen Komponisten. Ihr Leben und Werk, Bindlach 1990 Schumann, Robert: Briefe. Neue Folge, hg. von F. Gustav Jansen, 2. vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1904 19