VorBild - Pädagogische Hochschule Freiburg

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VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
Projekt VorBild
Universität Bielefeld
Fakultät für Gesundheitswissenschaften
(Uwe H. Bittlingmayer/Klaus Hurrelmann/Diana Sahrai)
Bundeszentrale für politische Bildung
(Caroline Seige)
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
von Jürgen Gerdes, Helmut Bremer,
Johannes Ahrens, Raphael Beer und Barbara Rößer
Inhalt
Vorbemerkung
1. Benachteiligte soziale Milieus und (vor-)politische Bildung
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2. Allgemeine Voraussetzungen politischer Bildung
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2.1Bildung
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2.2Politik
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3. Politische Bildung in der Demokratie
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4.Das Spannungsverhältnis von Demokratie und Menschenrechten 29
5. Demokratische Legitimität als Kern mündiger Urteilsbildung
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43
Literatur
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DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
Vorbemerkung
Politische Bildung an Förderschulen ist im Schulalltag etwas Ungewöhn­
liches. So existiert in den meisten Bundesländern kein Politikunterricht für
Förderschülerinnen und Förderschüler. Das ist aus einer demokratischen
Perspektive problematisch, denn gerade Schülerinnen und Schüler an
Förderschulen sind in Organisationen, Vereinen oder Parteien erheblich
unterrepräsentiert. Dazu kommt, dass sozial benachteiligte Gruppen, zu
denen die Förderschülerinnen und -schüler zum Teil zählen, auch politisch
kaum vertreten werden. Das bedeutet, dass ihre Belange immer weniger
durch die Parteiprogrammatiken systematisch Erwähnung finden.
Hieraus kann ein Teufelskreis entstehen: Die fehlende Verankerung politischer Bildung an Förderschulen ist eine der Ursachen für die sehr geringe
Einbindung in politische Organisationen und Parteien von (ehemaligen)
Förderschülerinnen und -schülern. Und durch ihre geringe Präsenz in
Organisationen und Parteien werden sie auch immer weniger politisch
repräsentiert. Um diesem Kreislauf zu begegnen, haben wir erstmals
zielgruppenspezifische Unterrichtsmaterialien zur politischen Bildung und
zum sozialen Lernen speziell für Förderschulen entwickelt.
Mit diesem hier vorliegenden Begleitheft der VorBild-DVD beabsichtigen
wir zweierlei: Zum einen wollen wir die populäre Diagnose der Politikverdrossenheit bzw. des politischen Desinteresses von Förderschülerinnen
und -schülern auf soziologischer Grundlage kritisieren und alternative
Perspektiven anbieten. Zum anderen wollen wir unsere theoretischen Hintergrundkonzepte vorstellen, die für das VorBild-Projekt maßgeblich sind.
Wichtig ist uns vor allem, dass die Lehrerinnen und Lehrer, die mit den
VorBild-Materialien arbeiten möchten, unser Verständnis von Demokratie
nachvollziehen können. Klassen, Familien, Vereine oder politische Organisationen und Institutionen sind nach unserer Perspektive eingebunden
in ein Spannungs- und Konfliktfeld zwischen demokratischen Prozeduren
und individuellen Rechten. Deshalb sind beide Aspekte, demokratische
Prozeduren und individuelle Rechte Bestandteile der VorBild-Unterrichtsmaterialien. Dazu gehört auch die alltägliche Praxis dieses Spannungsfeldes: die Beziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten in
demokratischen Gruppen. Die späteren Kapitel präsentieren deshalb eine
bestimmte Variante politischer Theorie, die insbesondere den VorBildUnterrichtsmodulen zur politischen Bildung zu Grunde liegen und hier
durch das Begleitheft verständlich gemacht werden sollen.
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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1. Benachteiligte soziale Milieus und (vor-)politische Bildung
Untersuchungen, die das Interesse von Jugendlichen an Politik und
politischer Bildung analysiert haben, kommen zu dem Ergebnis, dass
das Interesse daran am stärksten bei denjenigen ist, die höhere Schulen
besuchen bzw. abgeschlossen haben und auch aus Elternhäusern
kommen, die über höhere Bildungsniveaus und einen höheren Sozialstatus verfügen. Auch Studien zur Erwachsenenbildung bestätigen diese
Tendenz; Menschen aus sozialen Milieus, die auf der sozialen Stufenleiter
unten stehen, besuchen kaum Veranstaltungen der politischen Bildung.
Die Befunde scheinen also eindeutig zu belegen, dass diese Menschen
politisch desinteressiert und politisch ungebildet sind. Vor diesem
Hintergrund scheint es also um das Politikinteresse und die politische
Kompetenz der Schülerinnen und Schüler von Förderschulen nicht gut
bestellt zu sein.
Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass sich die Sache gar nicht
so einfach verhält, wie es auf den ersten Blick scheint (vgl. hierzu auch
Bittlingmayer 2008). Arbeiten aus der politischen Sozialisation zeigen
nämlich, dass die Menschen in allen Milieus sehr wohl über Formen politischen Wissens und politischer Kompetenz verfügen. Es gibt mindestens
immer ein ‚Gespür’ für politische Fragen und Themen, etwa in Bezug auf
Teilhabe, auf Mitwirkungsmöglichkeiten und auf Gerechtigkeit, und es gibt
auch oft recht genaue Vorstellungen davon, wie Gemeinschaft in kleineren
und größeren Zusammenhängen gestaltet werden sollte, wie die Welt
sozusagen sein sollte. Solche Grundhaltungen, die man als „vor-politische“ politische Einstellungen und Meinungen verstehen kann, werden
in der Familie, in den Peergroups, Vereinen und (natürlich) auch in der
Schule erworben. Bezieht man solche Befunde mit ein, dann wird deutlich: Es ist wichtig, das etwas zu differenzieren, was mit „Politik“ gemeint ist.
In der politischen Bildung versucht man dem oft damit gerecht zu werden,
indem man ein „weites“ und einem „enges“ Verständnis von Politik
unterscheidet. In einem ganz allgemeinen Sinne kann man das Politische
dann als die Sphäre bezeichnen, in der Fragen der intersubjektiven Aushandlung von informellen und teilweise auch formalen kollektiven Regeln
des Zusammenlebens in verschiedenen sozialen Einheiten behandelt und
entschieden werden, auf die man dann mehr oder weniger Einfluss
nehmen kann, will oder darf. Im engeren Sinne bezieht sich Politik hingegen auf die etablierten politischen Institutionen und die daran gekoppelten
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
Entscheidungswege und -verfahren sowie die Debatten darum. Politische
Bildung kann sich generell auf beides beziehen. Wie aber kommt es, dass
die sehr wohl vorhandenen „vor-politischen“ Einstellungen nicht wesentlich stärker in den politischen Diskurs im engeren Sinne gelangen?
Zunächst muss man in Rechnung stellen, dass diese Haltungen in vielen
Umfragen gar nicht zum Vorschein kommen. Das liegt daran, dass der
Begriff „Politik“ oder auch „politische Bildung“ oft bestimmte Bilder und
Vorstellungen hervorruft, und zwar in zweierlei Weise: Zum einen ist Politik
heute (nicht nur bei Jugendlichen) oft negativ besetzt, wird mit langweiligen Diskussionen, nichtssagenden Ritualen und verkrusteten Institutionen
und Verbänden in Verbindung gebracht. Das ist im Grunde gemeint,
wenn heute von dem Schlagwort der „Politikverdrossenheit“ die Rede ist,
die im übrigen viel mehr eine Verdrossenheit über die traditionellen, etablierten politischen Parteien und Institutionen ist als über das, was Politik
der Sache nach bedeutet.
Politikverdrossenheit oder symbolische Ausgrenzung?
Zum anderen aber, und das ist in Zusammenhang mit Schülerinnen und
Schülern von Förderschulen wichtig, wird Politik meist als eine Sache von
kompetenten Experten angesehen, zu der auch ein bestimmtes Wissen,
eine bestimmte Sprache und Kultur gehören (vgl. zum Folgenden Bourdieu 1982: 620ff; vgl. als deutsche Aktualisierung Vester et al. 2001). Es ist
deswegen in der Bildungsarbeit oft sinnvoll, mindestens am Anfang den
Begriff „Politik“ zu vermeiden und stattdessen von dem zu sprechen, was
gemeint ist. Politik (im engeren Sinne) bildet sozusagen eine eigene kleine
Welt, und um diese zu betreten, benötigt man eine Art Eintrittskarte. Gerade Menschen aus unteren Sozialmilieus sehen sich aber als „Laien“.
Sie haben selbst den Eindruck – und oft auch die Erfahrung gemacht –
dass sie diese Eintrittskarte nicht haben, und die unsichtbare, trotzdem
deutlich spürbare Grenze zur engeren Welt der Politik nicht übertreten
dürfen; d.h.: Sie trauen sich nicht zu, etwas Relevantes zum Politischen
sagen zu können. Bezieht man das oben gesagte ein, dann heißt das,
dass zwar in einem erweiterten Verständnis durchaus – und oft auf sehr
pointierte – Meinungen zu politischen Fragen und damit auch Dispositionen zum politischen Handeln vorhanden sind, aber diese verbleiben oft
auf der Ebene des „Vorpolitischen“, des „Moralischen“ oder „Latenten“.
Gerade die Menschen aus benachteiligten Sozialmilieus spüren jedoch,
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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dass ihr latentes politisches Wissen in der Welt der Politik meist nichts
zählt, nicht anerkannt wird, weil sie es nicht so elaboriert ausdrücken können, und dass ihnen im Grunde vermittelt wird: „So kann man das aber
nicht sagen“. Um das zu erfahren, muss man nicht erst in eine Parteiveranstaltung oder Vergleichbares gehen. Schon beim Verfolgen von Nachrichtensendungen, von politischen Debatten oder Talkshows, oder beim
Lesen der Zeitung wird oft zur Genüge deutlich, dass man offensichtlich
über Politisches in einer Sprache denken und sprechen muss, die viele
selbst als verschlüsselt erleben. Im Ergebnis führt das oft zu der Aussage:
„Politik – das ist nichts für mich“.
Insgesamt erscheint es aus dieser Perspektive als vereinfacht, nur politische und unpolitische Menschen zu unterscheiden. Vielmehr könnte man
es so sehen, dass es politische Kompetenzen im Sinne von Fähigkeiten
gibt, die aber oft nicht anerkannt werden. Der Soziologe Pierre Bourdieu
hat das einmal so zugespitzt: „Wenn man einem einfachen Bürger sagt,
er sei politisch inkompetent, beschuldigt man ihn, unrechtmäßig Politik
zu machen“ (Bourdieu 2001: 44). In gewisser Weise ist es ein kreislaufartiger Zusammenhang: Gerade wenn man den Eindruck hat, dass man
allgemein gar nicht die Kompetenz im Sinne von „Befugnis“ zugestanden
bekommt, sich zu so wichtigen Fragen wie denen zur Politik zu äußern,
dann sieht man auch wenig Sinn darin, sich die Kompetenz im Sinne von
„Fähigkeit“ anzueignen. „Fremdausschließung“ und „Selbstausschließung“
hängen dabei eng zusammen; oft schließt man sich selbst aus den politischen Debatten aus, um der erahnten Ausschließung und Ausgrenzung
durch andere zuvorzukommen und die damit verbundene Frustration und
Demütigung zu vermeiden (Bremer 2008).
Lerntheoretische Aspekte politischer Bildung
Diesen kreislaufartigen Zusammenhang kann man mit Erkenntnissen
der neueren subjektorientierten Lerntheorie zusammen bringen, wonach
Menschen nur dann aus eigener Motivation lernen, wenn sie selbst einen
Sinn darin sehen, konkret: Wenn Sie antizipieren, dass sie Gelerntes
auch in ihrem alltäglichen Lebenszusammenhang anwenden können.
(Solche kontext- und situationsbezogenen Lernkonzepte, die gerade auf
die Dispositionen und Haltungen sozial benachteiligter Milieus abgestimmt sind, stehen Ansätzen gegenüber, die auf abstrakten Lerntransfer
fokussieren). Der Psychologe Klaus Holzkamp (1993) spricht dann von
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„expansivem Lernen“, d.h., die Menschen selbst verbinden mit diesem
Lernen eine Art Erweiterung ihres Handlungsraums. Davon unterscheidet
er „defensives Lernen“, was meint, etwas deshalb zu lernen, um Unheil
abzuwenden, oder weil es verlangt wird, so dass man sich eher gegen
negative Folgen des Nicht-Lernens oder gar mögliche Sanktionen darauf
verteidigt. Versteht man diese Unterscheidung als zwei Pole, dann sollte
ein auf Politik bezogenes Lernen (wenn nicht sogar jegliches Lernen) eher
dem expansiven Pol nahe stehen. Die Frage ist dann also: Wie kann man
Schule und Unterricht so gestalten, dass „expansives politisches Lernen“
möglich wird?
Gerade wenn man pädagogisch den erwähnten kreislaufartigen Zusammenhang durchbrechen will, ist es wichtig, die zwei Seiten politischer
Kompetenz im Auge zu behalten. Zunächst heißt das, davon auszugehen, dass die Schüler (wie wir alle) in gewisser Weise politischer sind, als
es oft scheint und als sie es selbst von sich sagen würden. Im weiteren
aber bedeutet das auch, sich nicht einfach auf ein zunächst nahe liegendes Ziel politischer Bildung zu beschränken, nämlich das, alle so mit spezifischen Kompetenzen – Fähigkeiten – auszustatten, dass sie es mit den
im engeren Sinne politischen Experten aufnehmen und sich einmischen
können. So naheliegend das ist – realistisch betrachtet kann man an
diesem Ziel nur scheitern, und die politische Bildung ist voll von solchen
Erfahrungen (vgl. hierzu die lesenswerte Studie von Scherr 1994). Zudem
muss man sich klar machen, dass man auf diese Weise das Erwerben
von politischen Kompetenzen faktisch zur Bringschuld der Schülerinnen
und Schüler macht.
Aus dem oben ausgeführten folgt aber auch, immer wieder in den Blick
zu nehmen, ob den Schülern (bisher) überhaupt zugestanden und ermöglicht wurde und wird, politisch zu handeln und auf Politik im engeren
Sinne Einfluss zu nehmen. Es gilt also auch, die sozialen Bedingungen
für ein solches politisches Artikulieren in den Blick zu nehmen. Das führt
zu einer pädagogischen Haltung, die sich nicht nur darauf konzentriert,
Fähigkeiten und Wissen zu vermitteln, die zu politischem Handeln führen,
sondern die zugleich die Spielregeln der politischen Welt – die geforderte
„Eintrittskarte“ – nicht bruchlos akzeptiert, sondern diese in Frage stellt
und andere politische Ausdrucksformen – andere „Eintrittskarten“ – anerkennt (vgl. Bourdieu 1992: 13). Das ermöglicht eine pädagogische Praxis,
die daran orientiert ist, den Jugendlichen ausgehend von ihren Lebenszusammenhängen und den vorhandenen vor-politischen Kompetenzen zu
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ermöglichen, im schulischen Kontext andere Erfahrungen zu machen als
bisher, und diese zu reflektieren.
Die besondere Ausgangssituation für politische Bildung
an Förderschulen
Was kennzeichnet nun die besondere Situation von Schülerinnen und
Schülern von Förderschulen? Generell kann man sagen, das alle Kinder
und Jugendlichen gleichermaßen in einer Welt leben bzw. in diese
hineinwachsen, deren Spielregeln überwiegend andere – Erwachsene –
gemacht haben, und die in diesem Sinne „fremde“ Regeln sind.
Aus dieser oberflächlichen Perspektive haben also alle Jugendlichen
in gleicher Weise Nähe und Distanz zur Politik. Aber genauer betrachtet
kommt es natürlich sehr darauf an, wie genau die Lebensumstände sind
und inwiefern es darin Bereiche und Möglichkeiten von Mitbestimmung
und -gestaltung gibt. Hier bestehen dann große Unterschiede.
Schülerinnen und Schüler von Förderschulen kommen häufig aus Familien, die zu den auf der sozialen Stufenleiter unten stehenden Milieus gehören. Was bedeutet das? Man erlebt dort die Welt oft als schicksalhaft,
sieht sich als Opfer von widrigen Umständen, die sich jederzeit ändern
können, gegen die man wenig ausrichten kann, denen man sich, ob man
will oder nicht, irgendwie fügen muss. Häufig sind diese Menschen wahre
Meister darin, solche schwierigen Lebensumstände, die immer wieder
durch Prekarität und Brüche geprägt sein können, mit Flexibilität und
Geschick zu bewältigen, und sie suchen und finden auch oft Nischen,
in denen mehr Selbstbestimmung möglich ist. Insgesamt sieht man sich
aber weniger als ein Subjekt, das seine Umwelt und die Welt an sich aktiv
gestalten kann. Kinder, die unter diesen Bedingungen aufwachsen, neigen dann auch dazu, sich solche Weltbilder und Handlungsmuster anzueignen. Es ist schwierig, sich unter solchen Bedingungen selbst als stark,
als gestaltend, als aktiv zu erleben und Selbstbewusstsein in dem Sinne
zu entwickeln, dass man sich ermutigt sieht, die Dinge zu beeinflussen.
Und besonders darin unterscheiden sich diese Kinder und Jugendlichen
von solchen aus weniger benachteiligten oder privilegierten Milieus: den
einen „passiert“ das Leben, die anderen „führen“ ihr Leben.
Bezieht man das auf das Feld des Politischen, d.h. die Sphäre, in der es
darum geht, aufgrund eigener Neigungen und Interessen die Regeln und
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
Formen des Zusammenlebens mit zu bestimmen, dann wird klar: Wer
die Welt eher als hinzunehmendes Schicksal erlebt, dem man meistens
ohnmächtig ausgeliefert ist, hat in der Regel alle Hände voll damit zu tun,
die kleinen und großen Katastrophen zu bewältigen, auf Notwendigkeiten zu reagieren – und auch der Kopf ist voll davon. Und obwohl man
eigentlich ein besonders großes Interesse daran haben müsste, diese (für
einen selbst ungünstigen) Spielregeln zu ändern, traut man sich zugleich
am wenigstens zu, in das Spielgeschehen eingreifen zu können, weil man
selten die Erfahrung gemacht hat, den Gang der Dinge beeinflussen zu
beeinflussen.
Für diese ambivalente Situation gilt es, sich zu sensibilisieren. So geht es
beispielweise in Modul 4 zunächst darum, den Schülern stärker bewusst
zu machen, dass sie in vielen Lebensbereichen – sowohl „privaten“ wie
„öffentlichen“ – in Gemeinschaften und Zusammenhänge eingebunden
sind, in denen bestimmte Gewohnheiten, Übereinkünfte und Vereinbarungen existieren, die das Zusammenleben regeln. Diese sind den Jugendlichen mal mehr, mal weniger bewusst; sich damit zu arrangieren, fällt mal
mehr, mal weniger schwer. Nach und nach soll vom engen lebensweltlichen Erfahrungsbereich zur lokalen Öffentlichkeit geführt werden, wobei
die Verbindung zur Alltagserfahrung im Blick zu behalten ist. Dabei gilt
es, die Entwicklung einer Haltung zu fördern, wonach solche Spielregeln
nicht einfach als fraglos gegeben hinzunehmen sind. Politisches Handeln
im weiteren Sinne fängt da an, sich solche Zusammenhänge klar zu
machen und diese in Frage zu stellen. Das heißt nicht unbedingt, sie
abzuschaffen, sondern etwa zu fragen: „Könnte das und das nicht auch
anders sein?“ Es ist also erst mal wichtig, den Sinn zu erkennen, und
davon ausgehend zu überlegen, inwiefern man sich darin wieder findet
und nach Möglichkeiten zu suchen, an der Entstehung, Aufrechterhaltung
oder Veränderung mitzuwirken.
Dabei muss von vornherein berücksichtigt werden, dass es keinesfalls mit
einem einmaligen „Bewusstwerdungsprozess“ getan ist. Die beschriebenen Haltungen des Sich-nicht-Befugt-Fühlens sind meist durch wiederholte Erfahrungen tief verinnerlicht. Man muss Gelegenheiten schaffen,
in denen die Schüler nunmehr andere Erfahrungen machen können, sich
selbst als wirksam erleben und Selbstbewusstsein entwickeln können.
Wichtig ist also, dass sie Anlässe und Räume bekommen, ihre Haltungen,
Dispositionen und Interessen in Bezug auf Politik auszudrücken, sich
dazu in Beziehung zu setzen. Dabei ist zunächst zweitrangig, auf welche
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Weise das geschieht – visuell, verbal, körperlich, emotional, rational
usw. Es gilt, diese Prozesse pädagogisch zu unterstützen, Medien für
Ausdrucksmöglichkeiten bereit zu stellen und dann dazu zu ermuntern,
Worte zu finden, sich zu artikulieren, der Stimmung Stimme zu geben.
Lehrkräfte geraten dabei bisweilen in die Rolle eines „Mäeuten“, also
einer Art Geburtshelfer, der dazu beizutragen versucht, vergrabene Dinge
ans Tageslicht zu befördern. Dazu gehört eine forschende pädagogische
Haltung, die die politischen Ausdrucksformen der Schülerinnen und
Schüler nicht von einer erhöhten Position aus betrachtet und das Fehlen
„korrekter“, elaborierter Kompetenzen konstatiert, sondern Empathie für
das vorhandene Wissen und Können entwickelt. Die generelle Erfahrungsorientierung findet sich dann auch wieder, wenn im Verlauf von
Modul 4 die Klasse ein gemeinsames „politisches“ Projekt entwickeln und
umsetzen soll.
Nachdem in diesem ersten Kapitel die Vorstellung politisch desinteressierter Schüler und Erwachsener aus schulbildungsfernen und sozial
unterprivilegierten sozialen Milieus als Bestandteil einer symbolischen
Ausgrenzung durch die Gesamtgesellschaft reformuliert wurde, sollen in
den folgenden Kapiteln die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen für
das VorBild-Projekt umfassender als üblich dargestellt werden. Damit soll
nicht nur die zu Grunde liegende eigene Positionierung der VorBild-EntwicklerInnen innerhalb der politischen Theorie klar gestellt werden. Vielmehr soll darüber hinaus auch den Lehrkräften, die mit den VorBild-Materialien arbeiten oder in Zukunft arbeiten wollen die Gelegenheit gegeben
werden, sich über den Forschungsstand in der politischen Theorie und
der praktischen Philosophie ein umfassendes Bild zu verschaffen. Wenn
aufgrund des hohen Abstraktionsgrades einzelner Argumentationsgänge
Fragen oder Unklarheiten auf Seiten der Leserinnen und Leser entstehen
sollten, steht das VorBild-Projektteam jederzeit für eine Diskussion zur
Verfügung ([email protected]).
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
2. Allgemeine Voraussetzungen politischer Bildung
Politische Bildung im Allgemeinen hat die Zielsetzung, Bürgerinnen und
Bürger zu befähigen, Kernaspekte der Politik verstehen und beurteilen
zu können, gleichberechtigt und mündig an politischen Prozessen auf
verschiedenen Ebenen zu partizipieren und sich unter Berufung auf
individuelle legitime Ansprüche und Rechte gegenüber Zumutungen und
Einmischungen von staatlichen Institutionen, gesellschaftlichen Organisationen und privaten Dritten kompetent wehren zu können. Im Rahmen
einer demokratischen Gesellschaft kommt der politischen Bildung im
Besonderen die Aufgabe zu, diese Befähigungen auf die Ideale und die
konkreten Institutionen der Demokratie zuzuspitzen. Sie leistet damit im
Umkehrschluss einen gewichtigen Beitrag zur Demokratie und zur demokratischen Kultur, basieren diese doch schließlich auf der Idee politisch
urteilsfähiger, partizipierender und sich selbst bestimmender Staatsbürger,
ohne die die Demokratie dauerhaft nicht funktionieren kann.
Adressaten und Urheber demokratischer Rechte
Abgesehen von den zum Teil anspruchsvollen und vielfältigen Kompetenzen, die beispielsweise seitens politischer Theorie und Politikwissenschaft
von Staatsbürgern erwartet werden, verweist bereits die allgemeinste
und konsensfähige Bestimmung der demokratischen Staatsform auf die
Notwendigkeit politischer Bildung. Ein als Demokratie zu bezeichnendes
politisches Regime und dessen jeweils geltende Gesetze müssen – wie
vermittelt auch immer – auf die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger
zurückgeführt werden können: „Niemand kann eine Gewalt haben, der
Gesellschaft Gesetze zu geben, es sei denn aufgrund ihrer eigenen Zustimmung und der Autorität, die ihr von ihren Gliedern verliehen wurde.“
(Locke 1690/1992: 284) Eine stärker auf Selbstregierung und politische
Partizipation im Anschluss an Rousseau ausgerichtete Definition würde
reklamieren, dass die Adressaten politischer Regulierungen sich immer
auch als deren Autoren verstehen können müssen (Rousseau 1762/1988;
Habermas 1992). Aber schon die weniger anspruchsvolle, aber unhintergehbare Bedingung demokratischer Legitimität, die die freiwillige
Zustimmung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger als das zentrale
Kriterium betrachtet, erfordert offensichtlich Kenntnisse und Urteilskompetenzen, auf deren Vermittlung Demokratien angewiesen sind. Einerseits
müssen die Bürgerinnen und Bürger Gründe haben, die für die relative
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Überlegenheit der Demokratie gegenüber autoritären und diktatorischen
Staatsformen sprechen. Damit müssen sie auch wissen, welche Merkmale Demokratien überhaupt gegenüber anderen Regimeformen auszeichnen. Andererseits sind Demokratien darauf angewiesen, dass den jeweils
geltenden Gesetzen zu einem relevanten Anteil nicht nur aufgrund des
Sanktionspotenzials des staatlichen Gewaltmonopols gehorcht wird,
sondern aus überzeugter Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit und/oder
Gerechtigkeit. Dass die Beurteilung von politischen Regulierungsvorschlägen hinsichtlich ihrer Anerkennungswürdigkeit seitens der Bürgerinnen
und Bürger bestimmte demokratische Qualifikationen voraussetzt, wird
in demokratischen Regimen auch dadurch zum Ausdruck gebracht,
dass das zentrale politische Beteiligungsrecht – das aktive und passive
Wahlrecht – an das Erreichen eines bestimmten Alters so genannter Volljährigkeit gekoppelt ist, mit dem politische Mündigkeit und Urteilsfähigkeit
unterstellt wird. Auf der anderen Seite können Demokratien den Zugang
zu Staatsbürgerrechten und die Berechtigung zur Partizipation nicht von
einem definierten Qualifikationsstandard der Akteure abhängig machen,
weil dessen Inhalte, Niveau und Kompetenzen umstritten sind und
deswegen nur aus privilegierter oder mindestens partikularer Perspektive
bestimmt werden könnten, was die Idee der Demokratie bereits auf der
institutionellen Ebene konterkarieren würde.
Die Demokratie als Tyrannei der Mehrheit?
Dennoch sind in der politischen Ideengeschichte immer wieder Postulate
vorgetragen worden, den Zugang zur Politik nur für ‚Gebildete’ zu öffnen
(paradigmatisch Platon 1989; für den modernen Liberalismus vgl. Macpherson 1973), um die Rationalität und Moralität politischer Entscheidungen zu gewährleisten und den Einfluss demagogischer Interventionen und
populistischer Strömungen einzudämmen. Daran ist zweifellos richtig,
dass auch Demokratien gerade nicht vor der Gefahr der Dominanz
unmittelbarer und unreflektierter Präferenzen, partikularer Interessen und
entfesselter Leidenschaften in großflächigen Massengesellschaften gefeit
sind, was vor allem im Kontext von Ereignissen wie Kriegen, Terrorismus,
Mordserien, Wirtschaftskrisen u. ä. dazu führen kann, dass ihre eigenen
Grundlagen untergraben werden. Insbesondere wenn man davon
ausgeht, dass Demokratie mehr ist als ein Entscheidungsverfahren nach
der Mehrheitsregel und vielmehr auch die Beachtung und Gewährleistung von Grund- und Menschenrechten umfasst, bedarf es offenkundig
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
institutioneller Vorkehrungen und kultureller Bedingungen, die verhindern,
dass eine „Tyrannei der Mehrheit“ (paradigmatisch Tocqueville 1835/1976
und Mill 1859/1974) die Grundrechte von Minderheiten einschränkt oder
auf die generelle Relativierung als unbedingt geltender Menschenrechte
hinwirkt, wie beispielsweise auf eine Duldung von Foltermethoden oder
die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die politische Steuerung der
Gesellschaft kann nur dann im Interesse aller Beteiligten sein, wenn diese
Steuerung (wenigstens minimalen) humanistischen Gehalten folgt, wie
sie etwa im Namen der Menschenwürde in der Erklärung der Menschenrechte und den nachfolgenden Menschenrechtskonventionen formuliert
wurden, deren Kerninhalte in politischer Gleichheit, unantastbarer privater
Grundfreiheiten, dem Diskriminierungsverbot und dem Toleranzgebot
gegenüber alternativen Lebensentwürfen bestehen. Auf institutioneller
Ebene sollen Grund- und Menschenrechte gegenüber der potenziellen
Mehrheitstyrannei insbesondere durch Verfassungen, rechtsstaatliche
Prinzipien und Mechanismen der Gewaltenteilung geschützt werden.
Daneben aber wird allgemein davon ausgegangen, dass Demokratien
zusätzlich auf günstige Bedingungen politischer Kultur angewiesen sind,
als dessen Basis ein verbreitetes demokratisches Bewusstsein gelten
kann, dass außerdem dazu geeignet ist, zu oft so genanntem zivilgesellschaftlichem Engagement zu motivieren, wenn es darauf ankommt, den
Gehalt der Grundrechte in lebensweltlichen Kontexten anzuwenden oder
durchzusetzen oder aber im Rahmen sozialer Bewegungen gegenüber
politischen Ein- und Übergriffen zu verteidigen. Neben der Gewähr von
Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
kann nur politische Bildung zur Erhaltung einer vitalen demokratischen
Kultur beitragen. Dass ein nachhaltiges Verständnis von Sinn und Gehalt
der Menschenrechte auf Bildung angewiesen ist (Beer 2002), richtet sich
gleichzeitig gegen die These, es gäbe ‚Ungebildete’ von Natur aus, also
Menschen, die nicht in der Lage sind, sich Bildung anzueignen. Nicht nur
ist die These einer gleichsam ontologischen „Natürlichkeit“ des Menschen
philosophisch kaum zu begründen (Hume 1793/1989, 1748/1993; Kant
1781[7]/1992; Jannich 2005); sie widerspricht in ihrem Kern der Idee der
Demokratie: Diese muss schließlich davon ausgehen, dass grundsätzlich
alle Menschen befähigt (wenn auch nicht notwendig willens) sind, sich Bildung anzueignen, um die wesentlichen Aspekte politischer Einfluss- und
Entscheidungskanäle zu verstehen, unter Gesichtspunkten demokratischer Legitimität zu beurteilen und die je eigenen Möglichkeiten für eine
gleichberechtigte und mündige Partizipation zu realisieren. Politische
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Bildung, will sie ein Beitrag zur Demokratie sein, muss also von diesem
Grundsatz ausgehen, ansonsten würde sie sich selbst ad absurdum führen.
Die Notwendigkeit verständiger Rechtssubjekte
Wenn demokratische Kultur, politische Urteilsfähigkeit und politische Beteiligungen Bedingungen für das Funktionieren der Demokratie sind, und
politische Bildung dazu dient, diese Bedingungen zu realisieren, kann die
politische Bildung als eine Säule demokratischer Gesellschaften verstanden werden. Aber auch aus der Perspektive der individuellen Bürger lässt
sich die Notwendigkeit politischer Bildung begründen. Im Namen einer
effektiven Verwirklichung und Durchsetzung von Menschenrechten kann
geltend gemacht werden, dass eine Menschenrechtsbildung unverzichtbar ist, die die Individuen befähigt, ihre Rechte zu erkennen, deren intersubjektive, gesellschaftliche, administrative und politische Anerkennung
ggf. einzufordern oder gar unter Inanspruchnahme der Institutionen des
Rechtsschutzes notfalls auch einzuklagen. Nicht zuletzt enthält die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte selbst ein individuelles Recht auf
Bildung, das u. a. „die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit
und die Stärkung und Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten
zum Ziele haben“ soll (Artikel 26).
Auch wenn mit den obigen Bemerkungen schon implizit Antworten auf
die Frage der genaueren Inhalte politischer Bildung gegeben worden
sind, bedarf es noch einer genaueren Klärung des Konzepts politischer
Bildung, weil sowohl der Begriff der Bildung als auch der Begriff des
Politischen einen breiten Bedeutungshof haben. Um daher Klarheit in eine
mögliche Antwort zu bringen, sollen diese Begriffe für die weitere Verwendung (grob) definiert und erläutert werden. Weil es politische Bildung im
Gegensatz zur Politikwissenschaft insbesondere mit Demokratie und der
Vermittlung demokratischer Kompetenzen zu tun hat, wird im VorBildProjekt ein Konzept politischer Bildung vertreten, dass Demokratie und
Menschenrechte als zentrale Legitimitätskriterien moderner Politik und
individueller politischer Urteils- und Handlungsfähigkeit beinhaltet.
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
2.1Bildung
Begriffe sollten möglichst trennscharf und eindeutig gebildet und verwendet werden. Eine gehaltvolle Begriffsbestimmung zielt zudem auf
eine Abgrenzung zu oppositionellen und verwandten Begriffen. In diesem
Sinne kann der Bildungsbegriff abgegrenzt werden von einem reinen
Wissensbegriff. Dieser meint das Haben von spezifischen Wissensinhalten, die sich möglichst standardisieren lassen und auf Anfrage abgerufen
werden können (z. B. Klausur). Damit soll Wissen keineswegs abgewertet
werden. Wissensinhalte besitzen einen hohen pragmatischen Nutzen, da
sie für die Auseinandersetzung mit der materiellen und sozialen Umwelt
unabdingbar sind. Unsere Umwelt erschließt sich uns schließlich über das
Wissen, das wir von ihr haben, und das wir gegebenenfalls zur Verfügung
haben müssen, um uns zu orientieren. In einem ontogenetischen Sinne
verweist der Wissensbegriff auf den Begriff des Lernens, der aus dieser
Perspektive zunächst einen rein additiven Vorgang meint: Die Akkumulation von Wissen. Wissen ist damit ein Begriff der sich eindeutig nicht
auf den homo sapiens beschränkt und möglicherweise auch im Bereich
der Computertechnologie sinnvoll angewendet werden kann. Und wie
die neuere Hirnforschung vermutet, bezieht sich Lernen bereits auf unser
neuronales Netzwerk, also eine rein biologisch gedachte Entität (Spitzer
2000; Singer 2002).
Bildung dagegen kann als die Reflexivform des Wissens verstanden
werden. Hier geht es nicht so sehr darum, in bestimmten Situationen ein
bestimmtes Wissen zur Anwendung zu bringen, sondern dieses Wissen
in einen breiteren Kontext zu stellen und gegebenenfalls kritisch zu hinterfragen (Habermas 1968; Piaget 1980, Adorno 1997). Gemeint ist damit
die Fähigkeit, bestimmte Wissensinhalte begründen und (notwendige)
Konsequenzen und Ableitungen aus diesem Wissen folgern zu können.
Dies impliziert, dass mindestens eine Alternative bekannt ist, um den
Wissensinhalt so in eine Differenz zu bringen, dass der Wissensinhalt eine
gehaltvolle Information wird (Baetson 1987). Einen emanzipatorischen
Charakter bekommt Bildung dadurch, dass Bildung ermöglicht, eigenes
Wissen zu generieren und auf sozial vermitteltes Wissen mit einer Ja /
Nein-Stellungnahme zu reagieren. Ontogenetisch grenzt sich Bildung
vom Wissensbegriff vor allem dadurch ab, dass Bildung kein additives
Akkumulieren erlaubt.
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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Wenngleich also mit dem Bildungsbegriff mehr ein Sein (im Sinne von
allgemeiner Befähigung) als ein Haben (von konkreten Wissensinhalten)
beschrieben wird, ist der Bildungsbegriff nicht unabhängig vom Wissensbegriff. Dies zum Einen schon deshalb, weil sich Bildungskompetenzen
auf Wissen beziehen. Dies zum Anderen, weil vermutet werden kann,
dass erst sich widersprechende Wissensinhalte (also ein Unterschied, der
einen Unterschied macht) eine Ontogenese anschieben, die dazu anregt,
überhaupt reflexiv auf Wissen zuzugreifen (Piaget 1976).
2.2Politik
Einer vielfach verwendeten Definition nach wird der Begriff des Politischen
als der gesellschaftliche Bereich verstanden, in dem kollektiv verbindliche
Entscheidungen in einem als politische Einheit markierten Gemeinwesen
getroffen werden (vgl. z.B. Luhmann 2002). Explizit ausgenommen sind
damit andere Handlungsbereiche der Gesellschaft, wie beispielsweise
Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Kunst, Sport usw. Ebenso ausgeschlossen ist damit der Bereich des Privaten, der persönlichen Beziehungen und der Familie, der gemeinhin als ein Raum aufgefasst wird, der vor
staatlichen Eingriffen stärker zu schützen ist (siehe dazu Rössler 2001).
Innerhalb dieser nicht-politischen Bereiche kann zwar Politik eine Rolle
spielen – beispielsweise indem politische Regeln und Gesetze dort jeweils
hineinwirken oder von dort aus gefordert werden oder aber politische
Themen besprochen und diskutiert werden können –, aber die primären
Zwecke und Funktionen sind jeweils andere als Politik.
Defizite eines klassischen Verständnisses von institutionalisierter
Politik
Diese Definition von Politik als ein Handlungsbereich, der sich in einem
gemeinhin als politisches System bezeichneten institutionell abgegrenzten
Raum vollzieht, hat nun offenkundig zwei kaum zu übersehende Defizite.
Zum einen ignoriert sie die Dimension demokratischer Legitimität, weil
sie als eine empirisch-analytische und übergreifende Bestimmung der
Logik des Politischen die Demokratie – wie auch immer sie im Einzelnen
definiert wird und institutionalisiert ist – nur als eine bestimmte historische
Variante der Verfasstheit politischer Systeme auffasst. Wenn man jedoch
davon ausgeht, dass Politik nur noch in demokratischer Gestalt zu recht20
DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
fertigen ist, muss die Definition von Politik als die Herstellung kollektiv
verbindlicher Entscheidungen in einer politischen Einheit um die Legitimitätskriterien des demokratischen Charakters der politischen Entscheidungsverfahren und der Kompatibilität mit Grund- und Menschenrechten
erweitert werden. Darüber hinaus ist politische Bildung ohnehin nicht mit
Politikwissenschaft zu verwechseln, weil diese als Staatsbürger(innen)Qualifikation (im Zuge europäischer Harmonisierung dieses Bereichs ist
die Rede von citizenship education) und nicht etwa als Belehrung von Untertanen ja zur Reproduktion der kulturellen Bedingungen der Demokratie
selbst beitragen soll. In Deutschland ist es ohnehin weitgehend Konsens,
dass nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus politische Bildung
als ein Element der Demokratisierung und der demokratischen Kultur
aufzufassen ist (vgl. Sander 2005a).
Das zweite Problem der o.a. Definition von Politik als Herstellung kollektiv
verbindlicher Entscheidungen besteht darin, dass damit eine Perspektive auf politische Institutionen in einem engeren Sinn, wenn nicht gar
auf dezidiert staatliche bzw. administrative Institutionen, eingeführt wird.
Richtig daran ist sicher, dass auch in modernen Demokratien kollektiv
verbindliche Entscheidungen (zumindest solche, die für die ganze Gesellschaft des betreffenden Gemeinwesens verbindlich sind) zumindest
überwiegend durch spezifisch dafür vorgesehene Institutionen (Parteien,
Wahlen, Parlamente, Regierungen) getroffen werden. Andererseits aber
sind die politischen Institutionen und die kollektiv verbindlichen Entscheidungen, die innerhalb der politischen Institutionen getroffen werden, auf
die Akzeptanz und teilweise auch die Unterstützung von Bürgerinnen und
Bürgern und deren Zusammenschlüssen in gesellschaftlichen Gruppen
und Organisationen angewiesen. Aus demokratischer Perspektive sollen
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger politischen Regulierungen ja zumindest in der Mehrheit zustimmen (können) oder sich gar an der Artikulation politischer Interessen und der Formulierung politischer Programme
beteiligen. Und in der Tat stellen die verschiedensten Gruppen, Vereine
und Verbände aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auch
Forderungen an die Politik, weil sie zur Verwirklichung ihrer jeweiligen
Ziele und Zwecke auf die politische Bewältigung sie betreffender sozialer
Probleme oder politisch gesetzter Rahmenbedingungen angewiesen
sein können oder aber auch sich gegen als illegitim erachtete politische
Eingriffe zur Wehr setzen.
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
DVD VorBild
21
Ein funktionalistisches Verständnis von Politik
Vor diesem Hintergrund bietet sich eher ein funktional bestimmter Politikbegriff an, der Politik als einen Handlungsmodus auffasst, „der in erster
Linie an seinen Zwecken und Wirkungen und nicht an den Formen seiner
Organisation und Institutionalisierung zu bemessen ist.“ (Meyer 2000: 22)
Politik wäre dann die Gesamtheit der Aktivitäten zur Herstellung oder Kritik gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen und Regeln, ganz
gleich von welchen Organisationen und Akteuren sie jeweils ausgehen.
Immer dann, wenn Probleme als politische adressiert werden und wenn
Regelungen, Deregulierungen oder der Verzicht auf Regeln im Kontext einer politischen Einheit (z.B. Kommune, Land, Staat, EU, Institutionen der
UN) gefordert oder vorgeschlagen werden, handelt es sich demnach um
Politik. Da außerdem auch innerhalb verschiedener sozialer und kollektiver
Einheiten (z.B. Familien, Bekanntenkreisen, Vereinen, Stammtischen,
Firmen) über Politik gesprochen und diskutiert werden kann, ohne dass
die jeweilige Einheit direkt von politischen Regeln betroffen sein muss
oder sie selbst betreffende politische Forderungen artikulieren, muss
ein demokratischer Politikbegriff auch in dieser Richtung ausgedehnt
werden. Solche Diskussionen betreffen etwa tagespolitische Aktualitäten,
gesellschaftspolitische Visionen, die Institutionen der Demokratie und das
Demokratieverständnis selbst. Solche Diskussionen tragen zweifelsohne zur Meinungsbildung einzelner Akteure bei und stellen somit einen
Raum zur Verfügung, innerhalb dessen die öffentliche Meinungsbildung
ausprobiert und vorbereitet werden kann. Wird auch dieser Aspekt in die
Definition des Politischen aufgenommen, modifiziert sich der demokratische Politikbegriff dahingehend, dass das Politische alle Kommunikationen und Aktivitäten umfasst, die informell oder formell zur Entscheidung
oder Beurteilung kollektiv verbindlicher und legitimer Entscheidungen im
Rahmen eines politisch definierten Gemeinwesens beitragen.
Ein solcher Politikbegriff hat mehrere Vorteile. Erstens ist der jeweilige
Gegenstand der Politik sachlich und zeitlich variabel, so dass es von
den politischen Kommunikationen und Handlungen der verschiedenen
Akteure abhängt, ob, um nur zwei Beispiele zu nennen, ökonomische
Verhältnisse auch politische Relevanz gewinnen oder das Private etwa in
Gestalt der Geschlechterverhältnisse als politisch aufgefasst wird. Zweitens kann damit eine im modernen Demokratieverständnis wesentliche
Instanz in den Politikbegriff einbezogen werden, die ansonsten notwendig
marginalisiert würde: nämlich die Sphäre der Öffentlichkeit, die im Prozess
22
DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
der Verhandlung kollektiv verbindlicher Entscheidungen berücksichtigt
werden muss (Habermas 1992).
Demokratie und Öffentlichkeit
Das zeigt sich allein schon daran, dass selbst politische Programme und
Gesetzesvorschläge aus dem politischen System der sie betreffenden
Gesellschaft gegenüber transparent sein, d. h. mindestens Interessierten
zugänglich sein müssen. Darüber hinaus müssen sie im Allgemeinen
öffentlich gerechtfertigt werden, um Aussicht auf eine mehrheitliche Unterstützung in der Gesellschaft zu haben. In anspruchsvolleren Demokratiekonzeptionen wird zudem davon ausgegangen, dass sich im Rahmen
gewährleisteter Grundrechte politischer Beteiligung aus der Gesellschaft
heraus Initiativen und Zusammenschlüsse bilden, die Bedürfnisse
politischer Regulierung artikulieren, aggregieren und an die etablierten
politischen Akteure und Institutionen adressieren und damit u. U. auch
die Bedingungen gesamtgesellschaftlicher Konsense beeinflussen und jeweilige Verfassungsinterpretationen verändern (Rödel/Frankenberg/Dubiel
1989). Ein die Öffentlichkeit einbeziehendes Demokratieverständnis kann
also nicht von einer gegenüber dem politischen System abgegrenzten
unpolitischen Gesellschaft ausgehen.
Vielmehr spielt die Gesellschaft in bestimmten Konstellationen eine variierende politische Rolle, was im Allgemeinen in der vielzitierten Rede von
der „Zivilgesellschaft“ zum Ausdruck gebracht wird. Damit werden in der
Regel vom politischen und ökonomischen System relativ unabhängige
kollektive Akteure bezeichnet, die als Teil der Öffentlichkeit fungieren und
einen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung ausüben. Zu denken ist
hier an Interessengruppen, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und soziale
Bewegungen. Vermittels der Mitgliedschaft in solchen Kollektiven können
die Bürgerinnen und Bürger an demokratischen Entscheidungsprozessen
teilnehmen. Das allerdings wirft die Frage der sowohl internen als auch
externen demokratischen Qualität solcher gesellschaftlichen Gruppen
und Organisationen auf. Erstens kann man nicht generell von einer
internen demokratischen Organisation von Kollektiven in der Gesellschaft
ausgehen. Bekanntlich gibt es zahlreiche religiöse und ethnisch-nationalistische Gruppen und Bewegungen, die intern hierarchisch organisiert
sind und nicht in jedem Fall die Freiheit ihrer Mitglieder fördern. Manche
fundamentalistische und sektenförmige Gruppen haben ein komplexes
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
DVD VorBild
23
System von Verpflichtungsappellen, Drohungen, Strafen und manchmal
auch individueller Bespitzelung ausgebildet, um die kollektive Integrität zu bewahren und individuellen Widerspruch und Abwanderung zu
verhindern. Aber auch etablierte und anerkannte Organisationen wie
Kirchen, Wissenschafts-, Wirtschafts- und Berufsverbände vertreten
teilweise eher die Interessen ihrer jeweiligen Eliten als die ihrer Mitglieder.
In dieser Hinsicht muss aus demokratischer Perspektive gewährleistet
werden, dass, je mehr solche Organisationen einen offiziellen Einfluss
auf den politischen Prozess ausüben, sie auch nach internen demokratischen Verfahren organisiert sein sollten. In externer Hinsicht ergibt sich
ein weiteres Problem zentrales Problem: lange nicht alle Vereinigungen
artikulieren Problemlagen von gesamtgesellschaftlichem Interesse und
handeln im Sinn eines wie auch immer genauer verstandenen Gemeinwohls. Zahlreiche Bürgerinitiativen formieren sich um eindeutig partikulare
Interessen oder versuchen gar, die Risiken und Probleme von teilweise
für im Prinzip richtig gehaltenen gesellschaftlichen und technologischen
Einrichtungen und infrastrukturellen Maßnahmen auf andere Gebiete und
Bevölkerungsgruppen abzuschieben. Die Beispiele sind zahlreich: Mit der
Parole „aber nicht bei uns“ wird regional nicht selten z.B. gegen den Bau
von Kraftwerken, Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Moscheen oder
gegen die Einrichtung von Asylbewerberheimen oder Aufenthaltsräumen
für Obdachlose oder Drogenabhängige usw. mobilisiert. In dieser Hinsicht
bleibt nichts anderes als darauf zu vertrauen, dass vitale Zivilgesellschaften genügend freiwillige Initiativen und Bürgerbewegungen hervorbringen, die politischen Zielen und Forderungen aus der Gesellschaft einen
öffentlichen „Verallgemeinerungstest“ abverlangen und dementsprechend
partikulare Interessen de-legitimieren können.
Das Spannungsverhältnis zwischen Politik, Gesellschaft
und Öffentlichkeit
Der Verzicht auf eine kategoriale Abgrenzung von Politik und Gesellschaft bedeutet indes nicht, die Rolle dezidiert politischer Akteure und
Institutionen bei der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen
gering zu schätzen. Auch Habermas siedelt seinen Demokratiebegriff
auf der liberalen Vorstellung einer Trennung von Gesellschaft und Staat
an (Engländer 1995; Habermas 1996) und sieht die Realisierung des
Regelbedarfs moderner Gesellschaften erst dann gewährleistet, wenn er
von den aufwendigen Kommunikationsprozessen aller (möglicherweise)
24
DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
Betroffenen entlastet ist. Dennoch gründet sein Verständnis der Demokratie insofern in diesen Kommunikationsprozessen, als diese sich so zu
einer öffentlichen Meinungsmacht verdichten sollen, dass sie die Rechtssetzungsinstitutionen umlagern und programmieren (vgl. auch Heming
1997), diese also nicht unabhängig von öffentlichen Diskursen sind. Eine
solche Konzeption demokratischer Legitimität geht davon aus, dass über
die öffentlichen Diskurse neben partikularen Interessen und Machtmotiven auch gerade ethische Überlegungen und moralische Intuitionen der
Akteure in die parlamentarischen Debatten einfließen. Ethische Gründe
und Argumente betreffen nach Habermas die Vereinbarkeit einer vorgeschlagenen politischen Maßnahme mit dem geteilten Selbstverständnis
der jeweils relevanten Gemeinschaft bzw. der jeweils als Gemeinwohl
erachteten kollektiven Zielsetzungen. Moralische Gründe und Argumente
basieren auf der grundlegenden Intuition, dass bestimmte Handlungskonflikte unter unparteilicher Berücksichtigung der legitimen Interessen aller
Betroffenen gelöst werden sollten.
Nach der von Habermas vertretenen diskursethischen Lesart wären so
nur solche Normen und Regelungen zu rechtfertigen, die die zwanglose
Zustimmung aller Betroffenen in einem herrschaftsfreien und unparteilichen Diskurs finden können (Habermas 1991). Die aber wohl beste allgemeine Erläuterung des moralischen Standpunkts bietet aber wahrscheinlich die Fassung des Kantischen Kategorischen Imperativs, nach der
Personen nie bloß als Mittel, sondern immer auch als Zwecke betrachtet
und behandelt werden sollten (vgl. Tugendhat 1993). Entscheidend ist die
allgemein geteilte moralische Intuition, dass es jedenfalls Grenzen der Instrumentalisierung, Verzweckung und Verdinglichung von individuellen Personen geben sollte, wie auch immer diese genau spezifiziert und konkretisiert werden. Dass Menschen in diesem Sinn als individuelle Personen mit
eigenem Willen, eigenen Interessen, Bindungen und Überzeugungen zu
respektieren sind, wird letztlich im Begriff der Menschenwürde verdichtet,
die wiederum auf staatlicher Ebene vorrangig durch institutionalisierte
individuelle Grund- und Freiheitsrechte zu gewährleisten ist.
Demokratie, Interessen und Strategien
Nun kann selbstverständlich weder der politische Prozess im Ganzen
noch die rhetorischen Auseinandersetzungen politischer Akteure um
politische Regulierung allein auf ethische und moralische Überlegungen
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
DVD VorBild
25
in öffentlichen Kontexten zurückgeführt werden. Ein wesentlicher Teil des
politischen Prozesses besteht bekanntlich aus Interessen, die auf Basis
der Verfügung ungleich verteilter Ressourcen wie ökonomischem Kapital,
Bildung, kollektiver Organisationsfähigkeit, Prestige und Prominenz
versuchen, sich einen privilegierten Einfluss zu verschaffen und Status-,
Macht- und Herrschaftsansprüche zu realisieren. Auch in Demokratien
werden Konflikte um knappe Ressourcen häufig auf Basis von Verhandlungen gelöst, die keineswegs die Interessen und Überzeugungen aller
betroffenen Bürger einschließen, sondern den jeweiligen Drohpotentialen
einflussreicher organisierter Interessen entsprechen. Selbst auf der Ebene
politischer und öffentlicher Debatten dominieren oft nicht unbedingt Argumente im strengen Sinn: definiert als eine spezifische Form der Kommunikation, in der Aussagen mit bestimmten Gründen verteidigt werden, um
bestimmte Adressaten zu überzeugen und so einen rational motivierten
und freiwillig akzeptierten Konsens herbeizuführen (vgl. Toulmin 1958).
Stattdessen gibt es in der Politik viele Sprechakte anderer Art, wie bspw.
nicht näher spezifizierte Ankündigungen, Vorschläge und Versprechungen, bloße Bekenntnisse, Mutmaßungen und Unterstellungen über die
Motive der jeweiligen politischen Gegner und nicht selten Drohungen verschiedener Art. Ein großer Anteil politischer Kommunikation besteht, wie
man täglich beobachten kann, in der Kritik und Diffamierung des politischen Gegners, dem z.B. Inkonsistenzen der Haltung und Programmatik,
innerparteiliche Zerrissenheit und Unaufrichtigkeit vorgeworfen werden,
und, korrespondierend, in der jeweils eigenen positiven Selbstdarstellung,
indem z.B. auf die Konsistenz und Kohärenz des eigenen Standpunkts
verwiesen wird und selbst erklärte eigene Verdienste beschworen werden.
Hinzu kommen bewusste Strategien der durchaus manipulativ gemeinten
„Begriffsbesetzung“ als ein Aspekt der inzwischen allgemein üblichen
systematischen parteipolitischen Kampagnenplanung zur Erlangung kultureller Hegemonie als Voraussetzung politischer Mehrheitsfähigkeit. Ein
oft genanntes Beispiel der Verwendung vor allem positiv konnotierter zentraler Begriffe – womit gleichzeitig sozusagen die Handlungskompetenz
der politischen Akteure betont werden soll, regulierende Eingriffe in der
natürlichen und sozialen Welt in einem gewünschten Sinn durchführen zu
können – besteht in der Rede von „Herausforderungen“ statt von „Problemen“. Populistische Taktiken der Skandalisierung und Personalisierung,
die vor allem Emotionen adressieren oder gar vorhandene Ressentiments
26
DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
systematisch in Regie nehmen wollen, sind ebenso kontinuierlich wiederkehrende Phänomene politischer Auseinandersetzungen.
Die unhintergehbare Normativität des Politischen
Gerade jedoch im Sinne der Zielsetzung politischer Bildung, die zu
kritischem Urteilen und zur Partizipation möglichst breiter Bevölkerungsschichten an der Demokratie befähigen soll, erscheint es angemessen,
Politik vorrangig in ihrer normativen Dimension in den Blick zu nehmen.
Bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden in Demokratien
unter Rückgriff auf ihre allgemein geteilten Werte und Legitimitätsprinzipien gerechtfertigt und kritisiert. Demokratische Staaten lassen sich nicht
allein durch Referenz auf ihre jeweilige offizielle und regierungsamtliche
Selbstbeschreibung charakterisieren, weil sie dann von Diktaturen, die
sich heutzutage in der Regel ebenso als demokratisch, „volksdemokratisch“ oder „Demokratie im Übergang“ o.ä. nicht unterscheidbar wären.
Demokratien zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass ihre idealen
Werte und Prinzipien selbst einen „Sitz in der Realität“ haben, nämlich im
Bewusstsein und Verhalten ihrer Bürgerinnen und Bürger selbst, in der
Programmatik politischer Akteure und in den Funktionen ihrer politischen
Institutionen. Die demokratischen politischen Parteien beziehen sich
gemeinhin auf die Werte der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wobei
die wesentlichen programmatischen Unterschiede in verschiedenen
Interpretationen der einzelnen Werte und insbesondere deren Verhältnis
zueinander bestehen.
Vereine und Verbände artikulieren ihre partikularen Interessen stets
unter Bezug auf gemeinwohlverträgliche oder -förderliche Aspekte. Die
Verfassungen demokratischer Gemeinwesen ebenso wie internationale
Konventionen und Verträge auf Basis der Charta der Vereinten Nationen
beziehen sich bekanntlich auf die beiden grundlegenden Legitimitätsprinzipien der Demokratie und Menschenrechte. Politik wird nicht von
ungefähr in modernen, säkularen Gesellschaften als die einzig verbliebene
Sphäre ihrer moralischen Integration betrachtet; insbesondere die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist als Reaktion auf die Barbarei
des deutschen Nationalsozialismus als die „lingua franca des weltweiten
moralischen Denkens“ bezeichnet worden (Ignatieff 2002: 74). Politische
Interessen und Vorschläge kollektiv verbindlicher Regelungen müssen
sich vor dem Hintergrund dieser Werte und Prinzipien legitimieren. In
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
DVD VorBild
27
demokratischen Staaten gibt es deswegen eine Reihe von Institutionen,
die eine kritische Prüfung und Beratung von politischen Initiativen und
Gesetzesvorschlägen ermöglichen sollen, insbesondere z.B. Parteitage,
Parlamente, Ausschüsse und Gerichte.
Für die politische Bildung ist aber die Frage zentral, in welcher Weise die
möglichst weitreichende Kenntnis und ein reflektiertes Verständnis dieser
normativen Prinzipien der Demokratie als Kriterien politisch-demokratischer Urteilsbildung bestmöglich zu vermitteln sind. Die nachfolgenden
Überlegungen laufen darauf hinaus, dass die normativen Legitimitätsprinzipien demokratischer Gesellschaften, insbesondere in Gestalt von Demokratie und Grundrechten, als Prüfkriterien realer politischer Prozesse ihren
Sitz im Bewusstsein demokratisch kompetenter Bürger haben (sollten).
3. Politische Bildung in der Demokratie
Der politischen Bildung im Rahmen demokratischer Gesellschaften
kommt also die besondere Aufgabe zu, die individuelle als auch gemeinsame Befähigung zur politischen Urteilsfähigkeit, zur passiven und aktiven
Partizipation am demokratischen Prozess und zur selbstbestimmten
Ausschöpfung grundrechtlich geschützter Handlungsspielräume zu unterstützen bzw. anzuschieben. Obwohl die Inhalte der politischen Bildung
in der Demokratie dadurch bereits angedeutet worden sind und obwohl
im Großen und Ganzen Einigkeit darüber besteht, dass Demokratie ein
zentraler Referenzpunkt politischer Bildung sein muss, bleibt damit noch
offen, ob sich das zu vermittelnde Demokratieverständnis eher auf ein
bereits etabliertes System demokratischer Institutionen beziehen soll oder
aber auf ein aus der Ideengeschichte abgeleitetes Konzept, das grundlegendere Kriterien der Beurteilung und möglichen Kritik realer politischer
Prozesse bereitstellt.
Zum einen kann der Fokus politischer Bildung auf die Funktionsweise
eines Systems demokratischer Institutionen gelegt werden, in dem Demokratie in einer spezifischen Weise verankert ist und auf Basis dessen
interpretiert wird. Der Vorteil dabei wäre, dass damit die politische Bildung
die entsprechenden Zielgruppen direkt auf ein Verständnis von und eine
politische Partizipation an existierenden Institutionen (z.B. Parteien, Wahlen, Verbände) befähigen könnte. Der Nachteil dabei aber ist, dass im demokratischen Selbstverständigungsprozess auch die Idee der Demokratie
28
DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
selbst und die zu einem historischen Zeitpunkt realisierte Demokratieform
und deren korrespondierenden Institutionen in den öffentlichen Meinungsaustausch einbezogen werden müssen, soll die Demokratie nicht als
autoritäres oder paternalistisches Projekt enden.
Der ideengeschichtliche Zugang zur Demokratie
Die alternative Möglichkeit, die diesen Punkt berücksichtigt, ist das
Bemühen die Idee der Demokratie aus der Ideengeschichte abzuleiten.
Der (scheinbare) Nachteil ist dann zwar, dass damit einzig ein abstrakter
Begriffsrahmen extrahiert wird. Dies ist jedoch zugleich der Vorteil dieser
Strategie, weil damit ein Demokratiebegriff gefunden wird, der hinreichend
allgemein ist, um die ideellen Grundlagen der Demokratie zu verstehen,
der also befähigt, die Idee der Demokratie selbst und die Institutionen in
den Sog der Problematisierung zu ziehen. Wird diese Strategie gewählt,
zeigt sich indessen ein zweiter damit zusammenhängender Vorteil. Die
Idee der Demokratie ist nämlich in der Ideengeschichte keineswegs eine
eindeutig festgelegte Angelegenheit. Vielmehr wird spätestens seit der
Aufklärung um die Auslegung bzw. Interpretation der demokratischen
Idee eine Kontroverse geführt, die die Breite des Demokratiebegriffes
absteckt, und deren ansatzweise und perspektivische Kenntnis zweifelsohne eine gewichtige Voraussetzung ist, um gleichberechtigt und mündig
am demokratischen Diskurs auch über die Demokratie selbst und ihre
Institutionen zu partizipieren. Denn die Vermittlung von Prinzipien demokratischer Legitimität als Kriterien kritischer Urteilsbildung und mögliches
Motiv kritisch-politischer Beteiligung ist gerade in der politischen Bildung
von Bedeutung, als politische Partizipation in einer Demokratie ihrem
eigenen Selbstverständnis nach gerade nicht auf die Teilnahme in einem
von politischen Eliten und Experten vorgegebenen institutionellen Prozedere beschränkt werden kann. Damit wären die Aspekte eines idealen
Konzepts der Demokratie – z.B. staatsbürgerliche Gleichheit, Identität von
Regierenden und Regierten, menschenrechtliche Kompatibilität politischer
Entscheidungen – eher kritische Kriterien der Beurteilung statt der Darstellung realer sich als demokratisch beschreibender Verhältnisse.
Varianten demokratischer Vergesellschaftung
Mit einem kurzen Blick in die Demokratietheorie lässt sich illustrieren, dass
bereits die verschiedenen Modelle der Demokratie, die in der Theorie übliTheoretisch-konzeptuelle Grundlegung
DVD VorBild
29
cherweise unterschieden werden, allesamt bestimmte Defizite aufweisen,
die zentrale demokratische Kriterien wie etwa die gleiche Partizipation
aller Bürgerinnen und Bürger und allen von politischen Entscheidungen
Betroffenen gleichermaßen gerecht werdende Ergebnisse unzureichend
realisieren. Repräsentative Demokratien laufen mit der Etablierung professioneller politischer Eliten Gefahr, dass sich die gewählten Repräsentanten vom „Volkswillen“ entfremden. Außerdem kann die Anwendung
der Mehrheitsregel immer auf eine „Tyrannei der Mehrheit“ hinauslaufen, wodurch die unterlegenen Minderheiten ihrer Repräsentation und
eventuell gar ihrer Rechte beraubt werden. Basis- und Rätedemokratien
privilegieren eine politische Existenzweise der Bürgerinnen und Bürger,
die aber möglicherweise viele andere Verpflichtungen und auch Interessen
haben, für deren Verfolgung die individuellen Grundrechte ihnen schließlich Handlungsfreiheiten gewähren, die eine mögliche freiwillige Abstinenz
von Politik einschließen. Im Ergebnis kann eine im Übermaß auf politische
Mitwirkung in verschiedenen Gremien auf unterschiedlichen Ebenen
angelegte Verpflichtung zu einer Herrschaft der politisch Interessierten
und Engagierten führen. Plebiszitäre Demokratien, in denen ein breites
Spektrum politischer Fragen durch Volksabstimmungen entschieden wird,
bergen die Gefahr, dass politische Entscheidungsprozesse im Übermaß
von egozentrischen, unvermittelten und unaufgeklärten Präferenzen,
aktuellen öffentlichen Stimmungen und demagogischen Einflussnahmen
abhängig sind, was die erwähnten negativen Konsequenzen der Anwendung der Mehrheitsregel verschlimmern kann. Pluralistische Demokratien,
die davon ausgehen, dass sich die in einer Gesellschaft existierenden Interessen in Organisationen (Vereinen, Verbänden, Parteien) pyramidenförmig nach oben aggregieren, ignorieren das Problem, dass sich so in der
Gesellschaft bereits vorhandene soziale Machtverhältnisse unvermittelt
in politische übersetzen und damit politisch reproduziert und strukturell
verfestigt werden. Sowohl faktisch unorganisierte Interessen als auch von
der Sache her schwerer organisierbare Interessen wie beispielsweise die
von Hausfrauen oder -männern oder die des Umweltschutzes werden
damit strukturell benachteiligt (vgl. Offe 1971).
Die in politischer Theorie und Politikwissenschaft in jüngerer Zeit eine
starke Konjunktur erfahrenen Modelle deliberativer Demokratie, die in
ihrem Kern davon ausgehen, dass sich private und partikulare Interessen
in Foren ausführlicher und rationaler Beratung in öffentliche verallgemeinerungs- und konsensfähige Standpunkte und in von allen Beteiligten
30
DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
akzeptable Regeln transformieren lassen, stehen vor dem Problem, dass
entsprechende Beratungsgremien in modernen Massendemokratien nur
partiell vorstellbar und institutionalisierbar sind. Wenn zudem politische
Entscheidungen ausschließlich oder auch nur überwiegend auf Basis von
Konsensentscheidungen getroffen werden (sollen), besteht die Gefahr,
dass bestimmte dringende politische Fragen beim Fortbestehen tiefgreifender Dissense unentschieden bleiben. Das würde dem demokratischen
Selbstverständnis insofern widersprechen, als Demokratie nicht nur in
ihrer partizipatorischen Komponente (Herrschaft durch das Volk) besteht,
sondern auch in dem Element der effektiven Regulierung drängender
politischer Probleme (Herrschaft für das Volk). Zudem kann durch eine
übermäßige Ausrichtung auf Beratung bei den Bürgerinnen und Bürgern
leicht der Eindruck entstehen, dass im politischen Bereich überwiegend
geredet, statt dass das Notwendige getan wird.
Das normative Spannungsfeld der Demokratie als theoretischkonzeptioneller Ausgangspunkt des VorBild-Projekts
In diesem Sinn steht Demokratie als ideales Konzept und als moralisches
Prinzip der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger in einem notwendigen
Spannungsverhältnis zu den immer unvollkommenen konkreten Institutionen real existierender demokratischer Staaten. Im Rahmen dieses
Projekts werden das Bewusstsein und die Erfahrung dieses Spannungsverhältnisses von Idee und Wirklichkeit der Demokratie als ein zentrales
Element politischer Urteilsfähigkeit demokratischer und kritischer Bürgerinnen und Bürger aufgefasst, dem politische Bildung eine systematische
Aufmerksamkeit widmen sollte. Das klingt weitaus abstrakter als es ist.
Wenn man davon ausgeht, dass auch im Rahmen von Schule und Klassenverband kollektive Entscheidungen unter Mitwirkung der Schülerinnen
und Schüler sowohl über intern geltende Regelungen als auch über gemeinsame Aktivitäten und mögliche Projekte getroffen werden (können),
können im Rahmen dessen verschiedene demokratische Entscheidungsverfahren angewandt werden, die auch in der „großen Politik“ eine Rolle
spielen. Die Möglichkeiten und der Wert demokratischer Entscheidungen
als auch deren Grenzen und Defizite können so konkret erfahrbar werden.
Darüber hinaus ist in Theorien und Konzepten politischer Bildung wiederholt darauf hingewiesen worden, dass soziale und politische Kompetenzen mindestens in einer Reihe von Aspekten eine gewisse Verwandtschaft
aufweisen, beispielsweise wenn man an individuelle Einstellungen wie
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
DVD VorBild
31
Toleranz, Gewaltverzicht, Kooperationsbereitschaft, Anerkennung anderer
Meinungen, Interessen und Lebensformen, Diskursfähigkeit, Empathie
und Fairness denkt.
Im nachhaltigen Fokus auf den Begriff der Demokratie wird hier damit in
gewisser Weise an neuere Konzepte in der politischen Bildung angeknüpft, die unter dem Titel Demokratie-Lernen bekannt geworden sind
(z.B. Edelstein/Fauser 2001; Himmelmann 2001). Allerdings führt in
diesen Ansätzen die im Prinzip richtige Ausrichtung auf den Zusammenhang von sozialen und politischen Kompetenzen zu einem der Tendenz
nach zu weiten Politikbegriff, der die Aushandlung von kollektiven Regeln
in allen intersubjektiven Verhältnissen und sozialen Einheiten immer
auch schon als Politik versteht, wodurch „die strukturellen Unterschiede
zwischen den zumeist noch überschaubaren Gruppen in Schulen und
den hochdifferenzierten und formalisierten großen wirtschaftlichen und
bürokratischen Organisationen wie die Unterschiede zwischen pädagogischem und politischem Handeln“ unterschätzt werden (Massing 2004:
81). Die Beziehungen in und zwischen sozialen Nahbereichen, sozialen
Einheiten und gesellschaftlichen Zusammenschlüssen, politischer Öffentlichkeit und politischen Institutionen werden in diesen Konzepten als eine
Art Kontinuum gedacht und Demokratie als ein Organisationsprinzip aller
intersubjektiven und kollektiven Kontexte vorgestellt.
Grenzen des Demokratie-Lernens an Schulen
Diese Auffassung muss dahingehend relativiert werden, dass gesellschaftliche Vereinigungen und Institutionen nicht als autonome politische
Einheiten zu begreifen sind, die allein mittels bestimmter demokratischer
Verfahren über sich selbst bestimmen (könnten). Wie oben bereits angedeutet wurde, wird einerseits mit gesamtgesellschaftlich verbindlichen
Gesetzen und politischen Maßnahmen in die jeweiligen gesellschaftlichen Einheiten der Gesellschaft „hineinregiert“, andererseits können
Forderungen nach politischer Regulierung von dort aus an das politische
System adressiert werden, die mit jeweils eigenen Mitteln nicht bewältigt
werden können. Die Beschränkung von Selbstregierungsmöglichkeiten
gesellschaftlicher Einheiten und Institutionen durch politische Rahmenbedingungen muss im Übrigen auch keineswegs negativ interpretiert
werden, wenn man sich klarmacht, dass die effektive Durchsetzung von
Grundrechten wie bspw. das Verbot körperlicher Gewalt in Schulen und
32
DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
Familien anders kaum vorstellbar ist. Darüber hinaus erfüllen gesellschaftliche Institutionen wie Schulen, Universitäten, soziale Einrichtungen,
Sportvereine und Unternehmen bestimmte in der Regel auch politisch
definierte gesamtgesellschaftliche Aufgaben und Funktionen, die eine
umfassende Selbststeuerung ausschließen.
Die Frage der Demokratisierungsmöglichkeiten interner Entscheidungsstrukturen innerhalb von Schulen, Universitäten, Unternehmen, Kirchen
und Familien ist außerdem bekanntlich auf gesamtgesellschaftlicher
Ebene politisch umstritten. Von diesen Einschränkungen abgesehen,
kann man dennoch davon ausgehen, dass es einen variierenden Umfang
an Fragen und Problemen gibt, die auch innerhalb gesellschaftlicher
Organisationen und Institutionen zu entscheiden sind. Insofern ist es
richtig, demokratische Methoden beispielhaft in der Schule und im Klassenverband zu praktizieren, wenn außerdem in einem zusätzlichen bzw.
nachfolgenden Schritt die systematischen Differenzen zur Funktion explizit
politischer Organisationen und Institutionen auf der „höheren Ebene“, die
eben auf die Herstellung von gesellschaftliche Teilbereiche übergreifende
verbindliche Regeln ausgerichtet sind, thematisiert werden.
Ein weiterer zentraler Aspekt der Kritik an den Konzepten des Demokratie-Lernens besteht darin, dass einem überwiegend negativ konnotierten Politikbegriff als strategisch motivierter Machtkampf, Durchsetzung
partikularer Interessen oder schlicht im Sinn des vielzitierten „schmutzigen
Geschäfts“ ein zu idealistischer Demokratiebegriff gegenübergestellt
werde (Massing 2004, Sander 2005b). Insbesondere die Rede davon,
dass „Gewalt“ und „Demokratie“ als zwei einander entgegenstehende
Prinzipien menschlichen Zusammenlebens aufgefasst werden müssten
(Edelstein/Fauser 2001: 17), ignoriere, dass Demokratie auch eine Herrschaftsform sei, deren Absicherung auf dem durch Polizei und Gerichte
ausgeübten staatlichen Gewaltmonopol basiere. Deswegen würden
moderne politische Systeme gleichermaßen auf Prinzipien der Menschenrechte, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung aufruhen, die das
demokratische Prinzip begrenzen (Sander 2005b: 344). Dieser in der Tat
gewichtige Einwand kann aber damit abgefangen werden, dass man, wie
oben ausgeführt, die Differenz von Demokratie als Ideal und Demokratie
in der Wirklichkeit präsent hält. Einerseits kann es ja im Prinzip kaum ein
Zweifel darüber geben, dass eine demokratische Form der Konfliktregulierung jeder autoritären und gewaltförmigen Oktroyierung von Verhalten
vorzuziehen ist. Andererseits darf eine bestimmte Form der Anwendung
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
DVD VorBild
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oder Institutionalisierung von Demokratie nicht mit der vollständigen
Realisierung der der demokratischen Idee zugrunde liegenden idealen
Prinzipien – bspw. dem der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger –
verwechselt werden. Richtig aber ist auch, dass Demokratie, wenn man
diese ausschließlich als kollektives Entscheidungsverfahren begreift, im
Namen der Menschenwürde und der dieser korrespondierenden individuellen Grundrechte beschränkt werden muss und innerhalb real existierender politischer Institutionen ja auch in diesem Sinn beschränkt wird. Das
Verhältnis von kollektiven demokratischen Entscheidungen und Grundund Menschenrechten ist selbst wiederum ein zentraler Gegenstand
philosophischer und politischer Interpretationen.
4. Das Spannungsverhältnis von Demokratie und Menschenrechten
In den meisten heutigen Definitionen der Demokratie wird diese nicht
nur als ein Verfahren kollektiver Entscheidungen verstanden, sondern
außerdem die Dimension der rechtsstaatlichen Verankerung von Grundund Menschenrechten als ein integraler Bestandteil mit aufgenommen
(vgl. Schmidt 2000). Diese weitere Definition der Demokratie ändert aber
nichts an dem existierenden strukturellen Spannungsverhältnis zwischen
demokratischem Entscheidungsverfahren und der Gewährleistung von
Grund- und Menschenrechten. Grundsätzlich ist immer die Frage, wie
weit demokratisch legitimierte staatliche Regulierungen in die durch
Grundrechte gesicherten Freiheitsspielräume der Bürgerinnen und Bürger
eingreifen können oder, andersherum, inwieweit Staaten im Auftrag ihrer
Bürgerinnen und Bürger eine effektive Durchsetzung von Grundrechten
überhaupt erst gewährleisten, von der in einem unpolitischen Naturzustand nicht auszugehen ist.
Liberalismus und Republikanismus/Kommunitarismus
In der politischen Theorie firmieren die entsprechenden Paradigmen, die
jeweils den einen oder den anderen Pol stärker akzentuieren, unter den
Labeln der liberalen bzw. liberalistischen (Vgl. Locke 1690/1992; Macpherson 1973; Rawls 1971/1979; Waldron 1993) und der republikanistischen bzw. kommunitaristischen (Vgl. Rousseau (1755/1993, 1762/1988;
Walzer 1983/1992; Honneth 1995; Taylor 1992, 1995, 1997; MacIntyre
1987) Philosophie. Der Kern des philosophischen Liberalismus besteht
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
in der Referenz auf das unabhängige und autonome Individuum, dessen
Freiheit über gleiche, formale und individuelle Rechte konstituiert wird
und das möglichst selbstverantwortlich über ethische Fragen des guten
Lebens entscheidet. Damit korreliert ein Staatsverständnis, das den Staat
auf eine ethisch neutrale Instanz zur Gewährleistung der individuellen
Freiheit zurückzieht. Formelhaft wird dies durch den Vorrang des Rechten
vor dem Guten umschrieben. Damit ist gemeint, dass moderne Gesellschaften vor allem deshalb nicht mehr anders als durch Recht integriert
werden könnten, weil eine vorhandene und unausweichliche Pluralität von
Werten, Weltbildern, Interessen und Lebensweisen keine andere legitime
Grundlage der Gemeinsamkeit mehr zulasse. Das politische System
müsse deshalb auf stärker abstrakte Prinzipien und Verfahren rekurrieren,
die sich so weit wie möglich durch Neutralität gegenüber den Werten und
Zielen unterschiedlicher Lebensformen auszeichnen. Daraus folgt dann
auch, dass kollektive und politische Regulierungen in ihrer Reichweite
durch die vorrangige Geltung von Menschen- und Grundrechten beschränkt werden.
Im Gegensatz dazu geht der philosophische Republikanismus davon aus,
dass sowohl eine stärkere Loyalität und Identifikation von Bürgern ihren
demokratischen Gemeinwesen gegenüber als auch eine größere interne
staatsbürgerliche Solidarität notwendig ist, um demokratische Staaten
vor totalitären Tendenzen zu schützen und die nur im Kontext politischer
Gemeinwesen zu schützenden individuellen Freiheiten zu bewahren.
Die Mitgliedschaft in modernen politischen Gemeinwesen, in denen sich
Bürger wechselseitig Rechte zuerkennen und gemeinsame Institutionen schaffen, die eine effektive Realisierung und Durchsetzung dieser
Grundrechte gewährleisten, gilt in republikanischer Perspektive als die
zentrale Voraussetzung individueller und politischer Freiheit (Walzer 1992:
insbesondere 65ff.). Staatsbürgerschaft sei das wichtigste Grundrecht
bzw. das „einzige Menschenrecht“, weil es gleichbedeutend ist mit dem
„Recht, Rechte zu haben“ (Arendt 1981: 158).
In seiner modernen kommunitaristischen Variante vertritt der Republikanismus die These, dass sich auch die Integration moderner pluralistischer
Gesellschaft auf gemeinsam geteilte Werte beziehen muss, um auf dieser
Grundlage bürgerschaftliche Einstellungen der Gemeinwohlorientierung
generieren zu können. Dem Liberalismus wird vorgeworfen, dass eine auf
die prinzipielle Priorität von individuellen Rechten basierende Gesellschaft
Gefahr läuft zu zerfallen, weil voneinander isolierte individuelle Personen
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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ihre durch Grundrechte gewährleisteten Freiheitsspielräume im Namen
größtmöglichen egoistischen Nutzens ausbeuten und die den individuellen Rechten korrespondierenden Pflichten, z.B. in Gestalt bspw. der Respektierung der Rechte anderer Personen, der Akzeptanz von demokratischen Mehrheitsentscheidungen und der Erfüllung von Steuerpflichten,
vernachlässigen. Die ethische Neutralität eines liberalistischen Staates
und die daraus resultierende relative Trennung von Staat und Gesellschaft
kehren sich im republikanischen Paradigma in eine stärker auf gemeinsamen Werten integrierte Einheit von Staat und Gesellschaft um. Das
liberalistische Porträt einer sozial und kulturell pluralistischen Gesellschaft
individueller Privatpersonen wird mit der Vorstellung einer vorpolitischnationalistischen oder demokratisch-partizipatorischen Integration der
Gesellschaft ersetzt. Im Republikanismus bzw. Kommunitarismus greift
der Staat damit stärker in die ethische Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger ein und deren Freiheit besteht vorrangig in der demokratischen Partizipation und politischen Einbindung in ein Gemeinwesen,
das die Selbstbestimmung des Einzelnen tendenziell mit der kollektiven
Selbstbestimmung identifiziert. Die Formel vom Vorrang des Rechten
dreht sich um in den Vorrang des Guten. Wenn aber Bürgerinnen und
Bürger ihre privaten Interessen grundsätzlich hinter die Orientierung am
Allgemeinwohl zurück zu stellen haben, besteht immer die Gefahr von
staatlichen Eingriffen in Freiheitsrechte, die u. U. auch mit entsprechenden Sanktionen oktroyiert werden, auch wenn diese unter dem Primat
der Volkssouveränität gerechtfertigt werden.
Negative und positive Freiheit
Ein wichtiger Aspekt dabei ist ferner, dass diesen beiden Strömungen der
politischen Theorie unterschiedliche Verständnisse individueller Freiheit
korrespondieren. Ein liberales Verständnis negativer Freiheit (Freiheit von)
favorisiert eine Definition von Freiheit als Abwesenheit von äußeren (staatlichen und gesellschaftlichen) Zwängen und Übergriffen (Berlin 1995). Ein
republikanisches Verständnis positiver Freiheit akzentuiert demgegenüber
die Verwirklichung von Freiheit (Freiheit zu) in Richtung auf das Ideal kollektiver und demokratischer Selbstbestimmung, die wiederum vielfach als
Voraussetzung gesehen wird, effektive Standards sozialer Gerechtigkeit
allgemeinverbindlich zu rechtfertigen und durchzusetzen (Barber 1994).
Ein in bestimmten kommunitaristischen Ansätzen vertretenes positives
Freiheitsverständnis betont darüber hinaus die im Rahmen moderner
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DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
demokratischer Staaten entstandenen zivilisatorischen Voraussetzungen
der Verwirklichung individueller Autonomie (Taylor 1992). Wenn Personen
eine gelingende individuelle Autonomie nicht in selbstgenügsamer Isolation, sondern nur unter bestimmten sozialen (z.B. Familien, Vereinen),
infrastrukturellen (z.B. Stromnetze, Eisenbahnen), institutionellen (z.B.
Parteien, Parlamente, Gerichtshöfe, soziale Sicherungssysteme) und kulturellen (z.B. Massenmedien, Bildungseinrichtungen, Museen) Rahmenbedingungen ausbilden und fortentwickeln können, müsste einem Prinzip
der Zugehörigkeit und Verpflichtung gegenüber einem solchen Staatsund Gesellschaftstyp neben dem Prinzip individueller Rechte gleichberechtigt Geltung verschafft werden (Taylor 1995). Andererseits muss der
Sinn negativer Freiheit in demokratischen Gesellschaften insofern erhalten
bleiben, als den Bürgerinnen und Bürgern eine Verpflichtung zu gemeinwohlfördernden Einstellungen und Beiträgen nicht gesetzlich verordnet
oder gar durch Sanktionen erzwungen werden können.
In der politischen Theorie gibt es natürlich Versuche, dieses prinzipielle
Spannungsverhältnis von Grundrechten und staatlichen Aufgaben, von
Rechtsstaat und Demokratie und von negativer und positiver Freiheit in
philosophischer Perspektive aufzulösen. Das wahrscheinlich berühmteste
Beispiel ist die diskurstheoretische Rekonstruktion des demokratischen
Rechtsstaats (Habermas 1992; Beer 1999). Nach Habermas sind die
subjektiven inklusive der negativen Freiheitsrechte als die bedingende
Möglichkeit einer gleichberechtigten Partizipation, also der Inanspruchnahme objektiver bzw. positiver Freiheitsrechte, zu betrachten. Mit
dem diskurstheoretischen Paradigma lässt sich, so der Anspruch, eine
Volkssouveränität ausweisen, die sich als prozeduraler Verständigungsakt
zwischen mit gleichen (Menschen-)Rechten ausgestatteten Rechtsgenossen darstellt.
„Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Menschenrechten und
Volksouveränität besteht dann darin, dass das Erfordernis der rechtlichen Institutionalisierung einer staatsbürgerlichen Praxis des öffentlichen
Gebrauchs kommunikativer Freiheiten eben durch die Menschenrechte
erfüllt wird. Menschenrechte, die die Ausübung der Volkssouveränität
ermöglichen, können dieser Praxis nicht als Beschränkung von außen
auferlegt werden.“ (Habermas 1996: 300)
Mit beiden Paradigmen der Demokratietheorie wird somit ernst gemacht.
Einerseits verfügen die Akteure über Rechte, die ihnen den Status eines
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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unabhängigen Individuums garantieren, andererseits folgt die Rechtssetzung dem republikanischem Ideal einer Selbstgesetzgebung: Die mit gleichen Rechten ausgestatteten Rechtsgenossen verständigen sich auch
auf solche Rechtsgrundsätze, denen alle möglicherweise Betroffenen
zwanglos zustimmen können.
Die ethische Doppelstellung des Staates
Dies entspricht der theoretischen Figur einer Identität von Regierenden
und Regierten. Kurz: Die subjektiven Rechte konstituieren überhaupt erst
die Möglichkeit einer gleichberechtigten Partizipation, die ihrerseits im Akt
der Rechtssetzung diese zirkulär bestätigt und auf Dauer stellt. Liberalismus und Republikanismus werden so in ein funktionales Ergänzungsverhältnis gebracht, das beide Freiheitsvorstellungen integrieren kann. Der
Staat erhält auf diese Weise eine ethische Doppelstellung. Einerseits folgt
er der liberalistischen Prämisse der Zurücknahme auf eine richterliche
Hoheitsfunktion, d.h. er garantiert die ethische Selbstbestimmung des
Einzelnen. Andererseits setzt er die konstitutiven Moralinhalte, die der
diskursiven Rechtssetzung zugrunde liegen, als ethische Grundlage der
Gesellschaft, die als unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit einen
kulturellen Konsens darstellen können (Habermas 1998). Habermas
begreift dieses Zusammenspiel der demokratietheoretischen Paradigmen
als eine logische Genese von Rechten, die sowohl die klassischen Rechte
auf die Autonomie der freien Rechtsperson implizieren, als auch Rechte
auf den gleichberechtigten Gebrauch von kommunikativen Freiheiten, die
eine deliberierende Öffentlichkeit (Heming 1997) und die demokratische
Rechtssetzung konstituieren. Da diese Rechte einen transzendentalen
Status besitzen, gehen sie nicht in einer empirisch etablierten Verfassung
auf. Unterschiedliche Realisierungen dieser Grundrechte sind daher nicht
nur theoretisch möglich, sondern auch praktisch wahrscheinlich. Insofern
eignet sich das diskurstheoretische Rechtssystem als Kandidat für einen
analytischen Demokratiebegriff, der den Grundgehalt der diversen modernen Demokratien zusammenfasst. Anders formuliert: In allen modernen
Demokratien lassen sich sowohl die liberalen Abwehrrechte als auch die
republikanischen Partizipationsrechte und die Etablierung einer freien
Öffentlichkeit als konstitutives Merkmal finden.
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DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
Das konstitutive Spannungsfeld der Demokratie: 3 Beispiele
Da aber die je konkrete politische Bewältigung des Verhältnisses von
staatlicher Regulierung und Menschenrechten wiederum dem demokratischen Prozess selbst überantwortet ist, bleibt die Spannung zwischen
den beiden grundlegenden Legitimationsprinzipien demokratischer Staaten immer präsent und wird unter dem Einfluss bestehender politischer
Institutionen, existierender politischer Kräfteverhältnisse und der Art der
Wahrnehmung politischer Probleme verschieden interpretiert. Man kann
davon ausgehen, dass eine Vielzahl politischer Probleme und ihrer Regulierung im Kontext dieses Spannungsfeldes anzusiedeln ist.
Drei Beispiele von politischen Bereichen, innerhalb derer in jüngerer Zeit
zahlreiche Gesetze erlassen worden sind, sollen das kurz verdeutlichen.
Der in dieser Hinsicht offensichtlichste Fall ist die Gesetzgebung, die seit
dem 11. September 2001 im Namen der Bekämpfung des Terrorismus
implementiert wurde und die zahlreiche Fragen nach dem angemessenen
Verhältnis von Sicherheit und Freiheit aufgeworfen hat. Im Namen einer,
wie Kritiker monieren, von staatlichen Eliten vorangetriebenen Transformation des Rechtsstaates in einen präventiven Sicherheitsstaat werden,
unabhängig von der jeweiligen pragmatischen Eignung der Maßnahmen,
zahlreiche Grundrechte tangiert. So genannte Lauschangriffe auf Basis
von mehr oder weniger konkreten Verdachtsmomenten verletzen das
individuelle Recht auf Privatsphäre, neue gesetzliche Bestimmungen
gegen so genannte „Hassprediger“ greifen in das Recht auf freie Meinung
ein, die Ausweisung von Immigranten nicht-deutscher Staatsangehörigkeit auf Basis bloßen Verdachts der Gefährdung öffentlicher Sicherheit, für die zudem ein öffentlich nicht transparenter geheimdienstlicher
Befund ausreicht, entzieht betroffenen Personen ansonsten bestehende
Aufenthaltsrechte. Im Kontext von diesbezüglichen öffentlichen Debatten
sind bekanntlich sogar als absolut geltende Menschenrechte wie bspw.
das Folterverbot in Frage gestellt worden (vgl. Beestermüller/Brunkhorst
2006). Das demokratische Dilemma besteht darin, dass die meisten
dieser gesetzlichen Maßnahmen von einer Mehrheit der Bürgerinnen und
Bürger unterstützt werden.
Das zweite Politikfeld, an dem sich das Spannungsverhältnis von Demokratie und Menschenrechten gut exemplifizieren lässt, betrifft Regelungen
der Zuwanderungspolitik und der Integration von Immigranten. Spätestens seit der umfangreichen Diskussion um das Zuwanderungsgesetz
ab dem Jahre 2000 sind zunehmend Kriterien entwickelt worden, die die
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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Voraussetzungen von Zuwanderung und Integration im Namen des nationalen Interesses der „einheimischen“ Mehrheitsgesellschaft definieren.
Andererseits besteht eine verfassungsrechtliche und europarechtliche
Verpflichtung auf die Menschenrechte, die auch gegenüber Personen
gelten, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben (vgl. Benhabib 2004). Die prinzipielle Frage ist nun, wieweit menschenrechtliche
Ansprüche auf Zuwanderung (z.B. Asylrecht, Recht auf Familienzusammenführung) und auf Aufenthalt im Namen wirtschaftlicher und nationaler
Interessen konditioniert oder relativiert werden dürfen, die sich z.B. auf
Sprachkompetenzen, Bildungsstandards und Verfassungstreue der Immigranten beziehen.
Die zentrale Frage, inwieweit individuelle Rechte im Interesse der Mehrheit
interpretiert und von individuellen Vorleistungen oder der Erfüllung bestimmter Pflichten abhängig gemacht werden können, stellt sich auch im
Bereich der jüngeren Reformen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, die
unter dem vielzitierten Label „Fördern und Fordern“ bekannt geworden
sind. Die Maßnahmen sogenannter aktivierender Arbeitsmarktpolitik
wurden unter anderem damit gerechtfertigt, dass das Verhältnis von
Rechten und Pflichten neu zu definieren sei (vgl. Giddens 1999). Arbeitsund Mitwirkungspflichten werden zunehmend als Voraussetzungen für
den Bezug von Sozialleistungen angesehen und gesetzlich fixiert. Mit der
Rede vom „vorsorgenden Sozialstaat“ bzw. „Sozialinvestitionsstaat“ wird
eine Perspektive des gesamtgesellschaftlichen Interesses betont, nach
der vorrangig in die Bildung und Entwicklung von „Humankapital“ investiert werden soll, statt in oft so genannte nachsorgende Transferleistungen. Dabei werden im Namen einer Perspektive gesamtgesellschaftlichen
Nutzens offenbar aber nicht nur soziale Rechte, deren Geltungsreichweite
nicht nur in Deutschland ohnehin umstritten und politisch prekärer ist,
relativiert, sondern auch in der Regel für bedeutend gehaltene zivile
individuelle Grundrechte, wie insbesondere die Vertragsfreiheit und das in
Artikel 12 des Grundgesetzes verankerte Recht auf freie Wahl des Berufs
und des Arbeitsplatzes (Gerdes 2006).
In all diesen Beispielen ist die zentrale Frage, in welchen Fällen und wie
weit sich Wirtschaft, Gesellschaft, demokratische Mehrheit und Staat im
Namen eines gesamtgesellschaftlichen Interesses – vorausgesetzt, dass
darüber in pluralistischen Gesellschaften überhaupt ein weitgehender
Konsens herstellbar ist – in die durch Grundrechte geschützten Freiheitsspielräume und die Interessen von Minderheiten einmischen dürfen, ohne
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
dass deren Grund- und Menschenrechte beeinträchtigt werden. Es dürfte
klar sein, dass Menschen- und Grundrechte verschwinden würden, wenn
sie in ganzem Umfang der jeweiligen Interpretation gesellschaftlicher und
politischer Mehrheiten überlassen werden würden:
„Die Existenz von Rechten gegenüber dem Staat würde gefährdet, wenn
der Staat in der Lage wäre, ein solches Recht durch Berufung darauf zu
Fall zu bringen, dass eine demokratische Mehrheit das Recht hat, ihren
Willen durchzusetzen. Ein Recht gegenüber dem Staat muss ein Recht
sein, etwas selbst dann zu tun, wenn es der Mehrheit schlechter ginge,
falls es getan würde. Wenn wir jetzt sagen, dass die Gesellschaft ein
Recht hat, alles zu tun, was im allgemeinen Nutzen ist, oder das Recht
hat, jede Art von Umwelt zu erhalten, in der die Mehrheit leben will, und
wenn wir meinen, dass diese Rechte von derjenigen Art sind, wie sie eine
Rechtfertigung für das Umstoßen beliebiger Rechte gegenüber der Regierung sind, die in Konflikt stehen könnten, dann haben wir die letzteren
Rechte aufgehoben.“ (Dworkin 1990: 318f.)
Die interne Konkurrenz von Grund- und Menschenrechten
Einer beliebigen Instrumentalisierung und kollektiven Funktionalisierung
von Personen zu anderen Zwecken steht der Begriff der unantastbaren
Menschenwürde entgegen, die jedem Menschen unabhängig von seiner
Leistung und Nützlichkeit zukommen soll. In der deutschen Verfassungsinterpretation gilt die Menschenwürdegarantie im berühmten Artikel 1
des Grundgesetzes als eine Grund- und Leitnorm, die die Auslegung der
in den nachfolgenden Artikeln verankerten Grund- und Menschenrechte
präformiert. Auch das deutsche Verfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass jeder Mensch in gleichem Maße Menschenwürde besitzt, und
zwar „ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und
seinen sozialen Status. […] Selbst durch ‚unwürdiges‘ Verhalten geht sie
nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden.“ (zitiert in:
Stern 2004: 586) Die vielleicht berühmteste philosophische Formulierung
des Kerngehalts der Menschenwürde ist die zweite Formel des Kantischen Kategorischen Imperativs:
„Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen,
existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen
Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen,
sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteTheoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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ten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ (Kant
1785/1991a: 59f., Hervorh. im Orig.)
Dennoch kommt es nicht selten zu Konflikten von Grundrechten. In
solchen Fällen ist eine Einschränkung von bestimmten individuellen
Grundrechten im Namen der Gewährleistung anderer Grundrechte bzw.
der Grundrechte anderer notwendig. Während in der liberalen politischen
Philosophie die Betroffenheit konkurrierender Grundrechte als die einzige
Möglichkeit der Grundrechtsbeschränkung betrachtet wird, sind solche
Beschränkungen in republikanischen Theorien und in der politischen
Praxis auch dann legitimierbar, wenn hochrangige konkurrierende
Verfassungswerte, die staatliche Sicherheit oder die Funktionsfähigkeit
demokratischer und staatlicher Institutionen als solcher gefährdet wird.
Im Fall von konkreten Grundrechtskonflikten gilt im Allgemeinen, dass
die betroffenen Grundrechtspositionen zu einem fairen und schonenden
Ausgleich gebracht werden sollen, was gleichzeitig bedeutet, dass ein
Grundrecht nicht zugunsten eines anderen in vollem Umfang weggenommen werden darf. Solche Grundrechtsabwägungen können, umso mehr
Grundrechte und Grundrechtspositionen betroffen sind, sehr komplexe
Formen annehmen und höchst kontroverse Diskussionen auslösen.
Ein entsprechendes Beispiel aus dem Schulbereich stellt die Debatte um
ein Kopftuchverbot muslimischer Lehrerinnen dar, in der es mindestens um die Abwägung der folgenden Grundrechtspositionen ging: der
positiven Religionsfreiheit von Lehrerinnen (Art. 4 GG), der negativen Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler (Art. 4 GG), dem Erziehungsrecht der Eltern und deren negativer Religionsfreiheit (Art. 4, 6, 7 GG) und
schließlich dem staatlichen Bildungsauftrag (Art. 7 GG), dem man ein
korrespondierendes Recht auf Bildung zuschreiben kann.
Ein Problembewusstsein der Notwendigkeit eines fairen, möglichst gerechten und demokratischen Ausgleichs unterschiedlicher legitimer individueller Rechte wie auch der Bewahrung von Grund- und Menschenrechten gegenüber staatlichen Interventionen ist jedenfalls in der politischen
Bildung in der Demokratie von herausragender Bedeutung.
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
5. Demokratische Legitimität als Kern mündiger Urteilsbildung
Die Idee der modernen Demokratie lässt sich also unter Gesichtspunkten
ihrer Legitimität zusammenfassen in der Gewährung einerseits liberaler
Grundrechte und republikanischer Partizipationsrechte und andererseits von institutionalisierten demokratischen Verfahren der kollektiven
Entscheidungsfindung, die wiederum idealerweise von einer kritischen
Öffentlichkeit und vitalen Zivilgesellschaft beobachtet und beeinflusst
werden sollten. Einer demokratischen politischen Bildung kommt dabei
insbesondere die Aufgabe zu, das Personen in Demokratien unausweichlich zukommende, legitime Recht auf Rechte zu akzentuieren und dessen
Stellenwert für den demokratischen Rechtssetzungsprozess zu verdeutlichen. Die Vermittlung der unterschiedlichen Rechte steht dabei jedoch
vor Schwierigkeiten. Einerseits sollen der Sinn individueller Rechte und ihr
jeweiliger Gehalt nachvollziehbar werden, andererseits muss die potenzielle und konkrete Konflikthaftigkeit der verschiedenen Rechte möglichst
transparent werden. Das meint, es muss in der Vermittlung dieser Rechte
deutlich werden, dass die unterschiedlichen Rechte grundsätzlich in
einem Spannungsverhältnis stehen.
Das Spannungsverhältnis von Menschenrechten und Demokratie
als Ausgangspunkt politischer Bildung an Förderschulen
Für politische Bildung im Sinn demokratischer Urteils- und Partizipationskompetenz wäre es nach der Auffassung des VorBild-Projekts ein
großer Gewinn, wenn insbesondere ein Verständnis des oben erläuterten Spannungsverhältnisses von Demokratie und Menschenrechten
als das fundamentale Problem politischer Prozesse in demokratischen
Gemeinwesen eine zentrale Rolle spielen würde. Eine Verabsolutierung
von so genannten negativen Grundrechten als individuelle Abwehr- und
Nichteinmischungsrechte kann etwa dazu führen, kollektiv verbindliche
Entscheidungen zu verunmöglichen bzw. auf einen den politischen Problemen gegenüber unangemessenen geringen Umfang von politischen
Regelungen einzuschränken. Eine starke Fixierung auf Partizipationsrechte und Überbetonung der Rechtmäßigkeit von Mehrheitsentscheidungen
kann demgegenüber zu einer Unterordnung des Individuums unter ein
Kollektiv führen. Wenn aber die Demokratie diese beiden Schlagseiten
hat und gleichzeitig gerade deswegen auch bezüglich ihres allgemeinen
Gehalts wie den jeweils konkreten politischen Entscheidungen GegenTheoretisch-konzeptuelle Grundlegung
DVD VorBild
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stand der demokratischen Diskussion sein muss, ist damit klar, dass eine
Vermittlung dieser beiden Pole nicht aus privilegierter Perspektive vorentschieden werden kann. Vielmehr müssen die Bürgerinnen und Bürger,
aber genau so die Gruppe der Förderschülerinnen und Förderschüler als
Adressaten politischer Bildung möglichst weitgehend befähigt werden,
jeweils selbst eine Gewichtung und Ausbalancierung dieser Rechtsansprüche vorzunehmen, diese gegebenenfalls begründen zu können und
sich über die Konsequenzen von jeweiligen Entscheidungen in diesem
Sinne möglichst klar zu sein.
Die in dem VorBild-Projekt favorisierte Akzentuierung des Spannungsverhältnisses von Demokratie und Menschenrechten und die immer wieder
notwendige Balancierung dieser beiden Prinzipien als ein Kern politischer
Urteilskompetenz versteht sich gleichzeitig als eine Kritik an Konzepten,
die zu einseitig die Frage der demokratischen Partizipation, insbesondere
in den existierenden politischen Institutionen in den Mittelpunkt stellen.
Vor dem Hintergrund von zeitgenössischen Diagnosen, die die „Politikverdrossenheit“ und „politische Apathie“ insbesondere von Jugendlichen mit
ihrer jeweiligen politischen Abstinenz bei Wahlen und ihrer Distanz gegenüber der Mitarbeit in Parteien und Verbänden in das Zentrum stellen, ist
zunehmend auch in der politischen Bildung die Rede davon, dass es in
diesem Sinn allein auf die Förderungsmöglichkeiten der Teilhabe, Inklusion
und Partizipation in bestehenden Institutionen ankäme. Ebenso wenig
aber wie die vielfach beschworene bloße Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft noch nichts darüber aussagt, unter welchen Lohn- und Arbeitsbedingungen und mit welchen sozialen Risikoabsicherungen bestimmte
Gruppen arbeiten, sagt eine Partizipation an etablierten politischen Institutionen nichts darüber aus, welchen Einfluss auf politische Entscheidungen
Einzelne oder Minderheiten dadurch ausüben und ob legitime individuelle
Ansprüche und Rechte damit gewahrt bleiben.
Demgegenüber muss eine reflektierte individuelle Entscheidung der NichtTeilnahme oder der Abwanderung ebenso als eine dezidiert politische
Entscheidung betrachtet werden, ganz abgesehen von ihrer ohnehin
geltenden Legitimität im Sinn negativer Grundrechte. Andererseits kann
ein Bewusstsein über die Bedeutung und die reale politische Fragilität von
der der Menschenwürde korrespondierenden Rechten auch die Einsicht
fördern, dass es zur Sicherung individueller Rechte geeigneter Formen
politischen Engagements bedarf, das auch die politische Partizipation in
Parteien, Gewerkschaften und Bürgerbewegungen einschließen kann.
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DVD VorBild
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
In beiden Fällen wäre aber eine Vermittlung des Sinns von individuellen
Grund- und Menschenrechten eine unabdingbare Voraussetzung,
die zu einer Partizipationsorientierung politischer Bildung mindestens
hinzutreten müsste.
Die Lebenswelt als mögliches Fundament politischer Bildung
Die Fokussierung auf die (idealen) Legitimitätskerne moderner Demokratien als auch deren Spannungsverhältnis hat mehrere didaktischpraktische Konsequenzen, die zugleich den möglichen Eindruck eines
zu hohen Abstraktionsgrads entschärfen können. Erstens würde dies
bedeuten, dass die jeweils gewählten konkreten Themen und Inhalte
der politischen Bildung sekundär sind, insofern sie sich dafür eignen,
das Spannungsverhältnis von demokratischem Mehrheitswillen und zu
respektierenden Grundrechten von Minderheiten zu exemplifizieren. Wie
oben mit einigen Beispielen angedeutet wurde, ist davon auszugehen,
dass sich eine sehr breite Palette von politischen, aber auch lebensweltlich verankerten Themen dazu eignet.
Zweitens kann davon ausgegangen werden, dass das Spannungsverhältnis von kollektiven Regeln und legitimen Ansprüchen auf individuelle
Autonomie ein Aspekt gelingender Integration auch in sozialen Einheiten
und Zusammenschlüssen wie beispielsweise Klassenverbänden eine
gewichtige Rolle spielt. Ein Verständnis von sozialer Integration als „ein
gelungenes Verhältnis von Freiheit und Bindung“ (Peters 1993: 92) gilt in
allgemeinerer Weise für moderne Gesellschaften, die zumindest in einem
normativen Sinn durch Prozesse der Individualisierung, der Pluralisierung
von Lebensformen und der Abkehr von verbindlichen Rollenerwartungen
geprägt sind (vgl. Beck: 1996).
Das meint, dass auch in überwiegend nicht-politischen Einheiten und
Kollektiven wie Familien, persönlichen Beziehungen, Cliquen und Vereinen
die individuelle Zustimmung der Mitglieder zu den jeweils geltenden kollektiven Regeln sowie deren Revision auf Basis kollektiver Aushandlungsprozesse eine wachsende Bedeutung haben bzw. haben sollten. Dabei
spielt die Frage, inwieweit kollektive Regeln individuelle Entscheidungsund Handlungsspielräume eröffnen oder beschränken, ebenfalls eine
gewichtige Rolle. Der den individuellen Grundrechten korrespondierende
Maßstab ist dabei, ob den Personen zureichende ethische Selbstbestimmungsmöglichkeiten über ihre individuellen Ziele und Lebensweisen verTheoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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bleiben oder ob sie darin von kollektiven Entscheidungen und Zwängen
unzulässig bevormundet werden. Die möglichst weitgehende Neutralität
des jeweils entscheidenden Kollektivs gegenüber ethischen Selbstbestimmungsansprüchen, die Berücksichtigung von individuellen Interessen
und die Toleranz der Beteiligten gegenüber abweichenden Auffassungen,
Weltanschauungen und Lebensinhalten nehmen in solchen kleineren
sozialen Einheiten einen ähnlich zentralen Stellenwert ein wie in legitimen
politischen Prozessen. In diesem Sinn können auch soziale und kollektive
Verhältnisse in der Gesellschaft als demokratische Einheiten betrachtet
werden, innerhalb derer dieselben Prinzipien, die auch in der „großen Politik“ den Kern politischer Legitimität bilden, praktisch erfahrbar werden.
Auch in gesellschaftlichen Institutionen spielt der adäquate und gerechte
Umgang mit sozialer und kultureller Diversität eine zunehmende Rolle.
Auch wenn dort die Demokratisierungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten durch die jeweiligen Funktionszuweisungen im Rahmen der
Gesamtgesellschaft beschränkter sind, kann davon ausgegangen werden, dass ein bestimmter Umfang der kollektiven Regeln verhandelbar ist.
In der Schule gibt es darüber hinaus Möglichkeiten der auch bewussten
lernorientierten Einführung und Einübung von demokratischen Verfahren
und der Problematisierung dieser Verfahren hinsichtlich der Berücksichtigung legitimer individueller Interessen, Ansprüche und Rechte.
Der hier vertretene Ansatz geht also davon aus, dass die Thematisierung und Problematisierung des Spannungsverhältnisses von geltenden
kollektiven Regeln und individuellen Selbstbestimmungsmöglichkeiten in
sozialen Kontexten eher eine Voraussetzung des Verstehens und Vermittelns von Politik in der Demokratie bildet als die unmittelbare und selektive
Thematisierung bestimmter dezidiert politischer Themen, Institutionen und
Prozesse auf der Ebene des poltischen Systems. Weder das politische
Interesse noch die politische Urteilskompetenz Jugendlicher lässt sich
über die „Verabreichung“ von so genanntem politischem Grundwissen
in diesem engeren Sinn, wie beispielsweise von Kenntnissen über die
Wahl des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung (vgl. Breit
2004: 203), fördern. Es ist vielmehr anzunehmen, dass erstens soziale
Kompetenzen zum Teil bereits identisch mit, zum Teil Voraussetzung für
politische Kompetenzen sind, und zweitens, dass auch eine Anschlussfähigkeit zu „eigentlich“ politischen Inhalten auf Basis der erwähnten
strukturellen Analogie der Probleme sozialer und politischer Integration in
modernen Gesellschaften besser geleistet werden kann. Wenn man dies
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Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
voraussetzt, wäre auch die Kluft zwischen der „Psychologik“ bildungsferner Milieus und der „Sachlogik“ großer Politik offenbar lange nicht mehr
so groß wie teilweise angenommen wird (Detjen 2007), so dass vorpolitische Konzepte politischer Bildung nicht per se gezwungen wären, wegen
begrenzter psychosozialer Voraussetzungen Abstriche in der Vermittlung
politischer Inhalte zu machen zu müssen.
Gleichwohl bleibt trotz dieser strukturellen Analogie in gesellschaftlichen
Verhältnissen und politischen Prozessen immer noch eine pädagogische
Übersetzungsleistung von vorpolitischer zu politischer Bildung zu vollbringen, in der gerade auch die Differenzen zu politischen Prozessen im
engeren Sinn herausgearbeitet werden. Dazu gehört beispielsweise, dass
auf der Ebene sich selbst regulierender politischer Gemeinwesen Demokratie in einer sowohl umfassenderen als auch institutionell komplexeren
Weise gelten muss als in intern oder extern mit begrenzteren Aufgaben
und Zielen befassten sozialen Einheiten. Dazu gehört auch, dass die
Realisierung und Durchsetzung von Grundrechten in der Gesellschaft auf
komplexere Institutionen auf politischer Ebene angewiesen ist. Im Idealfall
kann in diesem Zusammenhang die „vorpolitische“ Förderung der selbstbewussten Formulierung von Interessen schließlich dazu führen, dass
Einsicht und Motivation reifen, dass diese Interessen, möglicherweise
unter Bezug auf individuelle Rechte, auch politisch artikuliert und vertreten
werden.
Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung
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DVD VorBild
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Impressum
VorBild ist ein Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung
und der Universität Bielefeld.
VorBild-Projektleitung – Universität Bielefeld
Prof. Dr. Uwe Bittlingmayer
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann
Diana Sahrai
VorBild-Projektmanagement – Bundeszentrale für politische Bildung
Thorsten Schilling ( V.i.S.d.P.)
Caroline Seige
Wissenschaftliche Ausarbeitung der Module
Johannes Ahrens, Ullrich Bauer, Raphael Beer, Helmut Bremer, Birgit Danicke,
Jürgen Gerdes, Lars Heinemann, Günther Hennig, Irene Moor, Barbara Rösser,
Ute Sauer, Simone Schulze
DVD-Team
Autorin: Miriam Grabenheinrich
Kamera: Beate Middeke
Ton: Arne Siekmann, Daniel Gerlich
Schnitt: Beate Middeke, Carolyn Daughton
Layout DVD-Cover: Stefanie Wawer
DVD-Programmierung: Klaus Udo Hennings
Layout Modul-Hefte: Laila Sahrai
Für ihre Mitarbeit und Unterstützung danken wir
Elke Lotysch und der Klasse 6b Förderzentrum Huchting, Bremen
Sabine Schmitz-Bracht und der Klasse 6a Pestalozzischule, Witten
Theo Stiller und der Klasse 6b Comeniusschule, Bielefeld
sowie den weiteren Kooperationsschulen
Allgemeine Förderschule Clara Zetkin, Straußberg
Allgemeine Förderschule Erkner, Erkner
Schule an der Vegesackerstraße, Bremen
Schule am Kupferhammer, Bielefeld
Fröbelschule, Gütersloh
Uppenbergschule, Münster
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Ein Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)
und der Universität Bielefeld
© 2009 bpb / Universität Bielefeld
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