Demokratie ohne Wurzeln? Zum Stand der Politischen Bildung in Ostdeutschland - Thesen und Fragen von Dr. Christoph Meyer, Herbert-Wehner-Bildungswerks Leiter des Entwicklung des politischen Systems des vereinten Deutschland ist eine Fortsetzung der Erfolgsstory der Bundesrepublik Deutschland (West). Dennoch: "Ungefährdet ist Demokratie nie" (Heinz Westphal, ehemaliger Bundestagsvizepräsident). Die Demokratie in Ost- wie Westdeutschland leidet unter einem Mangel an politischem Mitgestaltungswillen bei breiten Teilen der Bevölkerung. In Ostdeutschland (teilweise auch in Westdeutschland) sind Ursachen hierfür u.a.: - Enttäuschung angesichts der nach wie vor zu hohen Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Entwicklung - Ohnmachtsgefühle angesichts scheinbar oder tatsächlich reduzierter politischer Handlungsspielräume durch die "Globalisierung" - geringere Einübung und Selbstaneignung des demokratischen politischen Handelns durch die Bevölkerung - zum Beispiel durch das Unterlassen einer breiteren Verfassungsdiskussion nach 1990 - Fehlen bzw. geringeres Vorhandensein gewachsener Parteiund Interessenvertretungsstrukturen sowie von Strukturen bürgerschaftlichen Engagements die Selbstpräsentation von Teilen auch der etablierten Politik als Performance, damit verbunden die Aushöhlung und Selbstunterwerfung des politischen Diskurses unter die Bedürfnisse einer auf schnellebige Sensationsverwertung ausgerichteten Medienlandschaft. Als Folgen sind u.a. zu beobachten: - Kaiser Wilhelm kannte 1914 nur Deutsche keine Parteien mehr. Auch aus dieser Haltung resultierend, wurden Parlamentarismus und Parteienpluralismus in Deutschland 1933 abgeschafft - und hier im Osten erst 1989/90 wieder eingeführt. Aber die Bevölkerung hat sich seit 1990 nicht in allzu großen Scharen den Parteien angeschlossen. Genau hier setzt die Arbeit des 1992 gegründeten HerbertWehner-Bildungswerks an. Im Sinne seines Namensgebers, der sich leidenschaftlich für die Stärkung von Demokratie und Parlamentarismus eingesetzt hat. Im 10. Jahr nach Gründung des Bildungswerks besteht Anlaß zur Bestandsaufnahme und zur Perspektivdiskussion. Die Demokratie in Ostdeutschland ist institutionell gefestigt. Die parlamentarischpolitischen Abläufe funktionieren. Die - Skepsis bzw. Gleichgültigkeit gegenüber der Politik - Starke Tendenz zur Protestwahlverhalten - Zunahme autoritärer Einstellungen - Mangelndes ehrenamtliches Engagement und daraus folgend finanzielle, strukturelle und vor allem personelle Schwäche von zivilgesellschaftlichen Strukturen politischen Handelns - Schwache Parteien mit zu wenig Mitgliedern Wahlenthaltung bzw. politischer und dementsprechend qualitativ begrenzter Personals. quantitativ und Auswahl politischen Die formal-demokratischen Verfahren funktionieren. Aber davon, die Demokratie als "allgemeine Staatsund Lebensordnung durchzusetzen" (Herbert Wehner) sind wir noch weit entfernt. An den Wurzeln der Gesellschaft kommt die Demokratie unzureichend an. Was ist zu tun? Nötig ist eine Re-Politisierung der Politik. Eine ehrliche Bestandsaufnahme durch alle politischen Akteure ist gefragt: Wie lassen sich die Dinge, die alle angehen, auf dem Weg des "großen Gesprächs" (Willy Brandt), unter Einbeziehung möglichst breiter Schichten regeln? Nötig ist eine Re-Vitalisierung des politischen Engagements. Jede Bürgerin, jeder Bürger ist ein potentieller politischer Akteur. Wie kann die Bevölkerung ihre Handlungsmöglichkeiten besser als bisher erkennen und sie aktiv wahrnehmen? Bund, Länder, Kommunen, Parteien, Sozialpartner, Medien, Glaubensgemeinschaften, Schulen, Hochschulen, Stiftungen, Träger der politischen Bildung usw. müssen sich diesen Fragen jeweils nach ihren Aufgaben und Möglichkeiten stellen. Es handelt sich dabei um einen wechselseitigen Prozeß der politischen Diskussion und der politischen Bildung. Es geht darum, diesen Prozeß stärker zu beleben, Impulse zu setzen. Das führt nicht auf Knopfdruck zu Resultaten. Es handelt sich um ein komplexes Problem, zu dessen Lösung es komplexer Anstrengungen bedarf. Eine dieser Anstrengungen ist die Stärkung und Verbesserung der Angebote von und der Nachfrage nach politischer Bildung. Dieser Anstrengung muß sich die politische Bildung in allen öffentlichen oder öffentlich geförderten bzw. geforderten Zweigen unseres Bildungssystems unterziehen. Dies betrifft den Unterricht in Schulen, Berufsschulen, Volksschulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen. Darüber hinaus gibt es einen breit gefächerten Sektor der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Dazu gehört auch die parteinahe politische Bildung, die sich an der Schnittstelle zwischen etablierter Politik und Zivilgesellschaft befindet. Die parteinahe politische Bildung, wie sie das Herbert-Wehner-Bildungswerk betreibt, soll - Bindungen an Grundwerte und demokratische Traditionen schaffen und verfestigen - die Bürgerinnen und Bürger zum demokratischen politischen Engagement ermutigen und befähigen - politisch Aktiven Kommunikationsund Handlungskompetenz vermitteln sowie politischen Nachwuchs qualifizieren - sich im Rahmen ihrer Programme aktiv mit den zentralen politischen Fragen auseinandersetzen und zu Lösungen beitragen. Auch auf dem Gebiet der politischen Bildung wurde nach 1990 vieles erreicht und vieles versäumt. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat nach neuen Formen gesucht und sich stärker Zielgruppen im Osten Deutschlands zugewandt. Aber starke, auch aus eigener Kraft leistungsfähige Partner gibt es zu wenige. In Jahrzehnten gewachsenen Strukturen und Besitzständen im Westen dürfte im Osten eine Trägerlandschaft gegenüber stehen, die vergleichsweise strukturell unterentwickelt und unterfinanziert ist. Eine Bestandsaufnahme und Evaluation politischer Bildung im Osten Deutschlands ist notwendig. Und ihre gezielte Stärkung. Was die Verwurzelung der Demokratie betrifft, ist die Entwicklungstendenz in West- und Ostdeutschland die gleiche. Im Osten stellen sich die Probleme nur schneller und stärker, weil hier 40 Jahre gelebte Demokratie fehlen. Dafür sind die Dinge hier nach wie vor stärker in Bewegung. Es geht darum, die Gestaltungsspielräume zu nutzen. Was in Ostdeutschland Positives geleistet wird, kann Vorbild- und Signalfunktion für das ganze Land haben.