MAX HALLER / MARKUS HADLER Die Moralisierung der Politik in Österreich: Gute Demokratie schlechte Demokratie Ziel,lt/seres Beitrages ist es lIicht, politisch zu "moralisierell fI in dem illlle, dass bestimm­ tell ParteieIl oder Politikern .�lIte, anderell schlechte Notell erteilt werden sol/eIl. Viel",ehr wollen wir allfzeige/!, dass Ethik IIlId Moral grrmdsätzlich sehr wichtige Aspekte VOll politi­ schem Halldelll sind IIl1d al/ch ill den j,IllXstCtI /lIrbllle,"ell politischen Ereignisscn Hlld mWälzlln,�ell ill Österreich eille II/eselltlic"e Rolle ,ftespielt habell. "-1oralisch-ethis(he GrtllldprillzipieH habel! i" zweierlei Hillsicht politische BedcHtllll,�: Zilm eil/etl habeIl die BII��er eill feil/es GespIIr dafür, 11011 Il'c!chm ethischeIl GrrmdprinzipiCII ,ftel/llSse Ziele Imd Maßllah/llCII letztli(h .fteleitet silld; Zlllll alIdereIl bellrteilell sie politische PersänlicllkeilCII die ihrer. dis ein tlllS5c1/1a..��ebender Faktor für ie.fte IIl1d _ 'lederla..ftCII 5i"d - i/l hohc/II MtljJe /lach ihrer I/Ioralischl'll Gla/lbll'iird(�kcit. //11 erstcll Ab. c1l/litt dieses Beilra,�s soll die ,�nmdsälzlic"e Bedfl4rll/W VOll Aforal ill der Poli­ tik da�i!estel/t l/Ierdm. /", zweirell Abscllllitt bes(häJi(�ell wir Imd lelldcllzell im Zlisammellhallg mit der 11tH mit kOl/herell Eret:�lIiSSl.'1l 'atiollairatsII'alrl,50 dem Abslllrz dcr Freiheitli­ chen Partei Österreichs, der Frtwe des Allkalif!· von AlfO/�vil,ftem IIlId delll 'nrema der politi­ schell 'cutrahtät. der ichl'Tll/lg der PCIIs;ollell IIlId dem Ruck.!!.a/!,ft der /lVahlbl'tci/(!!.IIII.(!.. 2'9 ÖSTERREICHISCHE S JAHRBUCH FÜR POLITIK 2002 Allgemeine Überlegungen zur Rolle von Ethik und Moral in der Politik V ier grundsätzliche Aspekte sollen hier zunächst geklärt werden: der cheinbare Gegensatz zwischen einem Wert-Univer alismus und Wert-Relativismus; die Bedeutung der klaren Erkenntnis von Werten; die Konflikte zwischen verschiede­ nen Werten elbst, aber auch zwischen Werten und Interessen; der enge Konnex zwischen dem Erfolg politischer Persönlichkeiten und den von ihnen vertretenen Werten. Ethisch-moralische Grundprinzipien be agen, das be timmte Formen de HandeIns als "gut", andere al " chlecht" zu beurteilen sind, im Prinzip völlig unabhängig von den Umständen und Folgen des Handeln . Diese These eines Uni­ ver ali mus von ethischen Grundprinzipien scheint in W ider pruch zu �tehen mit dem Faktum, dass in verschiedenen Epochen und Kulturen oft ganz unterschiedli­ che, ja sogar gegensätzliche Prinzipien als moralisch gut oder schlecht bezeichnet werden. Wertrelativisten vertreten daher die Meinung, dass es universelle menschli­ che Werte überhaupt nicht gibt. W ir folgen hier der Auffassung, dass es sehr wohl universelle Werte gibt, die zu allen Zelten und Kulturen anerkannt werden. Aller­ dings ist der Grad ihrer Durehsetzung lind das Ausmaß ihrer Anwendung histo­ r isch-kulturell unterschiedlich (in dieser Hinsicht ist auch die Ansicht der Relativi­ sten richtig) . Die empirISch-historischen Argumente gegen die Durchsetzung uni­ ver eller Werte halten näherer Betrachtung nicht stand. Die gilt auch fur die The e, die Demokratie stell einen "we dichen" Wert dar, der in anderen Kulturen (etwa asiati chen oder afrikani. chen) abgelehnt werde. Es scheint jedoch ell1e Tatsa­ che zu sein, da� überall dort, wo keine Demokratie besteht, dies nicht auf Wun eh der Bevölkerung so ist, Klas e die Macht II ondern deshalb, weil eine (mei t kleine) herr chende lIrpiert. Moralische Grundprinzipien müs en jedo h erkannt und klar usgespro h 11 werden, damit SIe in der Politik zur Wirkung gelan �en können. Die i t un. ere zweite Grllndthe e lind sie i. t keineswegs selb tver tändlich. Man mll. s in die em Zusamm nhang zumindest drei Ebenen unterscheiden: Auf der höchsten, allge­ mell1sten Ebene kann man von ethi chen Grund y temen prechen (etwa einer chri tlichen im Gegen atz zu einer sozialiStischen Ethik); auf einer zweiten Ebene gibt es ethisch-morali. che Prinzipien, die prakti ehe Fragen betreffen wie jene, ob Männer und Frauen in allen Lebensbereichen gleiche Rechte und Pflichten haben sollen; auf einer dntten Ebene geht es um konkrete, aktuelle Maßnahmen, wie erwa Ge etze zur GleIchbehandlung von Männern und Frauen in der Arbeitswelt. MII.X HALLER I MARKUS HADLER I DIE MORALISIERUNG DER POLITIK IN ÖSTERREICH Derartige Maßnahmen können aber auch auf unterschiedliche ethische Grund­ prinzipien zurückgeflihrt werden, etwa den Wert der "Gleichhelt" oder den Wert der gerechten Entlohnung bzw. der Entlohnung nach Leistung. Dieses Faktum bringt uns zum dritten allgemeinen Aspekt von Moral in der Politik. Politik wäre einfach, wenn es immer nur um eindeutige Entscheidungen flir oder gegen bestimmte Werte ginge. Die Realität ieht jedoch so aus, dass in einer konkreten Entscheidungssituation häufig sowohl unterschiedliche Werte mit­ einander in Konflikt geraten, als auch zwischen Werten und praktischen Interessen W idersprüche bestehen. Ein Politiker muss daher - im inne der Verantv"ortungs­ ethik von Max Weber - abwägen, welche Prinzipien und welche Interessen er als die wichtigsten erachtet, aber auch, wie er diese durchsetzen kann, ohne dadurch andere Prinzipien grob zu verletzen oder bestimmten sozialen Gruppen unzumut­ bare Nachteile zuzufügen. Die Durchsetzung von Moral im Rahmen von politischen Prozessen erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern wird getragen von konkreten politischen Per­ sönlichkeiten. Zugkräftige politische Persönlichkeiten können Wahlen entscheiden, während noch so gute Programme alleine oft nicht viel bringen. Unsere These lau­ tet, dass der Erfolg politischer Persönlichkeiten in hohem Maße (auch) damit zusanmlenhängt, wie integer sie in moralischer Hinsicht von den W ählern einge­ schätzt werden. Popuh�ti�ch-demagogisch geschickte, aber moralisch fragwürdige politische Führer mögen kurzfri tig politische Erfolge einfahren können - langfririg sieht es jedoch anders aus. Die jüngste politische Geschichte sterretehs zeigt dies ganz besonder deutlich. Vor dem Hintergrund dieser al1gememen Überlegungen sollen nun die ein­ gang; genannten Fragestellungen diskutiert werden. Politische Moral und Moralisierungen im Zusammenhang mit der National­ ratswahl 2002 Der Aufstieg und Absturz der FPÖ unter Jörg Haider Das spektakulärste und in einer Bedeutung \veitreichendste Ereignis dieser Wahl war der europaweit einmalige Absl1lrz der Freiheitlichen Partei von 26,9 % auf nur mehr 10,1 % der gültigen nmmen. W ie ist er sozialwissenschaftlich zu erklären? Un ere The e lautet, das owohl beIm phänomenalen Aufstieg wie dem tiefen ÖSTERRflCHISCHES IAHRBUCH FÜR POLITIK 2002 Sturz von Jörg Haider - und um ihn ging es bei dieser Wahl in hohem Maße moralische und moralisierende Argumente eine zentrale Rolle gespielt haben. Betrachten wir zunächst kurz die Umstände de AuF tiegs der FPÖ seit der Übernahme der Obmannschaft durch Dr. Haider im Jahre 1986. Die er Aufstieg begann damit, dass der damalige Bundeskanzler Dr. V ranitzky die kleine Koalition mit den Freiheitlichen aufkündigte und eine große Koalition mit der Österreichi­ schen Volkspartei bildete; zusammen verftigten diese beiden Parteien im Jahre 1986 über 84,9 % der Stimmen. Für die Demokratie in Österreich bedeutete dies eine wenig günstige SituatIOn: Einer nahezu allmächtigen Regierungskoalition. die im Parlament mühelos auch Verfassungsgesetze durchbringen konnte, standen nur zwei kleine, politisch wenig einflussreiche Parteien rnit knapp 10 % (FPÖ) bzw. 5 % (Grüne) gegenüber. Die Regierungskoalition PÖIÖV P nützte ihre Macht auch weidlich aus. Zum einen. indem sie immer wieder - klar gegen den GeIst der Ver­ fassung - tagespolitische Maßnahmen in den Rang von Verfassungsgesetzen erhob. womit SIe dem Zugriff des Verfassungsgerichtshofes entzogen wurden. Zum ande­ ren durch das Weiterftihren oder W iederaufgreifen des politischen Klientelisl11us, wie er aus den Zeiten der großen Koalitionen der 1950er und 1960er Jahre bekannt war (vgl. Czernin 19(7). Diese Tendenzen boten eUlen äußerst gün tigen Nährboden ftir den kome­ tenhaften Aufstit"g der von Haider geftihrten FPÖ, die ihren Stimmenanteil im Nationalrat von 5 % im Jahre 1983 auf 26.9 % im Jahre 1999 verftinffachen konnte. Der Aufstieg war vor allem auf dreI Faktoren zurückzuftihren: die beiden zentralen FPÖ-Programmpunkte Kampf gegen Partelbuchwirtschaft/Korruption und AgitatIon gegen Ausländer sowie die Persönlichkeit von Haider (vgl. Müller 20(0). Kellle wahlentscheidende Rolle spIelte dagegen dIe IInmer wieder w : "lage tretende Affinitiit Haiders zum nationalsozialistischen Gedankengut (Haller u. a. 1996. .] 20). Kampf gegen Parteibuchwirtschaft und Korruption ist ohne Zweifel ein Argument der politi�chen Moral und wir brauchen darüber hier mcht vIele Worte zu verlieren. Klar Ist jedoch, da der Vertreter einer sauberen politischen Moral in diesem Fall die FPÖ unter Dr.Jörg Haider war. Das Umgekehrte gilt jedoch fur den Kampf der FPÖ gegen Einwanderung und Ausländer. Aus objektiver SIcht lä st sich nicht entscheIden, welcher Anteil von Ausländern fur ein Land richtig. welcher zu hoch ist. Den wirtschaftlichen und sozialen Gewinnen, die ein wohlhabendes Land aus der Einwanderung zieht, ste­ hen ohne Zweifel auch Nachteile gegenüber. DIese Vor- und Nachtede las en ich MAX HALLER I MARKUS HADLER I DIE MORALISIERUNG DER POLITIK IN ÖSTERREICH aber nicht gegeneinander aufrechnen. Die Stellung zur Einwanderung beruht daher viel stärker auf Wertorientierungen und Vorurteilen als auf Fakten. Dabei können auch Letztere als Argumentationshilfe verwendet und verdreht werden. Das Thema der potenziell kriminellen, unser Sozialsystem ausnützenden - vielfach von der FPÖ auch in einem Zug mit einheimischen "Sozialschmarotzern" genannten Ausländer lässt sich gut rur demagogisch-populi tische Wahlkampagnen ausschlach­ ten. Solche Kampagnen, wie sie die FPÖ vor allem in W ien geführt hat, sprechen jedem politischen Verantwortungsbewusstsein Hohn. Sehr bedeutsam, aber ebenfalls äußerst komplex ist der Faktor der Persön­ lichkeit von Dr. Jörg Haider. Dieser wurde einer eits heroisiert und rur seine Uner­ schrockenheit gegenüber den einflussreichsten "Bonzen" bewundert (vgl. ,Jörgi, der Drachentöter" von Gerhard Haderer und Leo Lukas), andererseits als Person aber auch von breiten chichten der W ähler - sogar jenen der FPÖ selbst - als eine nicht kanzlerf:ihige Persönlichkeit gesehen. Dazu trugen seine Äußerungen und ein Verhalten bei, die eindeutig als "demokratiegefahrdend" bezeichnet werden müssen (Haller 1995) . Sie enthielten folgende Typen von Strategien: hemmungslose Verunglimpfungen des politischen Gegners, insbesondere der Sozialdemokraten, Gewerkschaften und Sozialminister; Angriffe auf die Sozialpartnerschaft, Kammern und ozialversicherungen; Appelle an die "Neidgenossen chaft", etwa Aufrechnung von Politikerprivilegien gegen Benachteiligungen "kleiner" Leute; Hetztuaden gegen" ozia] chmarotzer" und Ausländer mit Warnungen vor einer Überfremdung Österreichs; existenzgefahrdende Diffamierungen nicht nur politischer Gegner, ondern auch unbescholtener Bürger; chheßlich die Darstellung der ganzen Republik als skandalträchtIg und kurz vor dem Ende stehend. Auch in seinem prakti\chen Verhalten verletzte Halder häufig Grundregeln demokratisch-zivilisier­ ten Verhaltens: Engste politische Weggefahrten wurden reihenweise aus der Partei "geekelt", wenn sie seine Linie mcht mehr mittrugen. Meinungsumfragen zeigten. dass der Wun ch der Bevölkerung, Haider als Bundeskanzler zu sehen, kontll1uierlich und signifikant unter den Anteilen derer lag, die bereit waren, die FPÖ zu wählen. Im Sommer 1999 hätten rund 16 !)-'o rur Haider als Bundeskanzler gestimmt, aber selb t nur jeder zweite deklarierte FPÖ­ W ähler, während die FPÖ in dieser Pha e bei rund 27 % lag (Der Standard 12.7. und 20. 9. 1999 ) . W ie hätten dIe politischen Parteien reagieren sollen, wenn man den Maß­ tab einer politischen Moral an eine solche Persönlichkeit und ihre Partei anlegt? 2 43 ÖSTE RREICHISCH E S JAHRBUCH fÜR POLlllK 2002 Dr. V ranitzky tat es bekanntlich so, dass er jede Zusammenarbeit mit Haider dezi­ diert ausschloss. Nach Meinung mancher Kommentatoren hat er dadurch allerdings wesentlich zum Aufstieg Haider beigetragen (Czernin 1997). Eme andere Form der Ablehnung vertrat der seinerzeitige ÖV P-Klubobmann Dr. Khol, als er die Freiheitliche Partei Österreichs unter Haider al nicht zum "Verfa sungsbogen" gehörige Partei bezeichnete. Dieser aus der italieni ehen Politik entlehnte Begriff1 war unserer Meinung nach jedoch nicht auf die FPÖ anwendbar. Hier ist klar zu trennen zwischen einer Führungspersönlichkeit, die autoritäre Tendenzen zeigen mag, und einer Partei, deren Programm bei allen Vorbehalten, die man dagegen haben kann, doch auf dem Boden der Demokratie steht. Dies gilt jedenfalls für die FPÖ, auch wenn sie zeitwelSe eine Verfassungsreform und eine "dritte Republik" forderte. Die grundsätzliche Ausgrenzung der FPÖ ist in der Tat als eine "morali­ sIerende" Haltung zu bewerten. Es ist jedoch eine Vereinfachung, den AuE rieg Hai­ ders nur darauf zurückzuführen. Dieser war sicherlich auch durch die fnunobilität und Reformunfahigkeit der großen Koalition elbst bedingt. Der Prozess der Regierungsbildung 1999/2000 ist ein Kapitel politischer Moralisierung für sich. In einem großen Artikel hat etwa die e1l1flussreiche steiri­ sche "Kleine Zeitung" (12. 1. 2003) argumentiert, die DemonstratIonen von Lin­ ken und Antifa chIsten 1m Zusammenhang damit seien ein ge\valtig überzogener Proze der politischen "Moralisierung" gewesen. Moralisierung wurde aber auch von Seiten der EU betrieben, indem sie dIe österreichi�che Regierung als außer­ halb der europäischen Wertegemeinschaft stehend brandmarkte. ]edenfall wurde durch die RegIerungsbeteiligung der FPÖ bereits der lrl1l1dstein fiir das Ergebnis der Nationalratswahl 2002 gelegt. Ein zentrales WahJmotiv der FPÖ-W ähler war das Auftreten dieser Pa rtc:: I gc::gen P.llfOJI.lgl und Postenschacher. Einmal in der Regierung, tibte die FPÖ diese Praktiken selbst aus - man denke nur an dc::n Nauonalratsabgeordneten Gaugg, der sein Mandat nicht zurücklegen \\follte, at er stellvertretender Generaldirektor der Pen 1011 ver icherungsan talt werden . ollte. Natürlich haben auch die ständigen [)oe KommU1t1lS ASChe Parte. Italiens .. 1Ifde als eme IelltliCh totBfitäre. n.<:ht zum ••rco cosutuzionale" ",hÖrig!! Parte. jahrzrhntalang .on der Reg.enmgsbeleiligung .�Jossen. .... anera.tlg3 _0 'iellluIl<Dr­ tUmp.et\Jr1g der regJetenOen Democraz,a C"stlana beitrug. 2 44 MAX HALLER / MARKUS HADLER I DIE MORALISIERUNG DER POLITIK IN ÖSTERREICH Personalrochaden ihren Beitrag zum Abstieg der FPÖ geliefert, beginnend mit dem Vorsitzwechsel von Haider zu Riess-Passer bis hin zu den häufigen Minister­ wechseln. Den Höhe- oder T iefpunkt stellte die De-facto-Spaltung der FPÖ in eine radikal-oppositionelle und in eine regierungsnahe Fraktion auf einem Tref­ fen von Haider-Anhängern in Knittelfeld dar, als ein Kompromisspapier der Regierungsfraktion öffentlich zerrissen wurde. Mit dem darauf folgenden Rück­ tritt der drei populärsten Spitzenpolitiker der FPÖ war die alte Strategie Haiders zu einem Bumerang geworden, der ihn selbst endgültig zum bundespolitischen Absturz brachte. Die österreichische Neutralität und der Ankauf von Abfangjägern Ein Dauerbrenner der ö terreichischen Politik der letzten Jahrzehnte ist die Frage der Neutralität. Noch in den 1950er und 1960er Jahren, zur Zeit des Kalten Krie­ ges, stand sie völlig außer Streit, nahm man doch - nicht zu Unrecht - an, das sie entscheidend dazu beigetragen hatte, die Unabhängigkeit und Einheit des Landes nach dem Kriege wiederherzustellen. Die zunehmende Westintegration Österreichs und der Zerfall der Kommunistischen Regime in Osteuropa weichten diese Hal­ tung zunehmend auf. Vor allem in bürgerlichen Krel en gewann die Ansicht Ober­ hand, die Neutralität sei ein Relikt des Kalten Kriegs und heute überholt, da die wirtschaftlich-politische West-Integration in die EU viel wichtiger sei. Nun ist aber die Neutralität Teil der ö terreichlschen Verfassung und wird im entsprechenden Bunde verfasssungsgesetz (BGBI 1955/211, Art. I, Abs.l) sogar als "immer­ während" bezeichnet. Ihre Abschaffung würde daher nach einem ·eithin geteilten v .. Demokratiever tändnis eine Volksabstimmung erfordern. DIes ist aber ein Thema, um das sich dIe an der Macht befindliche bürgerliche Reglerungskoahtion drückt wie um einen heißen Brei - nicht zuletzt im Bewusstsein, dass eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung die Neutralität unterstützt. Stattdessen wird dlt! Neutra­ lität .. scheibchenweise" durch öffentliche Äußerungen demontiert: Sie WIrd als überflüssig und hmderlich bezeichnet, Ja ogar lächerlich gemacht, wie durch Bun­ deskanzler Schü seI am NatlOnalfeiertag, dem 26. Oktober 2001, als er sie al "alte chablone" bezeichnete und mit Lipizzanern und Mozartkugeln verglich. Auf die­ ser Linie liegt auch eine der umstrittensten Entscheidungen der ÖV P IFPÖ­ Regierung, als sie im Juli 2001 beschloss, fast 1,8 Mrs. Euro rur den Kauf von 24 Kampfjets des Typs "Eurofighter" au zugeben. 145 ÖSTERREICHISCHES JAHRBUCH FÜR POLITIK 2002 Der Kauf genau dieses Typs von Abfangjägern war schon an sich sehr auf­ klärungsbedürftig.2 Man muss auch hier von einem Mangel an adäquater politi­ scher Moral sprechen, wenn man - wie im ersten Teil argumentiert - dazu auch das klare Aussprechen der hinter Einzelmaßnahmen stehenden, grundsätzlichen politischen Ziele rechnet. inn macht die Anschaffung von Abfangjägern fur Öster­ reich wohl nur, wenn man entweder klar fur die Fortführung einer "wehrhaften Neutralität" (etwa im Sinne der Schweiz oder chwedens) ist. Da dies ausgespro­ chen nicht das Ziel der Regierung war, kann die Maßnahme wohl nur dahinge­ hend interpretiert werden, dass man mit diesen Abfangjägern einen Vorgriff auf LeIstungen Österreichs im Rahmen einer zu errichtenden Europäi chen Verteidi­ gungsunion machen wollte. Dafur spricht auch die Tatsache, dass - ohne erklärte triftige Gründe - dem vergleichsweise sehr teuren Eurofighter-ModeU der Vorzug gegeben wurde, von dem es nur Prototypen gibt. Im Übrigen ist hIer festzuhalten, dass die langfristigen positiven wirtschaftlichen Folgen der Neutralität bei weitem unterschätzt werden. Schweden und die Schweiz zählen heute zu den reichsten Ländern E uropas, nicht zuletzt deshalb, weil Sle bereits über lon Jahre politisch neutral sind. Die Si cherung der Pensionen durch Reformen des Pensionssystems Auch beul1 Thema " icherung der Pensionen" ist aus der hier enn-vlckelten Sicht von politischer Moralisierung eVIdent, dass klar zutage hegende Priontäten und Werte nicht ausgesprochen werden, weil man furchtet, damit el11 ne iges W ähler­ potenzial (um 20{)O waren rund 2,6 Millionen Österreicher 50 Jahre und älter) zu verlieren. Ö terrelch steht im Hinblick auf dIe llelastung durch PemlOmzJhlungen weltweit an der pitze, aber nicht deshalb, weil die Menschen hIerzulande viel älter würden als ander wo, sondern deshalb, weIl ie mrgends sonst (vielleicht mIt Au - nahme ltahens) so früh in Pension gehen. Von den Grunen WIlrde unter anderem kritisiert. dass es sich um die leuerste Li!,,"", handelt, dass die Kom­ pensatIOnsgeschäfte fragJ'JCh sln<l. dass doe kommende SlCherheitSSlruktur der EU noch nICht klar sei und dass dubiOse 8eliehungen ZWISChen dem rlOBrtzmllllSler und dem Stronact>-Konzem bestehen kbnnten. MAX HA LLER I MARKUS HADLER I DIE MORALISIERUNG DER POLITIK IN ÖSTERREICH Bereits im Frühjahr 2002 stellte eine Pensionsreformkommission fest, dass eme dra tische Erhöhung der Erwerbszeit in der kOl1Ullenden Legi laturperiode unerlässlich sein werde. In der Vorwahlphase wurde dieses Thema von den Parteien aber weitgehend au geklammert. Von der ÖV P äußerte einmal Staatssekretär Finz, dass das Frühpensionsalter auf 63 Jahre anzuheben sei. Tags darauf w urde dies von ÖV P -Generalsekretärin Rauch-Kalbt wieder dementiert. Ebenso zurückhaltend war die SPÖ. Sie war ebenfalls der Ansicht, dass das gesetzliche Pensionsalter nicht zu erhöhen sei. Der Grund dieser Zurückhaltung der Parteien liegt wieder in einer kurzfristigen Interessenpolitik auf Kosten langfristiger Bedürfnisse des Gemein­ wohls. Das äußer t niedrige Pensionsantrittsalter in öffentlichen Bereichen, bei Stadtverwaltungen, bei Bahn und Post usw. , sowie die überhöhten Pensionen von vielen Beamten müssen als Folge eines massiven Lobbyings dieser Gruppen gese­ hen werden. Die finanziellen Kosten von Personalreduktionen in Privatunterneh­ men durch Frühpensionierungen den staatlichen Pensionskassen aufzubürden war ein Zusanunenspiel von Unternehmerinteressen und Interessen von Politikern, die auf diese "elegante" Weise die Arbeitslo enziffern senken konnten. Unseres Erach­ tens ist eine radikale Pensionsreform nicht nur aus demographischen und bud­ getären Gründen non.vendig, sondern auch aus Gründen der sozialen Gerechtig­ keit. Die Pensionen der heutigen Pensioni ten werden bekanntlich ja au den Ein­ zahlungen der aktiv Erwerbstätigen sowie von inzwischen erheblichen staatlichen Zuschüssen bezahlt. Diese Zahlungen bedeuten aber auch eine sozial ungerechte Umverteilung von den jüngeren zu den älteren Generationen. Dabei werden ins­ besondere junge, kinderreiche Famihen benachteiligt, da sie vielfach an der Armutsgrenze leben müssen, obwohl sie es sind, die für die zukünftige icherung der PensIOnen am meisten beitragen. Dle tellung der Parteien zur Reform der Pensionen änderte Sich Jedoch schlagartig nach erfolgten Wahlen. Im Zuge der Sondierungen für eine neue Regierung stellte etwa die ÖV P fest, man müsse das Pensionsantrittsalter anheben. SP-Chef Gusenbauer sprach sich hingegen fur eine Erhöhung des Deckungsbeitra­ ges bei Beamten, Bauern und Gewerbetreibenden owie für einen " olidarbeitrag" der Beamten aus. 247 ÖSTERREICHISCHES J AHRBUCH FÜR POLITIK 2002 Q uittung Der Anstieg der Nichtwähler als f"Ur die zunehmende Scheu der politischen KJasse, politisch-moralische Haltungen klar zu definieren und zu vertreten Die letzen zwei Jahrzehnte haben noch einen weiteren, bedeutsamen Trend im Wahl­ verhalten mit sich gebracht, dem vielfach zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. E ist die der Anstieg der Nichtwähler - ein Prozes., der unserer Meinung ebenfalls viel nut Moral in der Politik zu run hat. Zwischen 1945 und 1983 gingen tets über 90 % der wahlberechtigten Österreicher zur Wahl; biS 1999 sank diese Beteiligung ab auf 80 %; bei der Wahl 2002 betrug sie 84,3 %. Noch pektakulärer war der Rück­ gang bei regionalen und kommunalen Wahlen. In der teiermark lag die Wahlbeteili­ gung bei der Landtagswahl 2000 bei 74,6 %, bei der Wiener Wahl 2001 bel 66,6 % und bei der Grazer Gemeinderatswahl 2003 gar nur mehr bei 57 %. Eine Analyse der NIchtwähler bei der steiri ehen Landtagswahl ergab, dass diese keine weg generell wenig an Politik intere siert sind (so finden sich Personen mit Matura sogar häufiger unter den NIchtwählern) , sondern vor allem mit der Ein chätzung einer geringen Relevanz der Politik und einer geringen Reputation der politischen Kandidaten und Persönlichkeiten zusammenhängt (Hadler/Haller 2001). Auch eine große deutsche tudie zeigte, dass e einen neuen Typus von Nichtwählern gibt, der hohe lnteres e an Politik hat, sich aber durch die vorhan­ denen Parteien nicht ange prochen fühlt; insbesondere tarnmwähler einer Partei gebrauchen bewu ste Wahlenthaltung als Sanktionsmittel (Eilfort t 994). Schlussbemerkung WH �ind davon ausgegangen, dass ethisch-moralische Prinzipien auch heute eme Wichtige Rolle in der Politik spielen und aus der , ieht des Erfolgs der Parteien auch spielen ollten. Wenn es letzte Ziel der PolItik Ist, das "Gemeinwohl" vor partikularen Gruppenintere sen zu formulieren und durchzusetzen, dann müssen als Erstes die allgemeinen ge eil chaftlichen Werte und Ziele dargelegt werden; es mü sen konkrete Maßnahmen, die darau folgen, klar formuliert und öffentlich vertreten werden: und e. muss deutlich gemacht werden, warum man in be tunm­ ten ItuatIonen be tinunten Maßnahmen und Zielen geringere Priorität einräumt oder sogar Ziele und Entscheidungen gegen bestImmte Einzel- lind Gruppeninter­ essen setzt. Politl che Parteien und Persönlichkeiten, bei denen der W ähler da Gefühl hat. das sie olche universell gültigen Werte und Ziele vertreten, dass bei MAX HALLER / MARKUS HADLER I DIE MORA LISIERUNG DER POLITIK IN ÖSTERREICH ihnen Sprechen und Handeln übereinstimmen, werden langfristig auch politisch erfolgreicher sein als jene, die zu Gunsten momentaner Wahlgewinne Versprechun­ gen abgeben, die sie nicht einlösen können. Der spektakuläre Stimmengewinn der Kommunistischen Partei bei den Kommunalwahlen vom 26. Jänner 2003 in Graz, bei denen diese 20,9 % der Stimmen erhielt und damit nicht weit hinter der jahr­ zehntelang dominierenden SPÖ (25,7 %) zurückblieb, ist ein schlagendes Beispiel dafUr, dass eine moralisch hochintegre politische Persönlichkeit politisch sehr erfolg­ reich sein kann. Der sehr zurückhaltend auftretende KPÖ-Vorsitzende Ernest Kal­ tenegger kümmert sich seit zwei Jahrzehnten unermüdlich um die Verbesserung der Wohnungssituation einfacher Familien und spendet einen erheblichen Teil sei­ nes Einkommens für oziale Zwecke. Als sein österreichischer Gegenpol kann wohl der Großgrundbesitzer Dr.Jörg Haider bezeichnet werden, der fast ebenso lange als selbst ernannter Vertreter des "kleinen Mannes" in gestyltem Outfit, Porsche und Hubschrauber (woraus die damit verbundenen hohen Spesen bezahlt wurden, wäre einer eigenen Untersuchung wert) durch die Lande tourend einen permanenten Wahlkampf ftihrte. Weder mit dem Wahlsieg eines Ernest Kaltenegger noch mit dem Verschwinden des Or. Haider in der (bundes-)politischen Versenkung wird jedoch eines der aktuellsten Probleme der österreichischen Demokratie gelöst. W ie in vielen anderen Ländern wird Politik auch hierzulande immer mehr zu ell1em der kommerziellen Werbung ähnlichen "Geschäft" mit allgemein-unverbindlichen Programmen und pitzenkandidaten, die eher nach ihrem Erscheinung bild im Fern ehen als nach ihrem politischen Sachver tand und ihrer Courage ausgewählt werden. Faktum ist, dass immer mehr politisch mündige Menschen sagen, dass sich die Beteiligung an Wahlen nicht mehr lohnt. literatur HUBERTuS CZERNIN 1997. Der Haidef1Tl8Cher: Franz Vraflitzky and das Ende der.1ren �blik, Woen MICHAEL EILFORT 1994, OIe Nichtwfhler. lI'3hJen/JlMt1lflg oIs Fann des Wah/vertJa1tens. Paderbom otc. MARKU5 HADlEJ! I MAX IiALLER 2001. Oie steirische LancJtagswahlZOOO. Trends und Detemunanten politischer ParrIllp"tlOfl 6IJI regootr:ller ElJeJ!e un Vergleich. SW$.RundSthau. 41. Jg.,Ii. 1. 5.149-176 MAX HALLER 1995, Gesellschaftliche 6«Jingungen und TrIgf1f dernokrallCgflfahrrJender Ell7Slel1ungen und Verhaltenswersen. /fI: H KONflAD U 6. (Hg.), StJa/-F8d Ocmt)kratle heute. Markierungen fiir ..,.. offene Gesellschaft, Gnu. 5.135-177 MAX HALLER 1996,/cenutJt und NdlJOfIblstoiz tief OstBrreicher. Gesellschaftliche Uruchen und FunkllCflen • Her� und TransformalJOn sClI 1945 - Imemationaler VergfeICh, Woen/Köln/Wormar. WOLFGANG C MÜLLER 2000, Wahlen und {)ynarr.iK des /JstetreicIUschen ParteIeTIsysltlfTl$ set11VB6. in: FRITZ ?LASSER / PETER A. ULRAM / FRANZ SOMMeR \Hs.I, Da.4steneicIIist;I WiI/II';erlIa,It W",,," S. 13-54 2 49