Leseprobe (c) Rombach Verlag

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Gabriele Brandstetter / Katja Schneider (Hg.)
Sacre 1913/2013
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Tanz, Opfer, Kultur
RO M BAC H WI S S E N S C HAFTE N • R E I H E S C E NAE
herausgegeben von Gabriele Brandstetter und Clemens Risi
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Band 18
Gabriele Brandstetter / Katja Schneider (Hg.)
Sacre 1913/2013
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Tanz, Opfer, Kultur
Auf dem Umschlag:
Collage aus:
© eSeL.at, Performance DeSacre! Pussy Riot meets Vaslav Nijinsky. UA 2013
in der Josephskapelle, Hofburg/Wien. Koproduktion: Tanzquartier Wien
und 2nd nature.
Konzept: Christine Gaigg, Text: Christine Gaigg, Erich Klein, PerformerInnen: Alexander Deutinger, Marta Navaridas, Petr Ochvat, Anna
Prokopová, Eva-Maria Schaller, Radek Hewelt, Veronika Zott
und
bpk Bildagentur, Staatsbibliothek Berlin, Charles Gerschel, Le Théâtre,
Juli 1913, No. 349, S. 20
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Die Publikation wurde realisiert mit freundlicher Unterstützung durch
das Zentrum für Bewegungsforschung (ZfB) der Freien Universität Berlin
und Access to Dance.
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Access to Dance ist ein Programm zur Förderung von zeitgenössischem
zeitgenössischem Tanz, das von
Institu
einem Zusammenschluss verschiedener Münchner Tanzorganisationen und Institutionen – der Tanzbasis e.V. – initiiert und durchgeführt wird. Access to Dance wird
ermöglicht durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über <http:/dnb.d-nb.de> abrufbar.
© 2017. Rombach Verlag KG, Freiburg i.Br./Berlin/Wien
1. Auflage. Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Dr. Friederike Wursthorn
Umschlag: Bärbel Engler, Rombach Verlag KG, Freiburg i.Br./Berlin/Wien
Satz: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG, Freiburg im Breisgau
Herstellung: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG, Freiburg im
Breisgau
Printed in Germany
ISBN 978-3-7930-9859-1
INHALT
GABRIELE BRANDSTETTER / KATJA SCHNEIDER
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
TANZ
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GABRIELE BRANDSTETTER
Tanz über Gräben
Le Sacre du Printemps 1913/2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
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LYNN GARAFOLA
Ein Jahrhundert Le Sacre du Printemps:
Die Etablierung einer Avantgarde-Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
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SABINE HUSCHKA
Opfer(n) in choreographischer Gestalt:
Formen der Überschreitung und Energetisierung . . . . . . . . . . . . . . . 61
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GUNHILD OBERZAUCHER-SCHÜLLER
Deutsche Opfergänge um Le Sacre du Printemps
Dore Hoyer, Lasar Galpern und Marion Herrmann als
Schicksalsfiguren deutscher Tanzgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
KATJA SCHNEIDER / PATRICIA STÖCKEMANN
In die Dreidimensionalität. Le Sacre du Printemps von Mary Wigman 97
BETTINA WAGNER-BERGELT
Le Sacre du Printemps von Mary Wigman beim
Bayerischen Staatsballett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
CLEMENS RISI
Die performative Macht der Geste
Xavier Le Roy re-enactet Simon Rattle, der Strawinskys Le Sacre
du Printemps dirigiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
OPFER
SIGRID WEIGEL
Kultwert und Kunstwert des Opfers
Zur Engführung von Opfer, Tanz und Tod im Musik- und
Tanztheater der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
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CHRISTINE GAIGG
DeSacre! Pussy Riot meets Vaslav Nijinsky
Eine Doku-Performance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
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ERICH KLEIN
Pussy Riot – Ein kleines Postscriptum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
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ANNA WIECZOREK
Skandalöse Gesten des Protests
Medialer und körpersprachlicher Ausdruck des Protests bei
Pussy Riot und Le Sacre du Printemps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
KATJA SCHNEIDER
Opfer und Ordnung
Anmerkungen zu Systemstörungen und ihren Perspektivierungen
189
KULTUR
BURKHARDT WOLF
Der Herbst des Primitivismus
Opfer und Regeneration vor dem Großen Krieg . . . . . . . . . . . . . . 209
GABRIELE BRANDSTETTER
Harry Graf Kessler und die Ballets Russes
Nijinskys Le Sacre du Printemps im Kontext der europäischen
Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
NICOLA GESS
Die Vorwelt als faktische Gegebenheit
Primitivismus und Positivismus bei Adorno und Strawinsky . . . . . 253
DAVID J. LEVIN
Adornos Spectacles:
Strawinsky und der Ort der Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
ANHANG
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DEUFERT&PLISCHKE
Massacre Masqué
Theater als Lebensraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
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JACQUES RIVIÈRE
Le Sacre du Printemps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
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GABRIELE BRANDSTETTER / KATJA SCHNEIDER
Einleitung
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1913 wurde Le Sacre du Printemps uraufgeführt. Das Ballett von Vaslav
Nijinsky zur gleichnamigen Komposition Igor Strawinskys löste augenblicklich einen Skandal aus und markiert heute den Anfang der Moderne
im klassischen Tanz. Zum 100. Jahrestag widmeten sich zwei Symposien
in Berlin und München im Herbst 2013 diesem Tanz- und Theaterereignis.
Die Konferenz in Berlin, konzipiert und durchgeführt vom Zentrum für
Bewegungsforschung der Freien Universität Berlin (Leitung: Gabriele
Brandstetter, unter Mitarbeit von Alexander Schwan und Anne Schuh)
in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes1 (Hortensia Völckers,
Antonia Lahmé), trug den Titel Tanz über Gräben. 100 Jahre »Le Sacre
«. Sie wurde vom 14. bis 17. November 2013 im Radialdu Printemps«.
system V durchgeführt, wo Vorträge, Gespräche, Podiumsdiskussionen
und Aufführungen stattfanden. Ergänzt wurde die Konferenz um weitere
Aufführungen im HAU Hebbel am Ufer, wo die Sacre-Versionen junger
ChoreographInnen, die ihre Entwürfe zu einem Call »Sacre 100#« eingereicht hatten, gezeigt wurden.2 Das Symposiumsprogramm nahm den
oppelten Zeitbezug von Le Sacre du Printemps auf: die paradoxe Verdoppelten
schränkung der Avantgardeästhetik von Schock und Traditionsbruch
mit der Konstruktion einer archaischen barbarischen Vergangenheit, in
der Menschenopfer Kultur und Natur versöhnen sollten; und zugleich
die Aktualität von Sacre und seiner 100-jährigen Rezeptionsgeschichte.
Welches Bild von der Situation der Avantgardekunst und ihrer Verflechtung in eine international kulturell und politisch aufgeladene Zeit
vor dem Ersten Weltkrieg vermittelt Le Sacre du Printemps heute? Wie
verhandelt dieses Ballett einen »Tanz über Gräben« (wie der Historiker
1
2
Wir danken der Kulturstiftung des Bundes für die Unterstützung bei der Realisierung
der Tagung und der in das Programm integrierten Performances. Die Kulturstiftung
des Bundes wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und
Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.
Siehe Programmheft der Konferenz Tanz über Gräben. 100 Jahre »Le Sacre du Printemps«.
Eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes und des Zentrums für Bewegungsforschung an der Freien Universität Berlin, Berlin 2013; sowie http://www.hebbel-amufer.de/programm/archiv/s/sacre_100/ [letzter Zugriff: 11.11.2016].
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Modris Eksteins Sacre und seine Schlüsselrolle bezeichnet hat), durch seine choreographische und rhythmische Struktur, durch seine Gestaltung
der Zeit-Themen Opfer, Ritual, Primitivismus und Kult? Die Schwerpunkte der Tagung konzentrierten sich auf die Themen Victim/Sarifice,
Abstraktion/Ornament und Modernismus/Primitivismus. Die Resonanzen der wissenschaftlichen und künstlerischen Beiträge zu diesen Fragen
sind in den in diesem Band aufgenommenen Texten versammelt und
mögen zu weiteren Forschungsdiskussionen anregen.
Das Münchner Symposium, konzipiert von Katja Schneider und Bettina
Wagner-Bergelt im Rahmen von »Access to Dance – Tanzbasis München«,3 fand vom 4. bis 6. Oktober 2013 in der Pinakothek der Moderne
und im Probenhaus des Bayerischen Staatsballetts statt.
Das interdisziplinäre und internationale Symposium verhandelte zum
einen künstlerische Reflexionen des Sacre sowie choreographische Zugriffe auf Komposition, Stoff und auch Simulakra in der langen Reihe der
-Versionen. Zum anderen erweiterte die Tagung – wie bislang alle
Sacre-Versionen.
im Rahmen von »Access to Dance« und im Jahresrhythmus veranstalteten Symposien – das tanzwissenschaftliche Thema und fragte dezidiert
nach dem Status von »Opfer« in Literatur, Film und in gesellschaftlichen
Zusammenhängen. Hier fokussierten die Beiträge auf Opferbereitschaft
und Viktimisierung. Wofür braucht unsere Gesellschaft Opfer? Warum
wurde »du Opfer« ein Schimpfwort für gemobbte Schüler? Wie werden
Selbstopfer moralisch legitimiert? Was unterscheidet den islamistischen
Selbstmordattentäter vom westlichen Terroristen? Fragen, die aus soziologischer, philosophischer, ethnologischer, pädagogischer und kunstwissenschaftlicher Perspektive diskutiert wurden. In dem hier publizierten
Band wurden die kunst- und kulturwissenschaftlichen Beiträge des Symposiums aufgenommen.
Darüber hinaus bietet dieser Band einen einzigartigen Beitrag zur ästhetischen und historischen Wirkung von Le Sacre du Printemps: Mit seinem
Essay leistete Jacques Rivière im Jahr 1913 gleichermaßen eine brillante
Deutung von Sacre und ein aufregendes Dokument der Selbstreflexion
3
Wir danken der Förderung durch Access to Dance. Access to Dance wird ermöglicht durch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München, den Bezirk Oberbayern
und den Bayerischen Landesverband für zeitgenössischen Tanz (BLZT) aus Mitteln
des Staatsministeriums für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst. – Access to
Dance ist ein Programm zur Förderung von zeitgenössischem Tanz in Bayern, das von
einem Zusammenschluss verschiedener Münchner Tanzorganisationen und Institutionen – der Tanzbasis e.V. – gegründet wurde.
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Einleitung
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der ästhetischen Avantgarde. Der Text – eine ausführliche Analyse und
künstlerische Würdigung sowohl der Musik Strawinskys als auch der
Choreographie Nijinskys – erschien nach der Premiere (29. Mai 1913)
und wurde im November 1913 in erweiterter Form in Nouvelle Revue
Française VII publiziert.4 Rivière (geboren 15. Juli 1886 in Bordeaux,
gestorben 14. Februar 1925 in Paris) war Schriftsteller und seit 1912 Redakteur dieses u.a. von André Gide gegründeten Literaturjournals. Sein
Essay über Le Sacre du Printemps ist nicht – wie die meisten zeitgenössischen Rezensionen – ein Bericht über den Skandal der Premiere, sondern eine überaus präzise Analyse, mit der der Versuch unternommen
wird, die radikale »Neuheit« des Werks herauszustellen. Wesentliche
Strukturmerkmale der Musik und der Choreographie werden wie unter dem Mikroskop herauspräpariert: die Abgrenzung Strawinkys gegen
den musikalischen Stil des »Impressionismus« Claude Debussys ebenso
wie die Überwindung der choreographischen Formen Michel Fokines
durch die harte und klare Körpersprache Nijinskys. Rivières Analyse
greift der Wirkungsgeschichte von Le Sacre du Printemps weit voraus. Seine Charakterisierung des Werks als »soziologisch« und als »biologisch«
antizipiert spätere Interpretationen, die Sacre unter Gesichtspunkten von
Individuum und Masse oder in der Perspektive eines neuen (evolutionär
verstandenen) Materialismus betrachten.
Rivières Text wurde für die Tagung in Berlin 2013, unterstützt von der
Kulturstiftung des Bundes, erstmals vollständig ins Deutsche übertragen
und in Ausschnitten im Programmheft abgedruckt.5 Die Übersetzung
on Charlotte Bomy und Margrit Vogt wurde von Adrian Navarro Both
von
revidiert und insbesondere im musik- und tanzbezogenen Vokabular
spezifiziert. So ist im vorliegenden Band im Anhang erstmals eine vollständige deutsche Übersetzung des Texts von Jacques Rivière publiziert.6
Unter den künstlerischen Auseinandersetzungen, die mit Sacre im Jahr
der Symposien, 2013, präsentiert und diskutiert wurden, waren zwei Produktionen, die sowohl in München als auch Berlin präsent waren und
die nun auch, in unterschiedlichen Formaten, in dem vorliegenden Band
dokumentiert sind. Patricia Stöckemann, die zusammen mit der Choreographin Henrietta Horn die Rekonstruktion von Mary Wigmans Le
Sacre du Printemps leitete und in München wie in Berlin vorstellte, ist mit
4
5
6
Vgl. Nouvelle Revue Française VII (Nov. 1913), S. 706–730.
Vgl. Programmheft Tanz über Gräben. 100 Jahre »Le Sacre du Printemps«, S. 8–10.
Jacques Rivière: Le Sacre du Printemps, ins Deutsche übers. von Charlotte Bomy,
Margrit Vogt und Adrian Navarro Both, S. 305–326 in diesem Band.
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einem Interview über das 1957 für die Berliner Festspiele entstandene
Stück, Wigmans Konzeption von Opfer und die am Theater Osnabrück
herausgebrachte Neuproduktion vertreten.
Christine Gaigg/2nd nature, die beim Symposium in München ihre Produktion DeSacre! in der Muffathalle aufführte und die diese Arbeit auch
in Berlin in einer Lecture-Performance vorstellte, hat für diesen Band
einen Beitrag verfasst. Gaiggs Produktion bündelt die Signalwirkung von
Sacre heute. Ihre Auseinandersetzung mit den Fragen von Tanz – Kult –
Opfer steht gewissermaßen stellvertretend für zahlreiche Sacre-Versionen
im zeitgenössischen Tanz. Aus diesem Grund haben wir ein Szenenfoto
aus DeSacre! für das Titelbild dieses Bandes gewählt. Gaigg arbeitet mit
einer doppelten Bezugsfigur: mit dem Vergleich und der Überblendung
von typischen Körperstellungen und Bewegungsphrasen aus Nijinskys
Choreographie – wie dies in dem bekannten Foto von Charles Gerschel
aus dem Jahr 1913 festgehalten ist – mit der politischen Protestaktion
der russischen Performerinnen-Gruppe Pussy Riot in der Moskauer
Christ-Erlöser-Kirche 2012. DeSacre! kompiliert das ästhetisch und politisch Revolutionäre von Le Sacre du Printemps und fokussiert die Wirkungsdimension: the Riot at the »Rite«. Wie bei zahlreichen anderen
neueren Choreographien von Sacre wird so der Kunstskandal und die
damit einhergehende politische Demonstration betont. Sacre tritt auf als
Sakrileg. DeSacre! behauptet, ein Stück ü b e r Sacre zu sein, eine Re-Vision
eines Originals, das wir nicht besitzen, sondern das beständig neu zu
(re-)konstruieren ist.
Der Schock der Moderne, den Le Sacre du Printemps auslöste, die Aktualität dieses Werks sowie die brisante Dimension von Victim und Sacrifice,
sind für die Kunst und für die Wissenschaft gleichermaßen eine Herausforderung. Die in diesem Band versammelten Beiträge fokussieren
aus unterschiedlichen kunst- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen Le
Sacre du Printemps von 1913 bis 2013. Sie tun dies in erster Linie mit dem
Blick auf den Tanz, auf unterschiedliche choreographische Versionen
von Sacre und ihre ästhetischen und kulturellen historischen Kontexte. In
zweiter Linie eröffnen sie ein Panorama unterschiedlicher Darstellungen
und gesellschaftlicher Konzeptionen von Opfer und Opferbereitschaft.
Allen BeiträgerInnen gebührt unser Dank.
Unser Dank gilt all jenen, die uns bei den Vorbereitungen zur Drucklegung dieses Bandes unterstützt haben: Adrian Navarro Both für redaktionelle Unterstützung bei der Texterstellung und Bildrecherche. Besonderer Dank gebührt ihm für die genaue und sachkundige Bearbeitung
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Einleitung
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und Co-Übersetzung der deutschen Version des Textes zu Le Sacre du
Printemps von Jacques Rivière. Ann-Kathrin Reimers danken wir ganz
besonders für die Gesamtredaktion; ihre Umsicht, ihr Überblick, ihre
große Erfahrung und die Kooperation mit Herausgeberinnen, AutorInnen und dem Verlag verliehen allen Schritten der Buchedition einen
Touch von Leichtigkeit.
Friederike Wursthorn war unsere fachkundige Partnerin im Rombach
Verlag. Ihr gilt unser Dank für alle Hilfe bei der Buchgestaltung.
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GABRIELE BRANDSTETTER
Tanz über Gräben
Le Sacre du Printemps 1913/2013
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Rekonstruktion
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Über 100 Jahre nach seiner Premiere hat Le Sacre du Printemps den Status
eines kanonischen Meisterstücks errungen. Und dies, obwohl die Überlieferung lückenhaft ist. Strawinskys Musik ist zu einem Klassiker geworden, der aus dem Repertoire der Konzertsäle nicht mehr wegzudenken
ist. Nijinskys Choreographie hingegen verschwand nach wenigen Aufführungen von der Bühne. Umso erstaunlicher ist es, dass genau dieses
Stück zu einem Schlüsselwerk des modernen Tanzes wurde. Le Sacre du
Printemps entfaltet weit über das Kunstgenre Tanz hinaus Wirkungen zu
brennenden Fragen der Zeit. Denn die Geschichte zwischen 1913 und
2013 weist auf zentrale ästhetische, ethische und politische Themen, die
in Le Sacre aufscheinen: die Frage nach der Rolle des Opfers, die eigentümliche Verschränkung von Ritualität, Primitivismus und Moderne und
die ästhetische Debatte zu Ornament und Abstraktion.
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Doch von welchem ›Werk‹ sprechen wir? Die Originalchoreographie
Nijinskys ist nicht aufgezeichnet. Überliefert sind unterschiedliche Dokumente: Notationsskizzen, Bewegungszeichnungen von Valentine
Gross, Kostüm- und Bühnenbildgrafiken und mündliche Überlieferungen. Eine Annäherung an die Gestalt der Choreographie von 1913 steht
deshalb stets im Zeichen der Re-Konstruktion. Es ist jener langwierige Prozess, den Millicent Hodson und Kenneth Archer unternommen
haben.1 Wie nähert man sich einem verlorenen Meisterwerk das den
Nimbus eines »Avatar der Moderne«2 erlangt hat? Diese Frage wird zu
einer Herausforderung für Historiker und Wissenschaftler ebenso wie
1
2
Vgl. Millicent Hodson: Nijinsky’s Crime Against Grace. Reconstruction Score of the
Original Choreogaphy for Le Sacre du Printemps, Stuyvesant (NY) 1996.
Avatar of Modernity. The Rite of Spring Reconsidered. Hg. von Hermann Danuser
und Heidy Zimmermann, London 2013.
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für Künstler. Nicht ein Werk – Le Sacre du Printemps – finden wir vor,
sondern Sacre-Material. Eine Vielheit von Geschichten, Quellen – und
ihre Übertragungen. »Sacre 1913/2013« umspannt einen nahezu unübersehbaren Prozess von Aneignungen, Verwerfungen, Übertragungen und
Aktualisierungen. Es ist ein Prozess des Erinnerns und des Vergessens:
Neu aufgefundene Dokumente, wie z.B. Partitureintragungen oder die
erst kürzlich veröffentlichten Tagebücher Harry Graf Kesslers,3 verändern unser Wissen. Und vergessene Zeugnisse der langen Rezeptionsgeschichte von Sacre – wie z.B. die erste deutsche Version, die Lasar
Galpern 1930 in Köln zeigte4 – lassen uns fragen, welchen Dynamiken,
welchen politischen, ästhetischen und ideologischen Einstellungen eine
kanonisierende Überlieferung folgt. Auch ist es auffallend, dass aus diesem Sacre-Material vor allem jüngere Choreographen schöpfen, auch die
Medien Film und Video gelten: Ist nicht für eine ganze Generation die
Animation in Walt Disneys Fantasia die erste und prägende Begegnung
mit Le Sacre du Printemps?? Jene eigentümliche filmische Interpretation,
die den Aufbruch, den ›spring‹ von Le Sacre übersetzt in ein Amalgam
aus rhythmischer Farbsymphonie und Evolutionsgeschichte. Filme über
Le Sacre werden ihrerseits zu Referenzstücken – zu einem eigenen Typus
›Quelle‹ –, wenn etwa Yvonne Rainer Millicent Hodsons Rekonstruktion und zugleich den BBC-Film Riot at the Rite verwendet für ihr RoS
Indexical (2007). Oder wenn Xavier Le Roy sich in seiner Version von Le
Sacre du Printemps (2007) auf den Film Rythm Is It mit Simon Rattle und
Royston Maldoom bezieht. Es sind genau diese Neuinterpretationen und
ihre unterschiedlichen Medien, die das lebendige Archiv von Le Sacre du
Printemps herstellen. Darin zeigt sich die Produktivität eines Werks, das
1913 als ein tumultuöses Ballett die Welt der Kunst schockierte.
3
4
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880–1937, Bd. 4: 1906–1914. Hg. von Jörg
Schuster, Stuttgart 2005, 29.5.1913, S. 886.
Vgl. Susan Manning: German Rites: A History of Le Sacre du Printemps on the German
Stage. In: Dance Chronicle 14/2–3 (1991), S. 129–158; Dies.: German Rites Revisited:
An Addendum to a History of Le Sacre du Printemps on the German Stage. Dance
Chronicle 16/1 (1993), S. 115–120; ausführlich: Gunhild Oberzaucher-Schüller, in diesem Band, S. 81–96.
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Abb. 1: Valentine Gross-Hugo, Le Sacre du printemps, (I, 2),
Jeu du Rapt, pastell, 1913
Abb. 2: Valentine Gross, Le Sacre du printemps, Skizze, 1913
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Gabriele Brandstetter
Skandal
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Der Skandal, den Le Sacre am 29. Mai 1913 bei der Premiere hervorrief,
hatte einen entscheidenden Anteil an der Wirkung, ja am Mythos dieses
Tanzstücks. Äußerungen von ZeitzeugInnen, die an der Uraufführung
zugegen waren, geben ein buntes und auch widersprüchliches Bild dieses
Aufruhrs im Theater. In einem aber stimmen sie überein: Das Beben dieses Tumults fand ebenso im Zuschauerraum statt wie auf der Bühne. Die
Berichte machen vor allem deutlich, mit welcher gewaltsamen Energie,
mit welcher Eruption von Emotionen dieses »Massacre du printemps«
(wie Gustave de Pawlowsky den Tumult taufte) einherging. Harry Graf
Kessler vermittelt in seiner ausführlichen Tagebuchnotiz ein eindrucksvolles Bild vom »Höllenlärm«, von »Lachsalven«, Klatschen und Buhrufen, während, wie er schreibt, die Tänzer auf der »Bühne unentwegt
prähistorisch tanzten«.5 Kessler notiert zudem, dass dieser Skandal von
iaghilev und den beteiligten KünstlerInnen erwartet wurde.6 Dass dieDiaghilev
ser
er Publikumsschock vermutlich kalkuliert war, zeigt auch ein Blick auf
den Kontext der Premiere von Le Sacre. Im Programm des Abends vom
29. Mai 1913 ist Le Sacre du Printemps umgeben von anderen Choreographien, die längst Publikumsmagneten der Ballets Russes waren: Les
Sylphides,, eine Hommage an das romantische Ballett im Paris des 19. JahrRose, jenes Kammerstück, in dem Nijinsky als
hunderts, Le Spectre de la Rose,
Tänzer Triumphe feierte, und zuletzt die Polowetzer Tänze aus Fürst Igor,
mit deren kraftvollen und folkloristischen Ensembles Diaghilev in seiner
ersten Pariser Saison das Publikum überraschte. In dieser Programmnachbarschaft wirkte Le Sacre du Printemps umso mehr wie ein Antiballett. Genau aus diesem Widerspruch generierte sich jene Dynamik der
Provokation, die Diaghilevs Idee moderner Kunst insgesamt leitete – die
Idee nämlich, mit den Mitteln des Tanzes eine Re-Generation der Kunstwelt herbeizuführen, in einer Revolte gegen den Rationalismus der Zeit.
Diaghilev steht mit diesem Kunstkonzept, das den Schock und den Skandal einkalkuliert, im Kontext der Avantgarde. 1913 lassen sich, von Paris
aus, Achsen zu anderen Metropolen ziehen, die durch Kunstskandale erschüttert werden: Wien, aufgerührt durch die Musik Arnold Schönbergs;
St. Petersburg (1913): Hier hat die futuristische Oper Sieg über die Sonne
5
6
Harry Graf Kessler: Tagebuch, 29.5.1913, S. 886.
Vgl. hierzu den Beitrag von Gabriele Brandstetter zu Harry Graf Kessler und Le Sacre
du Printemps im Kontext der Moderne, in diesem Band, S. 227–252.
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Le Sacre du Printemps 1913/2013
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von Michail Matjuschin, Kasimir Malewitsch und Aleksei Krutschonyck
Premiere. Die Provokation des Stücks begann mit einem Vorhang, der
sich nicht hebt, sondern mit einem Knall zerreißt – und auch hier gab
es einen Kampf im Publikum.7 Und schließlich New York 1913: Hier
sorgte die Ausstellung moderner Kunst in der Armory Show für einen
Avantgarde-Schock.8
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Abb. 3: Les Sylphides, im Zentrum Anna Pawlowa, Paris 1909
7
8
Vgl. Felix Philip Ingold: Der große Bruch – Russland im Epochenjahr 1913. Kultur, Gesellschaft, Politik, München 2000, S. 126ff., hier S. 129. Es ging darum, »die
zahlreichen Theaterbesucher vor den Kopf zu stoßen […] die Provokation gelang«,
und Ingold zitiert A.A. Mgebrov: »Es kam zu Streitereien, es gab Schreie, Erregung.
Eine Herausforderung wurde proklamiert, der Kampf begann. Wer mit wem? – Unbekannt. Wo und warum?« (Ebd.)
Vgl. u.a. Jean Michel Rabaté: 1913. The Cradle of Modernism, Malden (MA)/Oxford
2007, S. 18f.; Virginia Cowels: 1913. Abschied von einer Epoche, Frankfurt a.M. 1969.
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Abb. 4: Le Spectre de la Rose, 1911
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Abb. 5b: Adolph Bolm als Anführer der Polowetzer in Les Dances
Polovtsiennes du Prince Igor, Paris
um 1909
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Abb. 5a: Michel Fokine als Anführer der Polowetzer in Les Danses
Polovtsiennes du Prince Igor, Paris
um 1909
Abb. 6: Ensemble in Le Sacre du Printemps, 1913
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