Jugendstrafrecht

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Prinzipien des Jugendstrafrechts
1. Strafrechtliche Ordnung
2. Sonderstrafrecht
3. Modellfrage
4. Täterbezogenes Strafrecht
5. Erziehungsgedanke
6. Mehrspurigkeit
7. Verhältnismässigkeit
8. Opportunität
9. Organisatorische Verselbständigung
1. Strafrechtliche Ordnung
Das Jugendstrafrecht ist eine strafrechtliche Ordnung. Mit
der Beibehaltung dieses Grundsatzes wurde in der
StGB-Revision der Vorschlag verworfen, abweichendes
Verhalten Jugendlicher in einem Jugendwohlfahrtsgesetz zu regeln.
Ein solches Gesetz hätte neben den Folgen deliktischen
Verhaltens auch die im ZGB geregelten Schutzmassnahmen sowie öffentlich-rechtliche Jugendschutz- und
Förderungsmassnahmen enthalten können. Abgesehen
davon, dass dem Bund die verfassungsmässige
Kompetenz für eine so umfassende Regelung gefehlt
hätte, wurde sie auch aus inhaltlichen Überlegungen
abgelehnt.
Gründe für die strafrechtliche
Anknüpfung
Zum einen wollte man den Unterschied zwischen strafbarem Verhalten
und andern abweichenden Verhaltensweisen verdeutlichen und
damit das Bewusstsein Jugendlicher für die besondere Bedeutung
strafrechtlich geschützter Rechtsgüter schärfen.
Zum andern bestanden Bedenken, weil ein Jugendwohlfahrtsgesetz
einerseits im Bereich der leichten, andererseits in dem der besonders schweren Delikte keine adäquaten Reaktionsweisen zu
bieten vermöchte. Im Bereich der statistisch häufigen leichten
Verstösse besteht das Bedürfnis nach einfach bestimmbaren
tarifartigen Sanktionen mit blossem Warncharakter. In jenem der
seltenen schweren Verbrechen müssen im generalpräventiven
Interesse auch Sanktionen mit eindeutigem Strafcharakter zu
Verfügung stehen.
Im alten Jugendstrafrecht war die Kluft zwischen Jugend- und
Erwachsenenstrafrecht als zu gross empfunden worden.
Nur der Jugendliche verantwortlich
Eine Folge der strafrechtlichen Ausrichtung ist, dass nur
der Jugendliche für sein Verhalten strafrechtlich verantwortlich gemacht wird.
Neuerdings wird gefordert, dass auch die Eltern bei
krassen Pflichtverletzungen zur Rechenschaft gezogen
werden, wie das ansatzweise in England geschieht.
In der Schweiz haften die Eltern für die Delikte ihrer Kinder
strafrechtlich höchstens dann, wenn sie sich daran
beteiligt haben.
Falls sie Straftaten ihrer Kinder decken oder vertuschen,
begehen sie den Tatbestand der Begünstigung, Art.305
StGB, doch werden sie sich in dem allermeisten Fällen
auf das in Abs.3 vorgesehene Privileg nahestehender
Personen berufen können.
Erziehungsverantwortung der Eltern
In extremen Fällen von erzieherischen Pflichtverstössen
können Eltern oder andere Erziehungspersonen nach
Art.219 StGB wegen Verletzung der Fürsorge- und
Erziehungspflicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Ferner können die Eltern allenfalls nach Art.333 ZGB als
sog. Familienhaupt zivilrechtlich schadenersatzpflichtig
sein, sofern sie im Rahmen der milden Kausalhaftung
nicht nachweisen können, dass sie ihre Sorgfaltspflicht
in der Führung und Beaufsichtigung der Kinder
genügend wahrgenommen haben.
Laut Art.12 JStPO müssen die Eltern im Strafverfahren gegen ihr Kind mitwirken. Nichtbefolgen dieser Pflicht kann
mit einer Busse bis zu 1000 Franken geahndet werden.
Kindsschutzverfahren nach ZGB
Im Unterschied zum täterorientierten Jugendstrafverfahren
ist das Kindsschutzverfahren nach ZGB familienzentriert,
obwohl dort gleichartige Schutzmassnahmen angeordnet
werden können, die meist auch in den gleichen Einrichtungen vollzogen werden.
Während jugendstrafrechtliche Schutzmassnahmen zu
80% gegen männliche Jugendliche angeordnet werden,
die fast immer verteidigt sind, betreffen 64% der zivilrechtlichen Verfahren Mädchen, denen in der Regel
keine Rechtsvertretung zur Seite steht.
Dennoch werden die zivilrechtlichen Massnahmen von den
Jugendlichen und deren Familien besser akzeptiert.
Vgl. zum Vergleich der beiden Verfahrensarten: Michelle
Cottier, Subjekt oder Objekt? Bern 2006
2. Sonderstrafrecht
Das Jugendstrafrecht ist eine lex specialis, die ausschliesslich für die altersmässig begrenzte Tätergruppe anwendbar ist. Der Gedanke des Sonderrechts wird heute noch
zusätzlich betont, indem die Regelung in einem speziellen Gesetz erfolgt. Dies im Gegensatz zur früheren Gesetzesfassung, wo das Jugendstrafrecht im Allgemeinen
Teil des StGB (Art.82-99 aStGB) enthalten war.
Für die unterstellte Altersgruppe gelten aber die im
Besondern Teil des StGB sowie im Nebenstrafrecht
formulierten Verbotstatbestände gleich wie für
Erwachsene, doch werden die dort vorgesehenen
Erwachsenen-Sanktionen durch die besondern, im
Jugendstrafgesetz geregelten Jugend-Sanktionen
ersetzt.
Nur noch eine Altersgruppe
Im Gegensatz zum frühern Jugendstrafrecht, das zwei
Altersgruppen (Kinder von 7-14 Jahren und Jugendliche
von 15-18 Jahren) unterschied, kennt das JStG nur noch
eine Altersgruppe (von 10-18 J.).
Obwohl die Klassifizierung nach Altersgruppen entfallen ist,
besteht sie im Bereich der Strafen faktisch weiter: Weil
Geld- und Freiheitsstrafen sowie längere persönliche
Leistungen erst ab 15 Jahren anwendbar sind, kommen
für Jugendliche unter 15 Jahren als Strafe nur der Verweis (evtl. mit Probezeit) oder die persönliche Leistung
bis zu 10 Tagen in Betracht.
In diesem Sanktionsbereich ist die Grundsatzfrage, wie
weit bei Kindern überhaupt ein Verschulden vorliegen
kann, ebenso vernachlässigbar wie die Problematik,
dass das allfällige Vorliegen eines Verschuldens im
Einzelfall gar nicht konkret geprüft wird.
Untergrenze 10 Jahre
Kinder unter 10 Jahren sind nicht strafbar, d.h. es kann
gegen sie kein Strafverfahren durchgeführt werden,
selbst dann nicht, wenn sie im objektiven Sinn eine
Straftat begangen haben.
Ein solches Verhalten kann aber Anlass sein, um eine
zivilrechtliche Kindsschutzmassnahme im Sinn von Art.
307 ff. ZGB zu prüfen, z.B. eine Beistandschaft oder
einen mit einer Unterbringung verbundenen Obhutsentzug. Gemäss Art.4 JStG ist deshalb die zuständige
Behörde in derartigen Fällen verpflichtet, die gesetzliche
Vertretung zu benachrichtigen und, falls das Kind Hilfe
benötigt, die Kindsschutzbehörde einzuschalten.
Obergrenze 18 Jahre
Mit 18 Jahren beginnt Erwachsenenstrafrecht. Die Grenze
zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht ist in der
Schweiz in dem Sinne hart ausgestaltet, dass es keine
Übergangsaltersgruppe gibt. Einzig im Massnahmenvollzug gibt es eine leichte Überschneidung, indem
Jugendliche im Rahmen der Unterbringung gestützt auf
Art.16 Abs.3 vom 17. Lebensjahr an in eine Einrichtung
für junge Erwachsene eingewiesen werden können.
Viele Länder kennen flexible Übergänge; z.B. kann in
Deutschland das Gericht die 18- bis 21-Jährigen dem
Jugendstrafrecht unterstellen, insbesondere wenn sie
nach ihrer „sittlichen und geistigen Entwicklung noch
einem Jugendlichen gleichstehen“, § 105 I Nr.1 JGG.
Tatsächlich wenden die deutschen Gerichte für diese
Altersgruppe häufiger Jugend- als Erwachsenenstrafrecht an. Auch der Europarat empfiehlt, Täter bis 21
Jahre dem Jugendstrafrecht zu unterstellen.
Gemischte Fälle
Wenn Jugendliche sowohl vor als auch nach Erreichen der
Altersgrenze Straftaten begangen haben, die im gleichen
Verfahren zu beurteilen sind, wird nach Art.3, Abs.2
Erwachsenenstrafrecht angewendet, falls eine Strafe
auszusprechen ist. Mit der neuen Abgrenzung werden
die meisten Übergangstäter nach Erwachsenenstrafrecht
verurteilt. Allerdings wird diese Konsequenz durch den
Art.49, Abs.3 StGB abgefedert, wonach die im Jugendalter begangenen Delikte bei der Bildung einer Gesamtstrafe nicht stärker ins Gewicht fallen dürfen, als wenn
sie für sich allein beurteilt worden wären.
Falls in den gemischten Fällen eine Massnahme am Platz
ist, kann laut dem 3.Satz von Art.3, Abs.2 Jugend- oder
Erwachsenenstrafrecht angewendet werden, je nach
dem, was „nach den Umständen erforderlich“ ist. Für
diese „Umstände“ sind das Alter, die persönlichen
Verhältnisse, die Schutzinteressen der Öffentlichkeit und
die Möglichkeiten im Vollzug massgeblich.
Art.3 Persönlicher Geltungsbereich
1 Dieses Gesetz gilt für Personen, die zwischen dem vollendeten 10.
und dem vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat
begangen haben.
2 Sind gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen, so ist hinsichtlich der Strafen
nur das StGB anwendbar. Dies gilt auch für die Zusatzstrafe (Art. 49
Abs. 2 StGB), die für eine Tat auszusprechen ist, welche vor Vollendung des 18. Altersjahres begangen wurde. Bedarf der Täter
einer Massnahme, so ist diejenige Massnahme nach dem StGB
oder nach diesem Gesetz anzuordnen, die nach den Umständen
erforderlich ist. Wurde ein Verfahren gegen Jugendliche eingeleitet,
bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat
bekannt wurde, so bleibt dieses Verfahren anwendbar. Andernfalls
ist das Verfahren gegen Erwachsene anwendbar.
Verfahren in den gemischten Fällen
Ob in den gemischten Fällen das Jugend- oder das
Erwachsenenverfahren angewendet wird und somit das
Jugend- oder das Erwachsenengericht zuständig ist,
entscheidet sich danach, ob das Verfahren vor oder
nach dem 18. Geburtstag eingeleitet wurde. Einige
Kantone hatten nach der Einführung des JStG gestützt
auf die Entstehungsgeschichte und den italienischen
Wortlaut („in questi casi“) angenommen, diese Regel
beziehe sich nur auf die im 3. Satz von Abs.2 geregelten
Massnahmefälle.
Das Bundesgericht hat in BGE 135 IV 206 ff. aber entschieden, dass die Regel für alle gemischten Fälle
anwendbar ist.
Dennoch wäre, wie Christof Riedo (Wenn aus Kälbern
Rinder werden, AJP 2010, 176 ff.) gezeigt hat, die Beschränkung auf Massnahmenfälle in der Sache richtig.
Anwendbarkeit von StGB-Bestimmungen
Wie weit andere Bestimmungen als die Tatbestände des
Erwachsenenstrafrechts anwendbar sind, regelt Art.1
JStG. Die dort aufgenommene Liste von Bestimmungen
des Allgemeinen Teils und des Dritten Buchs des StGB,
die auf Jugendliche ergänzend Anwendung finden, ist
abschliessend. Das heisst, die nicht genannten Bestimmungen sind nicht anwendbar.
Die anwendbaren StGB-Bestimmungen betreffen:
Art.1-33 Strafbarkeit
Art.47-51 Strafzumessung
Art.56 und 56a Massnahmen-Grundsätze
Art.74 ff. Vollzugsgrundsätze
Art.333 ff. Organisatorische Regeln aus dem 3.Buch
Nur sinngemässe Anwendung
Auch wenn die ausdrücklich genannten Bestimmungen angewendet werden, soll dies immer
nur sinngemäss erfolgen, d.h. entsprechend
dem Sinn und den besondern Grundsätzen des
Jugendstrafrechts (Art.1 Abs.3 JStG).
Insbesondere sind das Alter und der Entwicklungsstand zu Gunsten des Jugendlichen zu berücksichtigen (z.B. weniger strenge Massstäbe bei
der Beurteilung von Sorgfaltspflichten oder bei
der Vermeidung eines Verbotsirrtums).
3. Unterschiedliche Modelle
In der rechtsvergleichenden Literatur ist es üblich,
zwischen einem Wohlfahrtsmodell (oder Erziehungsmodell) und einem Justizmodell zu unterscheiden.
In neuerer Zeit werden teilweise auch die Restorative Justice[1] und
die Diversion[2] als Modelle bezeichnet, doch finden beide nur bei
leichterer Delinquenz Anwendung und betreffen somit nur Teilgebiete. Zudem lassen sie sich sowohl mit einem Wohlfahrts- als
auch mit einem Justizmodell verbinden.
Weidkuhn[3] verwendet den Begriff „Kinderrechtsmodell“ für ein
Jugendstrafrecht, das sich vor allem am Regelungsmodell der
internationalen Konventionen orientiert. Da das internationale Recht
unabhängig von der Modellfrage Eingang in die nationale Gesetzgebung finden sollte, stellt es jedoch eher eine übergeordnete
Struktur als ein Modell dar.
[1] z.B. Holderegger S.4
[2] z.B. Weidkuhn S.12 f.
[3] Weidkuhn S.16 f.
Wohlfahrts- oder Erziehungsmodell
Im Wohlfahrtsmodell (social welfare model), auch Erziehungsmodell genannt, stehen weniger die Straftat und
das Verschulden, sondern stärker die Person des
Jugendlichen und seine Bedürfnisse nach erzieherischer
oder therapeutischer Einwirkung im Vordergrund.
Die Entscheidungsträger sind pädagogisch motiviert, sie
verfolgen das Ziel, durch individualisierte Sanktionen
eine Korrektur des Fehlverhaltens zu bewirken. Die
angestrebte Wirkung ist wichtiger als die Anknüpfung an
die Tat. Typisch sind deshalb offene oder unbestimmte
Sanktionen, die in einem wenig förmlichen Verfahren
festgelegt werden.
Justizmodell
Das Justizmodell orientiert sich wie das Erwachsenenstrafrecht am straffälligen Verhalten und ahndet dieses mit
einer tatproportionalen Sanktion, die mit Rücksicht auf
die verminderte Schuldfähigkeit im Vergleich milder ist.
Es betont die Verantwortlichkeit des jugendlichen Täters
und versucht, diesen mit der „verdienten“ Strafe zu
beeindrucken und zu beeinflussen.
Das Verfahren ist förmlich, gerichtsähnlich, es gelten
ähnliche Verfahrensgarantien wie bei den Erwachsenen.
Dadurch sollen Transparenz und Gleichbehandlung
garantiert und der Jugendliche auf seine Eigenverantwortung angesprochen werden. Die Entscheidungsträger
sind primär juristisch motiviert.
Modellfrage und die Schweiz
Beide Modell sind Idealtypen und nirgends in reiner Form
verwirklicht. Doch unterscheiden sich die Ordnungen der
einzelnen Länder markant, indem sie stärker zum einen
oder andern Modell tendieren. In diesem Sinne steht das
schweizerische Jugendstrafrecht deutlich dem Wohlfahrts- oder Erziehungsmodell nahe.
Das heisst aber weder, dass der Tatbezug bedeutungslos
wäre, noch dass keinerlei Verfahrensgarantien bestünden. Vielmehr ist auch in der Schweiz das Verfahren in
den Fällen gerichtlich und förmlich, wo schwere Straftaten zu beurteilen sind und deshalb ernsthafte Sanktionen ausgesprochen werden.
Kontrast: USA
• Eindeutiges Justizmodell
• Negative Generalprävention
• Adult time for adult crime
• Just deserts, mandatory prison terms
• Truth in sentencing
Neuerdings scheint der punitive Konsens als
Folge der durch Untersuchungen belegten
Erfolglosigkeit wieder abzubröckeln.
4. Täterbezogenes Strafrecht
Im Vordergrund steht beim Jugendstrafrecht die spezialpräventive Zielsetzung. Durch die Sanktionierung soll ein
unerwünschtes Verhalten beendet und dessen Wiederholung verhindert werden. Es geht darum, Grenzen zu
ziehen und allfälligen weitern Taten vorzubeugen.
Grenzziehung und Rückfallverhütung machen ein anderes
Verständnis der Straftat erforderlich. Die Straftat ist nicht
die „Sünde“, die im Sinn von „Negation der Negation“
(Hegel) durch die Zufügung eines als gleichwertig definierten Übels getilgt wird. Vielmehr soll die Straftat
Anlass sein, sich mit dem Jugendlichen als Person zu
befassen und zu prüfen, welche Intervention und Sanktion zu seiner Entwicklung und zur angestrebten Deliktfreiheit beitragen kann.
Anknüpfung an die Person
Das Jugendstrafverfahren knüpft zwar an die Straftat an,
die Tat ist unerlässliche Voraussetzung, darüber hinaus
kommt ihr aber eine weniger ausschlaggebende Bedeutung zu. Das strafbare Verhalten hat vielmehr Symptomcharakter, es zeigt an, dass eine Reaktion erfolgen und
eine Verhaltensänderung angestrebt werden muss.
Wie die Sanktion konkret ausgestaltet ist, ergibt sich nicht
nur aus dem begangenen Unrecht, sondern auch aus
der Persönlichkeit, dem Entwicklungsstand, der Sanktionsempfindlichkeit und den Lebensverhältnissen des
individuellen Täters. Das spezialpräventiv Wirksame
kann nicht aus der Tat und dem Verschulden allein abgeleitet werden, es muss aus den persönlichen Verhältnissen des Täters erschlossen werden. Wir sprechen
deshalb vom täterbezogenen (oder täterorientierten)
Jugendstrafrecht im Gegensatz zum tatbezogenen
Erwachsenenstrafrecht.
Verschulden bleibt wichtig
Voraussetzung für die Anordnung jugendstrafrechtlicher
Sanktionen wäre deshalb in allen Fällen eine Persönlichkeitsabklärung. In Art.9 besteht dafür das gesetzliche
Instrumentarium. Allerdings ist es angesichts der zur
Verfügung stehenden Ressourcen nicht möglich, und
wegen der mit der Abklärung verbundenen Eingriffe
auch nicht zumutbar, in allen Fällen eine derart individualisierende Untersuchung durchzuführen.
In den praktisch weitaus meisten Fällen von leichter
Jugenddelinquenz unterbleibt deshalb die eingehende
Abklärung. Die Persönlichkeitsbeurteilung erschöpft sich
darin, oberflächlich zu prüfen, ob krasse Auffälligkeiten
auf eine Gefährdung hinweisen. Soweit dies nicht der
Fall ist, wird ohne weitere Abklärung auf eine „normale“
Entwicklung geschlossen. Die Festlegung der Sanktion,
in diesem Fall einer Strafe, geschieht dann schematisch
nach dem Verschuldensprinzip, d.h. auf Grund der begangenen Straftat.
Positive Generalprävention
Bei den (seltenen) ganz schweren Straftaten spielt das
Delikt eine dominante Rolle, zumindest für die hohe
Strafe, die neben der in der Regel zusätzlich ausgesprochenen Schutzmassnahme angeordnet wird.
Lange Freiheitsstrafen lassen sich nicht bloss spezialpräventiv begründen. Sie dienen in erster Linie der
Beruhigung der Öffentlichkeit und damit dem generalpräventiven Anliegen, vor allem im Sinn der positiven
Generalprävention. Deshalb erfolgt hier die Anknüpfung
sehr stark an die begangenen Delikte. Das äussert sich
auch darin, dass die hohen Freiheitsstrafen nach Art.25,
Abs.2 JStG nur für abschliessend geregelte Schwerstverbrechen verhängt werden können, die auch bei den
Erwachsenen mit Höchststrafen bedroht sind.
Fazit: Kein reines Täterstrafrecht
Das täterbezogene Jugendstrafrecht ist nicht etwas ganz
Anderes als das tatbezogene Erwachsenenstrafrecht. Es
handelt sich um eine Akzentverschiebung. Die Berücksichtigung der Persönlichkeit und das Bestreben, die
Sanktion darauf abzustimmen, spielen eine wesentlich
grössere Rolle als bei den Erwachsenen. Dennoch wird
dem Verschulden entsprechend die Tat bestraft und
nicht der Täter für seine Lebensführung zur Verantwortung gezogen.
Das Jugendstrafrecht ist deshalb kein reines Täterstrafrecht, wie es das nationalsozialistische Strafrecht war,
das diese Bezeichnung als Markenzeichen verwendete.
Die in der Schweiz oft verwendete Bezeichnung „Täterstrafrecht“ ist deshalb nur insoweit zutreffend, als sie
eine Tendenz zum Ausdruck bringt. Auch im Jugendstrafrecht ist jedoch die Tat Voraussetzung und primärer
Anknüpfungspunkt für die Sanktionierung.
5. Erziehungsgedanke
Das Jugendstrafrecht wird oft als Erziehungsstrafrecht
bezeichnet, das ganz auf das Ziel der Erziehung ausgerichtet sei. So war zum Beispiel der von Marie
Boehlen zum früheren Jugendstrafrecht verfasste
Kommentar von einem Verständnis durchdrungen, das
Jugendstrafrechts-Sanktionen als erzieherische
Wohltaten verstand.
Bei kritischer Betrachtung ist diese Verständnis aber
einseitig und ideologieverdächtig. Wollte man nämlich
ausschliesslich erzieherisch wirken, müsste man voll auf
Jugendschutz und Jugendhilfe setzen. Zudem müsste
immer dann (und das heisst vermutlich in vielen Fällen)
von einer staatlichen Bestrafung abgesehen werden, wo
die Strafe erzieherisch keinen Sinn ergibt, z.B. weil die
Erziehungspersonen der Situation voll gewachsen sind.
Art.21 sieht zwar eine Liste mit Strafbefreiungsgründen
vor, doch ist diese Aufzählung abschliessend.
Strafe als Erziehungsmittel?
Während Erziehung ursprünglich als Ergänzung oder als
Ersatz der Bestrafung verstanden wurde (und z.B. in
Deutschland noch heute so verstanden wird, vgl.
Dollinger/Schabdach S.21 ff.), vollzog die schweizerische Praxis im 20.Jh. eine Wende, indem sie die
Schuldstrafe selbst als Instrument der Erziehung uminterpretierte und teilweise bis heute so versteht.
Vor diesem ideologischen Hintergrund scheint es logisch,
eine Strafe, die keine Wirkung entfaltet, zu verschärfen
und damit die erzieherische Wirkung zu verstärken,
obwohl kriminologisch gut nachgewiesen ist, dass
härtere Strafen die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöhen.
Immanuel Kant 1803
„Eines der grössten Probleme der Erziehung ist,
wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner
Freiheit zu bedienen, vereinigen kann.“
Ostendorf spricht wegen dieses Widerspruchs zu
Recht von „Friktionen zwischen dem Erziehungsgedanken und dem Schuldausgleich“.
(Jugendgerichtsgesetz, 8.A. S.152)
Normenschutz als Aufgabe
Das Jugendstrafrecht hat wie jedes Strafrecht die Aufgabe,
Werte und Normen zu schützen und damit den Rechtsfrieden zu verteidigen. Im Sinne von positiver Generalprävention (sog. Signalwirkung) kommt auch ihm eine
auf die Allgemeinheit ausgerichtete Zielsetzung zu.
Ganz speziell dienen diesem Zweck die unbedingten Freiheitsstrafen, die ja bis zu vier Jahren angeordnet werden
können. Aber auch Effekte der negativen Generalprävention (Abschreckungswirkung) spielen eine Rolle, so
etwa, wenn im Ausland wohnhafte Jugendliche auch in
Fällen, wo eindeutig eine Massnahmebedürftigkeit vorliegt, ausschliesslich zu einer Strafe verurteilt werden,
Bestrafung ist Übelszufügung
Auch im Jugendstrafrecht ist die Bestrafung eine mit einem
Vorwurf verbundene Übelszufügung. Als Ausnahme
können der Verweis und die persönliche Leistung bis 10
Tage gelten. Dass es sich dabei um reine Erziehungssanktionen handelt, zeigt sich daran, dass sie als einzige
Strafen schon gegen Jugendliche unter 15 Jahren und
auch ohne ein individuell festgestelltes Verschulden
angeordnet werden.
Für alle andern Strafen gilt jedoch als Grundsatz, dass die
Strafe sich am Verschuldensprinzip orientiert, auch wenn
die individuelle Strafzumessung nicht ein gleichwertiges
Übel im Sinne der Vergeltung anstrebt. Sie übermittelt
ein Signal, dass auf das strafbare Verhalten repressiv
reagiert wird. Nur wenn diese Botschaft ankommt, besteht Spielraum für spezialpräventive Überlegungen.
Bestrafung ist keine Erziehung
Die Bestrafung, das ist ein Gemeinplatz moderner Pädagogik, ist als solche keine Erziehung. Eine Sanktion
kann aber eine erzieherische Funktion erlangen, wenn
sie eingebettet ist in eine erzieherische Auseinandersetzung und in zwischenmenschliche Beziehungen.
Entscheidend kommt es darauf an, ob und wie der durch
die Tat und die darauf folgende Reaktion entstandene
Konflikt bearbeitet und gelöst wird. Die Sanktion kann als
solche bloss Grenzen ziehen und Normen verdeutlichen.
Die Grenzziehung ist im Sinne der moralischen Entwicklung aber nur dann wirksam, wenn dem Jugendlichen
alternative Verhaltensweisen zur Befriedigung der mit
der Straftat angestrebten Bedürfnisse zur Verfügung
stehen, oder wenn ihm solche als Folge der Sanktionierung aufgezeigt und angeboten werden.
Erziehung ist umfassend
Eigentlich müsste sich die erzieherische Beeinflussung im Rahmen
eines Strafrechts nur auf das Legalverhalten ausrichten, doch gibt
es keine derart eingeschränkten Erziehungsmethoden. Erziehung ist
immer ganzheitlich und umfassend.
Trotz allen strafrechtlichen Gesichtspunkten kann das schweizerische
Jugendstrafrecht erzieherisch sinnvoll genutzt werden. Ob dies
tatsächlich geschieht, ist weit gehend der fachlichen Kompetenz der
einzelnen Praktiker überlassen. Zu Recht kritisiert Gürber in
Plädoyer 1/2006, S.36, dass die in Art.2 JStG pauschal formulierten
Pädagogik-Ziele im Gesetz nicht konkretisiert sind. Er führt dies auf
die Entstehungsgeschichte zurück, sei doch das JStG „weitgehend
das Werk von Juristen, die von erwachsenenstrafrechtlichem
Denken geprägt sind“.
Art.2: Schutz und Erziehung
Als Grundsatz ist das pädagogische Verständnis in Art.2
JStG an prominenter Stelle geregelt. Dort wird statuiert,
„der Schutz und die Erziehung des Jugendlichen“ seien
wegleitend für die Anwendung des Gesetzes.
Die beiden Begriffe liegen nicht auf der gleichen Ebene.
„Schutz“ knüpft an das Zivilrecht an, wo von „Kindsschutz“ (heute meist „Kinds- und Jugendschutz“) die
Rede ist, und bezieht sich vor allem auf die Schutzmassnahmen. Geschützt werden soll die gedeihliche
Entwicklung und Entfaltung des Jugendlichen.
Demgegenüber ist der Begriff „Erziehung“ umfassender. Er
bezieht sich nicht nur auf die Strafen, vielmehr hat er
auch im Rahmen der Schutzmassnahmen eine zentrale
Bedeutung. „Erziehung“ ist deshalb übergeordnet.
Ideologieverdacht
Im Alltag wird der Erziehungsgedanke oft als
ideologische Rechtfertigung missbraucht.
Herrmann fordert deshalb eine „Entmystifizierung des Jugendstrafrechts“.
Zum Missbrauch des Erziehungsgedankens trägt
bei, dass manche Jugendanwältinnen und
Jugendrichter nur über eine rudimentäre pädagogische Ausbildung verfügen, obwohl sie sich
in ihrem Selbstverständnis pädagogisch motiviert fühlen. Sie verstehen sich als „geborene“
Erzieher, denen das Grossziehen eigener
Kinder ein ausreichendes pädagogisches
Rüstzeug verleiht.
Lit. Herrmann, Die Rolle der Verteidigung, S. 257
Ausbildungsdefizite im Gesetz
Die gesetzliche Regelung schreibt keine oder höchstens unverbindliche
Anforderungen an die pädagogische Fachkompetenz der zuständigen Behörden vor. Im Entwurf zum JStG war zwar noch in einem
Abs.3 von Art.2 gefordert worden, im Jugendstrafrecht tätige
Personen müssten „erzieherisch befähigt“ sein. Der Gesetzgeber
hat dann aber selbst diese minimale Anforderung fallen lassen.
Im Vorentwurf zur JStPO war in Art.16, Abs.1 von Jugendrichterinnen
und Jugendrichtern noch weniger, nämlich bloss ein „Interesse für
die Belange der Jugend“ gefordert worden. Im Entwurf wurde sogar
diese absolute Minimalvoraussetzung wieder aufgegeben.
Der schwachen sozialwissenschaftlichen Fachkompetenz vieler
Praktikerinnen und Praktiker entspricht es, dass im jugendstrafrechtlichen Schrifttum die in Pädagogik und Psychologie geführten
Diskussionen nur beschränkt aufgenommen und einschlägige
Forschungsergebnisse wenig oder verspätet rezipiert werden.
Neuerdings interdisziplinärer CAS-Kurs an der Hochschule Luzern.
Grenzen des Erziehungsgedankens
Die dominierende Ausrichtung am Erziehungsgedanken wird heute
teilweise kritisiert. So stellt sich laut Jositsch/Lohri[1] die Frage, „ob
es angebracht ist, bei jedem Täter hauptsächlich spezialpräventive
Zwecke zu verfolgen, oder ob in gewissen Fällen nicht vermehrt
dem Schutz und der Sicherheit der Bevölkerung Rechnung getragen
werden sollte.“ Gemeint sind vor allem Fälle, wo verurteilte
Jugendliche sich dem Vollzug einer Schutzmassnahme verweigern
und nur noch eine geringfügige Reststrafe vollzogen werden kann.
Jositsch/Lohri halten es für angebracht, eine Sicherungsmassnahme
bis zum 25. Lebensjahr vorzusehen, um die Öffentlichkeit vor
solchen Tätern zu schützen. Der Basler Jugendanwalt Beat
Burkhardt fordert für solche Jugendliche gar eine „Verwahrung“, die
bis zum 30. Lebensjahr vollzogen werden könnte[2]. Seit 2013 kennt
Deutschland eine Sicherungsverwahrung für Jugendliche.
[1] Jositsch/Lohri in AJP 2008, S.791
[2] In SZK 1/2010, S.28 ff.; anderer Meinung (im gleichen Heft, S.33 ff.) der (ehemalige) Berner
Jugendanwalt Christoph Burkhard
Halten wir fest:
Das Jugendstrafrecht ist primär ein Sanktionenrecht, kein Erziehungsrecht.
Als Strafrecht schützt es Werte und Normen.
In diesem Rahmen ist es erzieherisch motiviert, es
lässt viel Raum für erzieherische Auseinandersetzungen.
Laut der Evaluation von Urwyler/Nett erreichte es
die angestrebten Ziele und bewährt sich
spezialpräventiv zumindest gleich gut oder
sogar besser als die Systeme anderer Länder.
6. Mehrspurigkeit
Wie im Erwachsenenstrafrecht sind im JStG neben den
Strafen auch Massnahmen vorgesehen. Wir sprechen in
diesem Zusammenhang von einem zweispurigen
Sanktionensystem.
Nach Art.10 JStG ist in allen Fällen eine Schutzmassnahme anzuordnen, wo eine solche aus erzieherischen
oder therapeutischen Gründen erforderlich ist. Die
Anwendung der Schutzmassnahme liegt somit nicht im
Ermessen des Gerichts, sie ist zwingend, wenn die
Voraussetzungen erfüllt sind. Die Schutzmassnahme hat
deshalb im Vergleich zum Erwachsenenstrafrecht ein
grösseres Gewicht.
Dennoch werden auch im Jugendstrafrecht die weitaus
meisten Verfahren allein mit Strafen abgeschlossen, weil
in der Praxis die leichtern Delikte überwiegen, die von
nicht gefährdeten Jugendlichen begangenen werden.
Begriff „Schutzmassnahme“
Im Gegensatz zum früheren Jugend- und zum
Erwachsenenstrafrecht werden im JStG die
Massnahmen als „Schutzmassnahmen“ bezeichnet. Damit lehnt sich das Gesetz an das
ZGB an, wo der Schutzgedanke im „Kindsschutz“ und neuerdings im „Erwachsenenschutz“ ebenfalls gebräuchlich ist.
Allerdings hat der Gesetzgeber den neuen Begriff
nicht konsequent angewendet. In mehreren
Bestimmungen ist im JStG nach wie vor von
„Massnahmen“ die Rede (insbesondere in den
Art.16 bis 19 JStG).
Dualismus statt Monismus
Während im frühern Jugendstrafrecht die Sanktionen
monistisch ausgestaltet waren, indem (abgesehen von
zwei unbedeutenden Ausnahmen[1]) entweder eine
Massnahme oder eine Strafe allein angeordnet wurde,
kommt heute bei den Unterbringungen das dualistischvikarierende System zum Zug, das im Erwachsenenstrafrecht für die stationären therapeutischen Massnahmen schon lange gilt.
Das hat in der gerichtlichen Beurteilung zur Folge, dass in
Fällen, wo eine Schutzmassnahme erforderlich ist, diese
(dualistisch) neben der Strafe[2] ausgesprochen wird.
[1] Art.91,Ziff.1Abs.2 und Art.95,Ziff1.Abs.2 aStGB
[2] Seltene Ausnahmen bestehen bei Unzurechnungsfähigkeit oder
bei Strafbefreiung nach Art.21,Abs.1 lit.a.
Vikariieren bei Freiheitsentzug
Zwar werden Strafe und Schutzmassnahme
dualistisch angeordnet, doch wird im Vollzug
von freiheitsentziehenden Sanktionen nur eine
Sanktion durchgeführt, im günstigen Fall nur die
Unterbringungsmassnahme.
Falls sich diese aber als undurchführbar erweist,
wird sie vikariierend durch die Freiheitsstrafe
ersetzt, wobei die im stationären Massnahmenvollzug verbüsste Freiheitsbeschränkung angerechnet wird.
Vikariieren in Schieflage
Das Verhältnis zwischen der Freiheitsstrafe, die im Normalfall höchstens ein Jahr dauern kann, und der stationären
Massnahme, die bis zum 22.Lebensjahr vollzogen werden kann, ist nicht ausgeglichen. Für einzelne Jugendliche ist das Ausweichen auf die begrenzte und ohnehin
weniger fordernde Freiheitsstrafe deshalb bequemer als
die pädagogische Auseinandersetzung im Massnahmenvollzug.
Das vikariierende Prinzip befindet sich in Schieflage, weil
die Massnahme im Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht fast immer wesentlich länger dauert. Das schafft
für die betroffenen Jugendlichen einen Anreiz, die
Schutzmassnahme zu sabotieren und damit den Vollzug
der wesentlich kürzeren Strafe zu erzwingen.
Andere Sanktionskombinationen
Wenn eine ambulante Schutzmassnahme und ein unbedingter Freiheitsentzug zusammentreffen, kann das
Gericht den Freiheitsentzug mit den gleichen Wirkungen
aufschieben. Tut es das nicht, werden beide Sanktionen
vollzogen, insbesondere kann auf diese Weise eine
Behandlung wie bei den Erwachsenen während des
Strafvollzugs angeordnet werden. Das Vikariieren ist in
diesem Bereich fakultativ.
Anders verhält es sich, wenn eine Strafe ohne Freiheitsentzug und eine ambulante Schutzmassnahme zusammentreffen: diese werden nebeneinander vollzogen.
Mediation als dritte Spur
Neu ist im Jugendstrafrecht die Mediation vorgesehen
(ursprünglich im aJStG, seit 2011 in Art.17 JStPO).
Mediation ist ein fachlich angeleitetes Versöhnungsverfahren, das zu einem Ausgleich zwischen Täter und
Opfer führen soll. Im Hinblick auf eine Mediation kann
das Strafverfahren vorläufig eingestellt werden (Art.17,
Abs.1 JStPO). Gelingt die Mediation, kann das Verfahren durch die zuständige Behörde danach definitiv
eingestellt werden (Art.17, Abs.2 JStPO).
Die Mediation wird von manchen Autoren als „dritte Spur“
des Sanktionenrechts verstanden, weil sie eine private
Lösung des zu Grunde liegenden Konflikts herbeiführt. In
diesem Sinne wird auch von einem dreispurigen System
gesprochen.
7. Verhältnismässigkeitsprinzip
Das Verhältnismässigkeitsprinzip gilt in allen Bereichen des
öffentlichen und privaten Rechts, wenn beurteilt werden
soll, ob Eingriffe in Freiheitsrechte angemessen sind
(solche Eingriffe erfordern bekanntlich immer eine gesetzliche Grundlage,
ein öffentliches Interesse, die Beachtung der Verhältnismässigkeit und die
Wahrung des Kerngehalts).
Einzig im Bereich der Strafen wird das Verhältnismässigkeitsprinzip durch das Schuldprinzip ersetzt, das an den
Vorwurf anknüpft, der Täter hätte sich anders verhalten
sollen. Mit dem Verschulden wird die Relation zur
begangenen Straftat hergestellt und für eine Begrenzung
des mit der Strafe verbundenen Eingriffs gesorgt.
Verhältnismässigkeit statt Verschulden
Bei den strafrechtlichen Massnahmen, die sich nicht am
Verschulden orientieren, fällt die Verschuldensbegrenzung weg. Massnahmen finden ihre Rechtfertigung im
überwiegenden öffentlichen Interesse, indem das
Schutzinteresse vor einer vom Täter ausgehenden
Gefahr schwerer wiegen muss als die mit der Massnahme verbundene Freiheitsbeschränkung.
Der Massstab für diese Interessenabwägung ist das
Verhältnismässigkeitsprinzip. Deshalb findet es, zumindest bei den Massnahmen des Erwachsenenstrafrechts,
als Ersatz für das Verschulden eine begrenzende
Anwendung.
Inhalt
Verhältnismässigkeit knüpft an eine Gefahr an, die abzuwenden ist. Im
Jugendstrafrecht wäre das eine drohende oder bereits bestehende
Fehlentwicklung, die neue Straftaten wahrscheinlich macht. Das
Ausmass dieser Gefahr wird in Beziehung gesetzt zur Schwere des
Eingriffs, von dem der Täter betroffen ist. Eine einschneidende
Massnahme ist nur zulässig, wenn die Gefahr sehr hoch oder die
drohenden Delikte besonders schwerwiegend sind (Gesichtspunkt
der Angemessenheit oder Proportionalität).
Falls mehrere Massnahmen geeignet sind, die Gefahr abzuwenden, ist
die leichteste vorzusehen (Gesichtspunkt der Subsidiarität). Deshalb
ist es z.B. nicht zulässig, eine stationäre Massnahme anzuordnen,
wenn auch eine ambulante Erfolg verspricht.
Zum Wesen der Verhältnismässigkeit gehört, dass die Massnahme
streng an den Zweck gebunden ist, hier also an die Verhinderung
von Delinquenz durch eine erzieherische oder therapeutische
Intervention. Die Massnahme muss deswegen geeignet sein, den
Zweck zu erreichen, es muss z.B. eine Institution zur Verfügung
stehen, die für die erfolgversprechende Umsetzung Gewähr bietet.
Lange Zeit umstritten
Die Geltung des Verhältnismässigkeitsprinzips war früher im Bereich
der jugendstrafrechtlichen Massnahmen umstritten. Zwar sprachen
sich die Strafrechtler Schultz und Rehberg für die Geltung des
Verhältnismässigkeitsgrundsatzes aus. Doch die aus der jugendstrafrechtlichen Praxis argumentierenden Boehlen und Gürber/Hug
lehnten dies kategorisch ab. Allerdings litt diese Diskussion an
einem falschen Verständnis der Verhältnismässigkeit, indem sie als
Bezugspunkt die begangenen Delikte definierte.
In diesem falschen Sinn hatte früher auch das BGer in 117 IV 9
festgehalten, es sei kein Delikt von einer bestimmten Schwere
erforderlich, eine Massnahme könne auch als Reaktion auf eine
Übertretung angeordnet werden.
Richtig verstanden bezieht sich Verhältnismässigkeit aber nicht auf die
begangenen Delikte (diesen Bezug stellt strafrechtlich der Begriff
des Verschuldens her), sondern auf eine Gefahr, die abgewendet
werden soll, d.h. auf die sonst drohende Fehlentwicklung und die
damit zusammenhängenden künftigen Delikte, mit denen im Falle
der Nichtintervention zu rechnen ist.
Heute gesetzlich geregelt
Mit dem 2007 in Kraft getretenen JStG hat Art.1, Abs.2 lit.c
inzwischen eine eindeutige Klärung herbeigeführt, indem
die entsprechenden Bestimmungen des Erwachsenenstrafrechts (Art.56, Abs.2 und Art.56a StGB) ausdrücklich als anwendbar erklärt werden.
Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz gilt deshalb auch für
die Schutzmassnahmen des Jugendstrafrechts.
Nicht anwendbar ist dagegen das vom Bundesgericht in
107 IV 20 für die Erwachsenenmassnahmen eingeführte
Untermassverbot, das eine Massnahme ausschliesst,
wenn sie im Verhältnis zur aufgeschobenen Strafe zu
wenig eingriffsintensiv ist.
Art.1, Abs.2 lit.c JStG
Gegenstand und Verhältnis zum Strafgesetzbuch
1 Dieses Gesetz regelt die Sanktionen, welche gegenüber
Personen zur Anwendung kommen, die vor Vollendung
des 18. Altersjahres eine nach dem Strafgesetzbuch
(StGB) oder einem andern Bundesgesetz mit Strafe
bedrohte Tat begangen haben;
2 Ergänzend zu diesem Gesetz sind die folgenden
Bestimmungen des StGB sinngemäss anwendbar:
..........
c. Artikel 56 Absätze 2, 5 und 6 sowie Artikel 56a
(Grundsätze bei Massnahmen);
Massnahmengrundsätze im StGB
Art.56, Abs.2 und 5 StGB
2 Die Anordnung einer Massnahme setzt voraus, dass der
mit ihr verbundene Eingriff in die Persönlichkeitsrechte
des Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und
Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismässig ist.
5 Das Gericht ordnet eine Massnahme in der Regel nur an,
wenn eine geeignete Einrichtung zur Verfügung steht.
Art. 56a
Zusammentreffen von Massnahmen
1 Sind mehrere Massnahmen in gleicher Weise
geeignet, ist aber nur eine notwendig, so ordnet das
Gericht diejenige an, die den Täter am wenigsten
beschwert.
2 Sind mehrere Massnahmen notwendig, so kann das
Gericht diese zusammen anordnen.
Konnexität
Im Rahmen der Verhältnismässigkeit müsste de lege
ferenda auch die Frage der Konnexität neu diskutiert
werden. Damit wird der Zusammenhang angesprochen,
der zwischen der Tat und dem erzieherischen Defizit
besteht, das durch eine Schutzmassnahme behoben
werden soll. Im Gegensatz zu den Massnahmen des
Erwachsenenstrafrechts (Art.59, 60, 61 und 64 StGB),
wo jeweils gefordert wird, dass die begangenen Straftaten mit der bestehenden Störung im Zusammenhang
stehen, findet sich eine solche Verknüpfung im JStG
nicht. Praxis und Doktrin haben eine Konnexität bisher
abgelehnt.
Nicht nur die gesetzliche Anerkennung des Verhältnismässigkeitsprinzips, sondern auch erzieherische,
rechtsstaatliche und sozialpolitische Überlegungen
lassen eine Neubeurteilung dieser Problematik de lege
ferenda als angezeigt erscheinen.
Beispiel für Konnexität im StGB
Art. 59 StGB
Behandlung von psychischen Störungen
1 Ist der Täter psychisch schwer gestört, so kann
das Gericht eine stationäre Behandlung
anordnen, wenn:
a. der Täter ein Verbrechen oder Vergehen
begangen hat, das mit seiner psychischen
Störung in Zusammenhang steht ...
......
(Analoge Regelung in Art.60, 61 und 64 StGB)
Missbrauch strafrechtlicher Massnahmen
Als Begründung für strafrechtliche Massnahmen, die auch
in Fällen angeordnet werden, wo keine schwerwiegende
deliktische Fehlentwicklung droht oder keine Konnexität
besteht, wird angeführt, dass diese länger dauern. Jugendstrafrechtliche Unterbringungen können bis zum
22.Lebensjahr durchgeführt werden, während zivilrechtliche Massnahmen mit dem 18.Lebensjahr enden.
Was ist der Grund dafür? Die längere Dauer der strafrechtlichen Massnahmen findet ihre Rechtfertigung im
öffentlichen Interesse der Kriminalprävention, das den
Schutz der Öffentlichkeit vor schweren Delikten anstrebt.
Wenn keine solche Gefährdung vorliegt, ist die längere
Dauer der Massnahme nicht zu rechtfertigen und
deshalb missbräuchlich. Sie stellt eine Umgehung der
durch den Gesetzgeber getroffenen Entscheidung dar,
der als Grundsatz festgelegt hat, dass zivilrechtliche
Massnahmen mit dem 18. Altersjahr ein Ende finden.
8. Opportunitätsprinzip
Das Opportunitätsprinzip sorgt dafür, dass ein Strafverfahren nur dann
durchgeführt und abgeschlossen wird, wenn im konkreten Einzelfall
für ein solches Vorgehen ein öffentliches Interesse besteht. Im
Gegensatz dazu schliesst das Legalitätsprinzip einen derartigen
Ermessensspielraum aus.
Der Opportunitätsgrundsatz stammt eigentlich aus dem Verfahrensrecht, er spielt aber auch im materiellen Jugendstrafrecht eine
wichtige Rolle. Besonders deutlich kommt das zum Ausdruck in den
verkürzten Verjährungsfristen (Art.36 f. JStG) sowie in den vielfachen Möglichkeiten, von einem Strafverfahren abzusehen, ein
eröffnetes Strafverfahren einzustellen (Art.5, 16 und 17 JStPO) oder
auf eine Bestrafung zu verzichten (Art.21 JStG).
Insbesondere die Strafbefreiungsgründe wegen Geringfügigkeit, wegen
Zeitablaufs, wegen bereits erfolgter Bestrafung oder wegen Wiedergutmachung verdeutlichen den Grundsatz, dass ein Jugendstrafverfahren nicht als Selbstzweck durchgeführt werden darf.
9. Organisatorische Verselbständigung
Der Geist des Jugendstrafrechts kann nur dann
voll zum Tragen kommen, wenn auf allen
Ebenen getrennte Behörden mit speziell
ausgebildetem Personal tätig werden. Das gilt
von der Polizei über die Strafverfolgung, die
Persönlichkeitsabklärung und die Gerichte bis
hin zum Straf- und Massnahmenvollzug.
Diese Anforderung war früher nur beschränkt und
ist in kleinen Kantonen auch heute noch nur
teilweise erfüllt.
Aktueller Stand
Die grösseren Deutschschweizer Kantone haben
spezialisierte Jugendanwaltschaften eingerichtet, die in
der Regel auch Fachpersonal für die Persönlichkeitsabklärung beschäftigen. Die Bezeichnung „Jugendanwaltschaft“ vertuscht allerdings, dass es sich in erster
Linie um eine Strafverfolgungsbehörde handelt.
Neben der Strafuntersuchung nehmen die Jugendanwälte
in der Mehrzahl der Verfahren als Strafbefehlsrichter
zudem richterliche Aufgaben wahr, und schliesslich
vollstrecken sie auch die angeordneten Sanktionen.
Noch nicht überall verwirklicht ist die Verselbständigung
der Jugendstrafgerichte. Auf der Polizeiebene haben
mehrere Kantone in den letzten Jahren spezialisierte
Jugendpolizeidienste geschaffen, in andern steht die
Einrichtung solcher Dienste kurz bevor.
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